04:00

»Wollten Sie nicht Ihre Landsmännin sehen? Sie ist frei. Beeilen Sie sich. Es ist schon vier Uhr.«

Die Lider Op Oloops bewegten sich lebhaft. Als er sie öffnete, waren seine Augen verschleiert.

»Ja … Natürlich will ich … Aber … sagen Sie mir zuvor … wer war der Kerl, der bei ihr war?«

»Don Jacinto Funes. Ein angenehmer Mensch. Ein sehr ernsthafter Spanier, Spielkartenfabrikant.«

Sein Denken lief weiter auf Hochtouren. Ekel und Haß. Er konnte es in einer so kurzen Zeitspanne nicht anhalten. Die Thematik des Treuebruchs ließ ihn nicht los. Auf Grund eines simplen Hinweises war er eine starke geistige Verbindung mit der Schwedin eingegangen. Und ohne bisher auch nur ihre Stimme gehört zu haben, litt er bereits am Unglück ihrer Treulosigkeit!

Aus heiterem Himmel trieb ihn ein unbezähmbarer Impuls zu Kustaa. Sie war noch immer in einer Ecke dahingeworfen. Besiegtes und stummes Fleisch. Abrupt schob er seine Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf empor.

»Kustaa!« schrie er.

Und sich ihrem Gesicht nähernd, drückte er ihr einen Kuß auf. Einen schallenden Kuß, von rabiat wollüstiger Genußgier.

»Kustaa! Ich bin dein Landsmann. Ich bin aus Finnland.«

Indem er sie fest an ihren nackten Armen packte, hob er sie in die Höhe, stellte sie neben sich ab und stieß hervor: »Lauf. Gehen wir!«

Op Oloop legte soviel Machtgebaren in seine Handlung, daß der Zwischenfall alle beunruhigte. Er genoß enormes Ansehen aufgrund seiner Kultur und Freundlichkeit. Keine der Frauen konnte sich den rohen Ausbruch erklären.

Die Anekdote, die wir leben, ändert sich oftmals im zwischenmenschlichen Umgang. Die »Lebefrauen« wissen das aufs allerbeste. Daher fügen sie sich den Launen des Zufalls und lassen zu, daß das Schicksal ihren Körper so mitreißt, wie sie selbst ihren Schatten mitziehen.

Kustaa hob kaum die Augenbrauen. Sie ließ ihre grauen Pupillen auf Op Oloop ruhen und löschte die Grobheit seiner Gesten mit der Demut ihrer Wehrlosigkeit aus.

Beide traten ein.

Sie zündete das Licht an.

Er schloß die Zimmertür mit einem Knall.

All seine Sanftheit, all seine Feinfühligkeit waren verschwunden. Seine sinnliche Anspannung gab den Minuten die Sporen. Er war von Leidenschaft entflammt. Pirat seiner selbst, ging er zuerst dem guten Benehmen ans Schlafittchen. Dann blies er erbarmungslos zur Enterfahrt der Instinkte. Mit einem Ruck zerfetzte er Kustaas lackrotes, mit pailleté besetztes Kleid. Mit einem weiteren zerriß er die Spitzen und Bänder des Büstenhalters. Infames Zerreißen von Dingen, die stets ihre Schamhaftigkeit bewahren! Feuriges Zerreißen von Häkchen, Glitter und Schleifen! Wie eine von welken Blütenblättern umgebene Knospe kam ihr Oberkörper glanzlos zum Vorschein, bereits beschmutzt von Begierde und Speichel. Er stürzte sich auf ihre Brüste. Und verschlang sie mit großen Bissen.

Der Wind der Wollust pfiff zwischen seinen Zähnen. Er entsprang dicht bei den Küssen und drang bis zum Grund der Seele vor. Als die Lust aufjaulte, stieß der Verstand, ein abgehackter Verstand, zwischen Stöhnen verschwommene Worte auf Finnisch hervor: »Kustaa … Ich habe dich gesehen … Ich weiß nicht wo … Ich weiß nicht wann … Aber ich kenne dich… Helsinki? … Oulu? … Turku? … Du bist mein von Kindheit an … Du bist in meine Jugend eingeprägt … Mein ganzes Jünglingsalter erblühte in der Sonne deiner Erinnerung … Kustaa …«

Op Oloops psychische Hände, die normalerweise so empfindsam waren, hatten sich in der Lustbarkeit brutalisiert. Sie wanderten unermüdlich auf und ab. Umfaßten die Taille und den Hals. Rieben ihre Schenkel und den Bauch. Es waren die zudringlichen Hände eines Satyrs …

»Kustaa … Hörst du mich nicht? … Du warst mein von Kindheit an … zwischen Pappel- und Tannenwäldern … wie Bärenjunge … haben wir auf Eisbergen gespielt … Schütten … Holzfällertavernen … Grog … Erinnerst du dich an den Grog? … Kustaa … warum sprichst du nicht?«

Das Mädchen, von Entsagungen gegerbt, schenkte ihm kaum Beachtung. Die Muttersprache war eine Böe, die sie in ihrem Ganzen berührte. Doch sie hielt sich weiter aufrecht, widerstandslos wie ein Grashälmchen, und schwankte zwischen der Raserei und der Zärtlichkeit Op Oloops hin und her. Und sie schwieg weiter, gefangen in einer Sprachlosigkeit, die nur in ihren Augen wimmerte, wie ein totes Ding, dem nur noch ein klein wenig Seele geblieben ist. Entpoetisiertes Fleisch, kraftlos und schwach! Fleisch, das die Erniedrigung kategorisiert! Besiegtes und stummes Fleisch!

»Mulier sui corporis potestatem non habet: sed vir …« Quälende Wahrheit! Sie war nie Herrin ihres Körpers gewesen. Von ihrem Vater, der es mit einem furchtbaren Inzest befleckte, bis zu dem Landsmann, der es gerade stürmisch überfiel, hatte ihr Fleisch niemals eigenen Wünschen gehorcht. Sie erinnerte sich an die Zeiten von Schulen und Internaten, in denen ihre Onkel mit plausiblen Absichten über es verfügten: ihre Mitschüler jedoch suchten es mit entgegengesetzten Gelüsten heim. Sie ließ die kanaillenhafte Ausbeuterei ihres Freundes Revue passieren, die von ihm erzwungene Abtreibung und die Abartigkeiten ihrer Liebhaber. Und bereits im Sog der Leiden, verbuchte sie die ruppige Behandlung des souteneur, der sie nach Buenos Aires gebracht hatte, und die vielfache Verspottung, die sie in dieser Wohnung ertrug. Nie war sie Herrin ihres Körpers gewesen! Opfer von Beleidigungen und Schandtaten, Opfer der Mißhandlung durch Schläge und Ohrfeigen, hatte sie schon nichts mehr von den Männern zu erwarten. Daher, im Chaos der Sünde verloren, flog ihr Geist sehnsüchtig in Richtung dessen, was sein sollte. Sie verstand die Faszination der Liebe und beklagte, nicht die Erhabenheit des Idylls und die Gnade der Liebeleien genossen zu haben. Und noch höher schweifend, verzweifelte es sie, nicht den Sieg über die Verbitterung davongetragen zu haben, indem sie sie durch die Verzückung des Lebens an der Seite eines guten Mannes auslöschte, der nur für sie da war. So schwieg sie, während sie sich an die von ihr gebrachten Opfer erinnerte – arglos, naiv, gefällig, erpreßt und käuflich –, um nicht zu weinen.

Der Statistiker beschwichtigte daraufhin seinen Enthusiasmus. Er senkte den Blick und die Hände.

»Entschuldige, Kustaa … Ich war grob …«

Der zerknirschte Tonfall schmerzte sie. Ihr Gesicht war fast gelb vor Müdigkeit und Erschöpfung. Ihr Beschluß war gewesen, nichts als ein Kunstwerk aus Fleisch zu sein, genau wie bei ähnlich ausufernden Gelegenheiten. Ein Spielzeug der Lüsternheit. Doch sie änderte ihre Taktik. Von der anfänglich harschen Verachtung war sie zu einer sympathieträchtigen Verachtung übergegangen. Und sie antwortete auf Finnisch, mit distanzierter und heiserer Stimme: »Sorgen Sie sich nicht, mein Herr. Dafür sind wir da.«

Er erstarrte.

Etwas Unabänderliches, das gewaltige Gefühl eines inneren Fundes, ließ ihm den Mund halb offen stehen und die Lider zusammenpressen.

»Dieselbe Stimme!« murmelte er.

Und schnell, schamhaft, versuchte er sie mit dem Kleid zu bedecken. Er zeigte einen intimen Kummer, als hätte er eine ehrwürdige Erinnerung entweiht.

»Oh, nein! … Ihr seid nicht dafür da … Niemand ist der Wischmob für jemand anderen … Ich habe mich wie ein Wilder benommen … Heute nacht bin ich außer mir!… Ich fordere, daß du mir verzeihst …«

»Ich verzeihe Ihnen, ohne irgendeine Forderung.«

Op Oloops Unruhe vergrößerte sich. Das Fiasko ließ ihn so sehr erröten, daß er es, auf dem Bettrand sitzend, vermied, sie beim Sprechen anzusehen.

Kustaa legte ihre Handfläche unter sein Kinn. Sie wiederholte sanft die gleiche Bewegung, die er herrisch ausgeführt hatte. Und als ihre Blicke aufeinandertrafen und einen Augenblick lang verharrten, schienen sie gegenseitig zu einem Pfad vorzudringen, den sie schon einmal betreten hatten.

»Diese Augen … Deine Stimme! … Sie schlagen in mir eine bekannte Saite an …«, murmelte er am Rande der Verzweiflung, da er sie in seinem Gedächtnis nicht genau einordnen konnte.

»Unmöglich. Ich habe Sie gerade erst kennengelernt.«

»Das stimmt nicht. Alles an dir ist mir vertraut … Woher kommst du?«

»Aus Oulu.«

»Aus Oulu! Ist es denn möglich! Lügst du mich auch nicht an?«

»Ich habe Papiere. Ich wurde im Jahr des Krieges geboren.«

»Kustaa … und weiter? Wie ist dein Nachname?«

»Iisakki. Kustaa Iisakki.«

»Iisakki? … Tatsächlich … Kommt mir nicht bekannt vor. Kenne ich nicht. Doch es gibt etwas Unverwechselbares, daß mich im Innersten überzeugt … Etwas, das mir sagt, daß du von vor deiner Geburt an mein bist …«

»Kommen Sie, beruhigen Sie sich. Sie regen sich zu sehr auf. Sie wirken nicht finnisch. Eben gerade war ich Ihr seit der Kindheit, und nun von vor meiner Geburt an … Sie halten mich ja für reichlich frühreif!«

Während sie so sprach, näherten sich ihre Lippen, reich an Liebesvitamin, denen Op Oloops. Und sie vereinten sich in einem gemächlichen und sanften Kuß.

Spitzbübigkeit und Neugierde hatten den Schlaf gebannt. Gewieft wie es ihre Gewohnheit war, entschloß sie sich, das Geheimnis der Leidenschaft ihres Kunden zu erforschen. Der Fall interessierte sie aufgrund der außergewöhnlichen Übereinstimmungen, die er genannt hatte. Im übrigen fand sie häufig Trost in den entsprechenden Entdeckungen. Nichts tröstet so sehr über die eigene Enttäuschung hinweg als die Enttäuschung eines anderen. Wenn es eine Vereinigung der Opfer der Liebe gäbe, würde die Solidarität in der Niederlage das Angesicht der Welt verändern. Sie hatte eine vage Vorstellung davon und pflegte gegen die Phlegmatiker in Wut zu geraten, die ihre Betrübnis verstecken, und gegen die Sorglosen, die aus der Liebe nichts weiter als einen Sport der Untätigen machen.

»Ich vermute, daß Sie, wie fast alle, die herkommen, verheiratet sind …«

»Nein.«

»Gut. Heiraten Sie nie. Die Ehe ist die eigentliche Steuerlast für die Ledigen.«

»…!«

»Nein. Wundern Sie sich nicht. Ich weiß es aufgrund der Ehrungen, die man uns erweist. Wir, die Frauen, die wir ungesetzlich mit dem Geschlechtstrieb spekulieren, wissen um den Protest der Liebe, der Pflichten und Verpflichtungen auferlegt sind. Die Liebe verlangt Freiheit, sonst erstickt sie. Oh! Warum beschämt Sie das nun?«

»Weil ich liebe …«

Kustaa schwieg. Der Statistiker hatte soviel Inbrunst in seine Worte gelegt, daß sie die Ehrlichkeit der Erklärung wie eine Opfergabe wertschätzte. Die Frauen prüfen auf eindringliche Weise den Romantizismus des Mannes. Sie fühlen den Puls seiner Niedrigkeit, die Kraftlosigkeit seiner Träume und seine weitläufigen potentiellen Energien. Vor seiner Größe klein geworden, wartete sie, daß er sprach.

»Und du … hast du geliebt?«

»Ja.«

»Warum errötest du dann?«

»Weil ich nie geliebt worden bin!«

Ihre Pupillen versanken im violetten Nimbus ihrer Augenringe. Ein leichtes Zittern ließ ihre Haut erschaudern. Und als das Schluchzen bereits bevorstand, drückte Op Oloop sie an seine Brust.

»Du Armes! Mein armes Mädchen!«

Seit seiner Flucht aus Helsinki hatte er seine Triebe im Laufe der Zeit zum Schweigen gebracht, indem er sie gezähmt hatte. Die Disziplin der Zahl zum einen und die eiserne Eindämmung jeglicher feurigen Leidenschaft zum anderen sorgten dafür, daß er sich nur schwer vom Umgang mit Frauen verlocken ließ. Nie hatte er ihnen weitreichende Bedeutung beigemessen; denn da sie als Empfängerinnen des Diktats der Spezies gewissen Verpflichtungen unterliegen, können sie ihren Trieben nicht so frei nachgehen, wie die Männer es tun, und sich unbesorgt in einer Moral der Ziemlichkeit abschotten. Daher verkehrte er nur am Rande mit ihnen: im notwendigen Maß, um das Ansehen der Männlichkeit zu bewahren. Er ging also leichten Herzens zu ihnen, nahm ihre Verheißungen an, verschmähte aber ihre launischen Irrgärten. Er trank vom Göttertrank, betrank sich aber nicht dadurch, ein Konkubinat einzugehen. Er gab ein Trinkgeld und notierte frei von Säften und Sehnsüchten eine Zahl in seinem Notizbuch, einen Namen und einige Eindrücke. Nichts weiter. Manchmal, ausnahmsweise, wenn er in den verbotenen Gemächern auf eine etwaig interessante Gefährtin oder eine »Veteranin« mit turbulenter Vergangenheit stieß, zögerte er den Abschied heraus. Während er Kustaa tröstete, überfiel ihn ohne einen logischen Grund die entfernte Erinnerung an Paul Allard, einen französischen Intellektuellen, der während des Krieges mit der Führung eines Bordells für die Soldaten des 10. Heeres beauftragt war. Wo mochte er nun wohl sein? Und Hildebranda, eine laut ihren Gefährtinnen »hochgestochene« italienische Gräfin, die sie mit dem Spitznamen »Kamel« versahen, nicht wegen irgendeines Höckers, sondern wegen der Leichtigkeit, mit der besagte Tiere sich bücken, um sich besteigen zu lassen … Und honigsüß brachte er aufs neue hervor: »Mein armes Mädchen! Was für eine Zukunft erwartet dich!«

Kustaa, noch weinerlich, lockerte die Umarmung. Sie sah Op Oloop an, der sie mit einer uralten Zärtlichkeit liebkoste. Und da ihr nichts anderes einfiel, um ihre Dankbarkeit auszudrücken, streckte sie sich nackt auf der purpurroten Bettdecke aus.

Der Farbkontrast verschönerte sie. Die Reflexe des Brokatstoffes schlängelten sich über ihr entpoetisiertes Fleisch, kraftlos und schwach, und gaben ihm Glanz und Lebendigkeit.

Op Oloop begann sich zu entkleiden.

Er war kein Puritaner. Puritaner sind Zyniker mit lächerlichen Dämpfern aus gutem Benehmen. Er begegnete den Ereignissen des Lebens mit der Offenheit, mit der das Leben selbst die gesunden Gemüter versieht. Für die einen ist die Moral Intelligenz, das heißt Gerissenheit; für ihn war sie unter Spannung stehender Wille, das heißt ein essentieller Rhythmus. Daher legte er bei diesem Stand der Dinge alle mentalen Skrupel ab und führte seine Begierde auf natürliche Weise zur Wasserstelle.

Als er sich halbnackt sah, zuckte er dennoch unter einer feindlichen Empfindung zusammen. Der Akt des Beischlafs, der acto schlechthin, verstörte ihn durch seinen Mangel an Schönheit. Feurig, ohne Ästhetik, riefen sein heftiges Toben und das Seufzen des Orgasmus in ihm stets Widerwillen hervor. Er hätte sich gewünscht, daß die Natur mit aller Anmut des Gleichgewichts und der Ekstase in die Begattung einfiele. In diesem Sinne verdeutlichte, als er sich an Kustaas Seite legte, die Ungleichheit ihrer Körpergrößen die Überlegenheit der platonischen Liebe über die plastische Absurdität der körperlichen Liebe.

Doch die Berührung erregte bereits andere Kräfte … Und er sagte fast lächelnd: »Das einzige, was mich zu einem Heuchler macht, ist die Liebe.«

Ihre Oberkörper preßten sich schon vor Erregung zusammen, da erklang aus dem Nebenzimmer schrill das Klingeln des Telefons. Madame Blondel nahm das Gespräch an. Marietti und Van Saal fragten nach ihm. Als er seinen Namen hörte, ließ Op Oloop sich rücklings auf die purpurne Decke fallen. Er wurde ganz Ohr. Eine unberechtigte Furcht befiel ihn. Er hörte die mit Nachdruck gesprochene abschließende Antwort: »Nein. Er ist nicht da. Er ist schon gegangen.«

Und danach, wie um die Lüge zu rechtfertigen, dieselbe Stimme, spöttisch: »Na klar … Nie im Leben … Ihn in diesem Moment zu rufen!«

Zum anfänglichen Spiel zurückgekehrt, war es schon nicht mehr dasselbe. Seine Stimmung war umwölkt. Aller Schwermut schien sich auf seinem Gesicht ein Stelldichein zu geben. Er schwamm auf Vagheiten. Sein Herz schlug in einem verwerflichen Vakuum mit den Flügeln.

Kustaa wunderte sich über die Veränderung. Sie richtete sich ein wenig auf und ließ ihren Körper herumgleiten, um ihn vis-a-vis anzusehen. Der Statistiker drehte den Kopf weg, seine Lippen stießen gegen eine hängende Brust. Da überkam ihn ein plötzlicher, morbider Genuß, gekrönt von Sinnenlust und Schrecken. Und bereits ohne Kontrolle, legte er los: »O Kleine … mein Kleines! … Wer hätte das gedacht? … Wir sind verloren … komplett verloren! … Siehst du? … Unsere Seelen leiden … sie leiden! … Sie sind übel zugerichtet von fürchterlichen Krokodilsbissen … Sie reißen nur vierunddreißig Prozent der Seele hinweg … Wir gehen durch diese mit den Hinterbacken loser Frauenzimmer gepflasterte Avenida … Folge mir! … Nein … Ich möchte nicht in diese vaginalförmigen Gitarren eintreten … Ivar … kennst du Ivar? … Er hat es gesagt… Das gegenüberliegende Ufer der Liebe ist der Tod … Hier entlang … Sag mir, sind deine Arme Lianen oder Vipernnester? … Erweise deine Ehrerbietung … schnell! …

Der Kommandant dieses Heeres von Penissen ist der Herr der Stille … Der nahrhaften Stille des Todes!«

Verwirrt und beunruhigt, wuchs in Kustaa die Verzweiflung. Eine taube und wimmernde Verzweiflung, die sie zuerst dazu veranlaßte, sich einzurollen, dann aus dem Bett zu springen und schließlich seine Hände und Wangen in der naiven Hoffnung zu schlagen, ihn dadurch zu sich zurückzuholen. Welch Wunder! Seine Ungereimtheiten verstummten. Bereits gelassener, besänftigte ein Umschlag mit Kölnisch Wasser auf der Stirn die letzten konvulsiven Ausstöße Op Oloops. Und er selbst, in einer Art von Halbschlaf und sich die Haare raufend, öffnete die Augen und füllte die Atmosphäre aufs neue mit Vertrauen und Kameradschaftlichkeit.

»Erschreck dich nicht, bitte … Das ist vorübergehend … Ich habe getrunken … Ich komme von einem Dinner mit Freunden … Exzesse … Ich glaubte, daß das Bankett eine Medizin des Vergessens sei … Doch nein … Das Vergessen heilt die Liebe nicht … Soweit die Wahrheit, Kustaa …«

»Gut, ja, ich verstehe. Doch was für ein Schreck! Was für phantastische Dinge! … Ich schwöre bei meiner Mutter …«

»Du hast eine Mutter?« interessierte er sich mit matter Stimme, um vom Thema abzulenken.

»Ja.«

»Wo?«

»In einem Irrenhaus in Helsinki.«

»Ir-ren-haus!?«

»Nach der Scheidung von meinem Vater ist sie vor Kummer und Scham verrückt geworden.«

»Scham … worüber?«

»Über das, was er mir angetan hat.«

Op Oloop lud sie sanft ein, sich an seine Seite zu legen. Sie nahm zaghaft an. Ihre Augenbrauen, daran gewöhnt, sich mißmutig hochzuziehen, waren vor Bitterkeit gekrümmt. Sie gab ihren Kopf in die Obhut seiner rechten Achsel. Er kämmte ihre Haarsträhnen mit seinen Fingern.

»Also …«

»Er hat mich bestialisch vergewaltigt. Ich war zwölf fahre alt … Der Skandal war riesig, unerträglich. Mein Großvater, der Literaturlehrer am Gymnasium von Oulu …«

»Wie bitte! WIE BITTE!«

»… starb während des Prozesses …«

»Dann bist du …«

»Meine Mutter be…«

»… die Tochter von Minna!«

».. .schloß, sich scheiden zu lassen …«

»Von Minna Uusikirkko …«

«… und danach wurde sie verrückt.«

»… meiner Jugendliebe!«

Ohne zu wissen wie, fanden sich beide in der Mitte des Zimmers wieder.

»Sie, der Freund meiner Mut…!

»Zu recht kannte ich dich! … Zu recht!«

Und beide blieben erschöpft stehen, keuchend vor Erstaunen.

Die Szene war sehr pathetisch gewesen. Jeder von ihnen war von wer weiß welcher dunklen Dringlichkeit angetrieben worden und hatte sich mit aller Wucht in dieses Rennen der Enthüllungen geworfen. Ihre Worte waren zusammengeprallt, hatten sich übereinandergeschoben. Es war ein enormer rush in Richtung der Qual des anderen gewesen. Und sie hatten das nahe Ziel erreicht, Gehör zu finden, sowie das ferne, sich gegenseitig zu verstehen.

Doppelter Sieg und doppelte Niederlage.

Nun öffnete sich ein weites Szenario der Morbidität.

In sich gekehrter Zorn und schweigsame Nostalgie. Der Rausch eines in seiner Kultur verschanzten Geistes und das Dahinwelken einer an Verlassenheit krankenden Seele. Ein unergründlicher moralischer Schmerz, der vergebens kämpft, seine Schuld darzulegen und es nur schafft zu murmeln: »Ich bin alles schuld … Wenn ich Minna geheiratet hätte …«

Und die tränenvolle Krise, die die Entmutigung der Gegenwart in zwei Worten zusammenfaßt: »Mutter! Meine Mutter!«

Es entstand eine lange Pause voller Unruhe und Bedrückung.

Kustaa reagierte zuerst. Gutwillig – eine nackte Antigone – führte sie Op Oloop zum Bett. Ihre Zärtlichkeit war ehrlich, keusch. Doch ihre Worte übersetzten noch nicht ihre tröstende Absicht. Sie waren jammervoll, herzzerreißend. Schienen eher die Klagen eines gefangengenommenen Schmerzes zu sein.

Dahinkriechend, immer menschenscheuer, schlich sich das subjektive Empfinden Op Oloops in Richtung der angeborenen Dschungel seines Wesens. In seiner melancholischen Abdankung fühlte sich selbst das Fleisch alt an. Es reduzierte sich auf seine Basisfunktion. Sein Kopf – ein leeres Kraftwerk – pendelte mit der Schwerfälligkeit eines Idioten.

Er stand auf. Sein Blick war verdüstert. Seine Beine zitterten. Er tat sein möglichstes, um sich anzukleiden.

»Sie vergessen die Weste …«, wollte Kustaa helfen.

Hätte sie es nur nicht gesagt. Durch Gedankenassoziation erinnerte sich Op Oloop wieder an den Spanier, an die schimpfliche Handlung, sich die Weste nach dem Genuß des Geschlechtsaktes zuzuknöpfen. Und seine ganze zurückgehaltene Raserei offenbarte sich: »Raus mit dir! … Raus! … Ich werde es nie zulassen! … Du bist meine Tochter! … Minna … mein Wort! … ich werde es nicht mehr zulassen … Schnell! … Zieh dich an! … Worauf wartest du, Kustaa? … Du bist meine Tochter … Die Tochter unserer Träume … Minna und ich träumten davon … eine Tochter wie sie zu haben! … und einen Sohn wie mich!… Du bist ihr Ebenbild … Wo ist mein Sohn? … Sag es mir, ich befehle es dir! … Was? … Empfängt man vielleicht nicht in Träumen? … Gebärt man vielleicht nicht in Träumen? … Kustaa, geh jetzt gleich fort von hier … Ich führe dich … Du gehst zu Franziska … Zu Franziska! … Weißt du, wer Franziska ist? … Oh, Franziska! … Fran … zis … ka …«

Kustaas schrille Schreie hoben sich von Op Oloops rauhem Gebrüll ab und erreichten den Salon.

Madame Blondel und die beiden anderen Huren liefen herbei.

Als es an der Tür klopfte, blieb der Statistiker wie versteinert stehen. Die Augen geweitet. Die Unterlippe herabhängend und feucht.

Vom Augenblick ihres Eintretens an setzte sich die Patronin mit einem gebieterischen Blick in der Runde durch. Sie wußte, daß es in solch kritischen Momenten das beste ist, nichts zu sagen. Dann glitt sie zu Kustaas Platz, bedeckte ihre zerbrechliche und verschwommene Nacktheit mit einem Bademantel und drängte sie zu sprechen: »Faß dich kurz. Was geht hier vor?«

»Er möchte mich mitnehmen. Er sagt, daß ich seine Tochter bin … die Tochter seiner Träume … Er scheint verrückt zu sein.«

»Dummes Zeug. Hat er dich bezahlt?«

»Nein.«

»Geh kassieren.«

Und sie zog sich vorsichtig zurück, in die Lauerstellung eines Aasgeiers.

Kustaa wußte nicht, was tun. Ihr großer Respekt hinderte sie daran, die verdutzte Andacht Op Oloops zu verletzen. Er war schon kein bloßer »Freier« mehr für sie. Er war der Mann, der ihre Mutter gekannt hatte. Aus diesem einen Grund, ohne seine übrigen Behauptungen zu überprüfen, hielt ein intensives Band sie zu Dankbarkeit an, nicht dazu, ihn auszunehmen. Und sie beherbergte ihn in ihrem Mitleid. Doch die Patronin nötigte sie unerbittlich mit Augenblinzeln, also trat sie näher. Während sie vortäuschte, ihm etwas ins Ohr zu flüstern, nutzte sie die Gelegenheit, um in seiner Weste zu wühlen, die noch über der Stuhllehne hing. Sie stieß auf Geldscheine. Genau vierzig Pesos. Ein Ausdruck triumphierender Freude schnitt sich in ihr Gesicht.

»Hier haben Sie.«

»Gut. Jetzt geh. Überlaß ihn mir.«

Op Oloop war noch immer orientierungslos. Das Hereinstürzen von Madame Blondel hatte in ihm einen verhängnisvollen Gemütsschock hervorgerufen. Das Trauma schien seine Scham ausgemerzt zu haben. Bestürzt befiel ihn eine Art Lähmung des Gedächtnisses. Das körperliche Unwohlsein behinderte den Lauf seiner Gedanken und beeinflußte sein Benehmen. Er ging in sich, wollte sich auf etwas konzentrieren, doch er konnte es nicht.

Die Patronin nahm ihn beim Arm: »Kommen Sie. Trinken wir den Whisky zu Ende.«

Er wies ihr Angebot zurück. Energisch durchschritt er die Tür zum Salon, die Kustaa offengelassen hatte.

Sein Empfinden hatte sich verändert: verzagt und kühn, furchtsam und erzürnt zugleich. Seine gewöhnliche Gesetztheit verwandelte sich in Mißtrauen. Sein ungezwungenes Wesen, das vormals für soviel Wohlwollen unter den Mädchen der casas non sanctas gesorgt hatte, war erloschen. Trotzig, finster, spähte er nun um sich, und er tat es unablässig, denn gleichzeitig litt er unter einer vielfachen Bedrängnis, einer penetranten Belästigung, die seinen Geist umkrempelte und ihn schmutzig wie das Innere eines Handschuhs zeigte. Das Barometer seiner Moral schlug vor Gereiztheit aus. Er, so tadellos, so gemäßigt, so zuvorkommend, bemerkte, daß die Wahrnehmung der Dinge und der Personen nun eine andere war: eine anklagende Wahrnehmung, die ihm Vergehen, Abgeschmacktheiten und Missetaten zur Last legte, welche er niemals begangen hatte. In diesem depressiven Pandämonium rief der durch die verstärkte Gehirntätigkeit erhöhte Blutzufluß einen Anfall von Jähzorn hervor. Ein mimischer Jähzorn zu Beginn, mit heftigen Gebärden, um Gnome und Phantasmen zu vertreiben. Dann ein beißender und gewaltsamer Jähzorn, der sich sofort gegen Madame Blondel richtete, als verkörperte sie die seiner Reinheit entgegengesetzte Kraft.

»Werfen Sie mich nicht hinaus! … Ich bin kein Liederling! … Wenn ich auch der Vater von Kustaa bin … bin ich doch nicht der Vater, der sie in ihrer Kindheit vergewaltigte … Ich bin lediglich schuldig, da ich den Traum nicht verwirklichte … Denn … wir empfingen sie im Traum … Minna und ich …«

»Selbstverständlich. Doch tun Sie mir den Gefallen, bitte schön. Setzen Sie sich.«

»Niemals! … Ich will nicht! … Sie haben vor, mich in eine Falle zu locken … Mich zu strafen, indem Sie mich durch ein Kellerloch Kustaas ganze Verderblichkeit sehen lassen … Niemals! … Ich kenne dich, alte Harpyie … Kustaa geht mit mir … Sie wird bei Franziska leben … Bei Franziska! … Weißt du, wer Franziska ist? … Oh, Franziska! … Fran … zis … ka …«

»Ja, und?«

»Jaaa.«

Es war ein durch Mark und Bein gehender, vertikaler Schrei, nach der hingestreckten Schlaffheit, in die seine Worte gesunken waren. Ein Schrei, der die Patronin erstarren ließ und sie dazu veranlaßte, all ihre Schläue einzusetzen, um Op Oloop loszuwerden.

»Ja … Ich werde sie erneut zum Traum machen … Ich werde sie aus dieser Erniedrigung herausholen … Denn Kustaa ist mein … Mein! … Kein spanischer Spielkartenfabrikant wird sie mehr besitzen … Ich werde es nicht zulassen … Verstehen Sie? … Mal sehen, warum knöpfen Sie sich nicht noch einmal die Weste zu?«

Während er diese Aufforderung hervorstieß, rannte er plötzlich wie entfesselt zu dem Zimmer, das er gerade verlassen hatte. Er blieb kurz vor der Tür stehen und ließ aggressiv eine Kanonade von Faustschlägen auf seine Halluzination niederprasseln. Dann, mit rotem Gesicht, ungestüm, als ob sein eingebildeter Rivale fliehe, verfolgte er diesen von einem Ende des Salons zum anderen und griff ihn unter ständigem Ausrufen an: »Mal sehen, warum knöpfen Sie sich nicht noch einmal die Weste zu?«

Auf einmal versetzten ihn die körperliche Erschöpfung und die krankhafte Erregung seines Geistes in völlige Verwirrung. Die Bilder überlagerten sich in einem wilden Durcheinander. Lichter und Einrichtungsgegenstände hallten in seinen Ohren wider. Magnesiumqualm, Kapriolen eines Possenreißers, Feuerwerkskracher. Im Wirrwarr der Sinnesverrücktheit hatte er sich von der Wirklichkeit gelöst.

Madame Blondel verlor darüber nicht die Fassung. Ihr war Op Oloops geheime Logik unbekannt, für sie blieb der Mann unverständlich. Und sie schickte die Pförtnerin, ein Taxi zu holen.

Unterdessen rief sie nach Kustaa: »Du hattest recht. Er ist übergeschnappt. Lenk ihn ab. Nur du kannst das. Dann setzen wir ihn in ein Auto und Schluß damit.«

Die Seele ist ein dunkler Raum. Im langsamen Prozeß der Differenzierung erleuchtet der Mensch ihn nach und nach. Er gelangt so weit, sich selbst vollkommen sehen zu können. Doch diese Vollkommenheit blendet ihn. Und er wird verblendet! Die Fülle dieser Klarheit ist ihm schon nicht mehr genug. Der angeheizte Individualismus verlangt, daß sein Licht immer heftiger aufblitzt. Er möchte durch seine fleischernen Mauern hindurchstrahlen. In dieser Sehnsucht sondert er sich von allem ab, und da er sich schleift und verfeinert, schadet er sich, indem er sich abschwächt. Dann kommt es zur Tragödie. Die Durchsichtigkeit wird von Schrecken getrübt. Die Wände krächzen unter dem Ansturm der Leidenschaft. Und in fortschreitendem Maße verfinstert sich die Seele und wird wieder das, was sie war: ein dunkler Raum.

Kustaa trat an Op Oloop heran. Sie rief seine Seele. Im Inneren nahm sie Unordnung und Zweifel wahr. Und eine schwache Stimme inmitten der Dunkelheit: »Wer ist da: Engel oder Teufel?«

Der Statistiker fand zu sich selbst zurück. Sein Blick wurde wieder klar, halluzinierte nicht, sondern sah. Als er sie erkannte, küßte er sie. Sein Kuß schmeckte noch nach Beleidigung … Sie küßte ihn. Ihr Kuß schmeckte noch nach Unterwürfigkeit …

Als Ramona mit der Nachricht zurückkehrte, daß das Taxi wartete, schien Op Oloop ruhig. Furor brevis. Den Zorn einmal besänftigt, fiel seine wohlbekannte Vortrefflichkeit erneut ins Auge. Das Blut floß wieder zahm durch die feinen Kanäle des Gehirns. Der Charakter selbst, während des Anfalls verwandelt, kehrte in sein Flußbett aus Gelassenheit zurück. Noch bebte die moralische Erregung; doch eher wie das entfernte Echo des bereits verklingenden Donnerschlags. Er hatte die Erinnerung an den Zwischenfall fast verdrängt. Die Amnesie ist in solchen Fällen ein Geschenk des Himmels. Die auf bestimmte Neurosen folgende Fähigkeit, vergessen zu können, führt einen von der Vorsehung geschickten Mantel mit sich, um das von ihnen entblößte Elend zu verdecken.

Schmeichlerisch und auf indirekte Weise legte ihm die Patronin nahe, sich zu entfernen: