22:04

Die Gäste waren bereits eingetroffen. Doch er sah sie nicht. Sein Blick war gelähmt vor Überraschung angesichts des Zifferblattes der Uhr, das 22 Uhr und 4 Minuten anzeigte, und dem genau darunter hängenden Wechselblattkalender, der den 22. Tag des 4. Monats auswies. All seine Besorgnis über die Verspätung löste sich in dieser Übereinstimmung auf. Die trivialen Dinge durchdringen das verborgene Wesen des Menschen auf unvermutete Weise. Er selbst hatte beobachtet, wie in von Qualen gepeinigten Personen unbedeutende Gründe die Sorgen wegwischen. Er wußte von einem Menschen, der, von der Verantwortung für einen monströsen Inzest bedrückt, seine Besessenheit durch den Gebrauch von engen Stiefeln im Zaum hielt. Und von einem Kameraden (aus der Zeit, in der er im Landwirtschaftsministerium tätig war) mit zwei schimpflichen Abmahnungen, der seine Erinnerung dadurch überdeckte, daß er häufig neue Krawatten zur Schau trug. Doch Op Oloop betrachtete seinen eigenen Fall nicht. Und er verweilte dabei, wer weiß was für Berechnungen mit 22.4, 224, 4.22, 422, 42.2 anzustellen.

Robín Sureda – olivfarbenes Gesicht, krauses Haar und die Schultern eines Kaiarbeiters – holte ihn zurück in die Realität.

»Hallo, Op Oloop! Wie seltsam, Sie, so spät!«

»Richtig. Ich kann es mir nicht erklären.« Er sprach mechanisch. Doch als er sich selbst hörte, wurde er angeregt, sein Rechenspiel laut fortzuführen. »Aber es ist nicht so schlimm. Immerhin, es ist 42 Uhr 2, ich meine 22 Uhr 4. Haben Sie es bemerkt?

Sehen Sie. Heute ist der 22. Tag des 4. Monats und ich bin um 22 Uhr 4 Minuten angekommen. Das ist ein wundervolles Vorzeichen! Kehren Sie die Ziffern um und sehen Sie selbst. 42 ist das Doppelte von 21, meiner Lieblingszahl, gebildet aus der 19, der goldenen Zahl der Griechen, und der 2, die in der Sphärenharmonik des Pythagoras bedeu …«

Er wurde unterbrochen.

In diesem Augenblick näherten sich seine Freunde Ivar Kittilä, ein von einem lokalen cinematographischen Unternehmen unter Vertrag genommener Toningenieur, und Erik Joensun, ein ehemaliger U-Boot-Kapitän.

Er gab sich redliche Mühe, sie zu begrüßen. Sein vom Rechenspiel auf Touren gebrachter Geist kreischte bei der Vollbremsung.

»Sie kennen sich, nicht wahr? Robín Sureda …«

»Ja.«

»Natürlich. Der ›ewige Student‹ …«

»Der e-wi-ge Stu-dent?« stotterte der Angesprochene.

»Ja. Ein Spaß meinerseits. Ivar kannte Sie durch Referenzen. Da ich immer auf Ihren Drang angespielt habe, Ihre Studien mit der größten Bedachtsamkeit durchzuführen … indem Sie freiwillig durch die Prüfungen fallen … ist eines Tages der Spitzname des ewigen Studenten entstanden …«

»Welch Spaß haben Sie daran, jemanden auf den Arm zu nehmen! Trotz alledem, es ist die Wahrheit. Ich falle absichtlich durch Prüfungen.«

»Natürlich!«

»Selbstverständlich!«

»Nicht der Rede wert! … Doch gehen wir hinein. Dort sind die anderen. Kommen Sie.«

Allein und unübersehbar saß Gastón Marietti mit einem Glas byrrh in der Hand da, vor einer mysteriösen Flasche und dem unberührten tricornet der Vorspeisen. Unmöglich, mehr Würde in einem Körper von zweiundfünfzig Jahren zu finden!

Außerhalb seines Blickfeldes, hinter einem mit Farn und Schildblumen bewachsenen Geländer, tranken ihren vierten Manhattan: Cipriano Slatter – ein Gesicht wie auf einem polizei-dienstlichen Erkennungsbogen – und Luis Augusto Peñaranda – ein Übergewichtiger am Beginn seiner Laufbahn mit blassem und glänzendem Teint.

Op Oloop strahlte vor Wohlgefallen angesichts der Pünktlichkeit seiner Gäste. Er führte sie zusammen. Mit Ausnahme von Ivar Kittilä kannten sich alle. Sie pflegten mehr oder weniger regelmäßigen Umgang und hatten mehrmals auf seine Einladung hin zusammen gespeist.

»Ivar, Señor Slatter ist der Chef des Amtes für Wasserversorgung, von dem ich dir erzählt habe.«

»Ah! Sehr gut. Dann sind Sie also der Zuhälter?«

»Zuhälter? Schön wär's! Luis Augusto Peñaranda, nichts weiter als Luftfahrtkommissar der Republik.«

Das ausgelassene Lachen des quid pro quo brach plötzlich ab. Es näherte sich Gastón Marietti, die tenue tadellos, und mit einer hellen Zigarette zwischen den sorgfältig manikürten Fingern: »Nein, der Zuhälter bin ich.«

Die strenge Nüchternheit der Antwort schüchterte den Toningenieur ein.

»Dies … Ich bekenne … daß ich … dem Wort … keinerlei Hintergedanken zugedacht habe …«

»Noch habe ich ein solches getan. Ich bin ein simpler Ausbeuter von Frauen, nicht mehr und nicht weniger, als die Kapitalisten es von den Männern sind.«

»Hmm! … Es gibt einen Unterschied.«

»Der Unterschied ist zu meinen Gunsten, ich verscherze es mir nicht mit dem Alter.«

»Dafür aber mit der Jugend.«

»Bah! Sie macht es mit soviel Gefallen! Ich kann Ihnen versichern: es ist eine sehr angenehme Arbeit für die Mädchen …«

Op Oloop griff ein.

»Gut. Die Sache ist geklärt. Gehen wir in den Speisesaal. Ich bin es gewohnt, den Aperitif genau dann zu trinken, wenn man es sollte: am Tisch selbst, um den Appetit anzuregen. Ich habe einen zubereiten lassen, der dem Gaumen schmeichelt. Grundlage: Tonic Water, Bodensatz: französischer Wermut, Stärke: Whisky Old Parr, Wärme: Cassis Creme, Parfüm: Bitter Angostura, Geist: Absinth-Tropfen, Poesie: Rosenblüten.«

Erik Joensun erreichte mit langen Schritten das erste Glas. Er näherte seine Nase dem geschliffenen Rand und atmete tief ein.

»Wundervoll. Vortrefflich.«

Und trank. Die Rosenblüten verklebten seine Kehle. Er hustete vor Ekel, und während er sie ausspuckte, spie er eine Schmährede hervor.

»Puh! Schon immer habe ich die Poesie gehaßt.«

»Dennoch, sie ist der Nektar des Lebens.«

»Ah ja?« nölte Peñaranda und entriß ihm das Glas.

Und während er ihm die mit den Fingern herausgefischten Blüten reichte, schüttete er den durch Gelächter und Spötteleien noch schmackhafter gewordenen Inhalt herunter.

Die lärmende Fröhlichkeit setzte sich tumultös fort, ohne den Damm irgendeiner Beschränkung. Nur die übrigen Gäste beäugten soviel Heiterkeit und Jovialität mit Mißgunst. Op Oloop, stets gemäßigt und ausgeglichen, atmete aus seiner Ecke den freundschaftlichen Radau wie Räucherwerk ein.

Das Gespräch drehte sich nun um die Vortrefflichkeit der klassischen Magenbitter – vertreten von Gastón Marietti – und die geschmackliche Überlegenheit der modernen cocktails – vertreten von Cipriano Slatter.

»Wenn Sie die Melodie eines Haymarket oder eines Bronx kennenlernen und im orchestralen Gemisch des Canadian Club das Lachen des Cherry Brandy oder die Schelmerei des Maraschino ausmachen, wenn Sie auf Ihrem Gaumen die verschmitzte Flüssigkeit des Gin-fizz oder die einsame Rauheit des Whisky-sour wahrnehmen, dann, Gastón, werden Sie die Schönheit der neuen Trinkkunst erkennen.«

»Ich teile Ihre Meinung nicht«, schaltete sich Ivar Kittilä ein. »An die von der Prohibition auferlegte Enthaltsamkeit gewöhnt, vertragen meine Abwehrkräfte derartige Feuerwerke nicht. Denn es sind Feuerwerke …«

»Sie haben also das Prohibitions-Gesetz erfüllt. Armer Mensch!«

»Hören Sie selbst. Ich habe in New York und Los Angeles alle nur denkbaren speakeasies besucht. Doch in einem Punkt respektierte ich die puritanische Moral. Ich weiß, daß das Unangenehme für den Mund immer gut für den Magen ist.«

»Ich danke Ihnen für die Zustimmung zu meiner These, doch ich weise sie zurück. Wenn man Ihre Auffassung ein wenig ausweitet, müßte man Abfälle verzehren, um dem Magen zu gefallen, in einem Wort: Scheiße essen, bevor man sie macht. Nein, mein verehrter Herr. Die Lehre der magenfreundlichen Getränke liegt im Tonus des Bitteren. Daher Fernet, Coca-Cola, Weine mit Chinarinde, Underberg …«

»Drecksbrühen! Arzneimittel!«

»Wer trinkt dieses Zeug heutzutage noch?«

»Genau jene, die die cocktails erfinden … Kein barman, der bei vollem Bewußtsein ist, schluckt die Gebräue, die er fabriziert. Sie stecken noch in den Kinderschuhen der Trinkerei. Sie trinken Namen und was sie Ihnen sagen, nicht Liköre und das, was Ihnen gut täte.«

Der Ober verteilte gleichzeitig eine neue Runde Gläser. Gastón Marietti nahm das seine. Bereit, aus der entdeckten Inkonsequenz Nutzen zu ziehen, um den Chef des Amtes für Wasserversorgung zu unterstützen, bemerkte Robín Sureda daraufhin: »Verdammt, Sie sind mir einer! Gehen Sie mit gutem Beispiel voran.«

Ein stolzes Lächeln trat auf das Gesicht des Zuhälters.

»Ich gehe nicht voran … Ich gebe keine Beispiele … Dafür bin ich zu ehrlich. Ich akzeptiere bei dieser Gelegenheit die cocktails aus zwei Gründen: um auf das Wohl von Op Oloop zu trinken und um die in ihrem Gemisch verwendeten authentischen und kontrollierten Getränke zu ehren. Denn im Vertrauen gesagt, cocktails sind fast immer eine Mischung aus Fälschungen. Beobachten Sie die Geheimnistuerei der barmen und ihre anonymen Flakon- und Flaschenbatterien. Alles aus Korbflaschen, Señores! Nehmen Sie es als Grundsatz, daß nur das Beste, schwer Erhältliche nicht verfälscht wird. Sie werden es noch sehen: Wenn ich etwas bestelle, wird immer eine Flasche von diesem etwas vor mir geöffnet … Die Rechtmäßigkeit liegt im Scharfsinn des connaisseur.«

Op Oloop nahm den Toast mit einem verborgenen, plötzlich aufgetretenen Unbehagen entgegen. Er hatte den ganzen Tag lang nichts gegessen. Seit dem türkischen Bad bis zu diesem Augenblick hatte sich alles, absolut alles, gegen sein körperliches Wohlbefinden und seine Seelenruhe verschworen: man kann sagen, gegen das chemisch-emotionale Gleichgewicht seines Temperaments und gegen das psychophysische Gleichgewicht seines Organismus. Der Alkohol begann ihm nun zu Kopf zu steigen und durchtränkte ihn mit einer undefinierbaren Beklemmung.

Gerade im rechten Moment tat sich sein guter Freund Erik Joensun mit einem seiner typischen brutalen Ausfälle hervor. Zwischen Kaubewegungen ausgestoßen, verschaffte sich seine wütende Stimme Gehör: »Was ist jetzt, essen wir oder essen wir nicht?«

»Ja. Essen wir …«

Sofort entstand Unordnung, in der jeder Gast den ihm zugewiesenen Platz suchte.

»Und dieser Platz?« fragte der Student.

»Er ist für Piet Van Saal, unseren lieben Freund. Ich vertraute darauf, ihn persönlich einladen zu können, denn ich sehe ihn fortwährend, doch …«

Die Entschuldigung schlug auf Grund, bevor sie über seine Lippen kam. Verwirrt verstummte er. Zum Glück überdeckte der herrschende Tumult seine Lüge, denn die Niedrigkeit zu lügen, erfüllte ihn mit einer ungekannten Scham. Blitzschnell zog vor der neutralen Leinwand seiner beiden weit aufgerissenen Augen der ultraemotionale Verlauf dieses Tages vorbei. Er erfaßte den surrealistischen und unterbewußten Charakter dessen, was er erlebt hatte. Er blinzelte nicht einmal. Als er sich an Piet erinnerte, ließ Furcht sein Herz vor Beunruhigung wild schlagen. Er nahm an, daß dieser an seiner Freundschaft zweifeln würde, wenn er von dem Dinner erfahren würde und sich ausgeschlossen wüßte. Und diese frisch entsprungene Idee wuchs auf einmal und drängte sich in sein gegenwärtiges Erleben wie ein Leichentuch in ein Freudenfest. Er konnte nicht mehr. Verlor die Beherrschung und schlug gewaltsam, grundlos auf den Tisch.

Die Blicke schwenkten herum. Der Kellner auch: »Señor wünschen?«

Es war seine Rettung.

»Ja. Rufen Sie den maître. Wie lange sollen wir noch warten?«

Nachdem er Verärgerung vorgetäuscht hatte, folgte eine heuchlerische Andeutung von Lächeln und Zoten. Unter der Oberfläche seines Fleisches jedoch lag die Wahrheit: Ohnmacht und die Instabilität seiner allesbeherrschenden Leere.

Durch Schweigen hätte er sich selbst denunziert, das spürte er. Es war vonnöten zu sprechen, etwas zu sagen, in einem Wort: Masken zu überlagern. Schlagfertig legte er los: »Wie komisch! Ich stelle fest, daß ich mich in der Evolution befinde. All meine alte Gesetztheit zerfällt. Gewohnt daran, die Minuten nach strengen Regeln höchst ernsthaften Verpflichtungen zuzuordnen, verbringe ich nun meine Stunden mit Lappalien. Als ich ›Timaios‹ von Platon las und erfuhr, daß die Zeit das bewegte Abbild der Ewigkeit ist, stieg ich auf sie hinauf wie auf einen rollenden Gehsteig. Und ich las, während ich ging, studierte, während ich aß, meditierte, während ich mich den Sinnenfreuden hingab. Ich wollte mich in das Ewige einpflanzen wie ein verheißungsvoller Steckling in den Stamm der Unsterblichkeit. In ihr etwas Dauerhaftes erblühen lassen. Frucht aus Licht, unvergänglicher Duft sein, nachdem mein Fleisch abgestorben sein würde. Und ihr seht selbst … Ich bin schließlich gescheitert. Die Zeit macht jetzt, was ihr gefällt, und ich halte es ebenso! Denn um die Zeit zu besiegen, muß man sich selbst besiegen. Ich bin negative Siege satt.«

»Eine sehr schöne Philosophie, auch wenn sie Ihre Verspätung nicht rechtfertigt. Man stelle sich vor, auf niemand Geringeren als den Gastgeber zu warten!«

»Ist ja schon gut … Hier ist der maître.«

In der Tat, während er ihm eine Speisekarte überreichte, rezitierte er: »Señor Op Oloop, in Übereinstimmung mit Ihren Vorschlägen habe ich dieses internationale menú zubereitet:

Malossol Kaviar in Eis
Rollmops
Piccatis de foies gras
Schildkrötensuppe
Spargel nach Montepan
Fresh ox tongue, creole
Chicken pie
Welsh rarebit
Goulash à la hongroise
Cassoulet comme à castelnaudary
Osso-bucco
Tendron de veau braisé chez-soi

… wie Sie sehen, eine exquisite gastronomische Auswahl.«

»Ja, aber sehr überfrachtet.«

»Ich teile Ihre Auffassung. Jedoch wird von allem nur wenig serviert: zwölf Mundvoll … Was die desserts angeht:

Assorted cake
Kirschkuchen
Camembert
Pumpernickel
Pineapple …«

»Op Oloop«, unterbrach mißmutig der Student. »Sagen Sie ihm, daß er die Liste in unserer Sprache zusammenstellen soll. Ich möchte keinen Tang! Er hat gerade auf kreolischen Tang hingewiesen.«

»Fresh ox tongue, creole: frische Ochsenzunge, nach Art der Kreolen …«

»Verstanden?«

»Ja, aber Sie gehen mir auf die Nerven mit so vielen seltsamen Namen.«

»Seien Sie unbesorgt. Ich bedenke den Geschmack eines jeden: Kaviar, Hering, Schildkrötensuppe, Spargel, Hühnerpastete …«

»Gibt es nicht auch einen Knochen … für die Hunde?«

»Genau: osso-bucco.«

Die allgemeine Lachsalve hätte Robín höchstselbst angesteckt, wenn in sie nicht zuletzt auch der maître eingefallen wäre. Dies brachte ihn auf: »Sehen Sie, Señor, Sie sind zum Bedienen da, nicht um sich an den Worten von irgend jemandem zu ergötzen.«

Unter dem Verweis zusammengezuckt, entfernte sich der maître rücklings. Er wandte den Blick nicht von Op Oloop und Marietti ab, als würde er sich an den geraden Säulen ihrer Nachsicht abstützen, um nicht zu stürzen.

Nachdem die Konversation zu ihrem anmutigen Gang zurückgefunden hatte, vergrößerte Ivar Kittilä – der seinen Nachbarn von den kärglichen Rationen erzählt hatte, die die Kinostars essen – auf Wunsch von Peñaranda seine Hörerschaft, indem er laut fortfuhr: »In Hollywood kennt jedermann den Kalorienwert der Nahrungsmittel. Ebenso wie das Streben nach dem Starruhm allen gemein ist, sind sie auch vom overweight besessen. So ist eine Manie entstanden, die schlimmer ist als die Fettleibigkeit an sich. Die Diät zwingt zu zahllosen Berechnungen und Kombinationen. Die Essensportionen werden auf der Basis von hundert Kalorien, bzw. einer Einheit, geschätzt. Hundert Kalorien entsprechen zum Beispiel einem Teelöffel Honig oder zwei Mandarinen, vier Datteln, zwanzig Spargelspitzen oder einem fünf Finger langen, zweieinhalb Finger breiten und einen viertel Finger dicken Steak.«

»Sie waren also mit Lineal, Pipette und Waage unterwegs …«

»Nichts da. Das sind keine Witze. Mir ist aufgefallen, daß die Argentinier im allgemeinen zum Spott neigen, es ihnen aber noch an Humor mangelt. Sie machen sich über alles und jeden lustig, langweilen sich aber gemeinsam auf nationaler Ebene … wahrhaftig eine Ungereimtheit!«

»Treffer versenkt!«

»Um zum Thema zurückzukommen, kurios sind die unzählbaren Rezepte des Diätbuchs für Frühstück, Mittag- und Abendessen, die, ohne die vorgeschriebenen tausendvierhundert Kalorien zu überschreiten, den Organismus mit den für sein Gleichgewicht erforderlichen Brennstoffen versorgen und ihn dabei nicht mit unnützem Fett belasten. Möchten Sie das menú von Greta Garbo und Carole Lombard kennenlernen?«

»Papperlapapp! Ich verlange dringend nach dem menú von Op Oloop, auch wenn es dreihunderttausend Kalorien haben sollte«, knurrte der U-Boot-Kapitän.

Der Kaviar wurde serviert.

Der Statistiker tat sich am Störrogen gütlich. Er machte eine lustvolle Pause. Und bevor er sich über einen neuen Bissen hermachte, gefiel er sich darin, diese Worte beizutragen: »Auch wenn Sie lachen, Slatter, Ivar hat recht mit seinen Erzählungen. Ich kenne die diesbezüglichen Zahlen. Jeder fünfte Yankee ist übergewichtig. Die Fettleibigkeit ist ein Zustand der Anomalie: Drüsenstörungen, unregelmäßiger Stoffwechsel. Mehr als alle anderen haben die Versicherungsunternehmen unter dieser Krankheit zu leiden; denn da sie die Lebensdauer der Versicherten verkürzt, läßt diese Austrocknung ihres Kapitals sie abmagern. Um selbst immer fett zu bleiben, bevorzugen sie die kollektive Magerkeit und regen zur Mäßigung und zur Leibesertüchtigung an. Eine Neuheit: Auf Grundlage der Ergebnisse von zweihunderttausend klinischen Studien empfiehlt die ›Metropolitan Life Insurance‹ zunächst …«

»Bitte keine Statistiken! Wenn wir Sie lassen, sind Sie fähig, uns die Jahresindexe der allgemeinen Ansteckung mit Filzläusen anzuführen …«

»Bravo, bravo!«

»Sagen Sie uns stattdessen, warum Sie vorhaben, uns mit zwanzig Gängen zum Platzen zu bringen?«

Die ironischen Breitseiten von Sureda und Peñaranda brachten Op Oloops doktrinäre Schlußfolgerungen zum Schweigen. Ohne sich zu verteidigen, begnügte er sich daher, durch die Risse in der Lachsalve hindurch zu wiederholen: »Wie der Edelmann sagt: Sie muß man ›erst mästen, um Sie Untertan zu machen‹. Sie werden schon sehen, am Ende des Essens …«

Ein gewichtiges Husten verschaffte sich in diesem Moment Gehör. Das gewichtige Husten des Zuhälters, das seine Absicht zu sprechen ankündigte: »Ich erachte die Theorien bezüglich des übermäßigen Gewichts und der vernünftigen Ernährung als sehr verführerisch. Doch sind sie auch sehr kompliziert, meine Herren. Ich nehme in Marseille, Barcelona, Shanghai, Paris und selbst hier zu einem freundlicheren und effizienten Behelf Zuflucht, wenn ich meinen embonpoint überschreite. Ich besuche einfach grills und Restaurants der Extraklasse. Denjenigen, die abnehmen wollen, kann ich versichern, daß es keine bessere Diät gibt als die von überhöhten Preisen auferlegte …«

Die Kellner räumten die Gedecke ab. Für einen Moment wurde die heitere Geometrie des Tisches zerbrochen.

Das Auftragen der Rollmöpse rief aufgrund der unterschiedlichen Ansichten fröhliches Geschrei hervor. Ivar, Erik und Op Oloop ließen sich die geruchsintensive Speise servieren. Alle anderen, außer Slatter, der neutral blieb, riefen nach Ersatz durch die Schildkrötensuppe.

»Der Chef soll sich entscheiden.«

»Der Chef soll sich entscheiden.«

»Da mein Vater schottischer Herkunft ist«, setzte Slatter an, »stößt mich weder der Hering ab, noch ist mir die Schildkröte zuwider. Ich weiß nicht weiter.«

»Er soll sich entscheiden! Ich ertrage diesen Gestank nicht. Ich habe immer die weise Voraussicht gepriesen, Nase und Anus an entgegengesetzte Enden zu legen, selbst bis zu der Unmöglichkeit hin, sie durch eine Verrenkung des eigenen Körpers zusammenzuführen. Dieses Gericht macht meine Lobrede zunichte. Es setzt die Infektion genau unter meine Nase. Er soll sich entscheiden!« »Hurra, Peñaranda! Und ich dachte immer, Sie wären ein furchtbar wohlerzogener Mensch …«

»Caballeros, ich merke, daß die Meinung ›sehr geteilt« ist … wie die des Publikums bei jenem berühmten Stierkampf, bei dem einige die Mutter und andere den Vater des ungeschickten Torero verfluchten. ›Sehr geteilt‹ … Dennoch, ich muß ein Urteil fällen und ich fälle es. Man bringe mir …«

»Heringe!«

»Schildkröte!«

»… Wein. Und jeder soll das essen, was ihm gefällt.«

Der sofortige Beifall schien nach der umstandslosen Vollstreckung des Urteilspruches zu verlangen.

Op Oloop schrie: »Maître, Wein, Wein! Was für eine Unachtsamkeit!«

Und er errötete wie ein Backfisch, vielleicht in Erinnerung an das Postulat von Brillat-Savarin: »Wer seine Freunde empfängt und sorgt nicht persönlich für das Mahl, der verdient keine Freunde.«

Zum Glück kam der maître, zwei Flaschen schwenkend, herbeigerannt.

»Sehen Sie, Señor:

1926er Wikinger Dohr.

1925er Liebfraumilch Riesling.«

»Perfekt. Bringen Sie die nötigen Flaschen. Aber vergessen Sie auch den Chablis nicht. Nicht alle geben den Rhein- und Moselweinen den Vorzug.«

»Schenken Sie mir unbeschadet dessen, daß ich das flüssige Gold aus dem Burgund liebe, schon ein wenig von der ›Milch der geliebten Frau‹ ein. Der Rheinwein ist eine flüssige Liebkosung der Kehle«, gab Gastón seiner wollüstigen Vorfreude Ausdruck.

»Für Sie auch, Señor?«

»Nein. Chablis.«

Der maître war im Handumdrehen zurück. Er entkorkte die Flaschen mit zeremoniellem Gehabe, und als er die ersten Tropfen in das Glas von Slatter plätschern ließ, erregte ein frisches und reifes Parfüm wie das einer frischgebadeten Braut den Geruchssinn der Gäste.

Dann näherte er sich dem Gastgeber und präsentierte ihm diese Liste von Weinen und Likören:

1920 Château Beychevelle, St. Julien.

1920 Mercurey, Beaune.

Champagne G. H. Mumm, Cordon Rouge.

Cognac Napoléon, Pellison Père Grand Marnier.

»Nicht schlecht, wirklich nicht. Doch ein wenig ›im Mißklang‹ mit den Speisen. Der Wein muß sich dem Essen anpassen wie die Begleitung dem Gesang. Die Auswahl muß also die dem Geist entsprechenden Noten und Rhythmen treffen, um in Harmonie mit der schweren oder leichten Beschaffenheit dessen zu erklingen, was verzehrt wird. Einem deftigen Gericht, wie dem osso-bucco, kann zum Beispiel niemals ein Mousseux entsprechen. Es fehlt übrigens noch ein Rotwein italienischer Herkunft. Bringen Sie den ehrwürdigsten Barolo, den Sie haben. Zumindest werden in diesem buntgemischten menú, bei dem das Merkmal der kollektiven Gefälligkeit vorherrscht, der behende Bordeaux und der warme Burgunder jede Lücke abdecken.«

Alle folgten seinen Worten aufmerksam. Der Student, noch verärgert über den maître, konnte sich einen rachsüchtigen Ausbruch nicht verkneifen: »Sehr gut, Op Oloop. Alle maîtres sind gleich, wichtigtuerisch und anmaßend. Doch wenn man sie ihrer Verkleidung beraubt, sind es arme Teufel … Ich bin mir sicher, daß Ihre Lektion ihn blaß aussehen lassen wird.«

»Nein, Señor. Ich wüßte nicht warum«, beeilte sich der Zuhälter, ihn mit würdevoll vorgestreckter Brust zu widerlegen. »Die angegebenen Weine sind exquisit und die Abstufung relativ korrekt. Selbst der wählerischste gourmet könnte kaum einen Einspruch erheben; denn, entschuldige mein lieber Op Oloop, der Fehler liegt in dem so heterogenen menú. Wir Mädchenhändler essen entweder aus Berufsräson in luxuriösen Hotels oder aus Staatsräson in verschmutzten Gefängnissen … Daher ist uns der Wein wichtiger als das Essen; denn da er reiner Geist ist, unterwirft sich die Materie seiner transzendenten Herrschaft. Unter diesem Gesichtspunkt, wenn man seine bloße Funktion bewertet, ist ein schlichtes Glas herben Weins aus Mendoza ebensoviel wert wie ein geschliffener Kristallkelch mit Heidsieck Monopole. Denn was in uns anschlägt, ist nicht der Geschmack, sondern die Absicht des Weines, nicht das bouquet, das den Gaumenbogen einbalsamiert, sondern das Aroma, das sich in unserer Innenwelt ausdehnt.«

»Darf man trinken?«

»Man darf.«

»Auf das Wohl unseres erlauchten Kupplers!«

Und alle tranken.

Die rauschende Leutseligkeit des Trinkspruchs rötete Gastón Mariettis Gesicht. Er haßte alles pompöse Gerede. Die letzte Vokabel klirrte noch in seinen Ohren, als er, ohne sich zu erheben, mit zurückhaltender Geste und reich an Schläue seinen Dank aussprach: »Ich danke Ihnen für ihr Votum und den Titel des erlauchten Kupplers. Doch erlauben Sie mir eine Frage: Was ist besser und würdiger, meine tausend Risiken ausgesetzte Kuppelei oder die bequeme Kuppelei gewisser Dienststellen der Regierung, wo jeder vergebene Posten einer Gunst gleichkommt?«

Die treffende Wirkung der Anspielung versenkte alle in eine meditative Haltung, die aus der Ferne betrachtet – aufgrund der über den Tellern hängenden Blicke – wie vulgäre Freßgier aussah.

Die nun aktive und aufmerksame Bedienung des Restaurants erlaubte den normalen Fortgang des Dinners. Wie nicht anders zu erwarten, war es Erik Joensun, der seine Portionen verputzte und um Nachschlag bat. Seine gerötete und schlaffe Haut sowie seine lärmende Wesensart standen in scharfem Kontrast zum abgezehrten Gesicht und der kontrollierten Dynamik seines Tischnachbarn Ivar Kittilä.

»Sie knurren, aber Sie machen nichts, als vor sich hinzukauen.

Sie erinnern mich an Lionel Barrymore …«

»Wie sollte ich nicht knurren! Dieser Spargel ist schlecht.«

»Wo Sie doch nachgenommen haben …«

»Er ist schlecht!«

»Ist es nicht vielleicht der Rahm? Die Kochkunst liegt in der Kunst, die Überreste vorheriger Gerichte auszunutzen.«

»Üble Nachreden, Peñaranda. Seit ich Finnland im März 1919 verlassen habe, esse ich in Hotels. Ihre Küche wird übermäßig kritisiert. Neid derer, die zur familiären Alltagskost verurteilt sind. Erbitterung derer, die an Verdauungsstörungen leiden … Ich habe niemals irgendwelche Beschwerden des Verdauungstrakts gehabt. Ich verteidige die Hotels hartnäckig gegen die üblichen Verleumdungen. In ihren Versuchsstuben wurden die gourmandises erdacht, die mich genährt haben, und die Köstlichkeiten, die mir vergönnt waren. Ich bin ein sanftmütiger Adlatus von Gasterea und kein vulgärer Vielfraß. Sehen Sie mich an. Mein Körper ist weder der eines Benediktiners noch der eines Stadtstreichers, der seine tägliche Abstinenz mit ein paar Happen und einem viertel Liter Wein oder Cidre ablenkt. Mein Körper fordert und ich stelle ihn zufrieden. Damit möchte ich Ihnen aufzeigen, daß das Hotel für mich Mutter und Schule gewesen ist: eine Mutter, die mich im Kult der Gesundheit unterwiesen hat, eine Schule, die mich in diese wundervolle Wissenschaft eingeführt hat, die den Magen zum Gehirn erhebt: die Gastrosophie. Wohin ich auch gehe, breitet sich daher meine Dankbarkeit – ein großzügiger Weinfleck – auf den Tischtüchern der Hotels aus.«

»Ertränken Sie sie mit Moselwein, Sie, der soviele Menschen im Unterseekrieg ertränkt hat … Doch seien Sie vorsichtig: wir alle hier sind Extremisten«, warnte Sureda.

»Extremisten? Von Op Oloop ist mir bekannt, daß er in der Roten Garde an der Einnahme von Helsinki beteiligt war. Aber Ivar, Gastón, Slatter …«

»Jawohl. Alle sind wir Extremisten … in unserer Art, Spargel zu essen …«

»Sehr hübsch; a-b-e-r d-e-r S-p-a-r-g-e-l ist schlecht.«

Die allgemeine Lachsalve warf ihn wie ein Püppchen beim Scheibenschießen um. Sein erschlaffter Mund murmelte zwischen schaurigen Grimassen eine stumme Schmährede vor sich hin.

Nach kurzer Zeit gewann die Herzlichkeit in einem Toast auf den ewigen Studenten wieder die Oberhand, dessen Witz nun selbst der Kapitän feierte.

Doch Op Oloop war schon nicht mehr derselbe. Sein Blick entfloh in dunstige Ferne. Während die Gäste die Schmackhaftigkeit der Gerichte lobten, verschlang er nostalgische Gefühle genauso, als schluckte er bittere Pillen. Ein leichter Seufzer begleitete jeden Anfall von Weltschmerz. Erik trug die Schuld daran. Er hatte die größte Tat seiner fernen Jugend heraufbeschworen. Wie also der Vielzahl an seligen und unseligen Erinnerungen entfliehen? Auf einmal versuchten diese durch den Alkohol angestachelten Erinnerungen über seine Lippen zu treten, und da es ihnen nicht gelang, kamen sie als Tränen in seinen Augen zum Vorschein.

Er mußte sich anstrengen, um sich zu überwinden. Er wußte mit Jean Rostand, daß »die wahrhafte moralische Courage darin besteht, das eigene Bild vor den anderen zu verfälschen, um es vor einem selbst zu retten«. Und indem er seine persönlichen Rückerinnerungen in eine neue Richtung lenkte, beschränkte er sich darauf, schweigend zu essen, in dichtes Schweigen gehüllt zu essen.

Der Name Rostand lenkte sein Denken wie durch Zauberei auf andere Wege. Er betrachtete es als völlig natürlich, daß der Sohn eines Dichters zu einem Gelehrten würde. Das ist keine Umkehrung, das ist Kontinuität. Er selbst hatte mit dem Erreichen des Jünglingsalters, nach der Lektüre seiner heimischen Lieblingsautoren – Pietari Päivärinta und Juhani Aho – das Vergnügen gehabt, ländliche Erzählungen zu verfassen, und den Wagemut, nach dem Studium der Werke von Johan Henrik Erkko ein Drama zu skizzieren. Bereits erwachsen, erschien ihm die Literatur lachhaft: das Spiel schwärmerischer Kinder gegenüber der Schwere der kosmischen Gesetze, ein Kitzeln in der Luft gegenüber dem Schrecken des menschlichen Schicksals. Lediglich die Wissenschaft, lediglich die Wissenschaft … Und er vertiefte sich in die Zahlen, abstrakte Kapseln, die die Essenz aller Weisheit enthalten.

Während er diesen Gedanken nachhing, konnte er es wegen der Trägheit seines Geistes nicht verhindern, daß das Gedachte allmählich zu Worten wurde. So kam es, daß er – genau in jenem Moment, in dem die Gäste anfingen, über seine Insichgekehrtheit in Besorgnis zu geraten –, ohne sich dessen bewußt zu sein und bereits bar jeder Selbstkontrolle, erklärte: »Wir leben in rauhen Zeiten, ohne Romantizismus oder Bohemie. Zeiten, in denen jeder mit seiner persönlichen Gleichung dafür eintreten muß, die unbekannten Größen zu erhellen, die er in sich trägt. Wenn dies geschieht, ist das Leben für einen und für alle gewonnen. Und man genießt die Fülle des Panoramas, das umso reiner ist, je mehr Fehler man ausräumt …«

»Großartig. Doch aus welchem Grund sagen Sie das?«

Op Oloop, aufgeweckt, fuhr erschrocken zusammen und schüttelte den Kopf, als würde er soeben erwachen. Der Hof seiner dunklen Augenringe brannte. Er lächelte mit einer betrübten Grimasse und murmelte: »Delirien … Delirien …«

»Es ist bemerkenswert, daß du in deinem Alter noch genauso delirierst wie damals, als wir auf das Gymnasium von Oulu gingen, und du für die Tochter des Literaturlehrers deliriertest …«

»Man ist immer man selbst, mathematisch und psychologisch.«

»Ja, aber du versenkst dich wie ein Felsbrocken im Meer. Du bist ein Felsbrocken aus Meditationen. Und das ist gefährlich! Ich habe nicht damit gerechnet, daß es im Meer von Bordeaux …«

»Aus … Bordeaux.«

»… Felsbrocken gäbe. Kannst du dir meine Verantwortung als Kapitän nicht vorstellen? Nichts da mit Grübeleien. Nichts da mit Felsbrocken.«

»Um die Wahrheit zu sagen, Op Oloop«, fügte der Zuhälter hinzu, »Ihre Nachbarn haben recht. Ich habe Sie beobachtet. Mit welcher Leichtigkeit Sie sich in Ihren eigenen Gewässern versenken! Der innere Monolog ist immer mehr wert als der voltairsche Dialog. Ich rühme ihn. Ersterer zeigt, daß die Persönlichkeit gereift ist. Zweiterer, daß sie noch etwas von außen erwartet. Die kultivierten, monströs kultivierten Menschen der Zukunft werden an einer Sprachlosigkeit intellektueller Art leiden, hervorgerufen von ihrer Absicht, nicht zu sprechen. Sie …«

»Oh, nein!«

»Doch.«

»Nein, nein.«

»Doch.«

»Nun gut, ich muß offen sein. Erik hat mir mit seiner Anspielung auf die Einnahme von Helsinki gewisse Episoden ins Gedächtnis gerufen, an denen ich teilhatte. Während meiner Abwesenheit war ich ein in die Vergangenheit gelehnter Mann. Noch habe ich mich nicht ganz aus dieser Haltung befreit. Mir gefällt es, von der Umrandung meines mechanischen Lebens aus in den Brunnen der Jugend hinabzublicken. Im Wasser wie Fische aufblitzende Ideen zu sehen, die ich selbst ausgesetzt habe … Im Wasser die Himmelsscheiben zu sehen, die ich früher als romantischer Diskuswerfer ins Blau des Ideals geschleudert habe.«

»Sie sind unerträglich kitschig«, gab Peñaranda von sich. »Ich reise oftmals im Blauen, und niemals bin ich mit irgendeiner Scheibe oder irgendeinem Ideal zusammengestoßen. Mit Ihnen stimmt etwas nicht, doch Sie tragen noch Ihren Panzer. Erst Ihr Zurückziehen, nun Ihr Hang zum Kitsch. Auch wenn es für mich unglaubwürdig bleiben wird, Sie müssen sich erklären.«

Der Luftfahrtkommissar sprach wenig; und da er kategorisch war, ließ die vorhergehende geistige Konzentration die Sätze als zerhackte Wörter herausschießen.

Der Gastgeber war perplex. Er praktizierte für gewöhnlich das never explain, never complain. Nun griff er sinnierend nach einem Glas Wein, liebkoste es mit Augen und Fingern, schlürfte die duftende Flüssigkeit langsam mit mehreren Schlucken und sagte: »Nun gut, da Sie mich drängen, werde ich mich erklären. Doch es gilt die Wahrheit des Sinnspruches: das Geheimnis des Verdrusses liegt im Streben danach, alles erklären zu wollen … Ja, Caballeros, ich war in mich selbst versunken. Was ist daran kitschig? Nichts. Abgesehen von der flüchtigen Unhöflichkeit, mich Ihnen zu entziehen, stellt es kaum einmal ein Vergehen dar. Ich hasse Spiegel, weil sie meine Existenz bezeugen. Doch wie den inneren Spiegeln ausweichen? Kaum lenkt man seine Achtsamkeit nach innen, führt uns unser unbestechlicher Narzißmus in den Saal der metaphysischen Spiegel. Fraglos merkwürdige Spiegel, in denen nicht die Gegenwart gespiegelt wird, sondern die Bilder der vergangenen und die Träume der zukünftigen Ichs. Die Gegenwart ist unsichtbar. Man nimmt sie wegen ihres üblen Geruchs wahr …«

»Hups! Man beachte den Seitenhieb.«

»… so wie die Merowinger die Anwesenheit des Teufels an seinem Schwefeldunst wahrnahmen. Ich beleidige niemanden, Robín. Ich führe lediglich meine persönliche Ansicht an. Denn was wir zum Beispiel hic et nunc machen, gilt nicht aufgrund seiner historischen Wirklichkeit als Bankett von Freunden, sondern als bereits vergangener Stoff einer Sehnsucht, die ich mir für die unmittelbare Zukunft aufbewahrt hatte. Die Zeit ist das einzig Gegenwärtige. Wir sind es, die wir uns bewegen. Und wir bewegen uns, um unsere Vergangenheit auszustellen: die entwickelten Photos. Und unsere Zukunft: die zu entwickelnden Photos …«

»O.k.! Alles ist eine Ausstellung. Bis hierhin bin ich einverstanden. Doch von einem anderen Gesichtspunkt aus vertrete ich das Gegenteil: nämlich, daß der Mensch unbeweglich ist, immer in Pose, während das übrige neben ihm dahinfließt. Nicht mehr und nicht weniger als der Radfahrer auf dem Jahrmarkt, der vortäuscht zu fahren, während er eigentlich stillsteht … nur im Hintergrund zieht ein szenischer Vorhang vorbei.«

»Ein schlechter Vergleich, Ivar. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß das Kino und die Philosophie Tricks, Kunstgriffe und noch schlimmere Dinge kennen. Doch bringe das nicht durcheinander.

Dieser Gesichtspunkt ist genau jener hedonistische, der die Illusionen – das wahre Fleisch der Gegenwart – ausbeutet und in der fürchterlichsten nur vorstellbaren Schiebung Gewinn aus ihnen schlägt.«

»Großartig, Op Oloop! Ich bin mit Ihnen einer Meinung, daß die Filmproduzenten die schlimmsten maquereaux der Menschheit sind.«

»Ganz genau.«

»Wie, ganz genau?«

»Diskutieren wir nicht. ›Die Welt ist unverbesserlich und das Leben abgrundtief schlecht.‹ Wir müssen die Blasphemie von Hartmann dadurch überwinden, daß wir das Leben bis hin zur Beseitigung seiner harten Hornstellen glätten. Diskutieren wir nicht. Ich bin viel herumgekommen und habe viel gelitten. Wohin ich auch kam, habe ich die Welt bereit zum Genuß gesehen … und den Genuß selbst von einer Minderheit in Beschlag genommen. Und wohin ich auch kam, war ich ein Rebell.«

»Ein Rebell, Sie?«

»Jawohl. Wissen Sie etwa nicht, daß die Rebellion der Gesetztheit, in der heroischen Bedeutung des Wortes, die würdigste und effizienteste ist? Sie sind ein ungestümer Mensch, Peñaranda. Und als solcher wissen Sie nicht, daß das Ungestüm eine verbale Staubwolke ist, die sich im ersten Kugelhagel auflöst. Ich hätte Sie gern an meiner Seite gesehen, in den Quartieren der Roten Garde im Januar 1919. Das Geklirre der politischen Leidenschaft übertraf das Geklirre der Schlachten. Nichtsdestotrotz wohnte in unseren Herzen ein kalter Mut, ein Mut, der uns die Zähne zusammenbeißen ließ und uns mehr und mehr dazu antrieb, die Unterdrücker anzugreifen. Oftmals habe ich bei der empirischen Betrachtung der Geschichte über den algebraischen Willen des Schicksals nachgegrübelt. Wir sind Zahlen und die Ereignisse Arithmetik. Die Einnahme von Helsinki und der darauffolgende Zusammenbruch der Klassenunterschiede ließen uns am Grundsatz unserer Gerechtigkeit festhalten. Der Soldaten- und Arbeiterrat war eine idiotische Illusion. Der Rote Terror eine krankhafte Verirrung. Denn die negativen Zahlen werden positiv, wenn man sie an eine andere Stelle schiebt, und die Ereignisse gleichen wie im arithmetischen Mittel die Extreme und die Durchschnittswerte aus, den Extremismus und die Mittelklasse, das Extreme und das Mittelmäßige … In der Tat, Deutschland, das nach dem Vertrag von Brest-Litowsk die Vormundschaft über Finnland erlangt hatte, eilte der Weißen Garde zu Hilfe. Und der bolschewistische Erfolg erlitt in den Flüssen aus Blut Schiffbruch, die von den Von der Goltz'schen Horden und den zielbewußten Henkern des Weißen Terrors entfesselt wurden.«

»Von der Goltz? Der zur Hundertjahrfeier der Mai-Revolution hier war?«

»Eben dieser. Die tollwütigsten Generäle sind es, denen die Nationen die größten Ehren zuteil werden lassen. Sie werden geschickt, um ihre mit Lorbeeren verzierten Halsbänder und vor niederen Instinkten geifernden Zähne zur Schau zu tragen. Im Mai war die Revolution niedergeschlagen. Ich floh und trug auf dem Rücken meine Jugend wie einen Rucksack voll Verbitterung. Ich war fünfundzwanzig Jahre alt … Ich war fünfundzwanzig Jahre alt …«

Er wiederholte den Satz echoartig, als hallte er von den Mauern des Tales wider, das vor seinen Augen erschien. Und er schwieg.

Seine Hände – psychische Hände – eilten ihm daraufhin zu Hilfe. Es schienen die Hände einer Mutter zu sein, die auf seiner Stirn das Fieber der Erinnerung abkühlten und auf dem Haar die Elektrizität der Ideen zurechtstrichen.

Die Kellner trieben unerschütterlich den Ablauf des Dinners voran.

Die Gläser färbten sich mit dem Purpur des Mercurey.

Eine grüblerische und düstere Stille breitete sich aus.

Es war dringend vonnöten, daß irgend jemand sie durchbräche. Cipriano Slatter nahm sich dieser Aufgabe an. Er war von der Erzählung berührt worden. Sein Galgengesicht in die Länge ziehend, stieß er hervor: »Ich bin mit Ihnen einer Meinung über die Fatalität des unfruchtbaren Opfers, Op Oloop. Es ist fürchterlich und schmerzhaft. Wofür lohnt es sich zu kämpfen? Was ist es wert, auf volles Risiko zu setzen? Einen Scheißdreck. In der Politik sieht der Gegner die Großzügigkeit als eine Schändlichkeit an, während für den Genossen ebendiese Schändlichkeit wiederum eine Tugend ist. Die Politik ist die Pest.«

»Genau, die Pest!« bestätigte Peñaranda. »Die Politiker sind allen auf die Nerven gegangen mit ihren Prinzipien, haben die Geduld mit den strengsten Vorbildern strapaziert. Und was dann? … Sie sind alle gleich! Nachdem sie inbrünstig ihre historische Rolle postuliert haben, verfolgen sie, satt bedacht mit Pfründen und Ruheposten, den Kurs der Vortragskunst …«

»Sagen Sie mir, sind Sie nicht öffentliche Angestellte?« fiel ihm der Student ins Wort.

»Doch.«

»Doch.«

»Also?«

»Was, also? Ist das Gehalt vielleicht ein Gunstbeweis? Wir sind niemandem Dankbarkeit schuldig!«

»… und selbst wenn wir es wären, handeln wir völlig korrekt darin, diese Erwartung zu enttäuschen. Ich habe spät gelernt, daß die Anständigkeit ein schwerer Ballast ist. Meine Kultur hat mich als ›Flügel-Mensch‹ prädestiniert, geeignet, um am Firmament der öffentlichen Wertschätzung aufzusteigen. Doch die Anständigkeit hat mich im Rahmen des Notwendigen kleingehalten. Ich habe mich mit Schulden durchlöchert. Und mich in einen Schwamm der Staatskasse verwandelt: in einen ›Mund-Mensch‹.«

»Soll das heißen, daß Sie gar nicht fliegen?« fragte der Zuhälter ironisch.

»Ganz genau, Señor, ich fliege nicht«, antwortete der Luftfahrtkommissar mit absoluter Ernsthaftigkeit.

Der Statistiker betrachtete gutgelaunt seine Gäste.

Die leidenschaftliche Stille, die auf die Unterbrechung folgte, erfreute ihn, anstatt ihn mit Besorgnis zu erfüllen. Der Skeptizismus war die Droge seines Erwachsenenlebens. Die Wechselfälle des Lebens hatten ihn gelehrt, nicht von ihr abzusehen. Eine muntere Droge, stärkte sie sein Herz doch mit soviel Magie, daß sich die Schande in Mitleid und die Schmach in Nachsicht verwandelte.

Gastón Marietti schloß sich gerissen seiner Hochstimmung an: »Es ist ein Jammer, daß wir Sie unterbrochen haben. Fahren Sie mit Ihrer Erzählung fort, Op Oloop.«

»Herzlich gerne. Aber nur unter einer Bedingung. Erlauben Sie mir, daß ich von hier aus, von dem Belvedere aus, das ich bin, auf den anstoße, der ich war.«

»Mit Vergnügen. Einstimmig angenommen.«

»Jawohl. Die glückliche Fügung hat mir einen Aussichtsturm beschert. Ich sehe den in sich gekehrten und traurigen Jungen, der die familiären Umschmeichelungen in Verteidigung seines freien Willens verlassen hat … Ich sehe den abenteuerlustigen Jugendlichen, der durch Finnland zog, vom Ladogasee bis zum Arktischen Eis, und das Elend der Nächsten teilte, die unter den Tücken des Rauhreifes, der Schärfe des Eises und dem Grabtuch des Schnees litten … Ich sehe den verträumten und marxistischen Jüngling, der berauscht von der Poesie in Seen aus Seide und Birken- und Lärchenwäldern für eine Ordnung aus Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit kämpfte … Und ich kann nicht umhin, eine menschliche Landschaft von solcher Offenherzigkeit, solchem Enthusiasmus und solcher Reinheit bewegt und berührt mich! Ich trinke also mit meinen Tränen auf den Op Oloop, der ich gewesen bin, und mit meinem Wein auf den Op Oloop, der nie wieder sein wird …«

Bereits durch wiederholte Trinkopfer geschult, war der Toast schnell erledigt.

In den Ohren einiger seiner Gäste klang noch der sibyllinische Tonfall seiner letzten Worte nach: »… auf den Op Oloop, der nie wieder sein wird …«

Ivar und Erik tauschten mit hochgezogenen Augenbrauen fragende Blicke aus.

Der Student wies Slatter auf die abrupten Temperamentsschwankungen des Gastgebers hin: Redseligkeit, Abwesenheit, Zufriedenheit, Tränen.

Gastón Marietti versenkte sich in tiefere Reflexionen: »Der nie wieder sein wird! Sollte Op Oloop unglückseligerweise ein uomo finito sein? Ich glaube es nicht. Seine Kultur, die außergewöhnliche Vitalität seiner Kultur, muß schlechterdings verhindern, daß er in seinem Humanismus nachläßt: in der höchsten Kunst, so sehr wie möglich Mensch zu werden. Seine Beredsamkeit von gerade, geschliffen in ihrem Sinn, sirupartig in ihrem Erguß, zeigte dennoch eine definitive Ermüdung, die ihn dazu zu verleiten schien, in seiner eigenen Vergangenheit auszuruhen. Was für eine Absonderlichkeit ist dies? Es ist wahr, daß im Geist widersprüchliche Gefühle nebeneinanderbestehen, die die Persönlichkeit zur gleichen Zeit mit dem Ziel bearbeiten, sie auf unterschiedliche Routen zu führen. Selbst ich mache diese Erfahrung. Verbi gratia, es ist paradox, daß er die Niedrigkeit der gängigen Moral annehmen sollte, um mit ihr zu gedeihen, ist er doch in allem auf das Zukünftige gerichtet …«

Von Op Oloop entfacht, holte ein Sturm von spöttischen Bemerkungen und Gelächter den Zuhälter zum Getöse der Tafelrunde zurück.

»Wer hat da meine Abwesenheiten und inneren Monologe kritisiert? … Man muß Sie gesehen haben, wenn Sie sich versenken … Sie haben wohl nicht viel Übung … Sie machen die Gesten eines Ertrinkenden.«

Gastón errötete: »Verzeihen Sie mir. Ich habe zufällig an Sie gedacht. Ihr Toast auf ›den Op Oloop, der nie mehr sein wird‹, hat mich aufgewühlt.«

»›Der Mensch ist ein Zufall in einer Welt aus Zufälligkeiten‹, hat Nietzsche gesagt.«

»Gut. Doch diese inbegriffene Absage an die Zukunft, diese Absicht, die Seele in keine anderen Anzüge zu kleiden als die aus der Mode gekommenen der Vergangenheit … Ich hasse die Vergangenheit übrigens so sehr, daß ich mich systematisch geweigert habe, Kinder zu kriegen, aus Angst davor, daß ihr Alter mein Alter aufzeigen könnte.«

»Ich hingegen habe gelitten und leide noch, da ich keine habe. Gerade damit sie es mir aufzeigen; denn die Luftspiegelung der eigenen Jugend ist und bleibt nichts weiter als eine Luftspiegelung.«

Nachdem er diesen Gedanken ausgesprochen hatte, stürzte er mit seinem Denken in ein Luftloch. Er seufzte. Und ohne irgendeine Art der Zurückhaltung hielt er sich mit den Händen die Augen zu.

Dieses Mal erklärte Peñaranda seinen Nachbarn die ungewöhnliche Bekümmernis Op Oloops »auf technische Weise«. Wenn er auch nicht selbst, sondern nur als Begleiter flog, kannte er doch die Luftfahrttheorie und die internationalen Gesetze und Konventionen zur Regelung des Luftverkehrs aufs genaueste: »Wenn die Illusion sich hoch aufschwingt und in Richtung des Bewußtseinsfriedens fliegt, wird die Luft häufig durch Beklemmungen dünn. Dann geben die subjektiven Motoren nach und die Illusion stürzt ab. Erfahrene Piloten gleiten für gewöhnlich bis zum Hangar ihres eigenen Fleisches hinab. Die übrigen überkommt angesichts des Scheiterns ihrer Sehnsucht ein Gefühl der Lähmung, des mangelnden Beistands für ihre Seele, das wohl die gefallenen Engel bei ihrem Abstieg gefühlt haben mögen …«

Erik schnappte die Bemerkung auf. Und stets brutal und geistreich zugleich, rettete er seinen Landsmann mit einem Ellbogenstoß aus seiner Situation.

»Los Op Oloop, fahr fort: der ganze Tisch hängt an deinen Lippen. Du hast dir sicher schon zurechtgelegt, was du uns erzählen willst. Sag es.«

Op Oloop stimmte mit einer Kopfbewegung zu. Er kam von weit her, sein Gesicht unbeweglich und von einer undefinierbaren Lust zu weinen gezeichnet. Man merkte ihm die Trübung der geistigen Nebel und den Staub der fleischlichen Wüsten an, die er gerade durchquert hatte. Und er sagte in düsterem Ton: »Ich kenne Personen, die, da sie keine Vertrauten haben, laut vor sich hin sprechen, um sich so auf auditivem Wege von ihrer Existenz zu überzeugen. Ich mißtraue dieser Art der Redekunst. Mich belästigt es zu sprechen. Meine Stimme ist ein ungebetener Eindringling in dem Theater, in dem ich – Autor und Zuschauer zugleich – das geheime Drama meines Lebens aufführe und höre. Entschuldigen Sie mich infolgedessen, und lassen Sie uns von anderen Dingen reden.«

»Nein, Op Oloop. Sprich. Deine Einladung zu diesem Bankett, mit der ehrerbietigen Formvollendung eines geschliffenen Mandarins aufgesetzt, hat meine Aufmerksamkeit erregt. Dieser Text

 

›Hochwohlgeborener Ivar: Ich werde Dir zutiefst verbunden sein für die Dienste, die Du meinem Geist durch Deine Anwesenheit an der Tafel erweisen wirst, die ich heute abend um 21.30 Uhr im Grill del Plaza decken zu lassen gedenke.‹

 

ist nicht von der üblichen Art. Er verbirgt etwas. Nenn mir das Murmeln, den Laut, das Wirrwarr, das dein Geist benötigt, damit ich sie dir darbieten kann. Ich werde mein Teil tun. Doch setz nicht diese trübe Miene à la Clive Brooks auf …«

Er steckte in der Klemme. Der Student und der Zuhälter, jeweils mit ihren Einladungskarten in der Hand, lasen wiederholt die Vokabel »Hochwohlgeborener« vor. Und auch sie warfen die Enterhaken ihrer drängenden Blicke nach ihm.

»Caballeros, Ihre Erwartungshaltung verletzt mich. Was soll ich Ihnen erzählen? Mein Leben ist immer gleich gewesen, bis zu dem Zeitpunkt, als ich aus Finnland floh: glatt und geradlinig. Und so hat es sich fortgesetzt. Du, Ivar, hast mich im Gymnasium von Oulu kennengelernt. Ich konnte weder Minnas Liebe noch den Lektionen ihres Vaters, des Literaturlehrers, widerstehen. Und ich zog und zog durch ganz Suomen-Maa, von Archangelsk bis zum Bosnischen Meerbusen, von 60° bis 70° nördlicher Breite. Seen, Sumpfgebiete, Felsen. Kältewellen, Hungersnöte, Fußtritte. Bis ich mit meinem Allerwertesten im Kontrollbüro des Holzhandelszentrums von Turku gelandet bin. Dort kam ich mit der Statistik in Kontakt. Ich durchtränkte mich mit der absoluten Wahrheit der Zahl und der relativen Wahrheit der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Jahrelang kannte ich die genaue Tonnage des Weltverbrauchs an Papierpulpe, Holzteer, Schicht- und Preßholz auswendig. Diejenigen, die nicht von der Statistik eingenommen sind, kennen ihren Rang nicht, eine Wissenschaft, die die reine Mathematik mit der Untersuchung der wirklichen Welt verknüpft. Den esprit de géometrie mit dem esprit de finesse. Auf der Grundlage von statistischen Erhebungen, Diagrammen und Ziffernreihen wird die statische Geschichte der Menschheit beschrieben und zusammengefaßt. Das Schichtholz war mein Ausgangspunkt. Durch die Beobachtung der Exportzahlen von Schichtholz, Schichtholz … Hoerée! … Franziska! FRANZISKA! FRAN-ZIS-KA!«

Das hatte es in sich!

Op Oloops plötzliche Erregung erfüllte die Gäste mit Staunen. Einige erhoben sich. Op Oloop, direkt wieder zu sich gekommen, hielt sie jedoch mit einem Handzeichen an, ihre Plätze einzunehmen: »Entschuldigen Sie dieses ungereimte Gerede. Ich weiß nicht, welche bacchische Resonanz oder welche Impulse sich da vermengen.«

Er log.

Und mit sanfter Stimme, der Sanftheit der Erschöpfung, rief er sachte: »Hoerée! Franziska! FRANZISKA! FRAN-ZIS-KAAA! … Evohé! Io, ío, eleleleu!«

Das Erstaunen war nun in Bestürzung übergegangen. Keiner verstand mehr etwas. Während er die Anrufungen der Bacchantinnen ausstieß, setzte er dazu mit leichtem Fingerschlag Synkopen auf seine Lippen. In dieser Notlage stand sogar Gastón Marietti auf. Alle hatten die Erbitterung des Beginns und den nachgiebigen Stolz in der Fortführung seiner Erzählung bemerkt. Doch dieser unlogische Ausrutscher, wem war der zuzuschreiben?

»Vielleicht der Mercurey …«

»Oder die Mischung der Weine.«

»Nein. Er trinkt kaum«, flüsterte Erik in Slatters Ohr.

Als wäre nichts geschehen, nahm der Gastgeber den Faden seiner Erzählung wieder auf: »… durch die Beobachtung der Exportzahlen des Schichtholzes könnte ich Tausende Behauptungen über die Natur und Eigenart des Importlandes anstellen, nicht mehr und nicht weniger als jener Kondomhändler, der aus den Verkaufszahlen seiner Ware auf die Geburtenrate des Volkes schloß …«

Die Lacher kamen zaghaft. Dennoch brachte der Witz alle an ihren Platz zurück. Und das Symposium verschlang den gerade servierten Gang mit neuerwachtem Hunger.

Der Schatten seines Ausbruchs verfolgte ihn, ebenso wie der scharfe Blick der ihn Umgebenden.

Es gelang ihm nur schlecht, den Wunsch, sich von beidem zu befreien, zu verbergen und er fuhr geschwätzig fort: »Als ich mich später in Helsinki eingerichtet hatte, nahm mich die Statistik durch ihre wissenschaftliche Autonomie und durch die experimentelle Disziplin, die sie erfordert, für sich ein. Meine Liebe zur Methode stammt aus jener Zeit, denn es gibt für jedes Phänomen eine mechanische Ursache, für deren Analyse nötig sind: erstens, kritische Betrachtung; zweitens, Interpretation; drittens, Ehrlichkeit; und viertens, Genauigkeit. Und für jede Forschungsarbeit gibt es eine rationale Einschätzung, von der sich ableiten: erstens, die Bewertung der Kräfte im historischen Materialismus; zweitens, die Einsicht, im Voraus um den in der Unendlichkeit der Zukunft aufgedeckten Fehler wissen zu müssen; und drittens, die funktionale Gleichung, die die Vergangenheit mit dem System der verborgenen Prinzipien in Harmonie bringt. Reine Philosophie, meine Freunde, die Helmholtz und Hertz dem Universum beibrachten, indem sie, wie ein Spieler sagen würde, feine Ohren für die Zahlen hatten, die Zahlen, nichts als die Zahlen! Später, als Angestellter beim Demographischen Institut, nahmen meine Monographien die Liebes- und Todeschroniken der Hauptstadt auf. Wer auf philosophische Art mit den Ziffern spekuliert, kann anhand von unehelichen Kindern, Scheidungen und Verbrechen aus Leidenschaft die fatale Krise der gültigen Moral für die nahe Zukunft vorhersagen. Meine diesbezüglichen Thesen – die dazu raten, eugenisch ein soziales Konglomerat zu formen, das für die biotypische Verbesserung des Individuums geeignet ist – verdienten sich das Lob der »Statistical Society‹ in London und verschiedener Kongresse, die von meinen Arbeiten inspirierte Vorträge annahmen. Darüber hinaus führt der ›Annuaire Statistique de la Societé des Nations‹, Zeitraum 1932-33, die technische Überlegenheit der ›Methode Op Oloop‹ für die Koordinierung von Daten über Phänomene an, die verschiedenen Ländern gemein sind. Denn die Methode ist alles, Caballeros. Bacon hat es gesagt: »Claudus in via antecedit cursorem extra viam«, beziehungsweise übersetzt: Eine Person von mittelmäßiger Intelligenz, aber mit einer guten Methode, wird in der Wissenschaft weiter kommen als ein auf gut Glück vorgehender Feingeist. In diesem Sinne bin ich methodisch gewesen und werde es bis zu meinem Tode bleiben; denn der Tod ist als Phänomen ebenfalls konditioniert, durch allgemein bekannte physisch-chemische Grundregeln, unter der psychisch-hormonellen Ägide. Nun gut, als ich mit Beginn der Diktatur des reaktionären Senators Svinhufvud aus meinem Land auswanderte, ließ ich mich in Frankreich nieder. Meine Familie setzte alle Hebel in Bewegung, um mich zurückzugewinnen, und erreichte eine spezielle Begnadigung und die Wiedereinsetzung auf meinen Posten durch den ersten Präsidenten von Finnland, Professor Kaarlo Juho Stahlberg. Ha, ha! … Eine ›gute‹ Erfindung, die Familie, teilte ich die Meinung von Poil de Carotte. Denn ich nehme von niemandem Begnadigungen an, und noch viel weniger von demjenigen, der versuchte, mir mit einer rosigen Zukunft das rote Blut von zwanzigtausend während des Weißen Terrors ermordeten Kameraden vergessen zu machen. Ich blieb also in Frankreich, einem wundervollen und unerträglichen Land. Ich blieb und litt unsäglich, denn ein Nordländer leidet in romanischer Umgebung immer unter der seichten Tiefe der Liebe, der Ordnung und der Freiheit.«

»Das verstehe ich nicht richtig«, unterbrach Marietti.

»Ich bin es, der sich schlecht ausgedrückt hat. In Liebe und Freiheit gelten bei den Völkern, die rund um die Ostsee angesiedelt sind, andere Regeln. Dort ist die Leidenschaft erzogen worden. Hier ist die Liebe ungezähmt und die Freiheit widerborstig. Auch die Ordnung ist anders. Bei uns liegt in der spontanen Entsagung des Willens eines jeden die Hommage an das kollektive Wohlergehen. Gehen Sie dorthin und alles ist geglättet: die Selbstlosigkeit und die Sittsamkeit. Hier ist jeder nur auf sich selbst bedacht und bemüht sich um das eigene Wohlergehen. Derart bietet das soziale Gesamtgefüge eine schroffe und schwergängige Oberfläche. Ich bekenne getreulich, daß ich am Anfang wie ein Fußlahmer daherklapperte …«

»Wo Sie schon von Lahmen sprechen – Ihre Übersetzung von Claudus in via …«

»… antecedit cursorem extra viam.«

»… ›hinkt‹ daran, daß Sie den Lahmen nicht erwähnen …«

»Das ist wahr. Ich habe paraphrasierend übersetzt. Die wörtliche Übersetzung würde ungefähr so lauten: Der Fußlahme, der den rechten Pfad nimmt, trifft vor dem Läufer ein, der vom Weg abkommt.«

»Darin stimme ich überein. Ich bewundere die drei Claudes …«

»Sagen Sie mir: Sind Sie ein Zuhälter oder ein Philosoph?« bedrängte ihn der Student und provozierte eine Lachsalve.

»Beides. Ein Zuhälter, wenn ich herabsteige, um mit Ihnen zu sprechen; ein Philosoph, wenn ich heraufsteige, um mit Op Oloop in einen Dialog zu treten.«

»Treffer versenkt!«

»Ich sagte, daß ich die drei berühmten ›Lahmen‹ Frankreichs bewundere: Claude Bernard, Claude Monet und Claude Debussy. Sie, Op Oloop, der Sie die Menschen pythagoreisch messen, kennen ihre Bedeutung. Und damit ist es genug. Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbrochen habe.«

»Keine Ursache. Ich bewundere sie auch. Wenn auch nicht ganz so sehr wie die lahmen Frauen, deren Defekt durch den muskulären Einfluß, den er auf ihr Geschlecht ausübt, zu einer Quelle merkwürdiger Wollüstigkeiten wird … Montaigne, ein guter Wein- und Frauenkenner, ist meines Wissens der einzige, der meine Erfahrung vorweggenommen hat. Doch ›hinken‹ wir nicht weiter … Kehren wir zurück. In Paris lebte ich vier Jahre lang in einer Dachgeschoßwohnung in Montparnasse, zusammen mit einem Yankee, der diese vier Jahre als ein Besäufnis zur Feier der Waffenruhe nutzte. Er war unersättlich. 1922 kam sein Vater, ein Tabakhändler aus Kentucky, um ihn abzuholen, doch er hatte es sich bereits zum System gemacht, die Waffenruhe von ›La Cigogne‹ zu ›La Coupole‹ ziehend zu feiern, von ›Vicking's‹ zu ›La Rotonde‹, und weigerte sich zurückzukehren. Die monatlichen Wechsel blieben aus. Um ihn auf den rechten Weg zurückzubringen, organisierte der Vater ihm durch einen Senator seines Staates einen Posten bei der ›American Battle Monument Commission‹. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Doch er schloß einen Pakt mit mir. Wir teilten den Dollarlohn durch zwei, und ich würde seine Aufgabe erfüllen, während er weiterhin die Waffenruhe feiern könnte … Der Mangel an Kontrolle gestattete die List. Und als es herauskam, war die Qualität meiner Arbeit bereits ein unbestreitbares brevet. In der Tat, ich erhielt die Stellung des Leiters des Archivs im ›American Graves Registration Service‹ beziehungsweise der Amtsstelle, in der die Gräber der in Frankreich gefallenen amerikanischen Soldaten registriert wurden. In dieser Organisation, die auch für die Friedhöfe und Kriegsdenkmäler zuständig ist, fand meine arithmosophische Berufung Anlaß, um die Methode zu vertiefen. So verwandelte ich mich in einen makabren Strategen. Das ganze ruhende Heer – achtzigtausend Expeditionsteilnehmer – gehorchte meinem Befehl. Ich war der Organisator des Todes, in denselben Gebieten, in denen die alliierten Kommandos zur Schlacht geblasen hatten.«

Er schwieg.

Es war ein freier Fall in die Sprachlosigkeit.

Die Gäste, die dem Wortschwall Op Oloops zunächst reserviert gefolgt waren, gaben sich schließlich seinen beeindruckenden Schilderungen hin. Sein Vortrag war schon kein durch die Umstände erzwungener Sophismus mehr, um die Scham zu verdecken, die ihn ungereimte Sätze hatte ausstoßen lassen. Nun hörten sie ihm versunken zu und vermieden so weit wie möglich die mit dem Essen verbundenen Geräusche. Und alle bis auf den Zuhälter litten mit ihm, als seine Stimme in der Stille versank und sein Blick in ferne Ansichten entschwand.

»Ein Schluck Mercurey?« schlug Gastón mit vorgestreckter Flasche vor.

Op Oloop blieb stumm.

Wenn sich jemand den vertikalen Steilhang in sich selbst hinabstürzt, wird der Aufprall vom Rausch der Gefühle und Erinnerungen übertroffen. Und die Wörter verweigern sich kränklich oder treten wie Dunst aus einem Ausbund des Wahnsinns aus.

Nach einer Weile murmelte er: »Wein: Blut. Blut: Wein. Nein. NEIN! Sonne: Moselwein, Champagner …«

Waren die Schläue oder die Mystik dieser wohl überlegten und mit priesterlicher Andacht hervorgebrachten Antwort aufrichtig? Niemand wußte es, noch würde es je jemand erfahren. Es gibt rätselhafte psychologische Vorgänge, die nicht einmal die betroffene Person selbst erhellen kann. Wenn der Geist posiert, spiegelt er manchmal urwüchsige Eigenschaften wider, denn dies geschieht in extremen Lagen, die von Erregung oder Depression geprägt sein können und jede Fiktion übertreffen. Diese andächtige Pose Op Oloops war echt, malgré lui. Doch die Schläue lag in ihrer eigenen Mystik; denn die Mystik ist nichts weiter als eine Entelechie, die ihre Einfachheit hinter betrügerischen Umhängen aus Intrigen verbirgt.

Auf einmal schien er bereit, sich zu erklären. Die Augen wurden ganz Ohr. Jeder hing am morbiden Zauber seiner Worte. Und er sprach, in gedämpftem und seufzendem Ton, mit dem seltsamen Stimmfall einer untergegangenen Glocke: »Wein: Blut. Blut: Wein! Ich habe Bauern gesehen, die sich beim Heben des roten Glases mit einheimischem Wein bekreuzigten und weinten, da sie glaubten, das Blut ihrer Söhne zu trinken. Ich habe von Mörsergranaten durchsiebte Gegenden gesehen, in denen die Kadaver sich gekrümmt um die Stümpfe der Weinstöcke schlangen. Ich habe Trauben von blonden Köpfen gesehen, deren Saft die Erde gierig aufsaugte, um ihn später als Champagnerschaum zu veräußern. Ich habe an makellosen Morgenden am Moselufer gesehen, wie sich aus den abgebrannten Obstgärten verfallene Weinstöcke wie die Knochen von Geistern erhoben. Und allerorten, mit Diademen aus Weinreben und Stacheldraht gekrönt, lag das grüne Fleisch der Jugend, in dem Schatten, Schmach und Wundschorfgärten. Daher berauscht der Wein mich mit Betrübnis, bevor er mich mit Vergessen belohnt. Und da ich weiß, daß sich in ihm die menschlichen Essenzen umwandeln, ist jeder Schluck ein höhnisches Lachen für meine Betrübnis und später Balsam für mein Vergessen.«

Eine lange Pause.

Er trank sein Glas in vier Zügen aus.

Die anderen taten es ihm nach.

Nie war eine Liturgie hingebungsvoller. Sie verweilten in religiöser Stille, in der Andacht, die die Pritaner auf dem Pnix verlangten.

Und er fuhr im selben gedämpften und seufzenden Ton fort, mit dem seltsamen Stimmfall einer untergegangenen Glocke: »Wein: Blut. Blut: Wein! … Auf den Friedhöfen von Aisne-Marne, Oise-Aisne, Meuse-Argonne, von Somme, Suresnes, Saint Mihiel und Flanders Field habe ich die Auslese des Todes in die Erde abgefüllt. Mehr als dreißigtausend identifizierte Leichen ruhen auf blühendem Wiesengrund ihr Fleisch aus, das in dem Martyrium aus shrapnells und Kartätschenladungen erblühte. Ich war fast zwei Jahre lang ein makabrer Stratege. Mit welcher Sanftmut ließ sich der Abfall der Schlachtereien fügsam machen! Welch erhabene Folgsamkeit fand ich stets in Knochen und Lumpen! Es schien, daß die eingetretene Prophezeiung mir die Arbeit erleichterte. Bald erhellten die fauligen Splitter eines Unterarms, bald der auseinandergerissene Bauch einer Feldflasche oder der blutige Rost eines Gewehrkolbens die Identität des Todes. Des vielfachen Todes, der doch immer der eine ist. Und ich brachte sie in Formation, ließ sie antreten, um sich selbst zu besiegen, in reglosen Bataillonen, gegen die vermeintliche Barbarei und das augenfällige Massaker. Die perverse Disziplin, die ständige Ruchlosigkeit, die kultivierte Ungerechtigkeit der Waffen gaben der mystischen Inbrunst meiner Organisation nach. Jede Karteikarte des ›American Graves Registration Service‹ war ein Sieg über das haltlose Vergessen der Menschen. Jede Karteikarte dokumentierte die vitale Verpflichtung, den Krieg abzuschaffen. Doch Verpflichtungen gelten nicht! Das Untier der Apokalypse weidet erneut zwischen den vierzehntausendzweihundert Kreuzen von Romagne-Sous Montfaucon, zwischen den sechstausendzwölf des Friedhofes von Ourq, zwischen den viertausendeinhundertzweiundfünfzig von Thiacourt … Denn der Ruhm, der im Schatten der ›Helden‹ sprießt, ist sein Lieblingsfutter! … Was für eine Schändlichkeit, das gefährliche Leben anzuspornen! Was für eine Schändlichkeit, die heroische Leidenschaft von Bayard und nicht die Umsicht von Fabius Cunctator zu ehren! … Sie hier kennen die majestätische Ausstrahlung der Kriegsfriedhöfe nicht. Die Schwadronen von Kreuzen in geraden Reihen, die bis über den Horizont hinausreichen. Die Geometrie der Leiden, die sich auf der Schultafel der Nächte wiederholt. Die in kurzer Zeit von Lilien überdeckte Fäulnis … Sie kennen die pathetische Substanz von Millionen in Querbalken aus Marmor oder Zement erfaßten Menschen nicht. Die Lüsternheit von Mars, der von Jahrhundert zu Jahrhundert zieht und dort seinen cäsarischen Wahnsinn stillt. Das Mitgefühl unzähliger Menschen, das seine Arme öffnet … damit die Schwarzröcke Sarkasmen ausscheiden … Denn so ist es! Ich habe Pershing und Foch gesehen, wie sie mein ruhendes Heer mit den ›Gold Star Mothers‹ abschritten. Eine ekelerregende Erinnerung! Weder Zärtlichkeit noch Respekt: Stolz. Hochrangige Befehlshaber des Blutbads, schienen sie einen posthumen Gruß von ihren Opfern zu erbitten. Und während sie weiter unehrerbietig die abgezehrten Kreuze entlangschritten, verhallte der Groll in Lobreden auf die Verzierung der Grabhügel und die kriegerische Schönheit der memorials ... Sapperlot! Mir ist bekannt, daß diejenigen, die den Krieg angezettelt haben, mit solchen Albereien versuchen, ihre Spuren zu verwischen. Doch ist es schändlich, daß die Mütter, die sie mit dem Ramsch der Orden gekauft haben, ihre Pläne decken. Daß sie einfältig an ihrer Seite laufen und die in Räude und Fäulnis aufgelöste Wirklichkeit ihrer Söhne vergessen. Und daß sie sich sogar – oh, du menopausischer Nationalismus! – nach neuer Jugend sehnen, um mehr Kanonenfutter gebären zu können. Die Mütter sind arme Unglückselige, sie sollten niemals schwanger werden. Wenn in einem Fruchtbarkeits-lockout alle Vaginas der Welt verschlossen werden, dann wird die Menschheit den fatalen Kurs ihrer Herrschaft ändern! Es ist nicht gerecht, daß reine Liebe in Haß fruchtet! Es ist nicht gerecht, daß sie sich in dieser Epoche des pedigree selbst im Haferstroh mit dem ruchlosen Saatgut von Nebukadnezar und Alexander befruchten lassen! … Vor Patriotismus frohlockende Menschenmengen. Wiesen von emailliertem Grün. Unwürdige camouflages! Die Rüstungsfabrikanten – Maxim Vickers, Armstrong – hüten so ihre Geschäfte. Sie waren die ersten, die die Abgründe des Verbrechens aus der Kruste der Erde und dem Mark des Bewußtseins löschten. Und sie befahlen zu pflügen, zu pflügen, zu pflügen … Die Natur lügt, die Bäuche lügen, die Hirne lügen. All ihre Galakleider: Friede, Arbeit, Harmonie, sollen ihrer Vertilgungswollust zum Opfer fallen. Ich habe ihren Treubruch gehört. Ich! Es war in Château-Thierry auf der berühmten ›Höhe 204‹, der herausragenden Schädelstätte von dreißigtausend Jungs der nordamerikanischen Streitkräfte. Dort, von dem an den Völkermord erinnernden Tempelchen aus, wiederholten sie, die Direktoren der Konsortien ›Bethlehem Steel Building Company‹ und ›Creusot Schneider‹, die Fabel von der Vaterlandsliebe und der Größe der Selbstaufopferung. Währenddessen verkauften ihre Händler heimlich Waffen an den voraussichtlichen Feind und monopolisierten in Übereinkünften das Exklusivrecht, sie zu fabrizieren … Zuerst die Industrie, dann der Rest … Und so fahren sie mit ihrem treulosen Werk fort, das Brachland zu verschönern und die Brüste mit Orden zu zieren … camouflages! La Fontaines Seele, die ihren vormaligen Lieblingsort umschweifte, stieß ihre Moralpredigt aus. Und mein ruhendes Heer zermalmte sie entlang der zugedeckten Schützengräben mit ironischem Gebiß … Schützengräben! No man's land! Geisterhöhlen. Niemandsland. Horror, Hunger und Geschwüre. No man's land! Fragmente der Hölle. Flöhe, Erstickung und Skorbut. Ich kenne deine tiefe Tragödie aus Spaten und Schutt. Aus erstarrten Ängsten und plötzlichem Wahnsinn. Ich habe dich gedrängt und du hast mir geantwortet. Du wußtest, daß ich damals ein Funktionär der Traurigkeit war. Du wußtest, daß ich die unnützen Ehrenbekundungen haßte. Du wußtest, daß ich einsam durch die Schatten deines Grundes wandelte, auf der Suche, immer auf der Suche. Und du hast mir geantwortet: ›Hier sind sie! Heb sie auf! Pflanze sie in das Gedächtnis der Menschen ein! Berechne sie in den Bilanzen der Welt!‹ … Ich habe sie aufgehoben. Sie sind bereits begraben. Doch nicht so, wie ich es wollte, in der Vulva ihrer Mütter und der Vagina der Zivilisation, sondern in einem fiktiven Lustgarten, flankiert von zwei Flaggen … Es ist nicht meine Schuld. Mein Spiegel zerbrach vor Schreck. Was für schwache Bilder! Phantasmen, keine Individuen! Dennoch, hier sind ihre Karteikarten. Alles ordentlich, alles korrekt. Doch wie ihre verwesten Nerven und ihre blutlosen Seelen beleben? Es ist nicht meine Schuld. Sieh mich an! Ich bin derselbe makabre Stratege. Derselbe Funktionär der Traurigkeit. Derselbe Statistiker, der in die Zahl der Kreuze, in die methodische Ordnung des Todes alle Koeffizienten der menschlichen Solidarität legte. Sieh mich an, Niemandsland: Ich bin Op Oloop!«

Die erste Flasche Champagner wurde geöffnet. Der Korkenknall, der mit dem letzten Wort zusammenfiel, bildete einen klangvollen Schlußpunkt.

Der Gastgeber saß hölzern und blaß da. Ein leichtes Zittern durchlief das Oval seines matten Teints und der warmen Augen und zeigte, daß die Szene für ihn weiterging. Unversehens versetzte ein Kopfschütteln alle in Aufregung. Er schien einen Schwarm von Vampiren zu verschrecken, der sich in seinem Gedächtnis niedergelassen hatte. Doch sofort fiel er in seine hölzerne Versunkenheit zurück. Dann lockerte er seine Gesichtsmuskeln, und es trat ein seliger Ausdruck auf seine Züge. Und während er sein Antlitz emporhob, senkte er die Lider, als atme er Licht.

So blieb er sitzen.

Es ist schwierig, ein Gleichgewicht in der unterschiedlichen Spannung der Temperamente zu erzielen. Wenn Op Oloops Erzählung auch das Wunder der allgemeinen Aufmerksamkeit gelungen war, so ließ sie doch im emotionalen Register eines jeden etwas anderes anklingen. Vor allem seine düsteren Töne und sein pamphletartiges Geschrei verletzten die rote Reizbarkeit von Erik und den offenen Skeptizismus von Gastón. Vernünftig wäre angesichts der krankhaften Komplexität des Falles Respekt gewesen, nichts als Respekt. Doch nicht alle verfügen über das Feingefühl, diesen nach Einschätzung der Umstände zu wahren. Und während der Zuhälter den seinen auf einem Bord der Behutsamkeit zurückhielt, kippte der ehemalige U-Boot-Kapitän seine Schmährede ätzend wie eine Flasche mit einer schmierigen und übelriechenden Flüssigkeit aus.

»Ich wünschte, ich müßte nicht sprechen. Doch das ferne Vaterland gebietet es mir. Und ich gehorche. Ich kann deinen Undank nicht verstehen, so sehr ich ihn auch hin- und herwende. Finnland hat dir das Leben geschenkt und du machst es herunter. Finnland hat Licht in deine Dunkelheit gebracht und du verleumdest es. Warum? Das einzig Richtige nach deiner Flucht wäre gewesen, zu vergessen. Finnland hat zuerst vergessen. Und als es dich erneut rief, antwortetest du mit einem Meckern. Das ist schlecht. Ich bestreite nicht, daß dein bolschewistisches Ideal aufrichtig ist. Doch es interessiert mich nicht die Bohne. Ich zolle deinem Scheitern Applaus, und dem deiner Kumpane in dem hinterhältigen Versuch von 1919, mein Volk zu russifizieren. Eine schöne Sache hattet ihr vor! Der rote Schrecken war der unheilvollste, soweit die finnische Bevölkerung nur denken kann. Du weißt das. Meine Verwandten aus Yrjölä und deine vermögenden Onkel aus Riihimaki dienen als Beweis. Wie soll ich also zulassen, daß du so daherredest? Nein! Niemals! Ich habe mich sofort von den Von der Goltz'schen Kriegsscharen anwerben lassen. Ich danke dem glücklichen Zufall, daß ich nicht von Angesicht zu Angesicht auf dich gestoßen bin. Ich war aufgebracht und entrüstet. Gerade hatte ich meinen Mut und meine Erfahrung einer vom vereinigten Pöbel umzingelten Nation dargeboten …«

»Einen Moment!« verlangte Gastón Marietti, ohne aus der Ruhe zu kommen. »Wenn Sie in diesem Ton auf die alliierten Mächte anspielen, tun Sie mir den Gefallen und nehmen Sie Frankreich davon aus. Ich werde das nicht dulden!«

»Hören Sie auf mit diesen Nichtigkeiten! Dann sind Sie also … Als ob Sie im Krieg ein tapferer Vorzeigefranzose gewesen wären. Doch Sie waren ein Feigling …«

»… wehrzersetzerisch und verräterisch. Doch spielen Sie nicht auf Frankreich an!«

»Jawohl, ein nach Barcelona geflohener Wehrzersetzer aus der Bande von Almereyda und Bolo Bajá und ein vom spanischen Konsortium gut bezahlter Verräter, der den deutschen U-Booten Daten und Treibstoff lieferte. Ich selbst habe Ihre Dienste in Anspruch genommen!«

»Haargenau.«

»Warum also soviel Geschrei um Frankreich! Wenn man das Vaterland liebt, verrät man es nicht.«

»Sie irren sich. Ich habe Frankreich immer geliebt, auf meine Weise. Gerade weil meine Liebe so rein ist, schlägt sie in Sadismus um. Daran stößt sich der Chauvinismus und die krankhafte Selbsteinschätzung Frankreichs. All meine Feigheit, mein wehrzersetzendes Verhalten, mein Verrat hatten, so negativ sie auch schienen, einen Hintergedanken: Frankreich zu heilen. Es von seinen bürgerlichen Fehlern und ethischen Traumata zu heilen. Momentan verfahre ich auf dieselbe Art. Gerade weil die französische Moral knurrt, da der Mädchenhandel ein Zweig der nationalen Industrie geworden ist, gefalle ich mir darin, ihn scharfmacherisch zu verbreiten. Erst wenn die Epidemie sich ausbreitet, werden Maßnahmen ergriffen … So wird der schlechte Ruf, den wir Frankreich schmieden, vielleicht dazu führen, daß es sich eines Tages bessert … Dann wird unsere Arbeit geschätzt werden, die vorbereitend und unabkömmlich ist wie der Wismutfleck für die Radioskopie. Daher werde ich niemals erlauben, daß Frankreich in meiner Gegenwart beleidigt wird. Möglicherweise ist meine Mutter eine Hure. Es ist ihr Recht oder ihr Schicksal. Was ich nicht zulasse, ist die Beleidigung, das vor mir auszusprechen. Nichts weiter.«

Verwirrung.

Die Atmosphäre war von Mißmut getränkt.

Außer dem fast ekstatischen Op Oloop beobachtete jeder der Gäste den anderen, als drängte er darauf herauszufinden, was genau los war. Mußte man den Zwischenfall ernst nehmen oder nicht? Das paradoxe Säbelrasseln des Zuhälters hatte Erik entwaffnet. Hochgewachsen wie er war, brannten seine bartlosen Wangen vor Scham und Zorn. Er rang um Worte und brachte keines heraus. Schließlich, vor Anstrengung noch röter angelaufen, spie er aus: »Ich verstehe nicht. Wann hat man je gesehen, daß Verräter ihr Vaterland lieben? Wo hat es Ganoven gegeben, die über die soziale Wertschätzung wachen? Versuchen sie doch, es zum Untergang zu bringen … Versuchen sie doch, sie zu beschmutzen … Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Auch dich nicht, Op Oloop, einen Rebell gegen die Tradition der alten Finlandia, aufständisch gegen die Heimat, die dich geformt hat. Hast du etwa keine Gefühle? Was beabsichtigtest du damit, uns zu sowjetisieren? Die alte skandinavische Rasse auszurotten, das blaue Kreuz unserer Flagge zu besudeln, das Suomen Laulu, die heroische Melodie der Hymne von Runeberg zum Schweigen zu bringen? Ich verstehe Widersprüche dieses Ausmaßes nicht: romantisch und grausam zu sein … kultiviert und bäurisch grob … Warum verdammst du die Aufopferung im Krieg, hast du doch an den roten Schandtaten teilgenommen? Warum vergießt du über die weißen Gräber der Yankees Tränen, hast du doch deine Landsmänner unbegraben gelassen?«

Op Oloop, das Gesicht emporgehoben und die Lider gesenkt, atmete weiter Licht ein … Das Säbelrasseln des Zuhälters rasselte in ihm …

»Los, ich möchte eine Antwort!« scholt der Kapitän sie rasend. »Du, der du dich über die Verbrechen des anderen Lagers entflammst und nicht über die des eigenen Lagers nachdenkst … Du, der du in jedem Kreuz ein Symbol für den nach Gott rufenden Menschen siehst und nicht in jedem Menschen ein mit Fetzen ausgeschlagenes Kreuz … Du, der du weißt, daß es, ›um im Krieg siegreich zu sein, notwendig ist, Lust am Töten zu empfinden‹, und dieses Wissen mit deiner Beredsamkeit verhöhnst … Und Sie …«

»Mich lassen Sie da heraus. Man sieht, daß Ihnen der Wein nicht gut bekommt.«

Eine so unerwartete Eingebung ließ ihn von seinem Rednerpult stürzen. Gerade weil sie perfekt war, traf sie den Kapitän vernichtend. (Man reagiert stärker auf das Wahre als auf das Falsche.) Dann musterte er Marietti knurrend, der gerade seine Krawatte richtete. Und dem geheimen Inhaltsstoff seiner schlechten Laune wurde eine große Dosis Haß hinzugefügt.

Diesmal hielt die Verwirrung nur kurz an. Slatter und Sureda verlangten fast im Duett, das Thema zu wechseln. Doch niemand schenkte ihnen Beachtung. Ganz im Gegenteil, Ivar Kittilä ergriff mit Pupillen, die wie zwei Stahlknöpfe glänzten, die Gelegenheit, das Wort an sich zu reißen.

»Der Krieg ist schön. Er ist die heroische Symphonie des Kinos. Die rohen oder feinen Geräusche erlangen in ihm den Rang höchster Wirklichkeit. Die komprimierte Explosion der Granaten und das eingekapselte Pfeifen der Kugeln sorgen mit ihrem Auftreten für einen natürlichen Einschnitt in die akustische Seele des Zuschauers. Der Krieg ist großartig an Effekten, Überraschungen, an detonierenden trouvailles. Ein guter Toningenieur übertrifft mit Leichtigkeit die szenische Phantasmagorie. Der Donner, nicht der Blitz. Das Aua, nicht die Wunde! Das Wehklagen eines verendenden Soldaten vor dem Halbdunkel eines von Schlamm und Leichen aufgewühlten Schützengrabens beeindruckt mehr als der Schmerz von hundert Seiten Barbusse. Was kann man über das Schreien eines Babys sagen, das zwischen den Trümmern eines abgefackelten Dorfes kaum wahrzunehmen ist? Es empört selbst das Gemüt, Op Oloop, das beim Anhören deiner Beschreibung kalt geblieben ist. Der Krieg ist im Kino schön. In der Fiktion weint alle Welt. In der Wirklichkeit leidet alle Welt. Ersteres ist es, was als katharsis des Geistes gilt; denn es reinigt und läutert mit Tränen. Unser Handwerk setzt daher mehr in Bewegung als all das Geschwätz von Idealisten oder Kongreßrednern. Der Klang verlangt nicht nach Reflexion, Hirn, sondern nach Resonanz, Herz. Wir sind stolz darauf. Der Sehsinn reicht nicht aus. Die Vorstellungskraft wird nur selten mit dem Auditiven in Verbindung gebracht. Der Schrecken, die Verzweiflung, das Danteske gelten nichts ohne das Getöse des drohend bevorstehenden Todes, ohne das wie ein Geysir zusammenfließende sardonische Lachen, ohne das makabre Knistern der Instinkte und der kosmischen Kräfte. Dennoch, für uns Geräuschingenieure sind diese Dinge nichts als Albereien. Der Apparat des Schreckens ist lachhaft. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war gagman bei Harold Lloyd. Das Komische stieß mir immer am bittersten auf! Fast als Anfänger wirkte ich an den Klangbändern von ›Le croix du bois‹ von Roland Dorgelès und ›Im Westen nichts Neues‹ von Remarque mit. Besagte Streifen alarmierten die Welt, ohne außergewöhnlich zu sein. Und die Welt gab ihr Versprechen, in sich zu gehen. Ich versichere Ihnen, daß ich einen wundervollen Krieg erklingen lassen könnte, überzeugender als alle anderen. Ich habe eine Sammlung von fast zweihundert Aufnahmen von solchem Pathos, daß der Film, den ich produzieren werde, sobald ich eine bedeutende Produktionsfirma finde, ein nie zuvor gehörtes Plädoyer für das Erlangen des Weltfriedens sein wird. Ich habe an den Papst oder an Stalin gedacht. Sie sind die einzigen, die mir bei meinem Geschäft helfen können. Ich habe schon viel Geld in Patente und Registrierungen investiert. Fast alle Aufnahmen sind also mein Eigentum. Um sie zu erlangen, war ich in Manövern, Krankenhäusern, in wirklichen Schlachten – Shanghai und Paraguay – und habe Geräusche, Wehklagen, Bombardierungen katalogisiert …«

»Ach ja?« unterbrach der Student. »Dann katalogisieren Sie doch das hier.«

Und er ließ eine gewaltige Blähung erdröhnen.

Eine derart taktlose Kühnheit rief Empörung hervor. Doch plötzlich, bevor sie sich ausdrücken konnte, winkelte Robín den rechten Arm an, und indem er mit einer knappen Bewegung den Ellbogenkeil spöttisch krachen ließ, fügte er hinzu: »Für die Armen! Die Reichen sollen bezahlen …«

Die Heiterkeit explodierte wie eine Granate.

Der Toningenieur schloß sich dem lärmenden Vergnügen zur Ablenkung an. Sein Lachen war falsch. Die beiden Stahlknöpfe seiner Pupillen beschlagen. Es macht wütend festzustellen, daß die eigene Ernsthaftigkeit Abgeschmacktheiten unterliegt. Er konnte nicht umhin, seine schlechte Laune kundzutun.

»Er hat nichts Neues gemacht. In Hollywood werden hunderte Arten von Winden losgelassen oder vorgetäuscht. Ich habe das Exklusivrecht für gewisse militärische Fürze erworben, die durch ihre Pompösität eines Marschalls oder ihre Arroganz eines Feldwebels lustig sind. Ihr Furz bringt mir nichts. Er ist zotig … Dem Gehörten nach scheinen Sie an Aerophagie zu leiden. Ich rate Ihnen, sich um das gashaltige Anschwellen Ihres Magens zu kümmern. Belladonna, Salze, krampflösende Mittel … Wenn Sie es nicht tun, werden Sie dann, wenn Sie am wenigsten damit rechnen, Herzstörungen bekommen. Denn das Herz leidet mehr als alles andere unter dem Effekt solcher Unreinheiten.«

Das in decrescendo befindliche Lachen verstummte mit Ende seiner Rede. Alle verstanden die Lektion. Doch plötzlich rief Peñaranda lauthals den Kehrreim ins Gedächtnis: »Für die Armen! Die Reichen sollen bezahlen …«

Und wieder beherrschte fröhlicher Trubel die Tischrunde.

Op Oloop öffnete daraufhin langsam die Augen. Von einer inneren Rundreise zurückgekehrt, ließ er seinen Blick wohlwollend von einem Gesicht zum nächsten schweifen. Er glaubte, die Freude eines gerade Angekommenen zu genießen. Und breitete sich in dem bereits vom Champagner aufgelockerten Gespräch aus: »Was ist vorgefallen? Erzählen Sie. Ich habe sie trübselig und versunken zurückgelassen. Was für eine Metamorphose ist das?«

»Wie bitte, zurückgelassen! Warst du nun anwesend oder nicht?«

»Ja, sagen Sie mal.«

»Ich war hier, aber abwesend, mit der fernen Vision von Adam, bevor Eva ihm den Apfel gab. Mit meiner Rückkehr erlebe ich die Fröhlichkeit der Sünde – welche die Fröhlichkeit ist, sich zu finden, obwohl Gott flucht.«

»Nun gut. Wir haben über einen Witz von Robín gelacht, während Ivar dabei war, das Projekt für einen Film zu entwickeln … Die Kreolen sind unglaublich. Sie ertragen nichts Ernsthaftes. Sobald sie eine Ritze finden, werfen Sie ihren Sonnenstrahl hinein …«

»Danke, Kapitän.«

«… und bringen einen zum Zerplatzen wie überreife Tomaten. Etwas Ähnliches ist mir mit dem auserlesenen Verräter und Freund Gastón Marietti widerfahren. Ich bin nur nicht handgreiflich geworden, weil … Du hast es gehört: er lag falsch!«

»Ich habe nichts gehört.«

»Ist es denn möglich? Wo ich dich doch widerlegt habe … Wer sich das Recht anmaßt, mit Beredsamkeit zu erdrücken, hat auch die entsprechende Pflicht zuzuhören.«

»Trugschlüsse … Ich erdrücke nicht, ich spreche. Und nachdem ich gesprochen habe, verschließe ich mich. Wenn ich überzeuge, dann geschieht es ohne Beredsamkeit. Ich verachte jegliches Blendwerk. Die meisten Schurken sind nachdrücklich und beredt, sagte Stendhal.«

»Du hast also meiner Forderung gegen deine extremistische Rede und dein ebensolches Verhalten keine Beachtung geschenkt?«

»Nicht im geringsten.«

»Dann bist du ein …«

Der maître d'hotel näherte sich Op Oloop.

Erik verschluckte die Beleidigung, die ihm bereits auf der Zunge lag. Seiner Fratze nach zu schließen, war sie so furchtbar wie ein Abführtrank aus Rizinus.

»Am Telefon fragt man, ob Sie hier seien.«

»Van Saal?«

»Jawohl, Señor. Was soll ich antworten?«

Er grübelte. Es schmerzte ihn, seine Anwesenheit zu bestätigen oder zu verleugnen. Auf der einen Seite die Übergehung des Freundes, auf der anderen die öffentliche Lüge. Er fand eine doppeldeutige Entschuldigung. »Antworten Sie, daß ich gerade gegangen bin.« Seine Heiterkeit verfinsterte sich.

Überflutet von Vorahnungen und Vorgefühlen, stach er erneut nach innen in See. Aus der ebenen und tiefen Bucht von Piet Van Saals Freundschaft auslaufend, führte ihn die Schiffsreise zu Franziskas halluzinativem Hafen. Dort lag sie, Statuettenhaft hübsch, die Arme wie ein Magnet ausgestreckt. Das Zwiegespräch hatte die lakonische Kürze des eigentlichen Treffens, und sie verschmolzen in einer Ekstase aus heißen Gefühlsströmen.

Als er wieder zu sich kam, bemerkte er, daß er dabei war, sich zu verabschieden. Weder die Überlagerung der Gefühle noch die Überraschung um ihn herum machten ihm etwas aus.

»Franziska! Franziiska! Franziiiska!«

Er kam so weich, so poliert von Liebkosungen und Zärtlichkeiten zurück, daß es ihn schmerzte, auf Eriks Augen zu stoßen, unerbittlich und rund vor Zorn.

Er machte eine bescheidene Gebärde, um ihm zu entgehen. Erfolglos. Der Kapitän wollte seine Beleidigung nun loslassen.

»Nichts da mit Franziska! Bin ich vielleicht ein Taugenichts, der keine Aufmerksamkeit verdient? Warum weichst du mir aus? Glaubst du nicht, daß mich das wurmt?«

Peñaranda, stets umsichtig, ging dazwischen: »Meinen Sie nicht, daß Sie schon genug darauf herumgeritten sind? Was uns interessiert, ist das Warum dieses Banketts. Zu jeder Einladung hat Op Oloop uns den Anlaß erklärt.«

»Das ist es, das ist es! Darauf habe ich gedrängt«, unterstrich Ivar Kittilä.

Bevor sie ihn kollektiv bestürmen konnten, legte der Statistiker Hand an eine trügerische Ausflucht. Vor einigen fühlte er Scham wegen des Anlasses dieses Abends, so ergriff er ein beliebiges Thema – alter Plunder aus der intellektuellen Rumpelkammer – und legte es ohne Überzeugung dar, um den Kurs der beharrlichen Nachfrage abzuwenden. Er sagte: »Einmal, als ich gerade ein beefsteak auf provenzalische Art aß, warf sich mir das Problem der Existenz Gottes auf. Fürs erste sagte ich mir: Die Welt stellt sich uns dar. Wenn man, um eine Kugel aus Mörtel herzustellen, einen Maurer, Wasser und Zement benötigt, ist es offensichtlich, daß ungeheure Materialien und ein Super-Subjekt notwendig waren, um die Welt zu erschaffen. Die Erforschung der Herkunft dieser Materialien und die Erforschung der Genealogie des Wundertäters brachten mich dazu, mich mit einem unentschlüsselbaren Mysterium einzulassen; denn da nichts aus dem Nichts herausgeholt werden kann, geht die Kausalität weiter zurück als die Absicht. Ich verzweifelte bereits. Da ließ ich das Steak Steak sein, hart und absolut wie die Idee von Gott, und widmete mich mit Genuß der appetitlichen Realität der Kartoffeln, die als garniture beilagen. Knoblauch und Petersilie wiesen mir einen logischen Schlüssel, nicht mehr und nicht weniger als die Theologie Knoblauch und Petersilie für die Gläubigen ist. So erfuhr ich, daß die Sinne das Objektive genau so erfassen, wie es ist, und daß das Denken es verfälscht, indem es transzendiert. Der Intellekt, verehrte Freunde, ist ein großer Aufschneider. Die Welt ist ein vom Geist geschaffenes Konzept. Sie existiert nicht in der konkreten Realität, sondern in der Realität der Illusion. Daher ist Gott kein Subjekt, sondern eine im Bewußtsein angesiedelte parasitäre Entelechie, genauso wie das harte Steak sich im Magen ansiedelt. Damit ist er Anschein. Und da der Anschein das ist, was er nicht ist, sondern vortäuscht zu sein – so lautet die List der Betrüger –, bin ich zu dem Schluß gekommen, daß man die Idee von Gott und harte Steaks zwar schlucken kann, daß sie aber vergiften und betrüben.«

Die boutade rief kein Wohlgefallen hervor. Ihr Inhalt war nicht philosophisch, sondern reine Spitzfindigkeit. Fast alle bemerkten die heimliche Absicht, die hinter ihr steckte, und sie verschlossen die Lippen in Erwartung der verlangten Erklärung.

Doch die Erklärung kam nicht.

Erik Joensun rutschte ohne Unterlaß auf seinem Stuhl hin und her. Im Rund der Speisetafel war er die einzige Person mit gewaltsamen Neigungen. Er hielt das Schweigen nicht länger aus und kritisierte: »Wenn du etwas sagst, spar dir Dummheiten wie die von gerade eben. Mich stören deine Blasphemien. Gott, Unser Herr, vereinigt die Liebe des Universums.«

»Wenn Gott Herr ist, nimm mich davon aus. Ich bin nicht homosexuell!«

Ein falsches Lachen öffnete die Münder und beschmutzte die Zähne mit seinem Saft.

Der Kapitän protestierte zornig.

Robín trat dazwischen: »Beruhigen Sie sich, Mann! Das war ein Scherz. Wenn ihm das ›Fleisch in Stangenform‹ nicht gefällt, ist das noch lange kein Grund sich aufzuregen …«

»Was zuviel ist, ist einfach zuviel! Ich habe nun wirklich ›die Nase voll‹, so wie Sie sich auszudrücken pflegen! Wenn das so weitergeht, dann gehe ich!«

»Oh, nein!«

»Ausgeschlossen.«

Op Oloop strotzte vor Zufriedenheit. Wenn die Sympathie gereift ist, bereitet der Genuß, gemein zu sein, den Freund bis zur Weißglut zu bedrängen, viel Vergnügen. Um so mehr, als seine Finte ihren Zweck erfüllt hatte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

Bei diesem Stand der Dinge war ein gewichtiges Husten zu vernehmen: Gastón Marietti. Nachdem er die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und sich zurechtgesetzt hatte, äußerte er sich: »Sie gehen immer ad modum astutum vor. Das eine Mal mit natürlicher, das andere mit gespielter Gerissenheit. Ich kann noch nicht unterscheiden, wann Op Oloop vollends Op Oloop ist. Die Beschränkung Ihrer Persönlichkeit in einer Disziplin, die bis zur Essenz des Seins selbst reicht, hat die angeborenen Abwehrkräfte durch geistige Systematisierung mit den erworbenen Abwehrkräften in Übereinstimmung gebracht. Das Gehirn greift in Ihrem ganzen Wesen. Sie besitzen ein leistungsfähiges und ausgeklügeltes broadcasting, das Sie von innen her mit Wellen durchstrahlt und die anderen mit seinem Einfluß überflutet. Und was für ein speaker, Caballeros! Wenn Sie sprechen, wird alles versenkt, und wenn Sie schweigen, wird alles durchtränkt. Denn wenn Schweigen Gold ist, kann dieses Gold nur durch Denken angehäuft werden, indem man darüber sinniert. Diese Vorrede ist keine ›Arschkriecherei‹, wie Robín sich auszudrücken pflegt …«

»Sie beschämen mich!«

»… sondern eine Grundregel, die man tunlichst festsetzen sollte, um gewisse Lehrsätze zu beweisen. Im Verlauf dieses Dinners habe ich im Wesen unseres Gastgebers Tausende Schattierungen bemerkt. Sein inneres Klima legt eine enorme Unbeständigkeit an den Tag. Alle haben wir unter den Zwischenfällen seiner Stürme gelitten oder die Herrlichkeiten seiner Freuden genossen. Nun sehen Sie ihn an! Er stellt das friedfertige Lächeln der Oktobersonne zur Schau. Strahlt den wohlriechenden Duft einer reifen Frucht aus. Doch er will uns nichts von der Frucht abgeben! Warum, hat er uns doch dazu eingeladen? Ihr Vorwand von gerade eben, mein Freund Op Oloop, ist einfallsreich, führt aber zu nichts. Ich schlucke weder die Existenz Gottes noch ein hartes Steak … Ausgenommen der Entdeckung derjenigen Dinge, deren sich die große Wissenschaft annimmt – rerum magistra scientia –, machen wir nichts, als altes und unauflösliches philosophisches Material in neuen Farben anzustreichen. Ich teile diese These von Marcel Coulomb, einem berühmten französischen Denker, der die Abstraktionen behandelt wie ich die Mädchen … Hören Sie folglich mit Ihren Betrügereien auf und erklären Sie uns den Anlaß für das Bankett. Aber ohne Knoblauch oder Petersilie, ist das klar? … Denn auf die Tour ist alles möglich. In der Tat, ein französischer Hellenist hat bewiesen, daß der Göttertrank aioli war: die aus Öl, Knoblauch und Eiern zubereitete provenzalische Sauce, der Mayonnaise nicht unähnlich. Ich gebe zu, daß ich mich auf dem Olymp wie in meinem Lieblingsrestaurant fühlen würde; doch jetzt, Op Oloop, lassen Sie die Sauce beiseite und sprechen Sie.«

Einhelliger Applaus krönte die Rede des Zuhälters.

»Stoßen wir an!« brachen mehrere im Chor hervor.

Op Oloop füllte das Glas des Zuhälters und sein eigenes mit Champagner. Und während er es wie eine Brust liebkoste, führte er es in einem rituellen Kuß an seine Lippen.

»Gastón, Ihre Freundlichkeit ist erschöpfend. Sie lockt hervor, was immer sie möchte, indem sie mit ihren Mahnungen zerrüttet. Fast wage ich, Ihnen zu sagen, was jener ans Sterbebett des Vaters gerufene Sohn sagte: ›Und dafür soviel Eile! Wird er doch noch einige Stunden leben … Ich dachte, er liege in Agonie!‹ Denn es ist gut, daß die Freundlichkeit Ihr professioneller Dietrich ist, doch nicht, daß sie mit samtener Sanftheit in meinen Willen eindringt und ihn zwingt, Dinge preiszugeben, die er auszulassen sehnte. Ich bekenne, daß es entwaffnet, sich entdeckt zu fühlen. Ist die verbale Maske einmal heruntergerissen, leiden das Vorhaben, die Idee, das Gefühl, bisher verborgen unter der Scham, nicht zu sein, was sie darstellen, da alles dazu neigt, sich zu verschönern, sich als hübscher zu betrachten in dem Narzißmus, der die Persönlichkeit vom einfachsten Akt des Unterbewußtseins bis zur kompliziertesten überbewußten Gesamtheit begleitet. Nun gut, ich akzeptiere, den Anlaß des Essens zu erklären. Doch ich werde es mit Knoblauch und Petersilie tun. Da Sie mich drängen, möchte ich Sie mit der Dunstwolke meiner Worte ärgern. So soll es sein: Um Sie zu bestrafen, werde ich meine Sympathie für einen der Halbgötter der Weltküche ausdrücken. Als man mir sagte, daß der Knoblauch das Leben verlängert, aß ich ihn resigniert, als mir jedoch zur Kenntnis kam, daß er zur Familie der Lilien gehört, tat ich es mit wahrhaft romantischer Gefräßigkeit.«

»In der Tat, er gehört zu den Liliengewächsen. Wie die Kartoffel zu den Nachtschatten- und der Pfirsich zu den Rosengewächsen. Sie rauchen, wenn Sie Püree essen, Sie parfümieren sich …«

»Hoppla, Peñaranda! Führen Sie diese Gedanken nicht weiter aus. Auf diesem Weg könnten Sie hinzufügen, daß ich Diamanten im Kaffee auflöse, da der Zucker, wie diese, aus Kohlenstoff zusammengesetzt ist. Es ist verständlich, daß Sie als Luftfahrtkommissar das lieben, was mit der Erde zu tun hat, und sich darauf stützen … Doch vergessen Sie nicht, daß die Petersilie Papageien ausrottet, und daß ich mit Knoblauch und Petersilie reden werde …«

»Treffer es stinkt!«

»Keine Spötteleien, Robín. Wir sind heute abend sieben Orchestervariationen über das Leitmotiv des Zynismus. Vielleicht komponieren wir gerade eine exquisite opera buffa, ohne uns dessen bewußt zu sein, so wie es immer der Fall ist. Unser unsinniges Geschwätz ist vortrefflich. Es übertrifft die akademische Albernheit und die hochfahrende Rhetorik. Ich lache über die Symposien von Platon, Dante und Kierkegaard. Im Ernst, wir stehen nicht dahinter zurück. Daher schließe ich mich dem Trugschluß jenes Pariser Journalisten nicht an, dem es grausam erscheint, den Dynamit von Swift oder Diderot mit den feuchten Feuerwerkskörpern von Bernard Shaw zu vergleichen … Feuchte Feuerwerkskörper! Dieser Fehler in der Wertschätzung geschieht unglückseligerweise häufig. Jedem klassischen Taugenichts werden Verdienste angerechnet, an die wir nicht heranreichen. Worin ist mir Alkibiades überlegen? In nichts, es sei denn in seiner Liebhaberei für das ›Fleisch in Stangenform‹, wie Robín sich auszudrücken pflegt …«

»Uff, Op Oloop!«

»… Wodurch übertreffen die Reisen des Heiligen Paulus die Unterseefahrten von Erik? In Schönrederei; denn der Glaube zu triumphieren, ist beiden gleich: bald in der mystischen Piraterie der zum Gebet gefalteten Hände, bald in der kriegerischen Piraterie der den Torpedo betätigenden Hände. Die literarischen Ruhmestaten von Sophokles, Vergil und Cicero, was anderes machten sie, als Worte aus dem Müßiggang zu exzerpieren? Die mannhaften Heldentaten von Bird, Balbo und Alain Gerbault hingegen ruhen unnütz – entkräftete Anstrengungen – im Gedächtnis aller. Ich protestiere gegen das nachzüglerische Gesindel auf Kathedern, in Bibliotheken und Seminaren, das dem antiken Kothurn und der mittelalterlichen Sandale nachtrauert. Ich protestiere gegen die Gelehrsamkeit, die sich die hübschen Dinge der Vergangenheit aneignet und die erhabenen Begebenheiten der gegenwärtigen Wahrheit verachtet. Und ich beschimpfe sie voller Groll, denn sie schätzt die Senfpflaster des Äskulap und nicht die deutsche Therapeutik, den theologischen Morast des Heiligen Augustinus und nicht die antiseptische Moral des Romain Rolland.«

Die sich überschlagende Stimme des Statistikers zog die Kellner und den maître an.

Als er sie sah, erzürnte er sich: »Was suchen Sie hier? Ihre Rolle ist es, zu bedienen. Mehr Cordon Rouge für mich, Cognac Napoléon, Grand Marnier … Bedienen Sie, Lakaien!« Und er fuhr rasend fort: »Es ist vonnöten, daß jeder seinen Haß behutsam verwaltet! Mein Haß ist recht und billig. Ich verteile ihn zwischen denen, die in der Vergangenheit vor Kälte erstarren, und jenen, die in der Gegenwart schwitzen. Denn wenn die einen an den Hämorrhoiden ihrer Empfindsamkeit kranken, leiden die anderen an Verstopfung im Gehirn. Und sie ergänzen sich im Verrat am Gesetz des Lebens, das gebietet, den Bodensatz von archaischem Blendwerk und gegenwärtigen Feigheiten pünktlich auszuscheiden. Ich bin mir immer treu gewesen. Sie wissen das. So sehr, daß ich niemals die Weisheit als Sport anerkannt habe noch die Ungerechtigkeit als notwendiges Übel. Meine Gefühle kamen widerborstig zur Welt und wurden ohne Kamm und Haarfestiger großgezogen. Ebenso meine Instinkte. In Freiheit erzogen, hat keinerlei Zwang ihre feurige Offenherzigkeit getrübt. Auf diese Weise verwöhne ich sie, ertrage sie und gerate mit ihnen in Verzückung. Denn sie sind mein größter Triumph. Ich bin ein Mensch mit gut strukturiertem Charakter. Kalt, einzelgängerisch und beständig. Keine Baugerüst-Person von der Art, die Projekte plant, Absichten ansammelt und sich einige Verrücktheiten erlaubt. Mein Werk, mein großes Werk, liegt in mir. Ich bewundere es. Es ist nicht nur ein bloßes Baugerüst, schmutzig vor Niederlagen, das an dem Tag, an dem man es am wenigsten erwartet, von seiner Fäulnis zum Einsturz gebracht wird, um von neuem das absolute, verlassene Brachland der Seele zu zeigen. Nein. Meine Seele ist von Erinnerungen bevölkert: der einzigen Währung, die innen zirkuliert und außen die Zukunft kauft. Denn in dieser meiner Einsamkeit der Pampa, in dieser meiner Einsamkeit des Himmels habe ich die schönste und unterhaltsamste Einsamkeit gefunden: die Einsamkeit, die komplexe Einsamkeit des Menschen zu erfahren.«

Er trank hastig und fuhr fort: »Eigentlich ist mein Glück einträglich. Alles, was die Machthaber zu viel haben, ist mir über.

Was dem Elend dazu fehlt, um es nicht zu sein, verschwende ich. Indem ich gebe, nehme ich mir weg, aber ich nehme das Überflüssige weg. Ich bin also ein Mensch, ein ›Homo sapiens‹ mit großem H, nicht ein orthodoxer Gaukler, der auf dem Balken dieses H seine Kunststückchen macht. Denn ich habe mir immer gesagt:

›Schätze die Lobreden gering ..... Sie sind eine trügerische Welle ....... Laß dich wie ein Fels in der Brandung abschleifen ......... Auf daß dein Dünkel in Schaum aufflockt ................... Es macht nichts ...... Es ist immer vorzuziehen .... daß du .... die Veralgung der .......... Ver ... inn ... er ... lich ... ung .......... erträgst, als daß ........... deine ........... Ei ... tel ... keit .......... vulgäre Strände leckt ........ wie die Brandung ...«‹

Fading.

Op Oloops Stimme entfernte sich, verlor sich, um dann plötzlich, zankhaft und verstärkt, ihren Wasserreichtum über die Zuhörer auszuschütten. Dann zerfloß sie erneut in ein kaum wahrnehmbares Murmeln.

Parallel dazu flackerten seine Augen, verschleierten sich, um dann schlagartig weit aus ihren Höhlen zu springen.

Welche mysteriösen Gezeiten bestimmten das Kommen und Gehen seiner Rede und seines Blicks?

Keiner wollte es ergründen. Sie zogen es vor, gemeinsam mit ihm in der Erschlaffung dieser Anfälle abzustumpfen. Und keiner störte die andächtige Haltung seiner Erscheinung. Denn …

Cipriano Slatter trank gierig sein viertes Gläschen Fine Napoléon. Er war bereits halb betrunken. Sein Galgenblick bohrte sich in den Freund, als suche er nach einer fundamentalen Rechtfertigung. Und unversehens sprang er hervor: »Op Oloop ist verliebt!«

»Seien Sie still!«

»Was stört es Sie?«

»Reden Sie kein dummes Zeug!«

»Op Oloop ist verliebt! wiederhole ich. Darf ich etwa nicht meine Meinung sagen? Kritisieren Sie nicht, sehen Sie selbst. Op Oloop ist verliebt!«

Gastón Marietti ließ von seiner würdevollen Gravität ab, um abwechselnd den Störenfried und den Statistiker zu beobachten. Die klarsichtige Eingebung des einen und die sibyllinische Haltung des anderen besorgten ihn überaus. Und er sagte zu sich: »Wer weiß … Der Blick der Berauschten löscht die äußerlichen Werte der Handlungen, der Dinge und der Worte aus. Er ist gnadenlos analytisch und trennt die Spreu vom Weizen. Die Geste wird auf ihre Absicht reduziert, die Form auf ihre Essenz und das Gesagte auf seine Wahrheit. Wer weiß …«

Op Oloop kehrte aus dem Jenseits der metapsychischen Sphären zurück. Er seufzte. Seufzte so laut, daß er sich von dem Seufzer zu ernähren schien.

Dem Zuhälter wurde daraufhin alles klar, es bestand kein Zweifel mehr. Doch um ihn zum Geständnis zu bringen, war es erforderlich, ihn in einem schwachen Moment zu erwischen. Und er griff mitleidslos an: »Keine Umschweife, Op Oloop: Sie sind verliebt. Verraten Sie es ein für allemal, leiden Sie nicht: Sie sind verliebt. Das ist der Anlaß für das Dinner: Sie sind verliebt.«

Der Gastgeber konnte nicht antworten. Er war verschreckt. Eine derartige Falle brachte seine Seele und sein Gesicht zum Erstarren.

Er warf einen Blick in die Runde. Der Ausdruck eines jeden formte ein Fragezeichen, und der Gesamtausdruck ein schweigsames Schaubild der Erwartung. Er rekapitulierte, setzte sich über seine Erniedrigung hinweg und formulierte sofort die Antwort, indem er langsam, affirmativ mit dem Kopf nickte.

Peñaranda war aufgestanden und forderte die Tafelgäste zum Toast auf: »Ich bin der einzige von uns, der verheiratet ist. Folglich kann ich kundtun, daß die Liebe dem Leben Würze gibt. Trinken wir auf Op Oloop … und auf seine Gewürznelke.«

»Es lebe die Würze!«

»Sie lebe hoooch!«

Applaus und Glückwünsche.

Nach dem damit verknüpften Geschrei kam für ihn eine Pause voll kritischer Gefühlsregung. Das Schweigen der übrigen war wachsam.

»Ich bedauere, daß ich Sie enttäuschen muß. Ich bin verliebt, aber tieftraurig. Je mehr ich daran denke, desto mehr deliriere ich. Es ist furchtbar! Immer habe ich es als lächerlich und ›unmenschlich‹ angesehen, daß nur die Liebe – ein Instinkt unter vielen – das Leben erfüllen solle. Ich kann mich an diese Vorstellung nicht gewöhnen. Doch so muß es wohl sein. Ich weiß aus Erfahrung, wie extravagant es wirkt, jenes Abenteuer der Gefühle mit einem besseren Unterfangen zu übertreffen: intellektueller Art zum Beispiel. Die Beeinträchtigungen lasten noch schwer auf mir. Und gegenwärtig verletzt mich selbst mein eigener Spott. Bereits innerhalb des Zauberkreises, höre ich den Hickser meines Skeptizismus. Es ist furchtbar! Ich bekenne, daß ich meinen Ruin vorausahne. Das Wunder der Liebe hat die definitive sabotage meines Geistes organisiert. Ich bemerke unerträgliche Hemmnisse, Bremsklötze aus Stahl, die das geistige Getriebe zerspringen lassen und die harmonische Mechanik meiner Systeme zerstören. Es ist furchtbar!«

Die rechte Hand verdeckte seine Besessenheit. Die linke, schlaff und entspannt auf dem Tischtuch, rief nach Trost.

Peñaranda überschüttete ihn kenntnisreich: »Nur die Ruhe, mein Freund, nur die Ruhe! Die Liebe ist ein Verkehrsunfall in der Seelengesellschaft. Ich fuhr mein Herz, wie Sie, mit vorsichtiger Geschicklichkeit. Ich hatte ein aus der Erfahrung, dem Leben und den Büchern gewonnenes brevet. Flog perfekt dahin und ging den Hinterhalten von so vielen losgelassenen Gefühlsergüssen aus dem Weg. Doch wer rechnet mit der Unvorsichtigkeit der anderen? Eines Nachmittags, als ich es am wenigsten erwartete, fuhr eine ungestüme Seele meine Empfindsamkeit an. Es war ein heftiger Zusammenstoß. Ich hatte alle Alarmsignale gegeben, die Respekt vor meiner Einsamkeit verlangten. Und fast rechtzeitig war ich in den an die Hoffnungslosigkeit gewohnten Willen ausgewichen. Doch der Zusammenstoß war fatal! Wir stürzten. Die Flügel eines Engels retteten mich. Ein Traumbaum rettete sie. Reklamieren? Bah … Es war ein langsamer Prozeß von Kniffen und Küssen. Die Havarien des Herzens lassen sich nicht mit Ersatzteilen regeln. Ich verlangte ein neues Herz. Und die Liebe brachte es mir … Seit damals, Op Oloop, lebe ich, mich an Schadenersatzforderungen schadlos haltend, in einer Leidenschaft, die mit einer anderen Seele an ihrer Seite zügellos in Richtung Tod dahingleitet …«

Ivar und Erik – anfangs versunken, dann tuschelnd – stellten die Verbindung zum aktuellen Thema her. Der ehemalige Kapitän stürzte zuerst los: »Die Instinkte führen offenen Krieg. Der Verstand, einen Grabenkrieg. Wenn du darüber nachgedacht hättest, würdest du nicht so viele Probleme haben. Die Schuld liegt bei dir: darin, zu sehr auf die Kontrolle des Gehirns zu vertrauen. Es ist kaum zu glauben, daß du in deinem Alter Katastrophen dieser Art erlebst. Deine vermeintliche Weisheit, wofür taugt sie, wenn sie dich nicht vor der Krankheit der Liebe schützen konnte? Denn die Liebe ist wie eine Ratte in einem Blechbehälter. Es ist unterhaltsam, sie erwischt zu haben, es erhebt das Herz. Doch dann knurrt sie, wütet und erregt sich verzweifelt im Geist. Bis sie, da sie nicht fliehen kann, in ihm stirbt und ihn für immer vergiftet.«

»Genau. Und der Geist verwandelt sich in eine Hölle. Die heilige Theresa hat es gesagt: ›lnferi sunt ubi foetet et non amantur‹, die Hölle ist da, wo es übel riecht und nicht geliebt wird.«

»…!«

»Ich erlöse Sie von Ihrer Verwunderung. Ich bin Abiturient des Gymnasiums von Marseille.«

»Das verwundert mich nicht. Aber daß Sie – ein Zuhälter! – an die Liebe glauben.«

»Natürlich! Beute ich sie doch aus …«

Op Oloop stellte dem beißenden Spott der übrigen seine Güte entgegen.

Daraufhin setzte Ivar schlechtgelaunt an: »Die Liebe ist ein Volkssport, Modebestimmungen und Anstandsregeln unterworfen …«

»Niemals!« schlug Peñaranda zurück. »Die Liebe ist immense Zärtlichkeit, heiße Lyrik, die mit Küssen beginnt und in Tränen endet. Die ihr innewohnende Wirkungskraft besiegt alles, was sich ihr auch entgegenstellen mag. Leicht vereint sie in sich die Inbrunst aller Entrückungen. Stark reißt sie in allen Gesprächen die Macht an sich. Die Spezies gibt ihr Rückendeckung. Ich glaube an ihren Edelmut. Manchmal setzt ein coup de foudre in den Herzen einen brennenden, unzerbrechlichen Rhythmus in Gang. Manchmal werden die Geister taub in der doppelten Unbesonnenheit von Qualen und Verlangen. Die Liebe …«

»Die Liebe! … Bäh! … Was für eine Unsittlichkeit! … hick.«

»Ich bitte Sie, Slatter!«

»Ich bin eins ihrer Opfer … hick. Sie ist die große Kupplerin … hick. Sauber und schmutzig wie eine Bidetschüssel … hick, hick. Man schenkt ihrem weißen Glanz Vertrauen … hick. Und sie steckt voller Syphillis-Erreger … hick, hick.«

»Slatter, ich bitte Sie!«

»Unterbrechen Sie ihn nicht. Er sagt nichts Unschickliches. Die Liebe ist nichts anderes als ein affiche des Fortpflanzungstriebs. Das affiche eines unedlen Produkts!«

»Passen Sie auf, was Sie sagen, Ivar.«

»Auch ich spreche aus Erfahrung. In Hollywood habe ich mich in ein tolles Mädchen verliebt. Ihr Vater – niemand Geringeres als der Präsident der Gesellschaft für Eugenik von Los Angeles! – versicherte mir, daß sie jungfräulich sei. Er wollte ein Experiment mit mir machen. Was für ein Betrug! Die Schönheit der Frauen ist nichts als eine geschminkte Hülle für Viren und Eiter … Ich mußte mich intensiv behandeln lassen. Ich bin noch immer in Behandlung … Die Liebe hat mich komplett fertiggemacht. Ich reiste, um mich abzulenken. Barkassen voller Weibsen, paquebots voller ausgehaltener Frauenzimmer … Doch nie konnte ich meine Beklemmung überwinden. Das gegenüberliegende Ufer der Liebe ist der Tod!«

Um die Finsternis seiner Rede zu bekräftigen, stieß der Toningenieur einen Seufzer von echter Schwermut aus.

Die Gäste wurden von so etwas wie einem depressiven Dunst umwölkt.

Doch genau in diesem Moment verschaffte sich Op Oloops balsamgleiche Stimme im Flüsterton Gehör:

 

»Doutez, si vous voulez, de l'être qui vous aime
D'une femme ou d'un chien, mais non de l'Amour même
L'Amour est tout: la vie et le soleil.
Qu'importe le flacon pourvu qu'on aie l'ivresse!
Faites-vous de ce monde un songe sans reveil.«

 

Die Stille wölbte sich unter den Schädeldecken.

Es lagen so viele Straßen vor ihnen, die zur Reflexion einluden, daß das allgemeine Denken unbeweglich verharrte.

Als niemand es für angebracht hielt, seine Stimme zu erheben, sprang plötzlich die Robín Suredas hervor. Seine Worte waren von Erschütterung geprägt.

»Erlauben Sie mir, daß ich mich damit brüste, der Jüngste in der Runde zu sein. Ich bin achtundzwanzig Jahre alt. Solange mein Vater mir weiter monatlich dreihundert Pesos schickt, werde ich niemals den Studentenstand verlassen. Das ist vorzüglich! Damit möchte ich Ihnen bedeuten, daß ich die Frauen kenne. Sie sind ein Artikel von primärer Notwendigkeit. Die Liebe interessiert mich nicht. Ich folge dem Rat eines Autors, der mein Mitschüler war und noch heute mein Freund ist:

 

Lang genug an ihm gekrankt
Mach zu Taten das Verlangen;
Denn was Frauen anbelangt,
Ist nichts so gut wie ›hinzulangen‹.

 

In der Tat, für mich läßt sich jede Frau auf einen Schlitz zurückführen. ›Wenn Sie das Leben in rosaroten Farben sehen wollen … werfen Sie zwanzig Centavos in den Schlitz.‹ Die Frauen ähneln diesen Illusionsmaschinen, die auf den Rummelplätzen in Mode sind: ein Schlitz …«

»Denken Sie an Ihre Mutter, Sie Rohling!«

»… ein Schlitz und Sie stecken Geld hinein. Sollte ich mich täuschen, so verlange ich doch Respekt. Ich habe viele Weiber gehabt, ledige, verwitwete und verheiratete. Alle gleich. Keine erhaben. Ich teile Slatters Enttäuschung und die Ihrer Landsmänner, Op Oloop. Vor fünf Jahren verdrehte mir ein Mädchen aus gutem Haus den Kopf, sie kam aus Tucumán. Für sie drehte sich alles um das Eine! Ah, und die Geschenke! Viele Geschenke. Heute führt sie jeder am Arm wie einen Stock … Sie ist so nuttig, daß sie sich den Venushügel je nach der Farbe des Mackers einfärbt!«

»Mäßigen Sie Ihre Sprache. Das ist ja unerträglich!«

»Seien Sie kein Kretin! Ein ehrlicher Student, der die Verherrlichung des Titels verachtet, spricht so und nicht im Doktorenfalsett. Mich machen Typen wie Sie fertig, die sich Filter in die Schnauze bauen und niemals auch nur ein obszönes Wort gebrauchen. Soviel verbale Hygiene bedeutet, daß Sie Ihre Seele zu einem Klärbecken gemacht haben. Um im Bewußtsein rein zu sein, ist es von elementarer Bedeutung, die ätzenden Gedanken und Worte auszuscheiden. Beim Sprechen defäkiert man auf gewisse Weise. Sie können mich also mit soviel Niederträchtigkeit traktieren wie Sie wollen, doch wissen Sie eines: mein Atem ist gesund, mein Gehirn ›läuft wie geschmiert‹, ohne den Kotklumpen aus Vorurteilen und Prüderie.«

»Regen Sie sich nicht auf, Robín, fahren Sie fort«, baten sie ihn.

»Jetzt kann ich nicht mehr. Ich habe den Faden verloren.«

Die Stille war geladen. Mehrere Pupillen wetterleuchteten. Als der Sturm drohend bevorstand, kam eine sanfte Brise auf: Op Oloops Stimme raunte ein weiteres Gedicht auf Französisch.

Der Zuhälter wurde ganz weich, als er es hörte. Er betrachtete ihn liebevoll in seiner großartigen Vereinzelung, und indem er die Sympathien der Anwesenden auf ihn lenkte, sprach er: »Es ist unmöglich, eine mortuoriae laudatione auf den guten Op Oloop zu singen, zerschlagen von der Liebe. Wenn es irgend etwas gibt, das kein Mitleid verdient, dann ist es eben diese Begebenheit. Und wir wissen bereits, wie man mit dem Plektrum der Pietät in unhörbaren Kadenzen die dichterische Begeisterung verletzt … Es gibt handfeste Argumente, die den Selbstmord zu Ehren bringen. Der Schmerz und die Krankheit zum Beispiel, die laut Lukrez furchterregende Helfershelfer des Todes sind. Doch die Liebe, nein. Sie ist weder Schmerz noch Krankheit. An ihr leiden weder das Bewußtsein noch der Körper … Die Liebe ist Kunst. Sie zittert mit der Gefühlsregung. Und brennt mit heftigem und blindem Geist im leidenschaftlichen Feuer, fern der gelassenen Wesensart der Seele … Mit wuchtiger und göttlicher Freiheit schwingt sich die Liebe über dem Fleisch des Instinkts auf und bildet mit ihm eine geläuterte Dualität. Sie argumentiert nicht: sie brüllt ihren einzigen Beweggrund mit der unaufhaltbaren Raserei des Geschlechtstriebs heraus. Und so lebt sie, indem sie ihren Hunger, der das Verlangen ist, ohne eine andere Stimulanz als die innige Befriedigung ihres Egoismus stillt … Die Liebe ist Kunst. Die Empfindsamkeit – eine Sylphide – muß man mit dem gegürteten Gewand eines spirituellen Kanons kleiden. Daher muß der, der liebt, wie ein Ästhet seine Impulse zähmen und seine intime Rebellion an die süße und schwierige Wirklichkeit der Gemeinschaft anpassen … Um zu lieben, braucht man also Stil. Die Geschicklichkeit des Liebenden liegt darin, die Seele des Instinkts zu erhaschen, wie die des Malers darin besteht, in die Seele der Landschaft einzudringen. Reine Lyrik! So werden die Mysterien der Leidenschaft enthüllt werden. Und die Liebe wird wie ein herrliches Meisterwerk in den Herzen erglänzen … Freunde, laßt uns die Liebe Op Oloops beklagen, weil sie gescheitert ist. Seine Tragödie kommt von der Zahl. Daher, keinen Stil und zuviel Methode zu haben. Sein esprit de géométrie hat die tiefgründigen Rundungen quadriert. Die sentimentalen Wesenheiten, die das innere Leben bevölkern, können nicht geordnet, koordiniert, vereinheitlicht, automatisiert werden … Wir haben den Knall seiner Seele gehört. Wieviel zerfetzte Vollkommenheit! … Doch belasten wir seine Trümmer nicht mit der Last einer unnötigen Begnadigung. Er trug die Schuld. Oder vielleicht sein Fatalismus. Barrès hat es bereits gesagt: »Das Leben der empfindsamen Wesen ist prächtig und traurig«.

Die noch vor einigen Minuten vorherrschende barsche Stimmung hatte sich gelegt.

Ein unsägliches Gefühl der Banalität verschaffte einer allgemeinen Bereitwilligkeit den Raum, um weiterzuplaudern.

Op Oloop, halbversunken in Traumwellen, hatte zugehört, ohne sich ein Wort entgehen zu lassen. Er hätte einfallsreich antworten können. Doch eingebettet in die Behaglichkeit der freundschaftlichen Sätze, ruhte er in ihnen wie ein sinnlicher und willenloser Pascha in Flauschkissen aus Liebkosungen und Parfüms.

Die Kellner füllten die Gläser.

Während man trank, erklang ein Glockenschlag.