19:00

Vier Kandelaber mit bläulichen Kerzen. Auf zwei Tellern aus sächsischem Porzellan Früchte von saftiger Plastizität. Eine kubische Vase, aus der langstielig blühende Gladiolen herausragten, an ihrem Fuß mit gelben Primeln und Parmaveilchen verziert. Und hier und da Schnittchen. Fischschnittchen nach finnischer Art …

Er verschlang eins nach dem anderen, bis er übervoll war. Ein reichhaltiger Schluck Montilla-Sherry beruhigte seinen Magen. Er griff nach einem riesigen Pfirsich. Beim Hineinbeißen fühlte er genußvoll den ersten Vorgeschmack auf seinen Lippen, dann rann der Saft in die Wölbung seines Bauches.

Diese tierhafte Gier schien ihn mit Wohlergehen zu erfüllen.

Mit bourgeoisem Wohlergehen. Er erinnerte sich an nichts und niemanden. Franziska und Op Oloop, Quintin und Van Saal – Wolken, weniger noch als ferne Wolken –, sie tauchten nicht mehr vor seinem inneren Auge auf. Weder Liebesangelegenheiten, noch Geschäfte. Weder das Vaterland, noch die Familie, noch das Schichtholz. Und er ließ sich schwer auf einen silbrigen Metallsessel mit mandelfarbigen Flauschkissen fallen.

Oben, in seinem Haus, lag die umsorgte Einsamkeit Franziskas.

Draußen, in der Stadt, irrte die dämmrige Einsamkeit Op Oloops umher.

Oben, die präsente Fürsorge des Vaters und der Gouvernante, die darum kämpften, eine für das Gefühlsleben verlorene Seele zurückzugewinnen.

Draußen, die hartnäckige Suche des Freundes und des Polizisten, die darum kämpften, eine für das Leben verlorene Seele zurückzugewinnen.

Oben, außerhalb ihres Bewußtseins, inmitten von Schwärmen aus Vorahnungen, die Liebe Franziskas.

Draußen, oberhalb seines Bewußtseins, inmitten von geistigem Nebel, die Liebe Op Oloops.

Oben und draußen …

Der Statistiker lief weiter und weiter …

Seine außerordentliche Luftblase hielt sich intakt, als wäre sie ein flexibler Überzug seines Astralkörpers. Menschen, die an Dromomanie oder herumirrendem Delirium leiden, verfügen über ungewöhnliche Resistenz und Verteidigungskraft. Sie haben für die Gefahr nur ein Lachen über, entkommen allen Risiken. Schlafwandler in vollem Wachzustand, werden sie von einem wünschelrutengängerischen Instinkt geleitet. Op Oloop lief so. Stets mit gleichmäßigem Schritt, stets im automatischen Rhythmus, bis die Ermüdung seine Impulse zum Erliegen brachte, als er die körperlichen Grenzen überschritten hatte.

Er war beim Botanischen Garten angekommen. Pflanzengleich drang er in das Halbdunkel des herbstlichen Dämmerlichts ein. Sein stämmiger Körper – ein wandelnder Baum – schob sich zwischen einigen Bäumen mit rauher Rinde hindurch. Er setzte sich nicht: Er brach auf einer Bank zusammen, Arme und Beine locker herunterhängend wie Zweige. Ihn umgab die Architektur eines römischen Gartens: Terrassen mit Rainweiden, weitflächiger Rasen, ein Wasserbecken, zwei Reihen gespenstischer Zypressen und die marmorne Nacktheit Aphrodites.

Zur gleichen Zeit ließen der Vater und die Gouvernante Franziska auf ihrem Lager ausgestreckt zurück. Sie war weder wach noch schlief sie. (Betäubung, Entkräftung, Benommenheit.) Sie lag unbeweglich auf dem Bauch, die Extremitäten – ein Kreuz aus Fleisch! – gen die vier Kardinalpunkte der Liebe geöffnet. Sie war weder wach noch schlief sie. (Verdruß, Ermüdung, Fieber.) Sie war in der trüben Stille des Schlafgemachs gefangen wie Op Oloop im Park.

Der Tod ist nicht immer ein unausweichlicher Schicksalsschlag. Es gibt Scheintode in lebenden Wesen, und selbst in einem einzigen Organismus sind viele Tode eingeschlossen. Das Leben – das für Goethe die Struktur einer Menschenmenge darstellt und für Kant die einer Nation – wird nicht durch das Ableben eines oder Tausender der integrierten Teilchen ausgelöscht. So ist für gewisse chronisch Kranke die Lebensreise nichts weiter als ein Trauergeleit, das mit tödlicher Sicherheit in der Nekropole endet, wenn die infizierte Materie endgültig aufhört zu bestehen.

Vom physiologischen Gesichtspunkt aus ist der Organismus ein Verband chemophysischer Elemente, vereint durch das Zusammenspiel der Körpersäfte und den Zusammenhalt der Nervenstränge. Der Mißstand einer dieser beiden Gruppen beeinträchtigt zwar durch das entstehende Ungleichgewicht das restliche Lebensguthaben, reißt jedoch nicht die Persönlichkeit hinweg. Sie besteht fort. Oder besser gesagt: besteht unterschwellig fort. Wenn die Materie dann von den unterscheidenden Merkmalen befreit ist, kehrt sie zur Einfachheit des Ewigen zurück. Denn aus demselben Grund, aus dem der Einzeller in seiner Umwelt unsterblich ist, läßt die Krone der Schöpfung in der ihren ein unbegrenztes Überleben nicht zu.

Franziska und Op Oloop waren von der Welt entrückt. Doch da der Zusammenhalt der Nerven aufgelöst worden war, bewirkte diese Entrückung nichts weiter, als sie in die dem Fleisch vorbehaltenen Sphären zu versenken, in denen es per se regiert; die Sphären, in denen das Fleisch aus sich herausgeht, sich gegen die äußeren Zwänge verteidigt und entspannt, frei von jedem rationalen Joch seine eigene Sprache spricht, nämlich die Sprache des Instinkts.

Die Nebel, die die Ecken des Parks und des Schlafgemachs wattiert hatten, verflüchtigten sich … Nun war es eine straffgezogene Nacht. Eine Nacht aus Atlasstoff, auf die Staffelei der Egozentrik gespannt.

Das Wort ist eine immerwährende Anomalie des Menschen. Hellsichtige Menschen können diese mentale Deformation sehen, die eine Blase vor ihrem Mund bildet. Zusammengesetzt aus Gedanken und Formulierungen, aus Ideen und Atemzügen, aus Gefühlen und Ausbrüchen, kann diese Blase anziehen oder abstoßen. Gewisse Scharlatane, die unablässig durch die verbale Kloake ausscheiden, bieten einen wahrhaft monströsen Anblick. Was für ein Privileg ist die unschuldige Intuition der verstandeslosen Wesen! Ihre Sprachlosigkeit beinhaltet höchstes und rigoroses Verständnis, das nicht ständig einen Unterschied macht und dem Wandel unterworfen ist. Ihre Stummheit ist nur die Leinwand, auf der der Ekel und das Verlangen des Instinkts gebrochen und aufgefangen werden. Baudelaire wußte das: «… in meinem Gram ertrage / Ich nur des Tieres unumhüllten Trieb.« Sie sind so besonnen, verstehen sich so gut, daß sie sich niemals irren. Deshalb kennen sie das Lachen nicht: eine infame Verirrung, eine vom Menschen erfundene Entschuldigung, um über den Atavismus seiner Intelligenz hinwegzukommen!

Für Franziska und Op Oloop ist die Nacht bereits perfekt. Eine Nacht aus Amethyst und Obsidian. Eine Nacht reinster Überweltlichkeit. Eine Nacht von dunkler Durchdringlichkeit, in der die Stimmen wetterleuchten. Eine intime Nacht, die die Entfernung in einem einzigen Herzen zusammenschmelzen läßt.

Franziska und Op Oloop ahnen ihre Anwesenheit voraus.

Die geschmeidige Luft läßt kein Blätterrauschen zu. Doch sie hören das Murmeln ihrer Seelen, entfernt noch, wie eine vedische Hymne durch den Dschungel. Sie lauschen und nehmen einander auf. Sie lauschen und baden in ihrer wellenförmigen Ausstrahlung. Sie fühlen sich schon: eine Lebensblase in einer anderen Lebensblase; eine Traumkugel in einer anderen Traumkugel. Dann vereinen sie sich. Vereinen sich telepathisch in der Wonne einer pythagoräischen Entrückung.

Unterdessen verharrt der Himmel in der verzauberten Lähmung, die er bei Erdbeben zur Schau stellt. Und sie sprechen, sprechen, während die Stille sachte eine hermetische Symphonie komponiert.

»…«

»Fran-zi … Fran-zis-ka …«

»Ja … Hier …«

»Bist du das, Franzi? Ja! Du bist es. Ich erkenne den Glanz deines Diadems und die zinnoberrote Flamme, die sich von deinen Lippen löst.«

»Ja, my darling, ich bin es. Aber … warum diese körnige Luft, diese gebirgige Landschaft, die deine Worte abschleift und aufrauht?«

»Oh!«

»Ich bitte dich! Mach es nicht noch schlimmer mit deinem Erstaunen! Es versetzt die Umgebung in Aufruhr und bringt eine Epidemie trüber Dämpfe mit sich.«

»Doch der Himmel ist rein. Ein Himmel für Seelenwanderungen. Die Atmosphäre einer ruhenden Glocke, die großes Freudengeläut und den Aufschwung von Lachen und Tauben verheißt.«

»Ich sehe allerorten Monster. Du redest Unsinn. Das Firmament ist zerknittert. Es weht ein giftiger, brünstiger Geruch. Ich hasse diesen Boden aus steifen Schuppen. Warum lockst du mich in diese phantastische, aufgeblasene Landschaft aus Unterseeflora und Mikrobenfauna?«

»Wie bitte! Siehst du nicht diese Fontänen aus Milch, Honig und Wein?«

»Nein.«

»Nein? Und diese Grazie, die den Äther verzaubert?«

»Nein.«

»Dann, mein Liebling, ist der Saum deines Geistes verschmutzt. Wie hast du die Götter getäuscht, die den Eingang in die Überwelt bewachen? Ich werde dich exorzieren.«

»Warum das? Meine Seele ist immer ein ›einhelliger Konflikt von Weißtönen‹ gewesen.«

»Ja, aber die sich verflüchtigende Materie bringt manchmal die Pest ihrer Erinnerung mit. Reinige dich in einem Feuerbad.«

»Nur wenn du dich zur Verfügung stellst … Du allein bist der für mich geeignete Schmelztiegel.«

»Gut. Komm näher. Auf daß die Verbindung vollkommen sei. Daß wir im Rausch übereinstimmen und unsere Ausströme sich nebeneinanderreihen … So. Bemerkst du etwas?«

»Ja. Ein zähflüssiges Grün, das zergeht …«

»Die Fasern des Hasses!«

»… opalene Kokons, die sich auflösen …»

»Vergängliche Hoffnungen!«

»… und ein morastiger Ockerton, der verschwindet …«

»Deine Wünsche!«

»Es ist seltsam! Jetzt nehme ich deine Stimme ganz deutlich wahr. Mir scheint, daß ich mich in einer rosafarbenen Bucht befinde.«

»Mein Herz umhüllt dich.«

»Ja?! … Doch ich begreife diesen verwunderlichen Umschwung nicht. Welche Hexerei liegt in alledem?«

»Überhaupt keine. Hast du nie im Schlaf gesprochen? Wir sind zwei Schlafredner, die sich miteinander unterhalten, nichts weiter. Die sich unterhalten und sich verstehen. Sei achtsam. In diesem Zustand mischt sich das vorherige Leben mit dem zukünftigen. Du wirst noch sehen … Hier bewegt man sich vorwärtsschreitend zurück, denn es gibt keinen Raum in der Traumzeit.«

»Welch Balsam deine Stimme! Sie ist voller Musik!«

»In dem ›leblosen Leben, das wir leben, klingen alle Seelen unaussprechlich wie ein Gebet. Die deine liebkost mich mit der Süße ihres Schmerzes.«

»Was für ein Unterschied! Ist eine so große Zärtlichkeit denn möglich? Ich befand mich in einer Ödnis aus Ekstase, die Brüste verhärtet und die Augen blutunterlaufen. Die Luft war asketisch. Sie hatte verletzende Schärfen wie das Geheule von Hyänen. Und es gab Hyänen …«

»Ich weiß, Franziska. Lösche deine Erinnerungen aus. Wie habe ich gelitten, um dich zu finden! Deine Klage erreichte mich beschädigt, zerquetscht, über Straßen, billige Rummel und die Verzahnung von Häusern und brachliegenden Grundstücken hinweg. Wie ebenmäßig sind die Wellen und Brisen, die nun Zugang zu uns finden! Fern des Fleisches, des winselnden Fleisches, vereint uns ein weitläufiges Flußbett, das reine Flußbett der Liebe! Welch Wonne! Fühlst du nicht, wie wir in der tiefen Glückseligkeit ihrer Resonanzen erzittern? Erhöht dich nicht dieser Gefühlsfluß, der vom Herzen des einen zur Seele des anderen strömt? Ein Gefühlsfluß, der die Ufer des Geistes erfrischt und die Schöße des Todes befruchtet.«

»Achje!«

»Keine Seufzer. Statte die Wahrhaftigkeit dieser unverletzlichen Einsamkeit nicht mit Nostalgien aus. Hier bestimmt unser Glück die absolute Freiheit. Es gibt eine spezielle Sprache für verwandte Seelen.

Und das Glück transzendiert nicht. Es verschmilzt im allgemeinen Genuß der freien Seelen.«

»Dein Trost wiegt alle gemeinsamen Opfer auf. Zu leiden ist die beste Art zu säen. Welch schöne Ernte fahre ich ein! Ich wollte weiter leiden …«

»Unmöglich. Das kannst du nicht. Hier leidet man nicht. Man ist, merkst du es, man ist. Einzig die Gegenwart entflieht dem Schmerz. Sein! Hier ist das Erleben der Liebe perfekt … Lichtgefülltes stillstehendes Wasser, in dem niemand ertrinkt. Dort … tritt mit der Liebe das Leiden auf …«

»Pst! Laß uns nicht wieder unsere dunstigen Träume dem Vergessen entreißen. Gehen wir.«

»Wozu, wenn wir allgegenwärtig sind?«

»Oh, welch unverhofftes Wunderwerk!«

»So ist es immer. Sieh, wie es sich wandelt. Das Flüchtige garantiert den Fortbestand des Bildes. Wir sind die Objektive, die den Fluß des Lebens einfangen. Alles fließt zu uns, unter uns, in uns.«

»Mir gefällt diese ebene Landschaft aus durchscheinendem Schilfrohr, geradlinigem Wasser und himmellosem Himmel. Baden wir? Aber mache dich frei von dir selbst. Sei, wie ich, eine nackte Psyche.«

» Oh, Franzi! Welch törichte Unachtsamkeit! Es ist schon vollbracht. Siehst du mich noch?«

»Nein. Jetzt nicht mehr. Selbst die drolligsten Anzeichen deiner fleischlichen Falschheit sind erloschen.«

»Danke. Ich weiß, daß ich ein durchsichtiger Schatten bin. Ich kenne meine Fähigkeit, mich in Licht zu verschließen. Doch manchmal verfolgen mich meine eigenen Sylphen. Und kleiden mich in Gewänder der Kausalität und der nervösen Tunika des irdischen Op Oloop. Doch ich habe meine Tricks. Und verschwinde auf eine Weise, daß nicht einmal ich selbst mich identifizieren kann, solange ich schweige. Du weißt, daß der Gesichtsausdruck die fleischerne Grenze des Geistes ist. Das wirkliche Gesicht ist jenes, welches wir erahnen, gebildet aus den Ausstrahlungen, die seine Weisheit, sein Duft und seine Musik zusammenfügen.«

»Dies fühlte ich intuitiv, als ich dich kennenlernte. Dein ganzes Wesen drang auf melodische Art in ein Gehör, von dem ich selbst nicht wußte, daß ich es besaß.«

»Ja. Wenn man nicht liebt, ist das Gesicht eines jeden ein Damm gegen das Eindringen oder die Dreistigkeit der anderen. Wenn man jedoch liebt, ein Damm, der vom Zärtlichkeitsfluß der Pupillen und den heißen Strömungen des Wortes mitgerissen worden ist.«

»Warum wissen mein Vater und mein Onkel das nicht?«

»Weil sie ihre Eigenliebe anstauen. Die Materie beherrscht sie und verdörrt ihren Geist. Vergib ihnen. Rufe stattdessen die Seele deiner Vorfahren an. Hier schließen sie sich in dir selbst zusammen. Die Seelen der Vorfahren, seien sie vergilbt oder noch frisch in der Erinnerung, leben immer weiter. Und wenn sie sich in uns neu beleben, ist es einfach, die Höhe und Niedrigkeit ihrer Leidenschaften abzuwägen. Die Auferstehung ist eine ursprüngliche Funktion der anderen Seite, also des Jenseits, in dem wir uns befinden. Konzentriere dich. Sobald du sie herbeirufst, werden sie sich in dir versammeln. Hier blühen die Mysterien.«

»O Wunder! Wie viele verwandte Seelen umgeben mich! Ei, da ist die Großmutter meiner Großmutter, die mich segnet. Da ist die Großmutter meiner Mutter, die mich küßt. Da meine Großmutter, die lacht. Da meine Mutter, die schweigt. O Wunder!«

»Nutze den Zauber. Der Bruch mit den Blutsverwandten ist gekittet. Rede mit ihnen. Frage sie um Rat. Hier werden Geheimnisse unweigerlich zu Hindernissen, und die Vorahnungen haben bereits das Wirkungsvermögen der Taten, die sie ankünden.«

»Sie um Rat fragen, worüber denn?«

»Über uns. Sie wissen es. Alle Gedanken, Gefühle, Willensäußerungen dringen bis zu dieser unsterblichen Welt durch. Da wir das Kosmische geerbt haben, das es in ihren Seelen gab, und da die spirituelle Verkettung jene Episoden, die sie ›erlebten‹, mit denen verbindet, die wir erleben, können sie uns lehren und uns ein Beispiel sein; denn da sie vor den gleichen Zweifeln gewankt haben und mit den gleichen Tränen gequält wurden, haben sie uns die Erfahrung unserer Niederlagen und unserer Freuden voraus. Zudem ist in der Überwelt alles von seherischer Klarheit. Indem sie Traumschichten ergründen, gelangen sie vor uns zu dem ursprünglichen Wasser, in dem sich das Bewußtsein badet …«

»«

»Und?«

»Halleluja! Halleluja! Ich habe mich nicht getäuscht! Sie haben mich umringt. Ich habe eine vielstimmige Lobrede gehört. Und einen Rat von meiner Mutter: ›Das Beständige, nicht das Feurige; die gefestigte Würde, nicht der vorübergehende Wagemut. Und alle drängten mich, zu dir zurückzukehren, mich in deine Seele einzupflanzen, bis zur Auflösung des Rätsels.«

»Sag mir: War deine Mutter in ihrem kurzen Leben glücklich?«

»Nein. Sie selbst hat es mir gesagt. Sie verfehlte das wahre Ziel. War eine Witwe der Gefühle, bevor sie im Tod wiedergeboren wurde. Und so lebt sie weiter. Sie brachte eine unerwiderte Liebe mit her. Und da die Trostlosigkeit jenseits des Grabes die schlimmste Tragödie ist, erleidet sie den lebendigen Tod einer toten Liebe.«

»Daher ist es notwendig, sich nichts vorzumachen. Die wahre Liebe ist eine wechselseitige Versklavung.«

»Unsere Liebe, zum Beispiel …«

»Ja. Legen wir im gegenseitigen Einvernehmen fest, daß unser Joch Liebe ist.«

»So sei es. Eine Liebe der allerfeinsten Art, gereift in unseren Qualen.«

»So sei es. Eine Liebe, geheiligt durch viele Tränen und zu viel Leiden.«

»Trachten wir folglich danach, daß das Ankertau unserer Körper allen Schicksalsschlägen widerstehe.«

»Deine Entschlossenheit, Franziska, tröstet mich. Ich weiß, daß die Brautzeit der Schönheit des ungelesenen Werkes entspricht; die Hochzeit der Spannung, seine Seiten aufzuschlagen; die Ehe dem Erratum der Ehegatten …«

»Sei unbesorgt. Ich bin gewiß, was mich betrifft. Meine Zuneigung ist mit Hefe aus Schmerz aufgegangen. Sie ist schon goldgebackenes und schmackhaftes Brot. Der Eigennutz, der auf Erden verbindet, trennt im Himmel. Meine Mutter hat mir das gerade erklärt. Wenn ich wieder in meinen Körper zurückkehre, werde ich Masken benutzen. Ich werde köstlich und pervers sein wie eine Nonnenhure. Ich werde mein Empfinden mit Girlanden aus Lilien und Stacheldraht einfrieden.«

»Wie eine Nonnenhure! … Welch Übertreibung! Warum trübst du unsere heitere Gelassenheit mit menschlichen Anklängen? Die Gelassenheit ist ein Gefäß aus feinstem Kristallglas, das schwingt und herrlich klingt, wenn es von der Entrückung zweier sich liebender Seelen gefüllt wird. Doch wehe, wenn es rissig wird! Alle Herrlichkeit der Verbindung verflüchtigt sich. So unscheinbar der Sprung auch sein mag, die Harmonie wird gebrochen. Und auch wenn die äußerliche Schönheit intakt zu sein scheint, die Schwingung und der Klang sind für immer dahin.«

»…!«

»…«

»Oh! Was für eine verworrene Verschlimmerung ist das? Warum hißt der wie ein Diamant facettenförmig geschliffene Stern, der uns beleuchtete, nicht mehr seinen Schweif aus Blitzen?«

»Wegen uns. Wir haben das Denken verspottet.«

»Und diese krankhaften Färbungen: malvenfarbig, amarantrot und grau? Und dieser fiebrige Bausch an einer gemsfarbigen Dämmerung?«

»Wegen uns. Wir haben die Glückseligkeit befleckt.«

»Und nun diese schimmernde kupferne Masse, die sich langsam auflöst? Und dieser Luftzug, der sich zu Nacht verdunkelt und uns, fast schon wieder Gestalt geworden, im Knochengerüst des erstarrten Zaubers gefangennimmt?«

»Wegen uns. Wir hätten weder von unserer Route abweichen noch mit unseren Sehnsüchten die dem Fleische vorbehaltenen Sphären streifen dürfen. So geschieht es häufig. Die Liebe ist Versenken, nicht Überschäumen. Und wer ausgedörrt und durstig durch die Wüste läuft, verliert sich in der Sinnlichkeit, kaum daß er die Oase erreicht.«

»Ich …«

»Ja. Du und ich. In der Wüste der Liebe ist der Geschlechtsakt die Oase. Brunnen, Blume, Schlange. Brunnen, in dem die Infra-Persönlichkeit sich dem Unbewußten ergibt. Blume, die aus dem Chaos sprießt und der stärksten Vortrefflichkeit die Kräfte raubt. Schlange, die in das Gestrüpp des Instinkts eingerollt ihren Schlund an die Oberfläche des Seins reckt.«

»Fliehen wir von hier. Suchen wir eine Landschaft von redlicher Moral.«

»Unmöglich. Unsere Schritte kommen nicht voran. Es ist notwendig, den Schlüssel zurückzuerlangen.

Bricht ein Bindeglied, findet die Pein

Entlang der ganzen Kette Widerschein …«

»Dann werden wir also weiterhin von dieser beklemmenden Halluzination heimgesucht …«

»Wirklichkeit.«

»… die immer erschütternder wird?«

»Offensichtlich, haben wir doch gesündigt. Ich bestätige das in dieser unausweichlichen Bedrängnis.«

»Könnte ich wenigstens meine Wahrnehmung verschließen!«

»Im Gegenteil, sie wird sich verschärfen. Wir sind gierige Spiegel, wir werden alles sehen, ohne den Triumph zu genießen, uns selbst zu betrachten. Der Schmerz des Spiegels besteht in der klarsichtigen Blindheit, sich nicht selbst ansehen zu können. Stich mich nicht, Liebling!«

»In diesem krankmachenden Laubwerk, das stechende Gifte absondert und übelriechende Leichenhallenfahlheit.«

»Sind deine Arme Lianen oder Vipernnester?«

»Ich weiß es nicht. Jammer nicht. Laß mich hier ausruhen. Ich sehe einen Sessel aus verchromten Rohrstäben …«

»Schnell. Geh weg da. Siehst du nicht das schleimige Mark aus Larven, das durch sie fließt? Siehst du nicht, daß diese fächelnden Blätter die Ohren aussätziger Elefanten sind? Geh weg da.«

»Gut, aber beiß mich nicht.«

»Ich beiße nicht. Das sind die schattenverschlingenden Krokodile. Beobachte sie. Sie befinden sich in diesem Gehege, dessen Modernität sich zu den primitiven Schrecken der Welt gesellt. Vorsicht! Alles ist trügerisch. Verschmähe die Früchte dieser weichlichen Gewächse. Es sind makabere Züchtungen, die Schöpfungen trunkener Dämone. Gib keiner Versuchung nach. Es ist kein Wasser, was aus der Quelle springt, sondern ätzendes Soda. Durch die Sprünge in den Wänden und die Klüfte im Onyxboden dringen monströse Phosphorwesen, die sich in der feuchten Schwere der Luft ausdehnen und kreuzen. Wir müssen uns in dem unschuldigen Glauben verschanzen, der uns in die Überwelt brachte. Den Schlüssel aus Licht zu unserem eigenen Labyrinth wiedererlangen. Wenn nicht, sind wir verloren.«

»Welch großes Unglück! Was gäbe ich nicht, um dieses Gestrüpp niederzukämpfen! Was gäbe ich nicht, um zu dem Pfad aus Vergißmeinnicht und Immergrün zurückzukehren, der zu den psychischen Brücken führt, die die Wunderwelt mit der Normalität verbinden!«

»Zu geben bedeutet nichts. Sich geben ist, was zählt. Unser Egoismus hat das Idyll der Traurigkeit und des Opfers zerbrochen. Wir haben unseren Willen auf die unmittelbare Erfüllung des Wunsches gesetzt. Es ist unsere Schuld. Uns mangelt es an der heroischen Aufrichtigkeit der reinen Liebe, die sich selbst entsagt.«

»Pst! Ich höre ein Lachen … vielfaches Lachen …«

»Vielfaches Lachen?«

»Ja, von dort … von denen da drüben … Sieh nur, sieh!«

»Ah! Natürlich. Ich kenne sie … Schadenfreude ist wie Kitzeln für die Schamlosen. Sie lachen natürlich ohne Grund. Sie lachen über Landrú, den feurigem Liebhaber, der die Asche seiner Liebchen in seinem Juweliersofen aufgestapelt anfacht. Sie lachen über Heinrich den Achten, der die Liquidation seiner Ehegattinnen durchspielt: Katharina von Aragonien, Anne Boleyn, Catherine Howard, Anne de Cleve … Sie lachen über jene, die die eingeborene Erfahrung der Liebe hatten und die sexuelle Wahrheit im Tod suchten: im Staub des Todes. Dummköpfe!«

»Wer sind sie?«

»Ein paar Gescheiterte: Casanova mit Madame Bovary, Lucrecia Borgia mit Werther, Franziskus von Assisi mit Naná, Christine von Schweden mit Rasputin, Rodolfo Valentin mit Theresia de Jesús …«

»Und diese abgefeimte und höhnische Hyäne, die eine feine zimtfarbene Statue bewacht?«

»Das ist keine Statue. Es ist die einzige treue Ehefrau von Chosrau dem Zweiten. Die anderen vierzehn Ehefrauen liegen in jener rumorenden Spottgrube, in der sich die dreitausend Ehefrauen von Rama dem Fünften befinden, mit ihren stets von Vampiren ausgesaugten Brüsten und von Inkuben mit Schmirgelphalli niedergemachten Geschlechtern. Die Hyäne ist Leporello. Du weißt nicht, wer Leporello ist? Er ist ein Kollege von mir. Der Statistiker von Don Juan, der das Register seiner Abenteuer und die Berechnung seiner Eroberungen aufstellte. Er singt. Möchtest du die Arie hören, die Mozart für ihn komponiert hat? Er wird dir, wie Doña Elvira, von der Anzahl verlassener Liebhaberinnen berichten:

640 Italienerinnen
100 Französinnen
91 Türkinnen
221 Deutsche
1003 Spanierinnen.«

»Nein, nein. Mir reichen deine Zahlen. Laß uns bitte aus diesem Klima hinaustreten, das zugleich beengend und ausladend ist. Mich entnerven seine abwechselnden Windstöße von Sapphismus und Kargheit, von Perversion und Spott.«

»Hinaustreten ist hineintreten. Wir sind wie umgestülpte Handschuhe. Alles in uns ist umgekehrt. Die Marter ist unvermeidlich. Ich weiß es. Ich konnte ihr bei jenen anderen Gelegenheiten nicht ausweichen, als ich verstohlen, in Schlaf gekleidet, allein durch diese magischen Gründe lief.«

»Dort hinten ist ein Licht. Gehen wir.«

»Ein Irrlicht … Die Baracke aus geschliffener Kälte, in der Descartes wohnt, seit er in der Liebe Isabels von Böhmen erfroren ist. Er ist ein verschmitzter und schwer zu packender Verkehrslotse. Man darf nicht mit ihm zweifeln. Seine Anweisungen führen in die Sackgasse. Ich kenne den richtigen Paß. Wir müssen einen Weg wählen, der mit obszönen Grenzsteinen gekennzeichnet ist. Wenn dir noch Schamhaftigkeit geblieben ist, zügele sie. Hier verliert sich die Frau, die errötet; denn die Schamesröte zeigt ihr Wissen um geschlechtliche Liebe und Genuß. Und sie wird von unendlichen Kräften angezogen, die sie zahllose Male in Besitz nehmen. Sei gleichgültig. Wenn du es bist, wird unser Weg kurz sein.«

»Ich glaube, ich falle in Ohnmacht. Gerade weil ich keine Scham vor der geschlechtlichen Liebe habe, beleidigt mich die dichte Realität des Alptraumes. Sie kommt mir vor wie die phallische Kristallisierung aller weiblichen Begierde.«

»Viel mehr … Doch sprechen wir nicht. Sei stark. Dieses Regiment erigierter Penisse dient dazu, Hexereien und Verzauberungen aufzulösen. Ehrerbietung seinem schmissigen Kommandanten, dessen umsichtiges Wirken gegen Schaden und böse Blicke sprichwörtlich ist. Dort drüben – bereite dich vor – liegt das Anwesen von Osiris, voller ithyphallischer Malereien und Amulette. Das Ambiente ist orgastisch. Riechst du nicht den erdrückenden Nardengeruch?«

»Ja.«

»Das sind die Samenflüsse, die in seiner Einfriedung entspringen und die Einöden der Welt befruchten …«

»Ich kann nicht mehr … Ich ersticke …«

»Nur Mut, Franziska! Hier gibt es eine erbauliche Wegkehre. Betrachte den Shiva-Kult. Ein vor Wollust verrenkter Tanz. Das Ritual zeigt eine heilige Obszönität. Symbole!«

»Glücklich atme ich auf. Welch schlammige Wolkenbrüche! Was für haarsträubende Himmel! Ich erstickte an einer Beklemmung, einer fast irrsinnigen Beklemmung.«

»Dennoch verändert der Himmel sich nicht. Wir sind es, die wir uns verändern. Unsere Verderbtheit, unsere Ideen, unsere Besudelungen färben ihn. Wir müssen uns hinter dem unschuldigen Glauben verschanzen, der die Seelen ohne irgendeine Absicht verbindet und aufeinander abstimmt. Der Himmel ist immer ein umgestülptes Glas, unter dem wir gefangen sind. Die einzige Ausflucht besteht darin, in Lichtstrahlen eingefüllt das Kristall zu durchqueren.«

»In Lichtstrahlen! Was gelten zwei Lichtstrahlen in Landschaften, krank vor lauter Mysterium?«

»Das Licht wird unser eigenes Labyrinth erhellen. Wir werden aus uns selbst heraustreten. Und mit diesem Schlüssel aus Licht werden wir an den goldenen Stränden landen, an denen die nährenden Kräfte des Gleichgewichts und der Tugend ruhen.«

»Beeil dich, wenn das so ist. Du bist ein allzu redseliger Dragoman. Verlier keine Zeit.«

»Zeit verlieren … Merkst du nicht, daß sich die Zeit nach unserem Belieben anordnet, daß sie schrumpft, wächst und gedeiht? Die Liebe ist der Samen, der die Ewigkeit befruchtet. Wichtig ist, das zu hüten, was uns unvergänglich machen wird: unsere Liebe. Man muß lieben!«

»Man muß lieben! Natürlich weiß ich das … Doch warum lächelt mir dieser mit Weinranken und Rosen bekränzte Alte zu?«

»Er lächelt immer. Das ist Anakreon. Er war es, der sagte: ›Man muß lieben.‹ Doch sieh genau hin. Hinter ihm geben Sappho und Sokrates ihm Kontra. Sie beschwatzen Jünglinge und Jungfern. Höre, wie sie seinen Spieß umdrehen.«

»Ja. Man muß lieben; aber auf unsere Weise …‹«

»Shocking!«

»Biegen wir hier ab. Die Luft wird feiner, bemerkst du es? Warum erschreckst du nun? Ah! Keine Angst. Das sind die Athleten, die den Olympier begleiten. Alle nackt, glänzend vom Schweiß des Stadions und den ägyptischen Salben. Die Geschlechtlichkeit wird in den Epen versteckt und in den Triumphen zum Erstrahlen gebracht. Die Luft wird feiner, bemerkst du es? Es ist unser Geist, der Hauch unseres Geistes.«

»Halleluja! Aber was ist das?«

»Ekle dich nicht. Sei entgegenkommend. Nimm die Opfergabe an, die dir Euripides und Aristophanes – endlich zu Freunden geworden – machen.«

»Noch mehr Phallismus …«

»Das sind die phallusförmigen Törtchen, die bei den Thesmophorien zu Ehren Demeters verteilt wurden. Unterdrück deinen Ärger. Du siehst, das Panorama wird schon weiter und erhebt sich in blauen Dimensionen, so groß wie unser Verlangen. Doch, was sehe ich? O Unglück! O Unglück! Sie verfluchen uns und richten ihre Fäuste auf uns, den Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger hervorgesteckt. Deine Zurückweisung hat sie beleidigt. Wir haben ihre Verachtung hervorgerufen. Die Faustverwünschung kündet Unheil an. Ich fürchte einen Hinterhalt.«

»Wie schade. Ich erspähte in der Ferne schon einen frischen Quellgrund, überhäuft mit … Oh!«

»Oh!«

»Noch einmal dieser Fleischwedel mit mißgestalteten Blüten und schändlichen Aromen. Noch einmal die Bedrängnis einer Realität voller Entartungen. Wohin gehst du, Liebling? Tritt nicht in diese mit den Hinterbacken loser Frauenzimmer behängte Halle ein. Sie scheint köstlich mollig und durchsichtig zu sein, doch verbirgt sie fürchterliche Fallen. Ich habe sie neugierig ausgespäht. Nun werde ich dich durch diese Höllen führen. Wir lassen die vaginalförmigen Grotten hinter uns, in denen in glitschiger Feuchtheit sämtliche Krankheiten aufkochen. Komm. Schließ die Augen und sei festen Willens. Wir werden die schwierige Zone durchqueren. Schwierig deshalb, weil sie mit den Brüsten nordischer Jungfrauen und den Schenkeln mannbarer Mestizinnen gepflastert ist. Eine schlüpfrige Zone voller Sinnlichkeit. Halt dich an mir fest.«

»Ich gleite aus, Franzi …«

»Gib nicht nach, Op Oloop. Leg mehr Gleichgültigkeit denn je in deine Vortrefflichkeit …«

»Es ist nur so, daß mir Empfindungen widerfahren, die den Hör- und Tastsinn einlullen …«

»Denk daran. Der Tastsinn ist die Sprache des Fleisches. Belebt es sich, genießt es; fällt es zusammen, weint es. Das Blut ist sein Geist, ein Geist, der sich selten guter Gesundheit erfreut, fast immer wird er von Stigmata gequält. Mein Freund, verabscheue das Blut.«

»Oh, cherie! Deine Argumente lindern die Qual meiner Seele und erquicken mich dadurch. Aber ich kann nicht … ich gleite aus …«

»Werde nicht zu einem Schiffbrüchigen des Willens!«

»Welche Sinnenlust, im Laster zu ertrinken!«

»Ich verstehe, daß alle Laster angenehm sind. Doch auf, auf! Ich kann nicht glauben, daß du den Versuchungen von Sirenen, Dämoninnen und Zentaurinnen nachgibst und meine Ehre beleidigst, die, da sie auch deine Ehre ist, einem Keuschheitsgürtel gleicht. Auf, auf! Genau so. Sehr gut, diese Geste eines von Befriedigungen übersättigten dandy! Bravo! Wende nun den Kopf und verschließe dich. Wir passieren unreine Marktplätze. Kupplerinnen und Zuhälter – die eine vertikale Vulva anstelle eines Mundes haben – preisen ihre Ware in Tausenden von Sprachen und Verheißungen an … Kohorten von Huren – Brüste bis zur Schulter und Hinterbacken wie Rucksäcke – stellen ihre Mistgrube wie aufgeplatzte Feldflaschen aus … Zum Glück ist schon nichts weiter zu sehen als eine zweigeschlechtige Rotte …«

»Zum Glück. Der Ekel empört mich, und die Empörung kräftigt mich. Mein Herz flattert schon zart.«

»Mich verwirrt die Turbulenz deines Herzens. Im Käfig deiner Rippen ist es ein Singvogel. Welche düsteren Vorhaben befehligen seinen Flugantrieb in diesem körperlosen Zustand?«

»Sie sind nicht düster. Sie sind durchsichtig. Das Herz ist die Dunkelkammer, in der die Triebe entwickelt werden. Es ist ganz natürlich! Ich habe mein Leben lang in einem unfehlbaren System voller Kontinuität und Unterwerfung gelebt. Diese Lüfte … Diese Stimulanzen … Die Freiheit weckt die Neigung zur Freizügigkeit.«

»Deine Ehrlichkeit verpflichtet mich. Die Probe war hart, doch sie hat mich zufriedengestellt und überzeugt.«

»Ich kann ein Gleiches sagen. Auch du hast die Odyssee mit wundervoller Natürlichkeit überstanden. Die Schwere und die Verunglimpfung, der Zorn und die Nachsicht, die von der Wegstrecke hervorgerufen wurden, überzeugen mich, daß im Urwüchsigen deines Wesens Gefühle glänzen, die mit den meinen harmonieren. Denn im Verständnis der Liebe gibt es unvollkommene und vollkommene Symphonien. Unvollkommene Symphonien sind jene, die mit betrügerischen Träumen die Seelen von zwei dem Geschmack am Leben verbundenen Menschen verweben. Vollkommene Symphonien, die aus menschlichem Material Seelen komponieren, die dem Tod zuvorkommen. So die unsere. Ohne aus der Welt herauszutreten, vom keuschesten Ideal zusammengebracht, haben wir im ewigen Exil gelebt, um die esoterischen Schrecken zu studieren, die den Zustand der Liebe prüfen. Wir haben widerstanden. Und wenn sich die von uns ausgesandten Schwingungen vereinen, als feine noch nicht vergeistigte Stimmchen, rauhes unbewußtes Murmeln oder zarte hypnotische Stimmlagen, baden wir uns, einer im anderen versenkt, in einer fast posthumen Euphorie, da sie zu unbeschreiblich ist, um irdisch zu sein.«

»Welch Wonne!«

»Jetzt, Franziska, bleibt uns nur noch, uns auf dem Licht auszustrecken, das wir ausstrahlen. In diesen hellen Panoramen auszuruhen, die sich wie Blumen im frischen morgendlichen Lufthauch öffnen. Und den Frieden zu trinken, den uns diese Täler – zwei verzauberten Zwerglein wohlgesonnene Riesen – im Flußbett ihrer verschränkten Hände darbieten.«

»Welch Wonne! In diesem Frieden fühle ich, daß meine Blüte mit alter Inbrunst Wurzeln schlägt und stelle fest, daß meine Freude sich in eine neue Kindheit ergibt.«

»Mir geht es ebenso. Das ist unsere Herrlichkeit! Wenn die Liebe sich im vollkommenen Reifezustand befindet, ist sie zugleich Kind und Greis. Dann erreicht sie ihren Höhepunkt. Das Glück wird seinem Vorgeschmack gerecht. Und die doppelte Tiefe der Zeit verschmilzt in dem Trost, das Schicksal zu überwinden.«

»Küssen wir uns.«

»Ja. Küssen wir uns. Möge sich unser Kuß bis zur Auslöschung von Vergangenheit und Zukunft ausdehnen und das flüssige Band knüpfen, das diese Gegenwart unvergänglich macht.«

»…«

»…«

Wenn irgend jemand, mit Allgegenwärtigkeit ausgestattet, Franziska und Op Oloop in jenem Moment überrascht hätte, wäre er Zeuge geworden, wie sich ihre Gesichter dank einer verborgenen Strömung von Zärtlichkeit belebten. Ungeachtet der Umstände, in denen sie sich befanden – die eine auf ihrem Lager im Schlafgemach ausgestreckt, der andere ohnmächtig auf einer Bank im Botanischen Garten – drang dieselbe unerforschte Kraft gleichzeitig in ihr Gewebe und belebte es, färbte ihre Lippen und brachte die Wangen zum Strahlen.

Ebenso wie die Bluttransfusion kraftlosen Organismen durch die Injektion eines Quells an Energie und Hoffnung neues Leben verleiht, verjüngen sich die Seelen, wenn ihr Brachland von den tiefen Gewässern der Liebe überschwemmt wird.

Genau wie das Blut stellt die Liebe ein festes biologisches Merkmal dar. Jedes Wesen gehört zu einem vorbestimmten Typus der Liebe, der zunächst einmal für die Transfusion mit geistesverwandten Personen geeignet ist oder gemäß unabänderlichen psychologischen Postulaten mit nicht geistesverwandten Wesen. Die Übertragung der Liebe vollzieht sich mehr oder minder wie die des Blutes. Ebenso wie die menschliche Spezies bei der Bluttransfusion in vier Blutgruppen aufgeteilt wird, gruppiert die Liebe das Individuum in vier erotische Kategorien: nennen wir sie A, B, C, D. Der Liebende vom Typ A ist immer vom Typ A, bzw. der Typ C immer vom Typ C und der Typ D vom Typ D. Merkwürdig ist, daß das Problem der Liebesübertragung noch nicht untersucht worden ist. Es wäre sozial und eugenisch von Nutzen. Ist die Sympathie im Begriff, sich in Liebe zu kristallisieren, sollten die Verliebten sich an einen spezialisierten Psychiater wenden – den amoris consulto –, der die Treffsicherheit der Wahl anhand der Neigungen der jeweiligen Libido begutachten würde. Es gibt ungleiche Seelen, die sehr geschickt in dem Spiel sind, diese Ungleichheit zu verstecken. Es gibt Temperamente, die die Gefühle der anderen ausgleichen oder auflösen. Die perfekte Liebesverbindung ist das Ergebnis einer Studie, die in der Mehrzahl der Fälle von den Partnern vernachlässigt wird. Eine Blutinjektion wird nicht vorgenommen, wenn das Blut des Spenders und des Empfängers sich nicht auf wundersame Weise vermischen lassen. Warum also nicht die Injektionen des Geistes regeln? Die Gruppe A, gebildet aus ›universalen Empfängern‹, kann man anschaulich die egoistische Gruppe‹ nennen. Personen diesen Typs sind geeignet, die Liebe eines jeden zu empfangen; doch sie können sie nur an Personen ihrer Kategorie übertragen. Ein Paradebeispiel sind die Buhlerinnen, die nur Zuhälter und Mitglieder der Unterwelt lieben … In Opposition zu dieser Gruppe steht der Typ D, der den ›Altruisten‹ entspricht, den ›universalen Gebern‹, deren Liebe sich auf einen jeden überträgt; die sie aber nur von Personen ihrer Gruppe empfangen können. Jesus und Don Quichotte zum Beispiel, deren Herzenswärme die Menschheit erfüllte und die wegen der Geringheit von Maria aus Magdala und der Ungeschliffenheit des Hirtenmädchens Dulcinea selbst im Geiste noch zölibatär sind … Die Gruppen B und C, die Liebe von den Gruppen B, C und D empfangen können, bestehen aus den Standard-Liebenden, die von handfester Zweckmäßigkeit und gewöhnlicher Leidenschaft gebunden werden. Manchmal, wenn sie eine altruistische Liebe empfangen, werden sie auf der Leinwand des Lebens pompös verklärt. Es wäre der Fall von George Sand zu nennen, die Chopins geniale Ergüsse empfing …

Franziska und Op Oloop waren Zwillingsseelen vom Typ D. Beiden war Großzügigkeit gemein, aber eine zurücknehmbare Großzügigkeit. Franziska, eine Waise mütterlicherseits, beschränkte die Zuneigung auf das Maß der Notwendigkeit, als sie ihre Bedeutung zu schätzen lernte. Es gab keinen Grund, den von der Verblichenen ererbten Schatz an eine widerspenstige Umwelt zu vergeuden. Op Oloop, in den rauchenden Schmieden der Einsamkeit hart gemacht, hatte die allgemeinen Probleme ergründet, die Humanismus und Methode, Weisheit und Zahl mit sich bringen. Er war reich an Zärtlichkeit und wußte wohl zu vermeiden, sie herauszuposaunen. In der weiten Üppigkeit des Herzen gibt es immer einen querschlagenden Egoismus, der dazu rät, sparsam mit den Gefühlsausgaben zu sein, um sie in Fülle genießen zu können oder fröhlich zu verprassen, wenn der entscheidende Augenblick des Schicksals kommt.

Sie befanden sich in dieser lichten Stunde.

Die Freundschaft – die Vertrauen ist – hatte sich in Liebe verwandelt – die Vertraulichkeit ist. Das wechselseitige Verlangen warf – gestützt auf ein intaktes Guthaben an Illusionen – seinen Vorschuß ab. Die Sinnesbande waren durch die gegenseitige Durchdringung miteinander vernietet worden. Es fehlte nur noch die geistige Verschmelzung, die die eigenen Skrupel und die vorgefaßten Meinungen des anderen auflöst. Und wie es immer geschieht, vollendete sich die Verschmelzung mit dem Eintritt des Gefühlsdenken des einen in das des anderen, um gemeinsam die Behälter zu erhitzen, die Giftstoffe aufzukochen und schließlich die geistigen Essenzen zu gewinnen.

Die Bewußtlosigkeit, die im Wachzustand durch shocks, Traumata entsteht, verwandelt sich im darauffolgenden Zustand der Hypnose in Bewußtheit. In Franziska und Op Oloop wiederholte sich das Phänomen dieses mysteriösen Vorgangs einmal mehr. Die angegriffene oder schikanierte Materie projiziert außerhalb ihrer selbst Hilferufe und Bitten um Schutz. Der Verstand des Menschen fällt in Ohnmacht, doch nicht der innere Begriff von der Spezies. Seine Mechanismen sind unverwundbar. Unter diesen Umständen empfängt das verflüssigte Gehirn die vom Bewußtsein gegebenen Anordnungen und Suggestionen und strahlt sie aus. Dann verstehen sich die verwandten Geister. Und wenn der äußere Anreiz bereits vergessen ist, geben sich die Seelen den allein ihnen vorbehaltenen Ausdehnungen hin, die wegen ihrer Paranormalität das Privileg genießen, keine Erinnerung zu hinterlassen.

»Die moderne Wissenschaft neigt immer mehr dazu, mit dem Unsichtbaren zu arbeiten«, behauptet Sir Oliver Lodge. Die der Tierhaftigkeit des Menschen innewohnenden Fähigkeiten schärfen sich. Noch sind sie von theologischen, politischen, rationalen Unreinheiten verkrustet … Ohne Umschweife gesagt, was für das Tier einfach ist, wurde von uns befleckt. Doch vielleicht werden wir bald das noch unbestimmte hellseherische Vermögen zur Übertragung und zum Empfang zurückgewinnen und die Eigenschaften erlangen, die das Leben nach dem Tode fortführen und das Denken von der Materie lösen. Alle Phänomene der Überwelt werden ihren beunruhigenden Charakter verlieren. Das Übernatürliche wird ›die allernatürlichste Sache‹ sein. Die Intelligenz hämmert auf die Bastionen unserer Erblasten ein. Die Intuition, die die dichtesten Schichten des Rätsels durchlöchert, ahnt bereits etwas. Symbole und Allegorien erheben sich. Personen, die als Medium fungieren, kundschaften das Transzendente aus und tragen mit ektoplasmatischen Skizzen klare Zeichen bei. Richet vertieft sich, William Crookes experimentiert. Schon werden keine Vorahnungen mehr zusammengetragen, sondern Gewißheiten. Es verbreiten sich heftige Anzeichen, daß die Entdeckung bevorsteht. Der nach innen reisende Christoph Kolumbus, dazu bestimmt, von unserem physischen Kontinent ausgehend zur Priorität jener Inhalte zu gelangen, wird der Größte der Jahrhunderte sein. Die Schiffe kommen voran. Das Licht, die Elektrizität, der Magnetismus, die Schwerkraft, bis gestern unwägbare Einheiten in der großen Leere des Raums, geben der Verstandeskraft nach. Die vier unbekannten Größen der Philosophie stehen in der verminderten Leere des Geistes vor ihrer Enthüllung. Ein seltsames Herzklopfen geht dem Jubel des Triumphes voraus. Diesseits der mit Welten bevölkerten großen Leere und jenseits dieser mit Fleisch ausgeschlagenen Leere schlägt ein Herz, schlägt ein Herz! Ist es unser Herz oder das Herz der Welt? Die Wissenschaft, die mit dem Unsichtbaren arbeitet, wird es uns verraten … Vielleicht sind es die beiden Herzen, die versenkt im Auf und Ab der kosmischen Kräfte im gleichen Rhythmus schlagen.