|594|Anhang

Zum Begriff gesellschaftlicher Entwicklung

Der Index gesellschaftlicher Entwicklung ist, indem er all die Fakten zusammenhält, die Archäologen und Historiker zusammengetragen haben, das Rückgrat dieses Buches. Der Index selbst erklärt nicht, warum der Westen die Welt regiert, zeigt uns aber Gestalt und Verlauf der Geschichte, die zu erklären ist. Alle, die sich für die Methoden und die einzelnen Zeugnisse und Fakten interessieren, die in meine Berechnungen Eingang fanden, finden eine ausführliche Darstellung des Index auf der Website www.ianmorris.org. Dieser Anhang dagegen ist gedacht als kurze Zusammenfassung der wesentlichen technischen Probleme und der grundlegenden Ergebnisse.

Vier Einwände

Soweit ich sehe, sprechen vier Einwände dagegen, einen Index gesellschaftlicher Entwicklung aufzustellen:

  1. Das Quantifizieren und Vergleichen der gesellschaftlichen Entwicklung zu unterschiedlichen Epochen und an unterschiedlichen Orten entmenschlicht die Menschen, darum sollte es unterbleiben.

  2. Das Quantifizieren und Vergleichen von Gesellschaften ist ein vernünftiges Vorgehen, doch so, wie ich gesellschaftliche Entwicklung definiere (nämlich als Fähigkeit einer Gesellschaft, ihre Angelegenheiten zu regeln), ist sie die falsche Messgröße.

  3. Gesellschaftliche Entwicklung im Sinn meiner Definition mag ein nützliches Kriterium sein, den Osten und den Westen miteinander zu vergleichen, die vier Merkmale aber, die ich zur Bestimmung des Index nutze (Energieausbeute, Organisation/Urbanisierung, Kriegführung und Informationstechniken), sind nicht die bestmöglichen.

  4. Die vier von mir vorgeschlagenen Merkmale eignen sich dazu, gesellschaftliche Entwicklung zu messen, aber ich habe sachliche Fehler gemacht und falsche Messmethoden angewandt.

Zu Einwand 1 habe ich im dritten Kapitel Stellung genommen. Selbst wenn es etliche historische und (kultur-)anthropologische Fragen gibt, zu denen das Quantifizieren |595|und Vergleichen gesellschaftlicher Entwicklung nichts beitragen, ist die Frage, warum der Westen die Welt regiert, eine der Sache nach quantitative Frage und läuft auf Vergleiche hinaus. Jedenfalls müssen wir, wenn wir sie beantworten wollen, quantifizieren und vergleichen.

Im dritten Kapitel habe ich auch ein paar Worte zu Einwand 2 verloren. Es ist durchaus möglich, dass es andere Zusammenhänge gibt, die wir messen und vergleichen können und die auch aussagekräftiger wären als gesellschaftliche Entwicklung, ich kann mir allerdings nicht vorstellen, welche das sein könnten. Darum möchte ich es anderen Historikern überlassen, andere Objekte vorzuschlagen, die sich mit Aussicht auf bessere Ergebnisse messen ließen.

Einwand 3 lässt sich in drei Varianten vorbringen:

  • Wir sollten meine vier um weitere Merkmale ergänzen.

  • Wir sollten nach ganz anderen Merkmalen suchen.

  • Wir sollten eine geringere Zahl von Merkmalen betrachten.

Während der Arbeit an diesem Buch habe ich mich mit einigen anderen Merkmalen beschäftigt, zum Beispiel mit den Flächengrößen der größten politischen Einheiten, mit dem Lebensstandard (gemessen in Körpergröße der Erwachsenen), mit Transportgeschwindigkeiten und Umschlagzeiten, mit den Dimensionen der größten Monumentalbauten. Bei allen stieß ich entweder auf beträchtliche Probleme, geeignetes Datenmaterial zu finden, oder sie erwiesen sich als nicht genügend unabhängig gegenüber anderen Merkmalen. Die meisten Merkmale zeigen zudem für die längste Zeit der Geschichte ein hohes Maß an Redundanz; und es stellte sich heraus, dass alle plausiblen Merkmalkombinationen zuletzt doch zu mehr oder weniger gleichen Ergebnissen führen.

Es gibt eine Menge kleiner und zwei größere Ausnahmen zur Redundanz-Regel. Deren erste könnten wir »Nomaden-Anomalie« nennen – gemeint ist der Umstand, dass Steppengesellschaften in der Regel geringe Werte erzielen, was Energieausbeute, Organisation und Informationswesen anbelangt, dafür aber hohe Werte für Kriegführung. Diese Anomalie hilft zu erklären, warum nomadische Gesellschaften sehr wohl große Reiche besiegen konnten, aber kaum fähig waren, sie selber zu etablieren.1* Das verlangt noch genauere Untersuchungen, aber diese Anomalie beeinträchtigt die Vergleiche zwischen den sesshaften Agrargesellschaften des östlichen und des westlichen Entwicklungskerns nicht direkt.

Eine weitere Version von Einwand 3 könnte sein, dass man Organisation, Kriegführung und Informationswesen aus der Analyse ausschließen und sich allein auf die Energieausbeute konzentrieren sollte, schließlich seien die drei erstgenannten Merkmale nichts anderes als bestimmte Formen der Energienutzung. Abbildung |596|A.1 zeigt, wie ein allein auf Energie zentrierter Index aussehen würde. Der Unterschied dieser Darstellung zu der Abbildung 3.3, in der alle Merkmale berücksichtigt sind, ist nicht wirklich beeindruckend. Im Grunde zeigt die nur auf Energie basierende Darstellung nichts anderes als die vollständige Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklung auch – nämlich, dass der Westen für 90 Prozent der betrachteten Zeit einen Vorsprung gegenüber dem Osten hat; dass dieser dann für den Zeitraum zwischen etwa 550 und 1750 u. Z. vor dem Westen liegt; dass es einen oberen Grenzwert gibt (er liegt bei knapp über 30 000 Kilokalorien pro Kopf und Tag), der um 100 und um 1100 u. Z. die Entwicklung blockiert hat; dass die Werte für die Zeit nach der industriellen Revolution die aller früheren Epochen völlig in den Schatten stellen; und zuletzt, dass der Westen im Jahr 2000 die Welt noch regiert.

Die Konzentration allein auf Energie hat den Vorteil, dass der Ansatz weniger aufwändig ist als meine Annäherung an die gesellschaftliche Entwicklung über vier Merkmale; allerdings handelt man sich so auch einen Nachteil ein. Dann nämlich macht sich die zweite große Ausnahme von der Redundanz-Regel bemerkbar, der zufolge die Beziehung zwischen den Merkmalen sich nach der industriellen Revolution ins Nichtlineare entwickelt hat. Ermöglicht durch neue Techniken hat sich die Stadtgröße während des 20. Jahrhunderts vervierfacht, die Kapazitäten, Krieg zu führen, wuchsen um das Fünfzigfache, die Leistungsfähigkeit der Informationstechniken stieg auf das Achtzigfache; nur die Energieausbeute pro Person hat sich gerade mal verdoppelt. Betrachtet man ausschließlich die Energie, führt dies zu einer unzulässigen Vereinfachung, die den Verlauf der historischen Entwicklung verzerrt.

Ganz andere Fragen wirft Einwand 4 auf. Denn um zu beurteilen, ob ich die vorliegenden Daten falsch interpretiert oder ungeeignete Methoden angewendet habe, gibt es nur einen Weg: Man muss alle Informationsquellen, die ich verwendet habe, um die Punktwerte für die gesellschaftliche Entwicklung in Ost und West über die letzten 16 000 Jahre hinweg zu bestimmen, noch einmal überprüfen. Würde man das in diesem Anhang versuchen, würde das den Rahmen sprengen und ein bereits jetzt schon dickes Buch noch dicker machen. Darum habe ich die dazu notwendigen Informationen auf die bereits erwähnte Website gestellt. Dort können Leser, die Zeit und Interesse dafür aufbringen, nachlesen, welche Quellen ich verwendet habe und wie ich die jeweiligen Fehlermargen einschätze.

Entsprechend gibt dieser Anhang nur summarisch über die von mir verwendeten Daten Auskunft, skizziert knapp, wie ich die Indexpunkte errechnet habe, und nimmt auch nur kurz zu den Fehlermargen Stellung.

Energieausbeute

Ich behandle Energieausbeute deshalb als erste Größe und am ausführlichsten, weil sie das quantitativ wichtigste der vier von mir herangezogenen Merkmale |597|ist. Gehen wir weit genug in der Zeit zurück, gehen auch die Werte für Verstädterung, Kriegführung und Informationstechniken gegen null, denn die entsprechenden Aktivitäten der Menschen sind dann von derart geringem Umfang, dass sie Werte generieren, die auf dem Index unter 0,01 Punkten liegen. Die Werte für die Energieausbeute dagegen gehen niemals gegen null, denn würden Menschen null Energie aufnehmen, würden sie sterben. Um Körper und Seele beisammen zu halten, brauchen Menschen grob geschätzt 2000 Kilokalorien pro Kopf und Tag. Insofern sich die Energieausbeute im Westen unserer Tage auf 228 000 kcal pro Kopf und Tag beläuft (= 250 Punkte), liegt der theoretisch niedrigste Punktwert bei 2,19. Real aber lag die Energieausbeute seit dem Ende der Eiszeit stets bei über 4 Punkten, weil die Menschen einen großen Teil der verbrauchten Energie nicht in Form von Nahrung aufnehmen oder nutzen, sondern in Gestalt von Kleidung, Schutzeinrichtungen, Artefakten, Brennstoffen etc. Bis zur industriellen Revolution liegt der Anteil der Energieausbeute am Gesamtpunktwert der gesellschaftlichen Entwicklung bei 75 bis 90 Prozent. Noch im Jahr 2000 macht die Energieausbeute im Westen 28, im Osten 20 Prozent des Gesamtpunktwerts aus.

Abbildung A.1: Allein die Energie

Energieausbeute. Osten und Westen im Vergleich bei ausschließlicher Betrachtung der Energieausbeute pro Kopf.

Die Quellen zur Erfassung der Energieausbeute beinhalten moderne Sammlungen statistischer Daten, schriftliche Zeugnisse über Landwirtschaft, Industrie |598|und Lebensweisen sowie archäologische Funde zu Ernährung, Handwerk und Lebensqualität. So unterschiedliche Materialien miteinander in Einklang zu bringen ist eine ziemliche Herausforderung, doch konnte ich hier wie anderswo auf Beiträge früherer Forscher zurückgreifen. Wie in Kapitel 3 ausgeführt, bietet die Studie zu Energieflüssen, die Earl Cook 1971 veröffentlicht hat, einen Ausgangspunkt, der laufend an anderen Schätzungen überprüft werden kann. Sie alle nähern sich für den westlichen Entwicklungskern dem gleichen zeitgenössischen Wert von rund 230 000 kcal pro Kopf und Tag, den Cook in die groben Kategorien Futter/Nahrung (für Nutztiere und für Menschen), Haushalt/Gewerbe, Industrie/Landwirtschaft und Verkehr/Transport unterteilt.

Vaclav Smil (1991, 1994) hat die nicht über Nahrungsmittel aufgenommene Energie aufgeschlüsselt nach Biomasse und fossilen Brennstoffen und deren jeweilige Entwicklung im Verlauf der Zeit für den westlichen Entwicklungskern graphisch dargestellt. Es sind mehrere Schritte erforderlich, um seine Daten in Punktwerte der Energieausbeute umzurechnen, doch die Ergebnisse – rund 93 000 kcal pro Kopf und Tag für 1900 und 38 000 für 1800 – liegen ihrer Größenordnung nach ziemlich dicht bei Cooks Schätzung von 77 000 für das industrialisierte Europa um 1860.

Je weiter wir von 1800 aus zurückgehen, desto weniger regierungsamtliche Statistiken sind verfügbar; andererseits aber gilt, je abhängiger Wirtschaftssysteme von Brennstoffen aus Biomasse sind, desto eher können wir offizielle Dokumente durch vergleichend gewonnene Daten ersetzen, wie sie Wirtschaftshistoriker und Anthropologen zusammengestellt haben. Um 1700 muss eine Person im Westen durchschnittlich zwischen 30 000 und 35 000 kcal pro Tag verbraucht haben. Nach allem, was wir über die Aktivitäten westlicher Gesellschaften wissen, steht fest, dass diese Zahlen, je weiter wir im letzten Jahrtausend zurückgehen, desto niedriger werden1*, wobei aus diesen Zahlen auch hervorgeht, dass der Energieverbrauch im Westen nie sehr weit unter den Wert von 30 000 kcal pro Kopf und Tag gefallen sein kann. Natürlich bleibt hier Raum für weitere Diskussionen, ich bezweifle aber, dass die Energieausbeute jemals unter 25 000 kcal pro Kopf und Tag gefallen ist, auch nicht im 8. Jahrhundert u. Z. Aus Gründen, auf die ich zurückkommen werde, glaube ich auch nicht, dass diese Schätzungen mehr als fünf bis zehn Prozent vom tatsächlichen Wert abweichen.

Viele Funde und Fakten, die eindrucksvollen Ruinen von Häusern und Monumenten der Römerzeit, die Zahl der Schiffswracks, die Menge der produzierten Güter, der Grad der industriellen Verschmutzung der Eisbohrkerne und die ungeheure Zahl von Tierknochen in den archäologisch gesicherten Siedlungen – all das lässt erkennen, dass die Energieausbeute im Westen im 1. Jahrhundert u. Z. höher war als im 8., höher sogar als im 13. Jahrhundert. Doch um wie viel höher? Raffinierte Berechnungen von Wirtschaftshistorikern verweisen auf eine Antwort. Robert Allen (2007a) etwa hat gezeigt, dass die Reallöhne (sie sind ein ziemlich genaues Maß dafür, wie viel Energie die meisten Armen der vorneuzeitlichen Epochen aufgenommen haben) im westlichen Kerngebiet um 300 u. Z. denen vergleichbar waren, die in Südeuropa im 18. Jahrhundert gezahlt wurden. Die Löhne zur Römerzeit wiederum, das hat Walter Scheidel (2008) herausgearbeitet, lagen deutlich über denen, die während langer Perioden des europäischen Mittelalters gezahlt wurden. Daten, die Geof Kron (2005) sowie Nikola Koepke und Joerg Baten (2005, 2008) gesammelt haben, zeigen, dass sich die Körpergröße der Menschen zwischen dem 1. und dem 18. Jahrhundert kaum verändert hat; Kron (im Erscheinen) belegt, dass der antike Wohnungsbau in der Regel besser war als der in den reichsten Gebieten Europas während des 18. Jahrhunderts. Ich habe die Energieausbeute für die Jahre um die Zeitenwende auf etwa 31 000 kcal pro Kopf und Tag geschätzt, gehe bis 500 u. Z. von einem langsamen, bis 700 dann von einem rascheren Rückgang aus.

Tabelle A.1: Die Entwicklung der Energieausbeute

Energieausbeute in Kilokalorien pro Kopf und Tag, ausgewählte Daten

|600|Die Energieausbeute muss im westlichen Kerngebiet um 1000 v. u. Z. niedriger gewesen sein – nicht nur verglichen mit den Hochzeiten des Römischen Reichs, sondern auch mit dem 8. Jahrhundert u. Z. Zur deutlichsten Zunahme kam es nach 300 v. u. Z., als der Mittelmeerraum in die größeren politischen und wirtschaftlichen Einheiten einbezogen wurde und die römische Wärmeperiode Wirkung zeigte. Doch spricht die große Masse der archäologischen Befunde dafür, dass es nach 600 v. u. Z. zu einer früheren Periode der Beschleunigung kam. Aus Vorsicht gehe ich davon aus, dass die Energieausbeute um 1000 v. u. Z. sogar bei einem so niedrigen Wert wie 20 000 kcal pro Kopf und Tag gelegen haben könnte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Ende des 2. Jahrtausends v. u. Z. bedeuten würde, aber immer noch über den Werten des 3. Jahrtausends läge.

Gehen wir weiter zurück in der Vorgeschichte, sind die Werte noch niedriger. Gegen Ende des Jüngeren Dryas erreichten die Wildbeuter vermutlich um die 5000 kcal pro Kopf und Tag, doch wird dieser Wert deutlich gestiegen sein, als das Klima wärmer wurde, als Pflanzen und Tiere domestiziert und als Nahrungsmittel genutzt sowie Tiere ins Geschirr genommen und zu Zugtieren wurden. Um 5000 v. u. Z. werden Menschen in den Siedlungen des Fruchtbaren Halbmonds um die 12 000 kcal pro Kopf und Tag für Kleidung, Brennstoff, Hoftiere, Häuser und Hausrat sowie Monumentalbauten verausgabt haben, selbst wenn ihre Ernährung keineswegs besser war als 4000 Jahre zuvor.

Werte für den Osten zu berechnen ist noch schwieriger, auch weil Wissenschaftler wie Cook und Smil sich nur mit den Regionen der Welt beschäftigt haben, die auch die höchste Energieausbeute verzeichneten, aber nicht mit regionalen Vergleichen. Doch können wir mit der Schätzung der Vereinten Nationen (2006) beginnen, |601|der zufolge ein Durchschnittsjapaner im Jahr 2000 täglich 104 000 Kilokalorien verbraucht hat (weniger als die Hälfte des westlichen Niveaus). Um 1900 war das östliche Kerngebiet noch überwiegend agrarisch, der industrielle Einsatz von Öl und selbst von Kohle steckte noch in den Kinderschuhen. Die Energieausbeute in Japan lag vielleicht bei rund 49 000 kcal pro Kopf und Tag (wieder weniger als die Hälfte des Verbrauchs im Westen). Während der letzten fünf Jahrhunderte wuchsen Kohleverbrauch und landwirtschaftlicher Ertrag stetig. Um 1600 war die Produktivität im Jangtse-Delta höher als in irgendeiner Region des Westens, bis 1750 aber holten die holländische und die englische Landwirtschaft auf, und die Reallöhne im Osten entsprachen eher denen in Südeuropa als denen im reichen Nordeuropa. Ich habe die Energieausbeute im östlichen Kerngebiet auf rund 29 000 kcal pro Kopf und Tag im Jahr 1400 geschätzt, auf 36 000 im Jahr 1800, wobei der größte Teil der Erhöhung im 18. Jahrhundert stattfand.

Es wird darüber debattiert, wie sehr die Krise nach 1200 den Energieverbrauch in China beeinflusst hat; zu vermuten ist, dass es gegenüber den Höchstwerten in der Song-Ära, in der der Verbrauch 30 000 kcal pro Kopf und Tag vermutlich überstieg, zu einer leichten Absenkung kam.

Wie im Westen belegen archäologische Befunde, dass die Energieausbeute Mitte des 1. Jahrtausends u. Z. einen Tiefpunkt erlebte, doch auch hier ist schwer zu sagen, wie tief dieser Einbruch war. Die Befunde, die ich in Kapitel 5 dargestellt habe, legen nahe, dass der Energieverbrauch in der Han-Zeit höher lag als in allen anderen Epochen des Ostens zuvor, doch immer noch niedriger als zur gleichen Zeit in Rom und in der späteren Song-Zeit. Ich schätze die um die Zeitenwende verbrauchte Energie auf 27 000 kcal pro Kopf und Tag, danach sank der Wert leicht und stieg bis 700 u. Z. wieder auf die gleiche Höhe.

Das 1. Jahrtausend v. u. Z. erlebte – wie auch im Westen – ein stetiges Wachstum der Energieausbeute, das sich zunächst ab etwa 500 v. u. Z. beschleunigte, dann, ab 300 v. u. Z., noch deutlicher: infolge des Ausbaus der Kanalnetze, verstärkten Handels und des Gebrauchs von Metallwerkzeugen. Davor, um 1000 v. u. Z., lag die durchschnittliche Energieausbeute vielleicht bei rund 17 000 kcal pro Kopf und Tag; zur Zeit des Ersten Kaisers der Qin wird sie eher bei 26 000 kcal pro Kopf und Tag gelegen haben.

In vorgeschichtlichen Zeiten hat die Energieausbeute im Osten in etwa die gleichen Schwellen überschritten wie die im Westen, begann aber später zu steigen und lag die ganze Zeit um ein bis zwei Jahrtausende zurück.

Gesellschaftliche Organisation

Während der gesamten vorindustriellen Geschichte war Organisation stets die zweitgrößte Komponente des Indexwerts gesellschaftlicher Entwicklung. Ich habe dieses Merkmal in Kapitel 3 zu meinem Hauptbeispiel gemacht und bei dieser |602|Gelegenheit erklärt, warum ich die Dimension der größten Städte stellvertretend für gesellschaftliche Organisation genommen habe. Die Datenlage und auch die Definitionen sind derart unklar beziehungsweise fließend, dass Experten uneins sind über die Städtegrößen in jeder Epoche; meine Entscheidungen habe ich auf der Website erläutert. In Tabelle A.2 fasse ich lediglich einige meiner wichtigsten Berechnungen zusammen.

Kriegführung

Seit Erfindung der Schrift haben die Menschen ihre Kriege aufgezeichnet, und selbst in der Vorgeschichte haben sie ihre Toten häufig zusammen mit deren Waffen beerdigt. Darum wissen wir erstaunlich viel über Kriege und Kriegführung in vormodernen Zeiten. Das Hauptproblem bei der Bewertung der Kapazitäten zur Kriegführung ist denn auch keines der Faktenlage, sondern eines der Konzeptualisierung: Wie soll man völlig unterschiedliche Waffensysteme miteinander vergleichen, bei deren Einführung es in der Regel doch auf unvergleichlich neue Zerstörungspotenziale ankommt? Das berühmteste Beispiel ist die britische Schlachtschiffsklasse der Dreadnoughts, die ab 1906 vom Stapel liefen. Deren übergroße Geschütze und die Panzerung waren so konzipiert, dass die Kampfkraft aller Kriegsschiffe der 1890er-Epoche derjenigen einer einzigen Dreadnought nicht würde standhalten können.

So einfach allerdings stellt sich die Wirklichkeit niemals dar. Unter passenden Bedingungen können improvisierte Sprengkörper die bestgerüstete Armee in die Bredouille bringen. Im Prinzip aber können wir höchst unterschiedlich ausgerüsteten und aufgestellten Militärorganisationen Punkte nach einer einzigen Skala zuordnen, selbst wenn Experten darüber streiten mögen, welche Punkte das sein sollen.

Die historisch unvergleichliche Militärmacht des Westens erhält für das Jahr 2000 u. Z. 250 Punkte; sie ist eindeutig größer als die des Ostens. Einige Armeen des Ostens umfassen Hunderttausende von Soldaten, sind daher groß, doch kommt es auf bloße Zahlen nicht so sehr an wie auf die verfügbaren Waffensysteme. Das Militärbudget der Vereinigten Staaten übertrifft das der Volksrepublik China im Verhältnis 10:1; bei den Flugzeugträgergruppen ist das Verhältnis 11:0; und 26:1 steht es bei der Zahl atomarer Gefechtsköpfe. Noch größer sind die qualitativen Unterschiede zwischen US-Kampfpanzern vom Typ M1 und US-Präzisionswaffen einerseits und den veralteten Waffensystemen Chinas andererseits. Doch das Verhältnis zwischen West und Ost so niedrig wie 10:1 anzusetzen, erschien mir ebenso abwegig wie ein hohes Verhältnis von 50:1, darum habe ich mich für 20:1 entschieden, sodass der Osten 12,5 Punkte für das Jahr 2000 erhält, gegenüber den 250 Punkten des Westens.

Noch kniffliger ist es, die Punktwerte für das Jahr 2000 mit solchen früherer Epochen zu vergleichen. Betrachtet man aber die Größe der Streitkräfte, die Geschwindigkeit ihrer Operationsbewegungen, die logistischen Kapazitäten, Reichweite und Zerstörungskraft ihrer Schlagkraft, verfügbare Waffen und Verteidigungsanlagen sowie den Wandel all dessen, dann sind grobe Schätzungen durchaus möglich. Einer Berechnung zufolge wurde die Wirksamkeit der Artillerie zwischen 1900 und 2000 um das Fünfundzwanzigfache gesteigert, die der Panzerabwehrgeschütze um das Sechzigfache. Indem ich diese und alle anderen Veränderungen während des 20. Jahrhunderts in Anschlag bringe, setze ich das Verhältnis der Kapazitäten zur Kriegführung in den Jahren 2000 und 1900 in ein Verhältnis von 50:1, sodass der Westen fünf Punkte für das Jahr 1900 erhält, gegenüber 250 Punkten für 2000.

Tabelle A.2: Die größten Städte beider Kerngebiete

Bevölkerung der größten Siedlungen beider Kerngebiete, in Tausend (ausgewählte Daten)

|604|Die Militärmacht des Westens um 1900 war sehr viel größer als die des Ostens, auch wenn der Abstand sicher nicht so groß war wie im Jahr 2000. 1902 verfügte die Royal Navy der Briten über Schiffe mit einer sechsfach höheren Gesamttonnage als die Kaiserliche Flotte Japans, und jede einzelne Großmacht in Europa hatte mehr Männer unter Waffen als Japan. Darum setze ich das West-Ost-Verhältnis für 1900 mit 5:1 an, sodass der Osten für 1900 nur einen Punkt erhält (gegenüber fünf Punkten für den Westen für 1900 und 12,5 Punkten für den Osten für 2000).

Manchem wird das Maß an Subjektivität, das in solchen Berechnungen steckt, unbehaglich sein, doch der entscheidende Punkt ist, dass die militärischen Kapazitäten des Westens vor zehn Jahren so enorm groß waren, dass alle anderen Punktwerte – auch die des Westens für 1900, ja selbst die des Ostens für 2000 – notwendigerweise winzig erscheinen. Doch das bedeutet zugleich, dass auch die Fehlermarge in diesen Schätzungen winzig ist. Wir könnten einige oder alle Punktzahlen für Kriegführungskapazitäten in den Epochen bis 1900 verdoppeln, könnten sie auch halbieren, ohne dass dies eine merkliche Auswirkung auf die Gesamtpunkte für die gesellschaftliche Entwicklung hätte.

Der Unterschied zwischen die kriegerischen Kapazitäten des Westens um 1800 und um 1900 war geringer als der zwischen 1900 und 2000, doch er war noch immer enorm groß, denn in dieses Jahrhundert fällt der Übergang aus der Welt der Segelschiffe, der Kavallerieattacken und Vorderlader in die der Sprenggranaten, der gepanzerten Dampf- und dann Dieselschiffe, dazu stand die Entwicklung von Maschinengewehren, Panzern und Kampfflugzeugen kurz bevor. Das 19. Jahrhundert steigerte die Kriegsmacht des Westens um eine ganze Größenordnung, darum gebe ich dem Westen nur 0,5 Punkte für 1800. Die Kriegführung des Westens war um diese Zeit wesentlich effektiver als die des Ostens, der darum für 1800 nur 0,1 Punkte erhalten sollte.

Zwischen 1500 und 1800 durchlief Europa das, was Historiker gemeinhin eine »militärische Revolution« nennen, eine Revolutionierung des Militärwesens; in dieser Zeit vervierfachte sich die Effektivität der Kriegführung. Im Osten dagegen verringerte sich die Kapazität der Kriegführung zwischen 1700 (als Kaiser Kangxi |605|mit der Eroberung der Steppen begann) und 1800. Da es keine existenziellen Bedrohungen gab, versuchten die chinesischen Herrscher insofern Gewinn aus dem Frieden zu ziehen, als sie ihre Streitkräfte abbauten, sich auch um kostspielige technische Neuerungen nicht kümmerten. Die Kriegführung des Ostens war um 1800 nicht merklich effektiver als um 1500; nicht zuletzt deswegen konnten die britischen Truppen die chinesischen in den 1840er Jahren so einfach beiseite fegen.

Das Aufkommen von Schießpulver und Schusswaffen im 14. Jahrhundert steigerte die Kriegführungskapazitäten im Osten wie im Westen, aber lange nicht so dramatisch, wie es die Erfindungen des 19. und 20. Jahrhunderts tun sollten. Die besten Armeen in Europa waren um 1500 vielleicht doppelt so effektiv wie die 500 Jahre zuvor, doch hatte das mit veränderter Logistik und Größe ebenso viel zu tun wie mit den Schusswaffen.

Schwerer zu berechnen oder zu schätzen ist das Verhältnis, in dem die westliche Kriegführung um 1500 zu Roms großen, hochorganisierten Streitkräften stand, die noch keine Schusswaffen kannten. In einer Studie wird geschätzt, dass die Tötungskraft eines einzigen modernen Düsenbombers 500 000fach höher ist als die eines römischen Legionärs. Daraus könnten wir entnehmen, dass die westliche Punktzahl für die Zeitenwende bei 0,0005 Punkten liegen müsste. Doch hatte Rom natürlich erheblich mehr Legionäre als die Vereinigten Staaten Düsenbomber, sodass ich das Verhältnis von moderner westlicher und römischer Kriegführungskapazität eher auf 2000:1 schätzen, also die westliche Punktzahl für die Zeitenwende auf 0,12 festlegen würde.1 Das macht die römische Kriegsmaschinerie zur Zeit ihrer größten Stärke zu einem ernsthaften Konkurrenten für die europäischen Heere und Flotten des 15. Jahrhunderts, trotz ihrer Gewehre und Kanonen, aber nicht für die Streitkräfte aus der Ära der »militärischen Revolution«. Das bedeutet auch, dass die römische Kriegführungskapazität in ihrem Zenit sich mit derjenigen der Mongolen messen konnte und jener der chinesischen Tang-Dynastie (618–907 u. Z.) überlegen war.

Im Osten, wo um 200 v. u. Z. Bronzewaffen noch die Norm waren, waren die Streitkräfte der Han-Dynastie (200 v. u. Z. bis 200 u. Z.) allem Anschein nach weniger effektiv als die römischen; allerdings verringerte sich Chinas Militärmacht weniger als die im Westen nach dem Alte-Welt-Austausch. Die Heere und Flotten, die die Sui (581–618 u. Z.) einsetzen konnten, um China im 6. Jahrhundert wieder zu einigen, waren sehr viel stärker als alle Truppen im Westen; und bis zur Zeit der Kaiserin Wu, um 700, wuchs der Abstand noch einmal beträchtlich.

Die Streitkräfte in den Jahrhunderten v. u. Z. waren wesentlich schwächer als die des Römischen oder des Han-Reichs. Im Osten, so nehme ich an, war vor der Zeit von Erlitou um 1900 v. u. Z. keine Streitmacht so effektiv, dass sie 0,01 Punkte erzielt hätte; im Westen dagegen werden die ägyptischen und mesopotamischen Heere diesen Wert vermutlich gegen 3000 v. u. Z. erreicht haben.

Tabelle A.3. Kriegführungskapazitäten

dargestellt in Punkten des Index für gesellschaftliche Entwicklung (ausgewählte Daten)

|607|Informationstechniken

Aus archäologischen und schriftlichen Quellen wissen wir, welche Techniken der Nachrichtenübermittlung in den verschiedenen Epochen zur Verfügung standen, und es ist nicht schwer abzuschätzen, wie viele Nachrichten, wieviel Wissen und Informationen diese Medien übermitteln konnten, welche Reichweiten sie hatten, mit welcher Geschwindigkeit das funktionierte und über welche Entfernungen hinweg. Das eigentliche Problem besteht also darin abzuschätzen, in welchem Umfang von solchen Techniken Gebrauch gemacht wurde – was für die meiste Zeit der Geschichte auf die Frage herausläuft, wie viele Menschen lesen und schreiben konnten und welche Fertigkeit sie darin erlangt hatten.

Aus dem Mooreschen Gesetz – dem zufolge sich seit etwa 1950 die Kosteneffektivität der Informationstechniken ungefähr alle 18 Monate verdoppelt – könnte man folgern, dass die Punktzahl für 2000 etwa eine Milliarde mal höher sein müsste als die für 1900, was dem Westen für 1900 einen Punktwert von 0,00000025 eintragen würde. Doch würde das sowohl die Flexibilität älterer Formen der Wissensspeicherung (den gedruckten Büchern, denen erst jetzt in den elektronischen Medien ernsthafte Konkurrenz zuwächst) wie auch den historischen Wandel im Zugang zu den jeweils fortgeschrittensten Techniken gewaltig unterschätzen.

Das korrekte Verhältnis zwischen modernen und früheren Formen von Informationstechniken ist sehr viel geringer als eins zu einer Milliarde, doch immer noch enorm groß, und daraus wiederum folgt, dass die Punktwerte für die Zeit vor 1900 (und noch mehr die Fehlermargen für diese Zeit) noch kleiner sind als im Fall der Kriegführungskapazitäten. Andererseits sind die Zeugnisse dafür, wie viele Menschen wie gut lesen, schreiben und rechnen konnten, noch sehr viel vager als Zeugnisse für Kriegführungskapazitäten. Will sagen, meine Schätzungen sind in diesem Fall noch impressionistischer.

In Tabelle A.4 habe ich einen mehrstufigen Ansatz gewählt, um Informationstechniken zu quantifizieren.

Erster Schritt: Einer unter Historikern üblichen Praxis folgend, unterteile ich Fertigkeiten in die drei Stufen: volle, mittlere und Grundkenntnisse. Die Latte für die einzelnen Kategorien liegt niedrig – was das Lesen und Schreiben angeht, verfügt über Grundkenntnisse, wer einen Namen schreiben oder lesen kann; über mittlere Kenntnisse, wer einfache Sätze schreiben oder lesen kann; über vollständige Kenntnisse, wer zusammenhängende Prosa lesen oder schreiben kann. Die Definitionen, die die Kommunistische Partei Chinas ihrer Alphabetisierungskampagne von 1950 zugrunde legte, waren ähnlich: Volle Fähigkeit zu lesen und zu schreiben hatte, wer 1000 Zeichen, mittlere Fähigkeit, wer 500 bis 1000 Zeichen, und Grundkenntnisse, wer 300 bis 500 Zeichen kannte.

Zweiter Schritt: Um die jeweils verfügbare Bildung zu erfassen, ordne ich die erwachsene männliche Bevölkerung der jeweiligen Epochen diesen drei Kategorien zu. Für jedes Prozent der Männer, die das Kriterium »volle Kenntnisse« erfüllen, |608|rechne ich 0,1 Punkte; für jedes Prozent mit mittleren Kenntnissen gibt es 0,25 Punkte; für jedes Prozent mit Grundkenntnissen 0,15 Punkte. Dann vergebe ich die gleichen Punkte für Frauen. Die Zeugnisse über Schreib- und Lesekenntnisse von Frauen sind spärlicher als die für Männer, doch es ist klar, dass bis zum 20. Jahrhundert weniger (in der Regel deutlich weniger) Frauen als Männer lesen und schreiben konnten. Auch wenn ich für die fernere Vergangenheit raten muss, riskiere ich Schätzungen darüber, wie viele Frauen Informationstechniken nutzen konnten, und berechne das in Prozent der männlichen Fertigkeiten. Dann rechne ich jeder Epoche Punktwerte zu, die darauf basieren, wie viele Menschen und auf welcher Stufe jeweils Informationstechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) nutzen.

Für das Jahr 2000 gehe ich davon aus, dass in Ost wie West 100 Prozent der Männer und Frauen über (im oben genannten Sinn) vollständige Kenntnisse des Lesens und Schreibens verfügen1*, was sich für beide Regionen in 100 Informationstechnik-Punkten niederschlägt. 1900 konnten fast alle Männer im westlichen Kerngebiet zumindest etwas lesen und schreiben (50 Prozent mit vollen, 40 Prozent mit mittleren und sieben Prozent mit Grundkenntnissen); die meisten Frauen waren ebenso gut ausgebildet, was für den Westen zu einer Punktzahl von 63,8 in Sachen Informationstechniken führt. Im Osten war die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben unter Männern ebenfalls weit verbreitet, wenn auch auf weniger hohem Niveau. (Ich schätze 15 Prozent mit vollen, 60 Prozent mit mittleren und 10 Prozent mit Grundkenntnissen.) Frauen, die lesen und schreiben konnten, waren im Osten nur ein Viertel so häufig. Das Ergebnis sind 13,4 Punkte für den Osten. Wenn ich diese Berechnungen in der Geschichte zurücklaufend fortsetze, werden die möglichen Fehlermargen für meine Schätzungen stetig größer, wobei jedoch die kleine Zahl der lesenden und schreibenden Menschen die Folgen dieser Fehler entsprechend klein hält.

Dritter Schritt: Hierbei nutze ich einen Multiplikator für den Wandel in Geschwindigkeit und Reichweite der Informationstechniken. Ich teile die jeweils fortgeschrittensten Instrumente in drei Kategorien: elektronisch (in Ost und West seit 2000 in Gebrauch); elektrisch (im Westen seit 1900 in Gebrauch); und vor-elektrisch (im Westen seit rund 11 000 Jahren in Gebrauch, im Osten seit etwa 9000 Jahren).

Anders als die meisten Historiker mache ich keine gewichtige Unterscheidung zwischen der Zeit des Buchdrucks und der Zeit davor; der Buchdruck trug hauptsächlich dazu bei, dass mehr und preiswerterer Lesestoff produziert werden konnte, anders als Telegraph und Internet hat er den Wissensaustausch nicht verändert, und diese quantitativen Veränderungen wurden bereits berücksichtigt. Für elektronische Techniken setze ich für den Westen einen Multiplikator von |609|2,5 an, für den Osten einen von 1,89; die Werte stehen für die Verfügbarkeit von Computern und Breitbandkommunikation im Jahr 2000. Für elektrische Techniken, die im Westen um 1900 einige Wirkung entfalteten, veranschlage ich einen Multiplikator von 0,05; und für vor-elektrische Techniken, wie sie in allen anderen Epochen in Gebrauch waren, nehme ich in Ost und West einen Multiplikator von 0,01. Entsprechend erreicht der Westen 2000 das mögliche Maximum von 250 Indexpunkten für gesellschaftliche Entwicklung (100 IT-Punkte x 2,5), der Osten erhält 189 (100 IT-Punkte x 1,89); 1900 erreicht der Westen 3,19 Punkte (63,8 Punkte x 0,05) und der Osten 0,3 (30 Punkte x 0,01). Der Punktwert des Westens erreicht das Minimum, das gerade noch in den Index gesellschaftlicher Entwicklung eingeht (nämlich 0,01 Punkte) erst um 3300 v. u. Z.; der Osten ist um 1300 v. u. Z. so weit.

Fehlermargen

Im letzten Abschnitt habe ich wiederholt eingeräumt, schätzen oder raten zu müssen. Anders lässt sich kein Index gesellschaftlicher Entwicklung erstellen. Infolgedessen ist ein solcher Index niemals »richtig«. Weder kann jedes einzelne Detail völlig korrekt sein, noch ist zu erwarten, dass alle Experten zu etwa gleichen Schätzungen und Annahmen kommen würden. Insofern ist es auch wenig sinnvoll zu fragen, ob die Indexwerte der gesellschaftlichen Entwicklung, die ich berechnet habe, falsch sind. Natürlich sind sie das. Die Frage kann nur lauten: Wie falsch sind sie? Sind sie so falsch, dass die Grundgestalt der Geschichte gesellschaftlicher Entwicklung, wie sie in den Schaubildern der Kapitel 4 bis 10 wiedergegeben wird, ein falsches Bild ergibt und in die Irre führt? Geht dieses Buch daher völlig daneben? Oder sind die Fehler nicht eher trivial und unbedeutend?

Diese Fragen lassen sich relativ einfach beantworten. Wir brauchen nur zweierlei zu klären. Erstens: In welchem Maße müssten wir die Punktwerte verändern, um die Vergangenheit so anders aussehen zu lassen, dass die in diesem Buch vorgetragenen Argumente nicht mehr zu halten wären? Zweitens: Wäre eine solche Punktwertveränderung ihrerseits plausibel?

Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden: Man muss die Zeugnisse und Quellen überprüfen, die ich auf meiner Website www.ianmorris.org für jede einzelne von mir vorgenommene Berechnung aufgeführt habe. Hier kann ich nur kurz auf die Möglichkeit eingehen, dass systematische Fehler meine Behauptungen über die Gesamtgestalt und den Gang der Geschichte erschüttern könnten. Meinem Index zufolge (der in logarithmisch-linearer Darstellung in den Abbildungen 3.7 und 11.1 dargestellt ist) übernahm der Westen nach 14 000 v. u. Z. die Führung. Der Osten holte langsam auf, und während des 1. Jahrtausends v. u. Z. fiel die Führung des Westens überwiegend nur knapp aus. Um 100 v. u. Z. zog der Westen wieder etwas davon, bis schließlich, um 541 u. Z., der Osten gleichzog und den Westen überholte – und zwar bis 1773. Dann errang der Westen die Führung erneut, und er wird sie, wenn sich die Trends des 20. Jahrhunderts fortsetzen, auch bis 2103 behalten. Kurz, vom Ende der Eiszeit an gerechnet war seither die gesellschaftliche Entwicklung des Westens über 92,5 Prozent der Zeitspanne hinweg höher als die des Ostens.

Tabelle A.4. Indexpunkte für Informationstechniken

|612|In Kapitel 3 habe ich behauptet, die von mir ermittelten Werte könnten um eine Marge von bis zu zehn Prozent falsch sein, ohne dass dies irgendetwas Grundlegendes an diesem Muster ändern würde. Abbildung A.2a zeigt, wie sich der Trend darstellen würde, wenn ich die westliche Entwicklung durchweg um zehn Prozent zu niedrig angesetzt hätte, die des Ostens dagegen um zehn Prozent zu hoch; Abbildung A.2b demonstriert das Ergebnis des umgekehrten »Fehlers«: Hier ist die Entwicklung des Westen durchgehend um zehn Prozent zu hoch, die des Osten um zehn Prozent zu niedrig angesetzt.

Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass diese Werte alles andere als plausibel sind. Abbildung A.2a will uns glauben machen, dass der Westen um 1400 u. Z., also kurz bevor Zheng He in den Indischen Ozean gesegelt ist, entwickelter gewesen sei als der Osten oder dass die westliche Entwicklung im Jahr 218 v. u. Z., als Hannibal seine Elefanten zum Angriff auf Rom über die Alpen führte, bereits höher gewesen sei als die im Osten zu Zheng Hes Zeiten. Und als sei nicht das schon verquer genug, besagen die beiden Kurven auch, dass der Westen 44 v. u. Z., als Cäsar in Rom ermordet wurde, weiter entwickelt gewesen sein soll als der Osten 1793, als Chinas Kaiser Qianlong Lord Macartneys Handelsmission brüskierte, weil China am Export, aber nicht am Import interessiert war.

Abbildung A.2b fällt, wenn das überhaupt möglich ist, noch seltsamer aus. Der Punktwert, den sie beispielsweise für die westliche Entwicklung im Jahr 700 u. Z. ausweist, als die Araber von Damaskus aus ein riesiges Kalifat regierten, soll niedriger sein als der für den Osten im Zeitalter des Konfuzius – das kann einfach nicht stimmen. Ebensowenig, dass der westliche Wert für 1800, als die industrielle Revolution bereits im Gange war, niedriger sein soll als der für China unter der Song-Dynastie von 1000 bis 1200.

Doch auch abgesehen von derart abwegigen Ergebnissen, die Historiker niemals schlucken würden, der Ablauf der Geschichte, wie er in den beiden Varianten der Abbildung A.2 präsentiert wird, ist noch immer nicht verschieden genug von den in den Abbildungen 3.7 und 11.1 dargestellten Abläufen, um das Grundmuster zu ändern, das nach Erklärung verlangt. Die Theorien kurzfristig wirksamer, plötzlicher Ereignisse bleiben unangemessen, weil selbst in Abbildung A.2b der Punktwert des Westens während der längsten Zeit höher ist als der des Ostens (das gilt, obwohl »längste Zeit« hier nur 56 und nicht 92,5 Prozent bedeutet). Den Theorien langfristiger Determinierung ergeht es nicht besser: Selbst in Abbildung A.2a hat der Osten für sieben Jahrhunderte die Führung inne. Biologie und Soziologie bieten die plausibelsten Erklärungen für die (wenn auch unterbrochene) Aufwärtsbewegung der Entwicklung, Geographie wiederum liefert die weiterhin plausibelste Erklärung dafür, dass der Westen die Welt regiert.

Abbildung A.2. Irrtum erkannt

Die Folgen systematisch falsch vergebener Punktwerte gesellschaftlicher Entwicklung: (a) alle westlichen Punktwerte sind um 10 Prozent erhöht, alle östlichen im gleichen Maß vermindert; (b) erhöht alle östlichen, vermindert alle westlichen Werte um die gleichen 10 Prozentpunkte.

Abbildung A.3: Noch größere Fehlermargen

(a) erhöht alle westlichen, reduziert alle östlichen Punktwerte um jeweils 20 Prozent; (b) erhöht alle östlichen, vermindert alle westlichen Werte um jeweils 20 Prozent.

|615|Um die Grundmuster zu erschüttern, müssten meine Schätzungen um 20 Prozent daneben liegen. Abbildung A.3a zeigt, wie der Geschichtsverlauf aussehen würde, wenn ich die westlichen Punktwerte um 20 Prozent zu niedrig, die des Ostens um ebenfalls 20 Prozent zu hoch angesetzt hätte. Abbildung A.3b hält fest, was geschehen wäre, hätte ich die Entwicklung im Osten um 20 Prozent unterschätzt, die im Westen um 20 Prozent überschätzt.

Hier nun unterscheiden sich die Muster deutlich. Auf Abbildung A.3a liegen die Punktwerte des Westens durchgängig höher als die des Ostens, was den Theorien langfristiger Determination große Plausibilität verschaffen, zugleich meine Behauptung widerlegen würde, dass sich mit Veränderungen der gesellschaftlichen Entwicklung auch die Bedeutung der Geographie ändere. Abbildung A.3b dagegen kehrt die Schlussfolgerungen aus meinem Index um, denn nun führt der Osten während 90 Prozent der Zeitspanne seit Ende der Eiszeit.

Wenn entweder Abbildung A.3a oder A.3b richtig sein sollten, dann ist alles falsch, was Sie gerade in diesem Buch gelesen haben. Aber seien Sie versichert: Diese Abbildungen können nicht richtig sein. Abbildung A.3a will uns weismachen, dass die Entwicklung Roms um die Zeitenwende nur um fünf Indexpunkte hinter der des industrialisierten Japan um 1900 liege, was einfach nicht zutreffen kann. Nach Abbildung A.3b dagegen müsste die Entwicklung in Zeiten vor der Shang-Dynastie höher gewesen sein als die im Westen unter der Herrschaft des Persischen Reichs; auch hätte der Westen den Osten nur um 1828 eingeholt, am Vorabend des Opiumkrieges also; außerdem wäre die westliche Führung heute bereits beendet (nämlich seit 2003). Nichts davon ist plausibel.

Darum bekräftige ich meine Behauptung aus Kapitel 3, dass (a) die Fehlermarge meiner Schätzungen wahrscheinlich unter zehn Prozent, ganz sicher aber unter 20 Prozent liegt; und (b), dass selbst dann, wenn die Fehlermarge auf zehn Prozent steigen sollte, das historische Grundmuster, das ich erklären möchte, bestehen bleibt.

Schlussfolgerung

In Kapitel 3 habe ich mehrfach darauf hingewiesen, dass die Erstellung eines Index gesellschaftlicher Entwicklung etwas von Kettensägenkunst hat. Das Beste, was ein solcher Index liefern kann, ist eine rohe Annäherung, die die Annahmen desjenigen zu erkennen gibt, der diesen Index entwickelt hat. Der Hauptgrund dafür, so meine eingangs vorgebrachte These, dass es uns so lange nicht gelungen ist zu erklären, warum der Westen die Welt regiert, liegt darin, dass die Protagonisten dieses Streits ihre Begriffe auf unterschiedliche Weise definiert und sich auf diverse Teilaspekte des Problems fokussiert haben. Darum kann der einfache |616|Schritt, einen Index aufzustellen, die Debatte voranbringen. Kritiker dieses Buchs, die sich den ersten der zu Beginn dieses Anhangs genannten Einwände zu eigen machen – dass nämlich quantitative Vergleiche insofern inakzeptabel seien, als sie uns, die Akteure, entmenschlichen –, werden sich gezwungen sehen, entweder einen andern Weg zu finden, um die Vorherrschaft des Westens zu erklären; oder sie müssten uns plausibel machen, warum wir nach diesen Gründen überhaupt nicht mehr fragen sollten. Kritiker jedoch, die die Einwände 2 bis 4 erheben – dass ich nämlich gesellschaftliche Entwicklung falsch definieren, die falschen Merkmale verwenden oder Quellen und Befunde falsch deuten würde –, müssten ihrerseits eigene und bessere Indizes präsentieren. Vielleicht werden wir dann doch ein ganzes Stück weiterkommen.

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
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