10:40

Um Punkt zehn Uhr vierzig trat Op Oloops Körper aus der Kabine und bewegte sich, mit einem leichten Vorhang aus feiner Baumwolle über dem Geschlecht, in Richtung des sudatorium des Hauses.

Stets flexibel und mit einem Lachen auf dem Gesicht – den Gedanken an das Trinkgeld im Kopf – neigten sich die Angestellten in seinen Weg, während er vorüberschritt; denn die Bediensteten bearbeiten das Holz der Kunden wie Schnitzer, ohne sich um etwas anderes zu kümmern als das Ergebnis. In Wahrheit schätzte er sie. Kaum hatte er die Vorhalle durchschritten, konzentrierte seine Anwesenheit im apodyterium ihre Beflissenheit. Und er belehrte sie: »Eines Tages, wenn ich ein würdiges Haus bauen werde, wie Plinius der Jüngere in Laurentum, werde ich die vollkommenste Einrichtung haben. Dann nehme ich einen von Ihnen als Helfer mit; lasse einen Masseur vom maison de bain in der Rue Cadet aus Paris kommen, einen Parfümeur aus dem hammam, den ich in Istanbul zu besuchen pflegte, auf dem ersten Boulevard von Pera, und den Yankee-Techniker aus dem großen Badehaus in Valparaiso. So wie die modernen Anwesen eine Bar mit einem Flaschenarsenal besitzen, um die Besucher zu vergiften, ersann ich den Traum, eine private Therme zu errichten – ein Miniatur-Caracalla –, um sie dem Glück meiner Freunde darzubringen.«

»Und Ihrer Freundinnen …«

»Niemals. Sie haben das Bild von Ingres nicht gesehen. Es gibt nichts Abstoßenderes als eine Damengruppe von akademischer Fettleibigkeit, die im tepidarium dahinschmilzt. Es kann noch so viel Parfüm und Musik in der Luft schweben, es gibt keinen Exorzismus, der uns von ihren übelriechenden Körpersäften befreit. Frauen stechen furchtbar in der Nase. Das ist ihr großer Fehler!«

Er war bei der ersten Kammer angekommen. Nicht, daß sein robuster Körperbau nach der Wonne strebte, in der Hitze leichter zu werden. Nein. Sein Meter und achtzig an Statur war perfekt mit dem Gewicht von sechsundachtzig Kilo bekleidet, das er vor der Dehydrierung mit sich trug. Er liebte das türkisch-römische Bad aus verschiedenen Gründen. In erster Linie, da er nach fast zwei Jahrzehnten der Abwesenheit aus Finnland zum Südländer geworden war. Zweitens, da Bäder vom Typ Helsinki in der hiesigen Umgebung fehl am Platz wirkten. Drittens, weil diese in ihm ein gewisses Gefühl abgelegt geglaubten Nationalbewußtseins erweckten, das unvereinbar war mit seinem Haß; denn er liebte sein Vaterland auf andere Weise als die einheimische Masse, mit einem markigen Patriotismus, den er auf synthetische Weise nach der Entfaltung einer großen universalen Liebe gewonnen hatte. Doch der Hauptgrund lag in seinen Plattfüßen und seinen Hühneraugen. Der ungeheuerlichen physischen Abnormität seiner Plattfüße und seiner Hühneraugen!

»Haben Sie irgendwann einmal an das Muster, die Fäden, das Netz gedacht, das Ihre Füße beim täglichen Gehen im Laufe der Jahre auf der großen Leinwand des Lebens wickeln oder knüpfen?« pflegte er zu fragen. »Sicherlich nicht. Die normalen Leute sind sich ihrer Normalität nicht bewußt.«

Op Oloop grübelte häufig über diese Sache nach. Wenn man an einer derartigen Deformation leidet, scheint das Gehirn in den Fersen Stellung zu beziehen. Alle Wege enden abrupt. Und man sammelt Tränen und harmlose Rezepte an.

Als Statistiker wußte er nur zu gut, daß schmerzende Füße sich wegen einer Entzündung der Zahnhöhlen oder der Mandeln in diesem Zustand befinden können. Und zur Sicherheit ersetzte er den Großteil seines Gebisses durch künstliche Zähne, nachdem er sich die Mandeln hatte entfernen lassen. Er wußte, daß der Gebrauch von ungeeignetem Schuhwerk Haltungsschäden hervorruft und die Verformung der Füße zu schlechter Durchblutung, Verdauungsstörungen, Blutarmut, Rückenschmerzen, Rheumatismus, Nierenschäden, Schlaflosigkeit und einer Schwächung der Beinmuskulatur führen kann. Ebenfalls zur Sicherheit verbrachte er aus physiotherapeutischem Antrieb ganze Tage barfuß zu Hause. Sein Defekt war konstitutionell, wie der gewisser Demokratien. Und er stellte ihn in eine Sammlung von Sohlenabdrücken transkribiert aus, die ein Spezialist für deformierte Füße als Vorwand dafür angefertigt hatte, ihm eine Reihe unnützer Apparate aufzuschwatzen.

»Die Orthopädie,« tröstete er sich, während er seine Füße bei achtundvierzig Grad Celsius liebkoste, »ist ein unserer inneren Perfektion unwürdiger Kunstgriff. Was macht es aus zu lahmen, können doch im Gehirn niemals die Zellen dieses fehlenden Gefühls wieder angeregt werden? Lazarus wurde groß, während er unbeweglich und stumm war. Weiß irgend jemand etwas über seine Wanderungen nach dem Wunder? Was war das Wunder anderes als eine gauklerische Orthopädie? Von Bedeutung ist, sich im Geist nicht behindert zu fühlen; denn dann vermodert die gesamte Psychologie des aktiven Lebens vor Entsagungen. Die Wünsche werden fußlahm, die Vorhaben kreuzlahm … Und so viele Stützen und Krücken uns die Hoffnung und die Gelehrten auch liefern, alle Entscheidungen zerschlagen sich, ohne ans Ziel zu gelangen. Und das Problem des Lebens bleibt in der Existenz ungelöst.«

Das üppige Ausschwitzen in der ersten Kammer brachte ihm die sinnliche und willenlose Ermattung, welche Neulinge zu Boden streckt. Er legte sich ein mit kaltem Wasser getränktes Tuch in den Nacken und senkte zum Nachdenken die Augenlider wie zwei Binsenrollos. Er wollte so die offensichtliche Tatsache ausblenden, daß ihn in der Blüte seines Lebens die Füße an das Schicksal des vorzeitigen Alterns gemahnten. Denn die Kultur läßt das Individuum altern. Sie bremst das jugendliche Ungestüm, modelliert das Erwachsensein und zwingt es in strikte Normen. Niemand ist mehr Sklave als der Götzendiener der von dieser Kultur vorgegebenen Freiheit! Op Oloops an seiner physischen Basis krankes Empfinden untergrub auf diese Weise seine intellektuelle Struktur; denn alles überschneidet sich und endet im Mechanismus des Innersten. Wenn man nicht gerade ein Rohling ist – ein Fußballspieler oder ein Marathonläufer zum Beispiel –, dessen Füße genau wegen ihrer gewaltigen Roheit hoch im Kurs stehen!

Als er seine Augen erneut öffnete, erlosch seine tiefsinnige Konstellation. Doch er richtete sich entschlossen auf. Er wollte in den fünfundsechzig Grad des caldarium den Erfolg des Schwitzens bestätigen. Welch bitteres Scheitern! Sein Ortswechsel vollzog sich langsam und zittrig. In Strömen schwitzend, schien er ein von Enttäuschungen durchlöcherter Greis zu sein … wie die Schläuche der Feuerwehrleute in den Provinzen.

Neununddreißig Jahre sind eine geringe Last für den Athleten oder den Träger, die verschwenderisch mit freiwilligem oder bezahltem Körpereinsatz umgehen. Doch für den Yogi, der geistige Energien spart, oder den phlegmatischen Menschen, der mit unfruchtbaren Gesten haushält, nimmt dieses Alter düstere Aspekte an. Sein Fall: Op Oloop war bekannt, daß jede Person, die im Äußeren oder Inneren spart oder haushält, sei es an Reichtümern oder Gefühlen, von Phantasmen belagert wird. Ihm war bekannt, daß die Analyse fremder Gefühle das eigene Leben durch Vorahnungen verdunkelt. Und daß das von der Skepsis zur Reife gebrachte Urteil über die Absichten, die zum Bösen in der Welt tendieren, die Ruhe mit Schrecken überlagert.

Er tat recht daran, das laconicum nicht zu betreten, das kleine Reich höchster Temperatur. Dort hielten sich drei schwächliche Jockeys auf und rieben sich mit entkräfteten Bewegungen ab. Ihre schon an sich kränklichen Gesichter wiesen Einkerbungen von intensiver Bitterkeit auf. Vielleicht dachten sie an die Busenfreunde, die ihnen Informationen abschwatzen und sie zu dieser Stunde in den Bars der Stadt an mit Aperitifs und Vorspeisen übervollen Tischen kommentierten. Vielleicht dachten sie an die Mayonnaisen und Bandnudeln, die sonntäglich die Häuser zieren und mit ihrem Duft erfüllen. Und besessen von dem Widerspruch, rieben sie sich mit entkräfteten Bewegungen ab, um mit Idealgewicht an die Startlinie zu gehen wie ein zusätzlicher Nerv auf dem Rücken der pur-sang, der in der Spore beginnt und im Gertenschlag endet.

Op Oloop schmetterte sie von oben herab mit einem wütenden Blitz nieder. Wenn man den Kopf einhundertachtzig Zentimeter über dem Boden trägt und diese Entfernung von einer gewichtigen Architektur eingenommen wird, geschieht die Beobachtung solcher Typen – knochig, spindeldürr, fahle und schlaffe Haut – mit der dogmatischen Überlegenheit eines MENSCHEN über drei Sack Brennholz.

Des weiteren haßte er Pferderennen und turfmen. Wenn man auf der Grundlage unfehlbarer Verfahrensweisen »mit System« in allen Kasinos der Welt verloren hat; wenn man Tausende von schlaflosen Nächten damit verbracht hat, dem Postulat Napoleons: »Die Hartnäckigen gewinnen die Schlachten« nachzueifern; wenn man fünfzehn Jahre lang »La Revue de Montecarlo« abonniert hat, um aus der täglichen Praxis des Roulettes die Wahrscheinlichkeit der Wahrscheinlichkeiten des Zufalls zu erschließen; wenn man »Die 654 Methoden des perfekten Systemspielers« verschlungen hat, um ihre Effizienz zu beglaubigen, vom Marigny-System – von unwiderlegbarer Logik – bis zu den Vorhersagen von »Madame Cassandre, Seherin« – vom Zufall bestätigt; wenn man nach den Theorien von Theo d'Alost, d'Alembert, Gastón Vessilier, des Professors Alyette und des Mandarins Ching-Ling-Wu gewettet hat und auf alle Arten Zeit, Geld und Geduld verloren hat: sei es im Spiel auf einfache Chancen, auf Reihen und mehrfache Chancen oder im ständigen Wechsel dieser und anderer Systeme, dann kommt man zu dem unausweichlichen Schluß, daß der Zufall so schwer zu greifen ist wie ein Aal von Kinderhänden.

In diesem Moment stieß ein monumental fettleibiger Mann, von der Sorte, die einen Harem brauchen, um sich umarmen zu lassen, mit dem ausladenden Bug seines Bauches gegen ihn.

»Aber, Señor, achten Sie darauf, wo Sie hinlaufen.«

Als Antwort erhielt er nur Grunzlaute. Die merkwürdigen Grunzlaute eines Bauchredners. Fast flatus vocis.

Op Oloop vergaß darüber seine Abneigung gegen die Jockeys und übertrug sie auf den unverschämten Badegast.

»Was denkt dieser Kerl sich bloß? Immer vorausgesetzt, daß er denkt … Denn diese Individuen durchlaufen eine Rückentwicklung zum Tierhaften. Je mehr sie schlucken und sich vergiften, desto mehr Deiche aus Fett bauen sie um ihre Ideen. So ist der Austritt derselben höchst schwierig. Die Ideen bleiben in ihrem Gefängnis aus Materie stecken, und die wenigen, denen nach haarsträubenden Ausbruchsversuchen die Flucht gelingt, verscheiden, in merkwürdige Geräusche aufgelöst, sobald sie den Mund verlassen. Es ist mühselig, die Dicken zu verstehen. Ihre dünnen Beine, ihre im Verhältnis zu kleinen Hinterbacken sprechen von ihrer vorgeblichen Ermüdung, die schonungslose Einverleibung zu überwinden. Doch der Wanst wächst und wächst, so sehr sie auch fasten mögen; denn die Fettleibigkeit entsteht aus Mangel an Ideen, wird umso größer, je weniger man sie verdaut und gipfelt in aufgeblasener Rundheit, sobald der Mund seine Rolle, Gedanken zu kleiden, um des Zerkauens von buntem Allerlei und Süßigkeiten willen vergißt … Wenn es soweit ist, siedeln sich die zwei Gehirnlappen in den beiden Hinterbacken des Individuums an …«

Derart sinnierend kehrte Op Oloop ins tepidarium zurück, um sich zu duschen und zum Einseifen fortzuschreiten. Er kam traurig daher, eine schleppende Traurigkeit auf Höhe seiner Füße, die er schlurfend bewegte, wie jemand, der Sand vor sich herschiebt oder in einem Graben Frösche aufschrecken will.

Niemals hatte er diese Wegstrecke mit einem Ausdruck von solch intensiver Bitterkeit zurückgelegt. Es schien, daß sein Geist weiterhin Schmähreden gegen die Jockeys und den Fettleibigen aufsiedete. Doch kaum hatte die Dusche ihre Wasserfäden losgelassen, erblühte ein leichtes Lächeln, mehr in seinen Augen als auf seinen Lippen. Er hatte sich gerade davon überzeugt, daß er – ein schweigsamer Don Quichotte des Gleichgewichts – wie immer gegen unbillige Extreme gekämpft hatte, dieses Mal in Form der Magerkeit der einen und des zu Fleisch geworden Übermaß des anderen. Dann setzte er, gemeinsam mit dem kalten Wasser, einen Schwall an reinen Gedanken über seine Gesundheit und Kinästhesie frei. Und klingelte.

Der Bademeister band ihm auf Zehenspitzen zwei Handtücher als Turban und Schurz. Er fragte: »Soll ich den Masseur rufen?«

»Nein. Ich werde ein wenig im Becken schwimmen. Danach Schottische Dusche, Käfigbad, der Fußpfleger und einen cocktail aus Sherry mit drei Eigelb.«

Langsam ging er davon, und kaum stand er am Rand des Schwimmbeckens, tauchte er nackt in das kristallklare Salzwasser ein.

Op Oloop wußte, daß Nudismus in dieser Einrichtung verboten war. Doch als Mensch, der allen Verboten Respekt zollt, gestand er seinen Verstoß im voraus und schoß dem Bademeister die Ankündigung eines guten Trinkgeldes vor, sowie seiner physiokratischen Naivität den Genuß, rund um das Bewußtsein zu schwimmen.

»Schwimmen! Schwimmen! Welch anmutige und behende Glückseligkeit ist es, sich vom federnden Sprungbrett ins Wasser zu stürzen! Der Mensch im Wasser scheint im dort widergespiegelten Himmel zu fliegen. Die Ökonomie des over-side arm stroke zeichnet sich im Rhythmus der Welle ab. Und im Tiefen – Sinnenlust ohne Besitz – gibt sich der Körper der Verzückung einer unsagbaren mystischen Verbindung hin. Schwimmen! Schwimmen!«

Beweglich, braungebrannt, kraftvoll, machte sich sein Körper nun auf den Weg in Richtung des frigidarium, dem letzten Saal der Therme. Er trällerte. Andante. Allegro vivace. Presto … Er ertrug – großartige Statue aus Fleisch – das abwechselnd siedendheiße und eiskalte Bombardement der Schottischen Dusche; genoß im Nickelkäfig die Spitzen Tausender Wassertropfen, die in seine Poren hineinkrochen; und ließ schließlich, bereits eingewickelt und mit Handtüchern bedeckt auf der Liege, sein Blut und seine Träume in eine köstliche nonchalance zerfließen.

Er ruhte seit zehn Minuten.

»Der cocktail, Señor …«

»Der Fußpfleger, Señor …«

Die körperliche und geistige Entspannung war so vollkommen, daß es eine ärgerliche Anstrengung für ihn darstellte, vor dem plötzlichen Verstummen der beiden Stimmen die Augen zu öffnen. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Er streckte den Arm aus, um das goldduftende Glas von dem einen in Empfang zu nehmen, und streckte dem anderen die physische Abnormität seiner Plattfüße und Hühneraugen entgegen.

»Vor dem Glück muß man sich hüten wie vor der Pest«, dachte er bei sich. »Sobald man ein Übermaß davon fühlt, wird es stumpf und gerinnt zu Unglück. Wenn die Leute das Glück mit Vorsicht und taktisch klug in langsamen Zügen, kleinen prises genießen würden, gäbe es vielleicht nicht so viele Unglückselige.«

Und er sog die Sherrycreme rasch in sich hinein, als wolle er seinen Gaumen mit ihr verwöhnen.

Plötzlich fiel sein Denken in ein Luftloch.

Eine spitze und feindselige Empfindung, die von einem ungeschickten Handgriff des Fußpflegers herrührte, hatte seinen Gedankenflug durchschnitten. Die Atmosphäre seines Inneren wurde von Furcht durchtränkt. Er fühlte das vergebliche Flügelschlagen der Seele, um den Grad der Glückseligkeit wiederzuerlangen. Und überdrüssig ließ er sich fallen, fallen, fallen, bis er innerlich auf die Epidermis seiner Füße stieß.

Op Oloop sagte nichts. Er hatte seine Gefühle dahingehend erzogen, daß in einer solchen Notsituation die tiefgreifendsten Mahnungen und ernsthaftesten Rüffel, obschon vorgebracht, kaum in einer grimace des Unwillens mündeten.

»Ich bitte Sie um das größte Feingefühl, Señor. Mir ist bekannt, daß meine Hühneraugen ausgedehnt und runzelig sind. Daß sie den Anblick einer Schuhsohle aus rohem Gummikrepp darbieten. Nicht mehr und nicht weniger. Aber lassen Sie sich weder einschüchtern, noch beeilen Sie sich! Sie haben genau eine halbe Stunde, um Ihre Pflicht zu erfüllen.«

»In der Tat, Señor … Es lag an der Eile … Ihre Füße werden sehr gut aussehen. Außerdem verrate ich Ihnen eine wundervolle Formel. Kollodium, drei Gramm; Salizylsäure, dreieinhalb Gramm. Befeuchten Sie Ihre Fußsohlen jeden Abend …«

»Beschränken Sie sich auf Ihre Aufgabe. Ich verfüge über keinen Abend.«

Seine Worte, schwer vor Förmlichkeit, trafen den Fußpfleger und ließen ihn über seiner Arbeit zusammensinken, als ob er einen Schlag in den Nacken erhalten hätte.

Und zwischen den beiden breitete sich eine ebenso schwere Stille aus.

Zweifellos quälte Op Oloop seine Antwort mehr als jeden anderen. Bei seiner seelischen Konstitution einer anima symphonialis reichte ein Ausbruch aus, um die intimen Kadenzen der Erziehung zu zerbrechen, die vortrefflichen Harmonien der Methode zu zerfetzen. Aber es kam zu einer noch größeren Qual.

Die Ungeduld kann selbst im phlegmatischsten Wesen, das man sich nur denken mag, unversehens aufschäumen. Er wurde von dieser fundamentalen Schwäche bezwungen und litt bereits darunter. Er ertrug den Regelverstoß nicht, einen Gedanken vorgebracht zu haben, welchen er, da er tiefgreifend sinniert worden war, mit den Lippen hätte guillotinieren müssen, sobald er aus dem Mund hervorquoll. Und es brach von neuem aus ihm heraus, diesmal nur in ihm und für ihn selbst:

»Ich verfüge über keinen Abend!

ICH VERFÜGE ÜBER KEINEN ABEND!

ICH VERFÜGE ÜBER KEINEN ABEND!«

In der Tat, er krankte bereits an einer unbändigen und unüberhörbaren inneren Bedrängnis. Der Satz, wie ein Diktat dem Unterbewußten entsprungen, wurde nun wuchernd in den verschiedensten Sektoren des Geistes wiedergeboren. Er prallte an den Wänden der Seele ab, zerstückelt in Aufblitze und Schreie. Schlang sich auf den Boulevards der Selbstzerfleischung in klingenden Textzeilen aus Neonlicht wiederholt ineinander. Und kochte, brillant und durchdringend, in einem wahrhaftigen Pandämonium:

»DNEBA NENIEK REBÜ EGÜFREV HCI!

ICH – BER – VER – KEI – FÜ – NEN – GE – A – Ü – BEND!

DNEB – Ü – A – EG – NEN – ÜF – IEK – REV – REB – HCI!«

Einen Moment lang glaubte er, daß in seinem Kopf Chaos herrschte. Die Wörter purzelten launenhaft wie eine troupe von Akrobaten bei der Probe durcheinander. Niemals in seinem Leben hatte er an einem so ungeheuerlichen Gefühl gelitten. Reinlichen Frieden gewohnt – fast die Gemütsruhe eines beliebigen armen Schluckers –, konnte er sich weder einen derartigen Einbruch noch ein derartiges Spektakel erklären.

Mit gesundem Urteilsvermögen ausgestattet, wollte sein Geist sich in einem kurzen, von den Diskantstimmen der Jockeys eröffneten Interregnum der Klarheit dieser Kümmernisse entledigen. Doch er schaffte es nicht. Alles in ihm hatte sich zum Aufstand erhoben. Alles kreiste in einem Strudel aus Vorahnungen. Ein düsterer Wind umflatterte sein Herz.

Dann – es blieb kein anderer Ausweg! – nahm er die klassische Haltung seiner Vorfahren in kritischen Momenten ein. Die Haltung, in der Soren Oloop, der Stammvater der Oloops, auf dem Gemälde von Van Ostade zu sehen ist. Die Haltung, die stärkt und verteidigt, die die Zugänge vor Eindringlingen verschließt und die Oberhoheit der Stille bekräftigt. Er richtete sich ein wenig auf der Liege auf. Stützte seinen linken Ellbogen auf die Armlehne. Legte die Mulde der Hand um den Auswuchs des Kinns. Streckte den Zeigefinger der Nase entlang hoch, um dem finsteren Blick der Augen das I-Tüpfelchen aufzusetzen. Schloß mit dreifachem Fingersiegel die Schießscharte des Mundes. Und verhakte den Daumen unter der Kinnlade, wie einen Sperriegel für sein Vorhaben.

So verweilte er eine Viertelstunde lang.

Wer es fertiggebracht hat, Leidenschaften, Triebe und Begierden zu zähmen, weiß, daß sich alles einer entschlossenen Stimme unterordnet; denn ist einmal die heiße Phase der Rebellion vorüber, gehorcht sie dem Befehl, der die Disziplin erneuert. Für Op Oloop war dies ein vertrautes Phänomen. In vielen Situationen hatte die Strenge der Methode spontane Aufstände seiner Entelechien, Ideen und Willensäußerungen herbeigeführt; doch die Vorzüge der vormaligen Bequemlichkeit und des vormaligen Friedens, seien sie auch Regeln von exzessiver Unversöhnlichkeit unterworfen, führte sie gefügig und abgeschreckt in ihre inneren Quartiere zurück.

Seine Augen blinzelten wie nach einem Donnerschlag. Dieses Mal sah man in Op Oloops Pupillen den Widerschein von auf grobe Weise unterdrückten Schreien. Die Rebellion saß tiefer. Es war die Rebellion seiner Instinkte, die als leaders, meneurs und condottieri die waghalsigsten Repräsentanten des Bewußtseins, des Intellekts und des Willens aufmarschieren ließen.

Der Fußpfleger hatte seine Arbeit vollendet. Er hatte die Fersen in seine Handflächen gelegt, und sein Blick zeigte bei der Betrachtung der Füße Ergötzen wie vor einem Kunstwerk. Gelangt man in einem Beruf dieser Art zur Ekstase, bedeutet diese Ekstase Mystizismus, Geistesverwirrung. Doch das wußte er nicht und verweilte weiterhin versonnen, die Füße auf seinen Handflächen wie zwei Statuetten aus rissigem Porzellan.

Der Schrei, den Op Oloop ausstieß, während er die Haltung seiner Vorfahren löste, war ungenau. Die Wahrnehmung dieser Form der Bewunderung für seine halbentarteten Füße ließ das ganze geistige Geschwader, das für den Sieg über seine inneren Stürme kämpfte, nach außen schlagen: »Ketzerei! Absurdität! Schaffen Sie mir diesen Fetischisten aus den Augen!«

Und er rannte nackt, mit einem flauschigen Handtuch in der Hand, in Richtung der Kabinen des apodyterium.

Der Fettleibige versperrte ihm erneut den Durchgang. Sein außerordentlicher Bauch federte wie ein unverhoffter Stoßdämpfer.

»Aber, Señor, achten Sie darauf, wo Sie hinlaufen!«

Diesmal hielt der Dickwanst an. Die Grunzlaute des vorherigen Aufeinandertreffens klärten sich zu vollkommen gelassenen Worten: »Sehen Sie, Caballero: nun sagen Sie mir bereits zum zweiten Mal dasselbe, und ich bin nicht derjenige, der kollidiert. Wenn Sie nicht verrückt sind, dann sind Sie nahe dran …«

Op Oloop blieb wie versteinert stehen. Seine Lippen verzogen sich zu einer blasphemischen Miene. Auf die Antwort konzentriert, liefen seine Augen fast schielend auseinander. Dennoch scheiterte er. Die barsche Verwünschung, die seine heftigen Gesten ankündigten, löste sich in karges Raunen auf: »Verrückt?! Verrückt? Verrückt … ›Verrückt‹. Verrückt! Verrückt. Verrückt! ›Verrückt‹. Verrückt … Verrückt? Verrückt?!«

Das Wort lernte alle Nuancen des Ausdrucks kennen. Er stieg jene in der Persönlichkeit vermauerte Tonleiter in umgekehrter Richtung erst hinab und dann wieder hinauf, einen neuen Sinn in ihm erspürend. Und plötzlich, da er den unterdrückten rasenden Zorn zurückerlangte, durchlief er sie außerhalb seiner selbst, vom anfänglichen feurigen Impuls aus bis zum Einschmelzen in die normale Satzmelodie; und dann in crescendo bis zum Rande der gewaltigsten Verzweiflung: »Verrückt?! Verrückt? Verrückt … ›Verrückt‹. Verrückt! Verrückt. Verrückt! ›Verrückt‹. Verrückt … Verrückt? Verrückt?!«

Das Geschrei dauerte nur kurz. Das »Beruhigen Sie sich« der Bademeister wirkte wie Balsam. Sie brachten ihn von seiner Besessenheit ab, indem sie allen anderen Verrücktheit bescheinigten. Eine bewundernswerte Vorgehensweise! Dennoch schlug das einmal zur fixen Idee gewordene Wort in seinem Bewußtsein weiter Purzelbäume.

Er versuchte sich aufzuheitern. Sein abgeschweifter Blick kehrte in die verlorenen Augen zurück und das Handtuch über sein entblößtes Geschlecht. Auf dem Weg in die Umkleide versicherte er: »Danke, Muchachos. Erschrecken Sie sich nicht. Es ist nichts. Schon vorbei … Dieser schändliche Dicke! Entschuldigen Sie … Mein Kopf ist eine Taschenbuchausgabe der Hölle!«

Omne individuum ineffabile! Der alte Spruch der Scholastik ließ sich endlich auf seinen Fall anwenden. Die Definition der methodischen, ordentlichen Person, voller sophrosyne – mit der er sich im privaten Rahmen zu schmücken pflegte, um die Wankelmütigkeit der übrigen hervorzuheben – zerschellte derart beim Sturz vom Gipfel seiner überhöhten Persönlichkeit in den Wahnsinn.

Während er sich ankleidete, nahm sein Gehirn die unzähmbare Gewohnheit des Denkens wieder auf. Er betrachtete die Zwischenfälle dieses Morgens als Verkehrsunfälle im Ideenverkehr. Und als er der Belagerung durch die äußeren Umstände und der inneren Bedrängnis durch unverständliche Kräfte gewahr wurde, wollte er sein Verfehlen kokett vor dem metaphysischen Spiegel verschleiern.

Lügen! Man kann die Vernunft, den Verstand, die Moral kontrollieren: das, was der Mensch erreicht oder von anderen Menschen im Beziehungsleben ererbt hat; aber niemals in der ausschließlich biologischen Sphäre der Spezies eine arithmetische Kontrolle durchführen. Diese absurde Begierde und der Wille, sich täglich zu besiegen, ein Held zu sein! Dieses vortreffliche Streben, alle vom Fleisch und seinen Leidenschaften hervorgebrachten oder diktierten Skrupel und Anzeichen geringzuschätzen! Diese krankhafte Sucht, Herrscher über ein niemals durch eine Laune oder eine Unzulänglichkeit in Frage gestelltes Ebenmaß zu sein!

Op Oloop mußte in jener Notlage eine psychoanalytische Inventur machen und dabei mit Feingefühl und Ernsthaftigkeit vorgehen: mit Methode. Doch bedauerlicherweise nutzt die Methode nichts gegen die komplizierte Strategie des Zufalls. Gerade weil der methodische Mensch allen geistigen Fluß kanalisiert und unnachsichtig in dem Unterfangen ist, Neigungen und Veranlagungen herabzuwürdigen, ertrinkt er, wenn der Zufall diese Strömungen durch Stürme des Überdrusses, des Hasses oder der Wut aus der Bahn wirft. Der geübte Schwimmer spürte die tiefgreifende Traurigkeit seiner Situation und die vorzeitige Ermüdung, in sich selbst kein Land zu sehen.

Es ist wenig wert, die höchste Fähigkeit zu erringen, souverän zu sein – nach außen über seine Handlungen und nach innen über die psychischen Triebfedern, die ihnen Macht verleihen –, wenn sich in einem Gefahrenmoment all die zu diesem Zwecke unternommene Anstrengung in einem Fehltritt des Instinkts zunichte macht.

In der Tat, die ganze Kontinuität seines Denkens – das in sich die Todsünde, den Fehler, den Wetteifer und den Vernunftschluß aufhob – und die ganze Kontinuität seiner Ordnung – die die Materie zähmte, das Fleisch unterordnete und das Blut im Zaum hielt – lagen kraftlos danieder, vor dem Bild, nichts weiter als dem Bild, einer Frau.