|558|Kapitel 12

…bis jetzt

Auf dem Friedhof der Geschichte

Am Ende von Kapitel 3 haben wir Ebenezer Scrooge zurückgelassen, der auf sein eigenes vernachlässigtes Grab starrt, sich an den Geist des Zukünftigen klammert und schreit: »Sind dies die Schatten der Dinge, die sein werden, oder nur deren, die sein können?«1

Das gleiche könnten wir uns fragen, wenn wir Abbildung 12.1 betrachten. Sie zeigt, dass der Osten – bei im 20. Jahrhundert gleicher Geschwindigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung in Ost und West – 2103 die Führung zurückerobern wird. Weil sich die Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert jedoch beschleunigt hat, gibt Abbildung 12.1 nur eine sehr konservative Schätzung wieder. Zutreffender wäre wohl die Feststellung, dass 2103 der wahrscheinlich späteste Zeitpunkt sein wird, an dem die Führung des Westens endet.

Die Städte des Ostens sind bereits so groß wie die im Westen, und beim gesamtwirtschaftlichen Ausstoß – der vielleicht am besten voraussagbaren Variablen – schwindet der Abstand zwischen China und den USA rapide. Die Strategen des National Intelligence Council (der Zentrale der US-Geheimdienste für strategische Prognosen) rechnen damit, dass Chinas Wirtschaftsleistung die der USA 2036 erreichen wird. Die Banker von Goldman Sachs sehen das 2027 kommen, die Berater von PricewaterhouseCoopers schon 2025, und einige Wirtschaftswissenschaftler wie Angus Maddison von der OECD oder der Nobelpreisträger Robert Fogel nennen noch frühere Daten (2020 bzw. 2016).2 Bei den anderen Kennwerten – des Vermögens, Kriege zu führen, den Informationstechniken und der Energieausbeute pro Kopf – wird es noch ein bißchen länger dauern, doch ist davon auszugehen, dass alles in allem der Osten den Westen nach 2050 bald überholen wird.

Alle diese Voraussagen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. Sie stammen aus den Jahren 2006/07, vom Vorabend einer Finanzkrise also, die dieselben Banker, Berater und Wirtschaftswissenschaftler gerade nicht vorausgesehen haben. Auch sollten wir nicht vergessen, dass die Pointe zumindest für Dickens’ Weihnachtsgeschichte darin liegt, dass Schicksale nicht in Stein gemeißelt sind: »Doch wenn man die Bahnen verlässt, so ändert sich das Ziel.« Und tatsächlich ist der Scrooge, der am Weihnachtsmorgen aus dem Bett steigt, ein neuer Mensch: »Er wurde ein |559|so guter Freund wie Vorgesetzter und ein so guter Mensch wie irgendeiner in der guten alten Stadt oder irgendeiner anderen guten alten Stadt oder Gemeinde in der guten alten Welt.«3

Abbildung 12.1: In Stein gemeißelt?

Wenn die Werte der gesellschaftlichen Entwicklung in Ost und West mit der gleichen Geschwindigkeit steigen wie im 20. Jahrhundert, wird die Vorherrschaft des Westens 2103 enden.

Könnte sich der Westen im 21. Jahrhundert nicht wie Scrooge auch neu erfinden und an der Spitze bleiben? Mit diesem letzten Kapitel will ich diese Frage beantworten – und es wird eine ziemlich überraschende Antwort sein.

Das ganze Buch hindurch habe ich behauptet, die größte Schwäche aller Versuche zu erklären, warum der Westen die Welt regiert, und vorherzusagen, was demnächst geschehen wird, liege darin, dass die Auguren im Allgemeinen eine zu kurze Perspektive wählen. Wenn überhaupt, dann blicken sie bloß ein paar Jahrhunderte zurück, bevor sie uns die geschichtlichen Zeichen deuten – so als hätte Scrooge nur mit dem Geist des Gegenwärtigen gesprochen.

Wir sollten es Scrooge besser gleichtun, sollten auf die Worte des Geistes des Vergangenen hören. Wir könnten uns auch Asimovs Hari Seldon zum Vorbild nehmen, der Jahrtausende der Geschichte befragte, ehe er in die Zukunft seines galaktischen Imperiums schaute. Wir müssen, wie Scrooge und Seldon, nicht nur herausfinden, wohin aktuelle Trends uns tragen werden, sondern auch, ob diese |560|Trends Kräfte hervortreiben, die ihnen entgegenarbeiten. Wir müssen das Paradox der Entwicklung in Rechnung stellen und die Vorteile der Rückständigkeit erkennen. Und wir müssen nicht nur erfassen, wie die geographischen Bedingungen die gesellschaftliche Entwicklung bestimmen, sondern auch, wie diese umgekehrt die Bedeutung der geographischen Verhältnisse ändern wird. Und wenn wir all das tun, dann werden wir sehen, dass die Geschichte eine überraschende Wendung bereithält.

Nach Chimerika

Wir sind dazu verdammt, in interessanten Zeiten zu leben.

Ungefähr seit dem Jahr 2000 hat sich eine merkwürdige Beziehung zwischen dem westlichen Entwicklungskern und seiner östlichen Peripherie herausgebildet. In den 1840er Jahren begann die Globalisierung des westlichen Kerngebiets, das seine Macht in jeden Weltwinkel ausdehnte und das zuvor eigenständige östliche Kerngebiet zu einer neuen Peripherie des Westens machte. Die Beziehung zwischen Kerngebiet und Peripherie entwickelte sich zwar in größerem Maßstab, aber doch entlang fast der gleichen Linien, an denen sich solche Verhältnisse während der gesamten Geschichte entwickelt haben: Der Osten nutzte seine billigeren Arbeitskräfte und Rohstoffe, um mit dem reicheren Westen Geschäfte zu machen. Und wie es in den Peripherien häufiger vorkam, fanden einige Völker Vorteile in ihrer Rückständigkeit. Zunächst erfand sich Japan neu und drängte in die von den USA dominierten Märkte. Ihm folgten in den 1960er Jahren mehrere südostasiatische Länder und hatten Erfolg damit. Nach 1978 schließlich setzte sich auch China in Bewegung. Die riesigen armen Bevölkerungen des Ostens und auch die Intelligenz dieser Länder, die westlichen Beobachtern stets als Kräfte der Zurückgebliebenheit erschienen waren, entpuppten sich nun zunehmend als Vorteil. Die industrielle Revolution griff auf den Osten über, östliche Unternehmer bauten Fabriken und verkauften Billigprodukte (besonders in die USA).

Nichts an diesem Ablauf der Ereignisse war grundlegend neu, und für ein Jahrzehnt oder länger lief alles hervorragend (nur nicht für die westlichen Länder, die mit den ostasiatischen Billigprodukten zu konkurrieren suchten). Ab 1990 jedoch entdeckten die Fabrikanten in China – wie zuvor schon in der Geschichte die Bewohner so vieler Peripherien –, dass es sich auch das reichste Kerngebiet nicht leisten kann, alles zu kaufen, was eine Peripherie potenziell exportieren kann.

Neu und ungewöhnlich an dieser modernen Ost-West-Beziehung war eigentlich nur die Lösung dieses Problems, wie sie sich ab 2000 abzuzeichnen begann. Obowohl ein Durchschnittsamerikaner etwa das Zehnfache dessen verdiente, was ein Durchschnittschinese mit nach Hause nahm, lieh China den USA und anderen westlichen Ländern Geld, damit deren Bürger weiterhin chinesische Produkte kaufen konnten. China investierte einen Teil seines enormen Währungsüberschusses |561|in Schuldverschreibungen wie etwa amerikanische Treasury Bonds, die auf US-Dollar lauteten. Der Kauf hunderter Milliarden Dollar hielt die chinesische Währung gegenüber dem Dollar künstlich niedrig, was die chinesischen Produkte für westliche Käufer weiter verbilligte.

Diese Beziehung hat etwas von einer Ehe, in der ein Partner fürs Geldausgeben zuständig ist, der andere fürs Sparen und Investieren, mit dem Erfolg, dass sich keiner der beiden eine Scheidung leisten kann. Hätte China keine Dollars mehr gekauft, wäre Amerikas Währung womöglich zusammengebrochen, und die 800 Milliarden US-Dollar, die China inzwischen hielt, hätten ihren Wert verloren. Hätten umgekehrt die Amerikaner keine chinesischen Produkte mehr gekauft, wäre ihr Lebensstandard gesunken und die günstigen Kreditquellen wären versiegt. Ein amerikanischer Boykott hätte China wohl in ein industrielles Chaos gestürzt, allerdings hätte China sich revanchieren können: Hätte es seine Dollars auf den Markt geworfen, wäre die US-Wirtschaft zusammengebrochen.

Der Historiker Niall Ferguson und der Wirtschaftswissenschaftler Moritz Schularick tauften dieses aberwitzige Pärchen auf den Namen »Chimerica«4 – ein chinesisch-amerikanisches Fabelwesen, das zwar enormes Wirtschaftswachstum generierte, zugleich aber ein Traum, aus dem die Welt irgendwann würde aufwachen müssen. Die Amerikaner konnten nicht für alle Zeit chinesisches Geld leihen, um chinesische Produkte zu kaufen. Chimericas Flut billiger Kredite ließ die Preise aller Wertanlagen anschwellen, von Rennpferden bis zu Grundstücken. 2007 begannen die Blasen zu platzen, 2008 gingen die westlichen Volkswirtschaften in den freien Fall über und rissen den Rest der Welt mit sich. 2009 schließlich hatten sich Konsumentenvermögen von 13 Billionen US-Dollar in Luft aufgelöst. Chimerica war pleite.

Die Regierungen intervenierten prompt, auf keinen Fall sollte sich die Depression der 1930er Jahre wiederholen. Dennoch, die Konsequenzen des Zusammenbruchs von Chimerica waren ungeheuer. Im Osten schnellte die Arbeitslosigkeit nach oben, die Aktienkurse stürzten ab, und Chinas Wirtschaft wuchs 2009 nur noch halb so schnell wie 2007, blieb aber mit einer Wachstumsrate von 6,7 Prozent noch immer deutlich über dem, was westliche Wirtschaften selbst für die besten Jahre erwarten konnten. Beijing musste 586 Milliarden für ein Konjunkturpaket aufbringen, aber das Land verfügte ja auch über die nötigen Reserven.

Im Westen war der Schaden deutlich größer. Die USA mussten ihr 787 Milliarden US-Dollar schweres Konjunkturprogramm auf den ohnehin schon hohen Schuldenberg draufpacken, und trotzdem schrumpfte die Wirtschaft des Landes auch 2009 nochmals um zwei Prozent. Im Sommer 2009 prognostizierte der Internationale Währungsfonds China für 2010 eine Wachstumsrate von wiederum 8,5 Prozent, den USA gerade mal 1,1 Prozent.5 Am meisten aber beunruhigte, was das Budget Office des US-Kongresses anzukündigen hatte: Die USA würden die Schulden für das Konjunkturpaket nicht vor 2019 tilgen können, dann aber würden die Leistungsansprüche der alternden Bevölkerung die Wirtschaft noch weiter belasten.6

|562|Als sich im April 2009 die Regierungschefs der 20 größten Industriestaaten versammelten, um ihre Abwehrmaßnahmen gegen die Krise zu beschließen, machte ein Witz die Runde: »Nach 1989 [dem Jahr des Tiananmen-Massakers] rettete der Kapitalismus China. Nach 2009 rettet China den Kapitalismus.«7 Das hatte etwas für sich, eine noch bessere Analogie zu 2009 aber wäre 1918 gewesen. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte niemandem mehr entgehen, wie heftig Macht und Reichtum aus dem bankrotten alten Kerngebiet Europa über den Atlantik in den aufblühenden neuen Kern USA gesogen wurden. Es könnte sich herausstellen, dass 2009 das Jahr war, in dem der Sog über den Pazifik, aus dem bankrotten Amerika ins aufblühende China, ähnlich unüberhörbar wurde. Chimerica könnte sich als bloße Zwischenstation auf dem Weg zur Vorherrschaft des Ostens erweisen.

Nicht jeder freilich wird dieser Prognose zustimmen. Manche Experten verweisen darauf, dass sich die USA schon einige Male so völlig verwandelt haben wie Scrooge. Zu viele Kritiker hätten die USA in der großen Depression der 1930er abgeschrieben, desgleichen während der Stagflation der 1970er Jahre – nur um beide Male zu erleben, wie die USA wieder auf die Beine kamen, in den 1940er Jahren das NS-Regime zerschlugen und in den 1980er Jahren die UdSSR besiegten. Amerikanische Unternehmer und Wissenschaftler, so die Optimisten, werden sich schon etwas einfallen lassen, und selbst wenn die USA in den 2010er Jahren in eine Krise schlittern sollten, werden sie in 2020er Jahren über China wieder die Oberhand gewinnen.

Andere verweisen auf Chinas übergroße Probleme. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg, prognostizieren sie, werden die Löhne steigen und einige der Vorteile aufzehren, die China noch aus seiner Rückständigkeit zieht. Schon in den 1990er Jahren wanderten die einfachen Produktionsjobs von Chinas Küsten ins Landesinnere ab, inzwischen verließen sie China Richtung Vietnam, wo die Löhne noch niedriger sind. Die meisten Wirtschaftswissenschaftler begreifen das als natürlichen Vorgang auf Chinas Weg der Integration in die globale Wirtschaft; einige aber sehen darin auch erste Zeichen dafür, dass China seinen Vorsprung einbüßen werde.

Andere China-Kritiker halten die demographische Entwicklung für eine noch größere Herausforderung. Aufgrund niedriger Geburten- und Einwanderungsraten nimmt das Durchschnittsalter der chinesischen Bevölkerung schneller zu als das der Amerikaner. Und so würden um 2040 die Ansprüche der älteren Generationen auf Chinas Wirtschaft schwerer lasten als auf der amerikanischen. Auch schwindende natürliche Ressourcen könnten das Wirtschaftswachstum bremsen, die Spannungen zwischen den boomenden Städten und dem daniederliegenden Land könnten sich verschärfen. Damit würde die Unruhe in der Bevölkerung, die heute bereits wachse, außer Kontrolle geraten. In der langen chinesischen Geschichte haben ethnische Aufstände, gewaltsame Proteste gegen Korruption und Umweltkatastrophen etliche Dynastien zusammenbrechen lassen; das könnte in naher Zukunft auch wieder geschehen. Und sollte die Kommunistische Partei |563|stürzen, könnte das Land auseinanderbrechen, so wie es auseinanderbrach, als die Dynastien der Han, der Tang, der Yuan und der Qing stürzten. Die beste Analogie für das China von 2020 wären dann nicht die USA von 1920, die den Reichtum der alten Welt einsaugten, sondern das China, das ab 1920 im Bürgerkrieg versank.

Zuletzt gibt es noch die einflussreiche Gruppe der westlichen Doctores Pangloss, die alle diese Vermutungen für gegenstandslos erklären. Dem typischen Westeuropäer des Jahres 2000 gehe es, obwohl im 20. Jahrhundert Macht und Reichtum über den Atlantik abgeflossen seien, besser als seinen Vorfahren zur Hochzeit des europäischen Imperialismus – die steigende Flut des Kapitalismus habe eben alle Schiffe angehoben. Und im 21. Jahrhundert werde der Sog über den Pazifik wiederum jedermanns Schiffe anheben. Angus Maddison – oben mit seiner Berechnung zitiert, nach der Chinas Bruttoinlandsprodukt das der USA im Jahr 2020 übersteigen werde – geht davon aus, dass sich die Einkommen in China zwischen 2003 und 2030 auf durchschnittlich 18 991 US-Dollar pro Person und Jahr verdreifachen, die der US-Amerikaner dagegen nur um 50 Prozent steigen werden. Doch wegen der höheren Ausgangslage werde der Durchschnittsamerikaner 2030 noch immer 58 722 US-Dollar jährlich verdienen, das Dreifache des typischen Chinesen.8 Noch optimistischer argumentiert Robert Fogel, der Chinas Wirtschaft die der USA 2016 überholen sieht. Im Jahr 2040, so rechnet er uns vor, würden die chinesischen Durchschnittseinkommen erstaunliche 85 000 US-Dollar erreichen; die amerikanischen lägen dann aber bei 107 000 US-Dollar.91*

Am meisten nach Pangloss aber klingt, was der Journalist James Mann das »Soothing Scenario« (Beschwichtigungsszenario) genannt hat: Der wachsende Wohlstand werde, was immer sonst geschehe, den Osten verwestlichen.10 Damit wäre die Frage, ob der Westen die Welt weiter regiere, gegenstandslos, denn dann wäre ja die ganze Welt »Westen«. »Handelt frei mit China«, drängte George W. Bush 1999, »und die Zeit wird auf unserer Seite sein.«11

Das Argument läuft darauf hinaus, dass es nur einen Weg gibt, die moderne globale Wirtschaft zum Blühen zu bringen: Man müsse bloß für liberale und demokratische Rahmenbedingungen sorgen, so wie sie im westlichen Kerngebiet schon existieren. Japan, Taiwan, Südkorea und Singapur – haben sie sich nicht alle, als ihr Wohlstand gegen Ende des 20. Jahrhunderts zunahm, von einer Einparteienherrschaft zu mehr oder weniger demokratischen Regierungsformen entwickelt? Und wenn sich die Kommunistische Partei Chinas schon dazu durchgerungen hat, den Kapitalismus zu übernehmen, dann wird sie sich über kurz oder lang auch der Demokratie nicht mehr versagen. Schließlich befänden sich die Regionen der Volksrepublik, die inzwischen weitestgehend in den globalen Handel einbezogen sind, doch bereits auf diesem Weg. In den Provinzen Guangdong und Fujian etwa werden heute schon viele lokale Funktionäre direkt gewählt. |564|Und auch wenn die nationale Politik autoritär bleiben werde, so zeigten sich doch bereits die Herrschenden in Beijing offener gegenüber öffentlichen Angelegenheiten wie Naturkatastrophen, den Mängeln des Gesundheitswesens und der Korruption.

Viele Menschen aus dem Westen, die längere Zeit im Osten gelebt haben, finden allerdings dieses Beschwichtigungsszenario wenig überzeugend. Schließlich haben sich die Amerikaner, nachdem sie Europa als dominante Region des westlichen Entwicklungskerns abgelöst hatten, nicht etwa europäischer verhalten; vielmehr klagen die Europäer seither über die Amerikanisierung ihrer eigenen Kulturen.

Natürlich fanden Chinas urbane Eliten, nachdem sie in den 1980er Jahren in die amerikanisch dominierte globale Wirtschaft einbezogen worden waren, einige Aspekte der westlichen Kultur überaus attraktiv. Sie gaben den Mao-Look auf, eröffneten englischsprachige Schulen und schlürften (zeitweise) sogar Caffè latte bei Starbucks in der Verbotenen Stadt. Die überteuerten Bars in Beijings Altstadtviertel Hou Hai sind voller hyperaktiver Zwanzig- bis Dreißigjähriger, die, nicht anders als ihre Altersgenossen in New York oder London, mit ihren Blackberries Börsenkurse verfolgen. Die Frage aber ist, ob sich dieser Trend der Verwestlichung tatsächlich fortsetzt, wenn noch mehr Macht und Reichtum über den Pazifik abfließen.

Der Journalist Martin Jacques glaubt das nicht. Bereits jetzt könne man miterleben, wie sich etwas durchsetze, das er »umstrittene Modernitäten« nennt12. Damit meint er, dass die Ost- und Südasiaten die Muster von Industrialisierung, Kapitalismus und Liberalismus, die sich während des 19. Jahrhunderts im westlichen Kerngebiet entwickelt haben, ihren eigenen Bedürfnissen anverwandeln. In der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts werde, so Jacques’ Überlegung, die Vorherrschaft des Westens einer fragmentierten globalen Ordnung Platz machen. Für diesen Zeitraum erwartet er die Herausbildung mehrerer Währungszonen (Dollar, Euro und Renminbi) und ökonomisch-militärischer Einflusssphären (eine amerikanische in Europa, im Nahen Osten und vielleicht in Südasien; eine chinesische in Ostasien und Afrika), die jeweils von eigenen kulturellen Traditionen geprägt sein werden (euro-amerikanisch, konfuzianisch etc.). Dann aber, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, werden, so Jacques, Zahlen sprechen; China werde dominieren und die Welt östlicher werden.

Die sinozentrische Welt um 2100 werde ganz anders sein als die westliche Welt des 19. und 20. Jahrhunderts: vor allem hierarchischer. Die alte chinesische Vorstellung, nach der sich Fremde dem Reich der Mitte als tributpflichtige Bittsteller zu nähern hätten, werde westliche Theorien der nominellen Gleichheit von Staaten und Institutionen ablösen. Diese Welt werde illiberal sein, werde die westliche Rede von universellen Menschenrechten und Werten über Bord werfen, werde statisch sein und keine Opposition gegen die Macht der politisch Herrschenden zulassen. Rund um den Globus werde man die Errungenschaften der euro-amerikanischen |565|Vergangenheit vergessen, man werde kein Englisch mehr lernen, sondern Mandarin, Zheng He feiern und nicht Kolumbus, anstelle von Platon Schriften die von Konfuzius lesen und Männer der chinesischen Renaissance bewundern: Shen Kuo statt Leonardo.

Einige Strategen gehen davon aus, dass die globale Vorherrschaft Chinas der konfuzianischen Tradition friedlicher Staatskunst folgen, also weniger militärisch-aggressiv sein werde als die westliche. Die chinesische Geschichte gibt dazu jedoch keine eindeutigen Hinweise. Gewiss, in Teilen der chinesischen Elite (insbesondere im niederen Adel und unter Bürokraten) ist Krieg nie als genuines Mittel der Politik betrachtet worden, aber dennoch zieht sich auch durch die chinesische Vergangenheit eine Spur der Gewalt. Vor allem die Begründer und ersten Kaiser praktisch jeder Dynastie, ausgenommen die Song, sind bereitwillig in die Schlacht gezogen. Theoretiker der internationalen Beziehungen, die sich selbst als »Realisten« einschätzen, gehen allgemein davon aus, dass Chinas Zurückhaltung seit dem Koreakrieg mehr mit militärischer Schwäche zu tun hat als mit Konfuzius. Beijings Militärbudget ist seit 2006 jedes Jahr um 16 Prozent gewachsen und wird in den 2020er Jahren mit dem amerikanischen gleichziehen. Es ist also nicht ausgemacht, ob nicht der Aufstieg des Ostens zur Weltherrschaft im 21. Jahrhundert noch blutiger ausfallen wird als der des Westens im 19. und 20. Jahrhundert.

So also steht es. Vielleicht können große Frauen und Männer die Vorherrschaft des Westens noch für einige Generationen sichern, vielleicht werden Stümper und Idioten in China dessen Aufstieg noch eine Weile verzögern. Vielleicht wird der Osten verwestlicht, vielleicht der Westen veröstlicht. Vielleicht treffen wir uns alle im global village wieder, vielleicht gehen wir auch alle unter im clash of civilizations. Vielleicht sind am Ende alle reicher, vielleicht verbrennen wir uns gegenseitig in einem dritten Weltkrieg.

Angesichts dieses Durcheinanders sich widersprechender Prognosen fällt mir nur die Geschichte wieder ein, von der am Anfang von Kapitel 4 schon die Rede gewesen ist: die Geschichte vom Elefanten und den vier Blinden, die jeder glaubten, etwas anderes in der Hand zu haben. An jener Stelle des Buchs habe ich behauptet, es gebe nur einen Weg zu erklären, warum der Westen die Welt regiert – nämlich mit einem Index gesellschaftlicher Entwicklung ein wenig Übersicht zu schaffen. Und nun behaupte ich, dass der Rückgriff auf diesen Index uns auch zu erkennen hilft, wie der Elefant in 100 Jahren aussehen wird.

2103

Wenden wir uns noch einmal der Abbildung 12.1 zu, insbesondere dem Punkt, an dem sich die Linien für Ost und West kreuzen, dem Jahr 2103 also. Dann wird, wie die vertikale Achse zeigt, die gesellschaftliche Entwicklung bei über 5000 Indexpunkten stehen.

|566|Eine erstaunliche Zahl. 14 000 Jahre liegen zwischen dem Ende der Eiszeit und dem Jahr 2000, und in diesem Zeitraum ist die gesellschaftliche Entwicklung um gerade mal 900 Punkte gestiegen. In den kommenden 100 Jahren, so zeigt es Abbildung 12.1, soll sie um weitere 4000 Punkte steigen. 900 Punkte brachten uns von den Höhlenmalereien in Altamira ins Atomzeitalter. Wohin werden uns dann weitere 4000 Punkte führen? Das, so scheint mir, ist die eigentliche Frage. Wir können nicht verstehen, was auf Chimerica folgt, wenn wir keine Vorstellung davon haben, wie die Welt auf dem Stand von 5000 Indexpunkten aussehen wird.

In einem 2000 geführten Interview hat Jeremy Rifkin gesagt: »Unsere Art zu leben wird sich wahrscheinlich in den nächsten Jahrzehnten gründlicher verändern als in den vergangenen 1000 Jahren.«13 Das klingt übertrieben, doch sollte Abbildung 12.1 tatsächlich wiedergeben, wie die zukünftige Entwicklung aussieht, ist Rifkins Behauptung eine gewaltige Untertreibung. Zwischen 2000 und 2050, so zeigt es die Grafik, wird die gesellschaftliche Entwicklung doppelt so hoch steigen wie in den vorangegangenen 15 000 Jahren. Und im Jahr 2103 wird sie sich erneut verdoppelt haben. Welch ein Hohn auf die Geschichte!

Angesichts dieser Entwicklung fallen alle Prognosen, die ich im vorigen Abschnitt dargestellt habe, in sich zusammen. Alle sind sie Extrapolationen aus der Gegenwart in die nahe Zukunft, und alle kommen sie – kaum überraschend – zu dem Ergebnis, dass die Zukunft nicht viel anders aussehen wird als die Gegenwart. Die größte Veränderung wäre demnach ein reiches China. Bringen wir stattdessen das Gewicht der gesamten Geschichte ins Spiel – will sagen: sprechen wir mit dem Geist des Vergangenen –, dann können wir nicht übersehen, dass die anstehende Welle gesellschaftlicher Entwicklung ohne Beispiel ist.

Man male sich aus, was ein Sprung von 5000 Indexpunkten für die gesellschaftliche Entwicklung bedeuten muss – es ist schwindelerregend. Nehmen wir einmal an, diese Punkte verteilten sich auch 2103 nicht anders auf die vier Merkmale Energieausbeute, Verstädterung, Informationstechniken und Kapazitäten der Kriegführung als um 20001*, dann wird es in 100 Jahren Städte mit 140 Millionen Einwohnern geben (man stelle sich Tokio, Mexico City, New York, São Paolo, Mumbai, Delhi und Shanghai als ein einziges Gebilde vor), in der ein Durchschnittsbewohner 1,3 Millionen Kilokalorien pro Tag aufnimmt.

Noch schwerer vorstellbar ist eine fünffache Steigerung der Kapazität, Kriege zu führen. Wir verfügen schon jetzt über genügend Waffen, um die Welt mehrfach komplett zu zerstören. Also wird das 21. Jahrhundert wahrscheinlich nicht nur vervielfältigte Atomsprengköpfe, Bomben und Geschütze erleben, sondern eher Technologien, die die Waffen des 20. Jahrhunderts ebenso gründlich veralten lassen wie einst Panzer die Kavallerie. Etwas wie der »Krieg der Sterne«, der |567|Raketenabwehrschirm, an dem amerikanische Wissenschaftler seit den 1980er Jahren arbeiten, wird realisiert werden. Roboter werden das Kämpfen und Zerstören in Cyberkriegen übernehmen. Die Nanotechnologie wird es ermöglichen, altbekannte Materialien zu undurchdringlichen Panzern oder zu mörderischen Waffen zu machen. Und alle neuen Angriffswaffen werden ebenso ausgeklügelte Abwehrtechniken nach sich ziehen.

Am wenigsten vorstellbar aber werden die Veränderungen der Informationstechniken sein, zu denen es der Abbildung 12.1 zufolge kommen wird. Das 20. Jahrhundert hat uns von primitiven Funkgeräten und Telefonapparaten zum Internet geführt. Das 21. Jahrhundert dagegen wird, und das ist sicher nicht zu weit hergeholt, den Menschen in den entwickelten Kerngebieten die sofortige und unbegrenzte Abrufbarkeit aller Informationen verschaffen, die in der Welt vorhanden sind. Ihre Gehirne werden vernetzt sein, vielleicht einen gigantischen Computer bilden, dessen Rechenkapazität billionenfach über der Summe aller Gehirne und Maschinen unserer Tage liegen wird.

Noch klingt das absurd. Städte mit 140 Millionen Menschen können nicht funktionieren. Es gibt einfach nicht genug Öl, Kohle, Gas und Uran in der Welt, um Milliarden Menschen täglich 1,3 Millionen Kilokalorien Energie zur Verfügung zu stellen. Nano-, Cyber- und Roboterkriege würden uns alle auslöschen. Und unsere Gehirne mit Maschinen zu verbinden – wir wären schlicht keine Menschen mehr.

Und das, denke ich, ist das eigentlich Beunruhigende, Bedeutsame an Abbildung 12.1.

Ich habe in diesem Buch zwei allgemeine Behauptungen aufgestellt. Die erste: Die Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung kann nur im Verbund biologischen, soziologischen und geographischen Wissens erklärt werden, wobei die Biologie erklärt, was die Entwicklung antreibt, die Soziologie, wie die Entwicklung steigt (oder eben nicht), und die Geographie, warum die Entwicklung in einer Region schneller steigt (oder fällt) als anderswo. Meine zweite Behauptung: Die geographischen Bedingungen entscheiden zwar über Anstieg oder Niedergang der gesellschaftlichen Entwicklung, umgekehrt aber bestimmt die gesellschaftliche Entwicklung Art und Umfang des Einflusses, den die geographischen Verhältnisse ausüben können. Ich möchte beide Behauptungen nun erweitern. Im 21. Jahrhundert verspricht – oder droht – die gesellschaftliche Entwicklung so hoch zu steigen, dass sie auch den Einfluss der natürlichen und sozialen Bedingungen verändern wird. Wir nähern uns der größten Diskontinuität der Geschichte.

Der Erfinder und Futurist Ray Kurzweil nennt dies Singularität: »eine zukünftige Epoche, in der das Tempo des technischen Wandels so gesteigert, seine Wirkung so tiefgreifend ist …, dass sich die Technik mit unendlicher Geschwindigkeit zu erweitern scheint«14. Eine seiner Begründungen findet er im Mooreschen Gesetz, der berühmten Beobachtung, die der Ingenieur (und spätere Vorsitzende von Intel) Gordon Moore 1965 gemacht hat, dass sich nämlich die Leistungsfähigkeit |568|der Computerchips mit deren Miniaturisierung jährlich verdoppelt, deren Herstellungskosten aber halbieren. Vor 40 Jahren haben gigantische Großrechner einige 100 000 Rechenoperationen pro Sekunde bewältigt und einige Millionen Dollar gekostet. Der kleine 1000-Dollar-Laptop, auf dem ich jetzt herumtippe, schafft einige Milliarden Operationen pro Sekunde – eine Steigerung des Preis-Leistungs-Verhältnisses ums Zehnmillionenfache, eine Verdopplung alle 18 Monate, ganz ähnlich wie von Moore vorausgesagt.

Setzt sich dieser Trend fort, dann, so Kurzweil, werden die Computer um 2030 so leistungsfähig sein, dass auf ihnen Programme laufen, die jene zehntausend Billionen elektrische Signale reproduzieren, die pro Sekunde zwischen den 22 Milliarden Neuronen im menschlichen Schädel hin und her gefeuert werden. Superrechner werden auch genug Kapazität haben, um die 10 Billionen Erinnerungen zu speichern, die ein Gehirn im Durchschnitt beherbergt. Zur gleichen Zeit wird die Scannertechnik genau genug arbeiten, um das menschliche Gehirn Neuron für Neuron kartographisch zu erfassen – woraus Technikfreaks schließen, dass man in der Lage sein wird, das menschliche Gehirn in Maschinen hochzuladen. Um 2045 etwa werden sie, wie Kurzweil ebenfalls erwartet, in der Lage sein, als Host-Rechner für alle Gehirne der Welt zu fungieren und die kohlenstoff- und die silikonbasierte Intelligenz in einem weltumspannenden Bewusstsein zu verschmelzen. Damit wäre die technologische Singularität2* erreicht. Wir werden die Beschränktheiten unserer biologischen Grundausstattung überwinden und zu neuen Wesen werden, zu Wesen, die Homo sapiens so weit voraus sind, wie ein heutiger Mensch den einzelnen Zellen voraus ist, die sich zu seinem Körper zusammengeschlossen haben.

Kurzweils visionärer Enthusiasmus hat ihm ebensoviel Spott wie Bewunderung eingetragen. Die Chancen, dass er sich – wie alle Propheten vor ihm – irrt, stehen höher als dafür, dass er Recht behält. Womit Kurzweil allerdings richtig liegt, ist, dass er sich gegen »Kritik durch Ungläubigkeit«15 verwahrt. Die pure Skepsis, dass derart ungeheuerliche Entwicklungen eintreten könnten, ist tatsächlich kein Gegenargument. Entsprechend hat der Chemiker und Nobelpreisträger Richard Smalley verkündet: »Wenn Wissenschaftler etwas für möglich halten, unterschätzen sie wahrscheinlich, wie lange das dauern wird. Sagen sie jedoch, dass es unmöglich ist, liegen sie wahrscheinlich falsch.«16 Wir unternehmen bereits kleine Schrittchen hin zu irgendeiner Art Singularität – zumindest nehmen Regierungen und Militärs diese Aussichten so ernst, dass sie mit entsprechenden Planungen begonnen haben.

Vielleicht können wir bereits erkennen, was einige dieser Schrittchen erbracht haben. Wie in Kapitel 10 gezeigt, wurde das, was es heißt, Mensch zu sein, von der |569|industriellen Revolution gründlicher verändert als vom Übergang zum Ackerbau. In großen Teilen der Welt ermöglicht es die bessere Ernährung den Menschen, doppelt so lange zu leben und im Durchschnitt 15 Zentimeter größer zu werden als ihre Ururgroßeltern. Nur noch wenige Frauen verbringen heute mehr als einen kleinen Abschnitt ihres Lebens damit, Kinder auszutragen und aufzuziehen; auch ist, im Vergleich zu früheren Zeiten, die Kindersterblichkeit deutlich gesunken. In den reichsten Ländern vollbringen Mediziner geradezu Wunder – sie erhalten unser Aussehen jung (2008 wurden in den USA fünf Millionen Botox-Behandlungen durchgeführt), sie regulieren unsere Stimmung (einer von zehn Amerikanern hat Antidepressiva genommen), sie können, vom Meniskus bis zur Erektion, alle möglichen Körperteile und -zustände stabilisieren (2005 haben amerikanische Ärzte 17 Millionen Rezepte für Potenzmittel wie Viagra, Cialis und Levitra ausgestellt). Die alternden Kaiser der Antike dürften diese kleinen blauen Pillen mindestens so wunderbar gefunden haben wie die heutigen Nerds Kurzweils Singularität.

Die Genforschung des 21. Jahrhunderts verspricht, die Menschheit noch weiter zu verändern, indem sich gentechnisch Kopierfehler in unseren Zellen korrigieren oder neue Organe wachsen lassen werden, wenn uns die im Stich lassen, mit denen wir geboren wurden. Einige Wissenschaftler sprechen davon, dass wir uns der »teilweisen Unsterblichkeit« nähern. Warum aber sollte man sich damit bescheiden zu reparieren, was kaputtging? Mancher erinnert sich vielleicht an die TV-Serie Der Sechs-Millionen-Dollar-Mann, in deren erster Folge ein Pilot namens Steve Austin (gespielt von Lee Majors) bei einem Absturz einen Arm, ein Auge und beide Beine verlor. »Wir können ihn nachbauen, wir haben die Technik«, sagt eine Stimme aus dem Off, und bald taucht Austin wieder auf: als bionischer Mann, der schneller rennt, als Autos fahren, einen Geigerzähler im Arm hat und eine Zoomlinse im Auge, schließlich sogar eine bionische Freundin (Lindsay Wagner).17

Nur 30 Jahre später sind einige unserer Sportler tatsächlich bionisch geworden. Als der Golfprofi Tiger Woods am Auge operiert werden musste, ließ er sich die Sehkraft auf »besser als vollkommen« hochrüsten, und 2008 schloss der Weltleichtathletikverband den südafrikanischen Sprinter Oscar Pistorius vorübergehend von der Olympiade aus, weil dieser mit seinen zwei High-Tech-Unterschenkel-Fuß-Prothesen Vorteile gegenüber Läufern habe, die auf ihren eigenen Beinen laufen müssten.3*

In den 2020er Jahren könnten Menschen mittleren Alters in den entwickelten Kerngebieten weiter sehen, schneller laufen und besser aussehen, als sie dies als Kinder taten. Aber um wie viel adleräugiger, flinker, schöner wird erst die nachfolgende |570|Generation sein! Genetische Untersuchungen geben Eltern die Möglichkeit, Föten abzutreiben, die wahrscheinlich behindert auf die Welt kommen würden; und je besser die Medizin Gene an- und abzuschalten lernt, desto wahrscheinlicher werden sogenannte Designerbabys, ausgestattet mit den Merkmalen, die sich ihre Eltern wünschen. Immer mehr Eltern werden sich fragen, warum man es beim genetischen Lottospiel der Natur belassen soll, wenn mit ein wenig Bastelei das Kind entstehen kann, das man gerne hätte.

Weil Eugenik, so ein Einwand, in jedem Fall verwerflich ist – gleich ob sie von Rassisten wie Hitler oder nach Konsumentenwünschen betrieben wird. Sie könnte auch gefährlich werden: Biologen warnen gerne mit dem Hinweis, dass die »Evolution klüger ist als wir«. Eines Tages müssten wir den Preis für den Versuch bezahlen, die Natur zu überlisten und wie bei der Nutztierzucht alles Unerwünschte und Unwerte ausmerzen – Merkmale wie Dummheit, Hässlichkeit, Dickleibigkeit und Trägheit. All das Gerede vom Transzendieren der Biologie ist für Kritiker nur der Versuch, den lieben Gott zu spielen – worauf Craig Venter, einer der ersten Wissenschaftler, dem das Sequenzieren des menschlichen Genoms gelang, mit einem trotzigen »Wir spielen nicht!« geantwortet haben soll.18

Die Kontroverse hält an. Ich vermute aber, dass auch unser Zeitalter das Denken bekommen wird, das es braucht. Vor 10 000 Jahren sorgten sich vielleicht einige der frühen Ackerbauern, ob domestizierter Weizen und domestizierte Schafe nicht doch unnatürlich seien; vor 200 Jahren gab es genug Konservative, die Dampfmaschinen und Eisenbahnen für Teufelszeug hielten. Diejenigen, die ihre Bedenken überwanden, kamen weiter; die anderen nicht. Der Versuch, therapeutisches Klonen, Schönheit für alle und Verlängerung des Lebens gesetzlich zu verbieten, wird nicht durchführbar sein. Noch viel weniger wird man Militärs daran hindern können, an der Natur herumzufingern.

Die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), eine dem amerikanischen Verteidigungsministerium unterstellte Behörde, gehört zu den größten Förderern von Forschungsprojekten, die sich der menschlichen Natur und ihrer Veränderung widmen. Die DARPA hat uns in den 1970er Jahren das Internet beschert (damals noch Arpanet genannt). Inzwischen beschäftigt sich das Brain Machine Interface Project der Behörde mit Computern, deren Schaltkreise durch Enzyme und DNA-Moleküle und nicht mehr durch Silikonchips gesteuert werden und die so winzig sind, dass man sie zum Beispiel in menschliche Hirne implantieren könnte. Die Forscher und Militärstrategen hoffen, über solche Hirn-Maschine-Schnittstellen eines Tages Soldaten, Kampfflugzeuge oder Drohnen steuern zu können. In ähnliche Richtung zielt auch das Silent Talk Projekt der DARPA: Implantierte Elektroenzephalographen sollen es ermöglichen, Hirnströme, also vorsprachliche »Gedanken«, zu decodieren und die Signale per Internet zu versenden, sodass Soldaten ohne Funk oder E-Mails kommunizieren könnten. Ein Bericht der National Science Foundation geht davon aus, dass »netzwerkgestützte Telepathie« in den 2020er Jahren Realität werden könnte.19

|571|Die letzte Komponente von Kurzweils Singularität – Computer, die die Funktionsweise biologischer Gehirne reproduzieren können – scheint schneller Wirklichkeit zu werden als gedacht. Im April 2007 verwandelten Forscher bei IBM einen Supercomputer vom Typ Blue Gene/L in einen massiv-parallelen Simulator kortikaler Prozesse, auf dem ein Programm laufen konnte, das die Gehirnfunktionen einer Maus nachahmt. Das Programm war nur halb so komplex wie ein wirkliches Mäusegehirn und lief nur mit einem Zehntel der Nagetiergeschwindigkeit. Doch schon im November hatten die Forscher ein Programm entwickelt, mit dem sie das größere und komplexere Rattengehirn imitieren konnten.

Eine mit halber Kraft laufende Ratte ist noch weit entfernt von einem Hochgeschwindigkeitsmenschen. Die beteiligten IBM-Leute schätzten, dass die Simulation des Menschenhirns einen 400-mal stärkeren Computer erfordern würde, was jede Menge Energie-, Kühlungs- und Raumprobleme mit sich bringe, die nach dem technischen Stand des Jahres 2007 unlösbar seien. Doch 2008 sanken die Kosten erheblich, und IBM kündigte für 2011 einen neuen Supercomputer an, Blue Gene/Q, mit dem dann ein Viertel des Wegs geschafft wäre. Das noch ehrgeizigere Projekt Kittyhawk – ein Verbund von Tausenden von Blue Genes – soll in den 2020er Jahren in Reichweite rücken.

Daraus zu folgern, dass Kurzweils Singularität tatsächlich im Jahr 2045 eintreten würde, wäre übereilt. Noch unbedachter allerdings wäre es zu bestreiten, dass wir uns einer massiven Diskontinuität nähern. Wohin wir auch schauen, stürmen Wissenschaftler gegen die Grenzen der Biologie an. Craig Venters Labor hat bereits das Genom eines einfachen Bakteriums allein aus Chemikalien synthetisiert, und wenn dieses Buch erscheint, Anfang 2011, hat man vielleicht auch schon die ersten künstlichen Chromosomen in Zellkerne platziert und so den ersten synthetischen, sich selbst reproduzierenden Organismus geschaffen. Auch die Genetik hat so etwas wie ein Mooresches Gesetz, nämlich die Carlsonsche Kurve (benannt nach dem Physiker und Biotechniker Robert Carlson20): Zwischen 1995 und 2009 fielen die Kosten für die DNA-Synthese von einem Dollar pro Basenpaar auf unter 0,1 US-Cent. Manche Genetiker glauben, dass bis 2020 die Herstellung völlig neuer Organismen etwas Selbstverständliches sein wird. Wir werden uns wohl doch an den Gedanken gewöhnen müssen, dass die Entwicklung der letzten Jahrhunderte nicht zuletzt auf einen radikalen Wandel dessen hinausläuft, was es heißt, Mensch zu sein. Mega-Mega-Städte, Energieniveaus sondergleichen, apokalyptische Waffensysteme, an Science-Fiction gemahnende Informationstechnologien – ein gesellschaftliches Entwicklungsniveau von 5000 Punkten ist ohne einen »neuen Menschen« kaum vorstellbar.

Immer wieder war in diesem Buch von Umwälzungen die Rede, in denen die gesellschaftliche Entwicklung einen Sprung nach oben machte, wodurch viele der Probleme, die das Leben früherer Generationen bestimmt hatten, bedeutungslos wurden. Die Evolution von Homo sapiens hat alle früheren Affenmenschen hinweggefegt; die Erfindung des Ackerbaus hat viele der brennenden Lebensprobleme |572|von Wildbeutern erledigt; die gleiche Wirkung hatte der Aufstieg von Städten und Staaten für das vorgeschichtliche Dorfleben. Das Schließen der Steppenschnellwegs, dafür die Öffnung der Weltmeere beendete Zustände, die die Entwicklung der Alten Welt über 2000 Jahre hinweg eingeengt hatten, und die industrielle Revolution ließ alles, was zuvor möglich war, als ziemlich lächerlich erscheinen.

Diese Revolutionen wirkten beschleunigend, sie bauten aufeinander auf, trieben die gesellschaftliche Entwicklung voran und beschleunigten sie. Wenn diese Entwicklung im 21. Jahrhundert um 4000 Punkte nach oben schnellt, wie in Abbildung 12.1 prognostiziert, dann wird die gegenwärtige Revolution die größte und rasanteste von allen sein. Ihr Zentrum liegt, wie viele Zukunftsforscher glauben, in den miteinander verbundenen Umwälzungen von Genetik, Robotik, Nano- und Computertechnik. In der Folge wird diese Revolution vieles umstoßen, was wir wussten und kannten.

Die Abbildung 12.1 zeigt eindeutig, dass die Punktwerte der Entwicklung im Osten die des Westens übertreffen werden. Doch meinen Lesern wird auch aufgefallen sein, dass jedes der in diesem Abschnitt angeführten Beispiele aus den USA stammte – DARPA, IBM, der Sechs-Millionen-Dollar-Mann. Zwar haben Wissenschaftler aus dem Osten eine Menge zur Entwicklung der neuen Technologien beigetragen (die Robotik etwa ist in Japan und Südkorea so fortgeschritten wie nur irgendwo), dennoch war diese Revolution bis jetzt vor allen Dingen eine Sache des Westens. Das könnte bedeuten, dass Experten, die auf Amerikas Niedergang und auf das kommende Chinazeitalter verweisen, am Ende doch irren. Wenn die USA die Innovationen der neuen Technologien so eindeutig dominieren wie Großbritannien vor 200 Jahren die der klassischen Industrietechniken, dann könnte die Gen-Nano-Roboter-Revolution Reichtum und Macht doch wieder nach Westen lenken – und zwar noch dramatischer, als dies die industrielle Revolution getan hat.

Allerdings könnte der derzeitige Abfluss von Reichtum und Macht von West nach Ost auch bedeuten, dass die aktuelle Vorherrschaft der USA nicht mehr ist als ein Überhang aus dem 20. Jahrhundert, dass aber die entscheidenden Durchbrüche nach 2020 in den Forschungsstätten des Osten stattfinden werden. China setzt bereits reichlich Mittel ein, um seine besten Wissenschaftler aus den USA zurückzulocken. Vielleicht wird Lenovo und nicht IBM die Großrechner bauen, die ab 2040 das Weltbewusstsein hosten werden, womit sich Abbildung 12.1 dann doch bestätigen würde.

Doch genauso könnte es sein, dass die Singularität die 10 000 Jahre alten Kategorien »Osten« und »Westen« völlig gegenstandslos machen wird. Vielleicht wird sich die Beutung der geographischen Bedingungen nicht einfach ein weiteres Mal verändern, vielleicht spielt sie dann überhaupt keine Rolle mehr. Die Verbindung von Mensch und Maschine wird zu ganz neuen Formen der Ausbeutung und Nutzung von Energie führen, zu neuen Formen des Zusammenlebens, des Kämpfens, |573|des Kommunizierens, des Arbeitens, Denkens, Liebens und Lachens – auch zu neuen Arten und Weisen, geboren zu werden, zu altern, zu sterben. Vielleicht ist ja mit all dem überhaupt Schluss, und es wird eine Welt entstehen, die wir uns mit unseren unverstärkten, rein biologischen Gehirnen gar nicht vorstellen können.

Einiges davon oder auch all das könnte passieren.

Natürlich nur, wenn nichts dazwischenkommt und es unterbindet.

Worst-Case-Szenario

Im November 2006 wurden meine Frau und ich zu einer Konferenz an der Stanford University eingeladen, die »A World at Risk« zum Thema hatte. Das Ereignis mit großem Staraufgebot, zu dem einige der führenden Entscheidungsträger dieser Welt anreisten, fand statt an einem strahlenden Wintertag. Warm schien die Sonne vom klaren blauen Himmel, als wir uns auf den Weg machten. Aktienkurse, Immobilienpreise, Beschäftigung und Konsumentenvertrauen standen nahe bei ihren Allzeithochs. Es war ein amerikanischer Morgen.

Nach dem Frühstück dann hörten wir ehemalige Außen- und Verteidigungsminister, die uns über nukleare, biologische und terroristische Bedrohungen informierten. Vor dem Lunch erfuhren wir etwas über das erschreckende Ausmaß der Umweltzerstörung und das hohe Risiko, dass internationale Sicherheitssysteme zusammenbrechen könnten. Nach dem Essen erzählte man uns, weltweite Epidemien seien nahezu unausweichlich. Alles ging bergab, es gab kein Halten mehr, wir taumelten von Sitzung zu Sitzung, überwältigt von den Expertenberichten, die auf uns niederprasselten, von der ansteigenden Flutwelle der Katastrophe. Die Konferenz war eine tour de force, und als uns dann, nach dem Dinner, der letzte Redner darüber aufklärte, dass wir den Krieg gegen den Terror verlieren würden, war das Publikum endgültig erschlagen.

Ein Tag der Verzweiflung, der mir zu denken gab (um es milde auszudrücken). Im 1. Jahrhundert u. Z. und dann erneut 1000 Jahre später schoss die gesellschaftliche Entwicklung gegen eine harte Decke, und zweimal lösten die Kräfte der Zerrüttung, die diese Fortentwicklung selbst hervorgebracht hatte, den Zusammenbruch der Alten Welt aus. Stoßen wir nun auch an eine solche undurchdringliche Decke, irgendwo bei 1000 Indexpunkten? Überholen uns, die wir uns in Trippelschritten der Singularität nähern, die apokalyptischen Reiter?

Diese fünf düsteren Gestalten – Klimawandel, Hungersnöte, Staatszerfälle, Wanderbewegungen, Seuchen –, alle scheinen sie zurück auf der Bühne zu sein. Die erste, die Erderwärmung, ist vielleicht das ultimative Beispiel für das Paradox der gesellschaftlichen Entwicklung, denn die gleichen fossilen Brennstoffe, die seit 1800 den Sprung nach vorne befeuerten, haben die Atmosphäre mit Kohlendioxid angereichert und zum Wärmestau geführt. Mit unserem Plastikkram und unseren Kühlschränken haben wir die Welt zum Treibhaus gemacht. Seit 1850 |574|sind die Durchschnittstemperaturen um fast 0,8° Celsius gestiegen, wobei die Zunahme zum größten Teil in die letzten 30 Jahre fiel und die Quecksilbersäule noch immer steigt.

In der Vergangenheit bedeuteten steigende Temperaturen höhere Ernteerträge und zunehmende Entwicklung (wie zur römischen und zur mittelalterlichen Wärmeperiode), diesmal könnte es anders kommen. Im Vierten Sachstandsbericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen der Vereinten Nationen (IPCC) heißt es: »Es wird erwartet, dass veränderte Frequenzen und Intensitäten von extremen Wetterereignissen zusammen mit dem Meeresspiegelanstieg hauptsächlich negative Auswirkungen auf natürliche und menschliche Systeme haben.«21 Die Formulierung ist vergleichsweise vorsichtig, im Kleingedruckten ist der Bericht alarmierender.

Die Luftblasen in den Eiskappen der Pole zeigen, dass die Kohlendioxidsättigung in den letzten 650 000 Jahren schwankte, von 180 Molekülen Kohlendioxid pro 100 Millionen Molekülen Luft während der Eiszeit bis 290 ppm (parts per million) in den warmen Zwischeneiszeiten. Noch nie ist der CO2-Anteil auf 300 ppm gestiegen – bis 1958. Im Sommer 2009 wurden 387 ppm gemessen, und die Schätzungen des IPCC laufen darauf hinaus, dass bis 2050 bei gleich bleibenden Trends 550 ppm erreicht sein werden. Der CO2-Anteil wäre dann höher als jemals in den vergangenen 24 Millionen Jahren, womit auch die Durchschnittstemperaturen, je nach Szenario, um weitere zwei bis sechs Grad Celsius steigen würden. Sollte die Energieausbeute entsprechend Abbildung 12.1 steigen, würde die Erde noch schneller noch wärmer werden.

Selbst wenn wir morgen schon aufhörten, Treibhausgase in die Atmosphäre zu blasen, ist bereits soviel Kohlenstoff in der Luft, dass die Erwärmung noch zunehmen wird. Wir haben die Chemie der Atmosphäre durcheinandergebracht. Was immer wir tun werden, die Eiskappe des Nordpols wird abschmelzen. Vorsichtige Schätzungen wie die des IPCC gehen davon aus, dass dies 2100 der Fall sein wird; nach radikalsten Schätzungen könnten die Polarsommer bereits 2013 eisfrei sein; die Mehrheit der Studien nennt einen Zeitpunkt um 2040.

Schmelzen die Pole, steigt der Meeresspiegel. Die Meere stehen heute bereits gut zwölf Zentimeter höher als um 1900. Das IPCC erwartet, dass sie bis 2100 um weitere fünf Zentimeter steigen werden. Die düstersten Prognosen für die polare Eisschmelze rechnen mit einem zusätzlichen Anstieg des Meeresspiegels von 15 Metern, womit Millionen Quadratkilometer des weltweit besten Ackerlands und die weltweit reichsten Städte überflutet würden. Die Welt schrumpft auf sehr viel mehr Arten und Weisen, als wir bislang realisiert haben.

Trotz des eisigen Schmelzwassers werden sich die Meere auch erwärmen, indem sie die Wärme der Atmosphäre aufnehmen. Und da sie im Winter weniger abkühlen werden als bisher, wird sich die alljährliche Hurrikan-Saison verlängern und werden die Wirbelstürme heftiger werden. Wo es jetzt schon viel regnet, wird es noch mehr regnen, zerstörerische Stürme und Überschwemmungen werden |575|zunehmen. Trockene Regionen dagegen werden noch mehr austrocknen, Sandstürme und Waldbrände zunehmen.

Für immer mehr Menschen sind die allgemeinen Warnsignale bereits zu einer sehr persönlichen Erfahrung geworden. Bei mir war das 2008 der Fall. Lange bevor die Waldbrandsaison in Kalifornien normalerweise beginnt, war die Luft voller Asche: Die Wälder rund um unser Haus brannten. Der Himmel leuchtete unheimlich orange, und was wir uns zuriefen, ging unter im Dröhnen der Rotorblätter der Löschhubschrauber. Gegen den Funkenflug schlugen wir eine Feuerschneise um unser Haus, und am Ende wurde es wirklich knapp, bis dann der Regen einsetzte. Ich sollte vielleicht sagen: endlich einsetzte, denn die Saison der Waldbrände ist im Westen der USA inzwischen 78 Tage länger als noch in den 1970er Jahren. Ein durchschnittlicher Waldbrand dauert heute fünfmal länger als vor 30 Jahren. Und die Leute vom Feuerschutz sagen, dass es noch schlimmer kommen wird.

All das fällt in die Rubrik, die der Journalist Thomas Friedman »die bereits bekannten besorgniserregenden Fakten« genannt hat. Schlimmer wird es in der Rubrik »die noch nicht genau bekannten besorgniserregenden Dinge«. Denn das Problem sei ja, dass wir nicht unmittelbar mit der Erderwärmung konfrontiert sind, sondern mit einer Welt, die verrückt spielt. Er spricht von »global weirding«, von einem globalen Verhängnis sich unheimlich steigernder Naturphänomene.22 Der Klimawandel vollzieht sich nichtlinear: Alles hängt mit allem zusammen, die Wechsel- und Rückwirkungen sind so komplex, dass sie sich nicht in Modelle fassen lassen. Es wird Kipppunkte geben, dann nämlich, wenn die Umwelt sich abrupt und irreversibel verändert, aber wir wissen nicht, wo diese Punkte liegen und was passieren wird, wenn wir sie erreichen.

Am unheimlichsten von all dem ist aber, dass wir nicht wissen, wie die Menschen darauf reagieren werden. Wie alle anderen historischen Episoden des Klimawandels wird auch diese keinen direkten Zusammenbruch verursachen. Wenn wir so weiter wirtschaften wie bisher, dann, so prognostizierte der Stern Report, eine Studie des britischen Ökonomen Nicholas Stern aus dem Jahr 2006, werde der Klimawandel die Wirtschaftsleistung weltweit um 20 Prozent unter den gegenwärtigen Stand fallen lassen – eine Katastrophe, aber wohl nicht das Ende der Welt, die wir kennen. Selbst wenn sich die schwärzesten Prognosen bestätigen sollten und die Durchschnittstemperaturen um sechs Grad steigen werden, wird die Menschheit irgendwie zurechtkommen. Das eigentlich Beunruhigende ist nicht der Klimawandel selbst, sondern die Frage, ob nicht die Menschen mit ihren Reaktionen darauf die anderen Reiter der Apokalypse lange vor 2100 von der Leine lassen werden.

Am wahrscheinlichsten könnte das mit dem Hunger geschehen. Die grüne Revolution, mit der die Nahrungsmittelproduktion schneller gesteigert wurde, als die Weltbevölkerung gewachsen ist, war vielleicht die größte Leistung des 20. Jahrhunderts. 2000 sah es sogar so aus, als könnten wir Bösartigkeit und |576|Dummheit von Diktatoren und Warlords eindämmen und damit auch den Hunger besiegen.

Ein Jahrzehnt später ist das wieder unwahrscheinlicher geworden. Vielmehr macht sich, wieder einmal, das Paradox gesellschaftlicher Entwicklung bemerkbar. Mit steigendem Reichtum verfüttern die Bauern immer mehr billiges Getreide an Schlachttiere, damit wir mehr teures Fleisch essen können; außerdem nehmen die Agrarflächen zu, die der Produktion von Biosprit vorbehalten sind, damit wir Auto fahren können, ohne Erdöl zu verbrennen. Das Resultat: Die Preise der Grundnahrungsmittel haben sich zwischen 2006 und 2008 verdoppelt bis verdreifacht, in Afrika und Asien ist es zu Hungeraufständen gekommen. Das zeitliche Zusammentreffen der historisch größten Getreideernte (2,3 Milliarden Tonnen) und der Finanzkrise ließ die Preise 2009 zwar abstürzen, doch mit dem weiteren Anstieg der Weltbevölkerung (um 2050 vermutlichen auf neun Milliarden), so die Experten der UN Food and Agriculture Organization, werden sowohl Preisschwankungen als auch Nahrungsmittelknappheiten zunehmen.

An der Ungerechtigkeit der geographischen Bedingungen wird sich auch im 21. Jahrhundert nichts ändern. Die Erderwärmung wird die Getreideernten in kalten und wohlhabenden Ländern wie Russland oder Kanada steigen lassen, den gegenteiligen Effekt wird sie in den Regionen haben, die der US-Sicherheitsrat als »Bogen der Instabilität«23 zusammenfasst. Er erstreckt sich von Afrika bis nach Asien (siehe Abbildung 12.2). Es sind die ärmsten Völker der Welt, die in diesem Bogen leben, und sinkende Ernten könnten den dritten der apokalyptischen Reiter losstürmen lassen.

Nach Schätzungen des US-Sicherheitsrates wird die Zahl der Menschen, die unter Nahrungs- oder Wassermangel leiden werden, zwischen 2008 und 2025 von 600 Millionen auf 1,4 Milliarden emporschnellen, wobei die meisten dieser Menschen im besagten Bogen leben. Um sich in Sachen apokalyptischer Prognosen nicht übertreffen zu lassen, sagt der britische Stern Report voraus, dass bis 2050 Hunger und Dürren 200 Millionen »Klimaflüchtlinge« in Bewegung setzen werden24 – das wären weltweit fünfmal mehr Menschen als im Jahr 2008.

Viele Bürger in den westlichen Kernländern sehen die Migration schon heute als Bedrohung an, obwohl Wanderbewegungen, seit der Steppenschnellweg vor drei Jahrhunderten unterbrochen wurde, die Entwicklung häufiger ankurbelten, als dass sie sie gefährdet hätten.1* 2006 ergab eine Gallup-Umfrage, dass die Amerikaner die Einwanderung für das nach dem Irakkrieg zweitgrößte Problem des Landes halten.25 Viele Amerikaner meinen, die Gefahr, dass Mexikaner Drogen schmuggeln und ihnen Jobs wegnehmen, überwiege alle Vorteile; viele Europäer empfinden die Gefahren durch vermeintliche islamische Parallelgesellschaften in ihren Ländern als ähnlich bedrohlich. In beiden Regionen behaupten nativistische Lobbyisten, dass die Neubürger schwer zu integrieren seien.

Abbildung 12.2: Der große Durst
Der vom US-Sicherheitsrat so genannte »Bogen der Instabilität« (der sich von Afrika aus durch Asien zieht) im Vergleich zu den Regionen, in denen bis 2025 Wasserknappheit erwartet wird. Die dunkelgrau schattierten Gebiete werden »physische Knappheit« erleben, definiert als Gebiete, die über 75 Prozent des verfügbaren Wassers in Landwirtschaft, Industrie und Haushalten verbrauchen. Mittelgrau angelegte Gebiete bedeuten »annähernd physische Knappheit«; dort werden 60 Prozent des Wassers zu diesen Zwecken verbraucht. Hellgrau sind Gebiete, in denen »ökonomische Knappheit« erwartet wird, hier werden 25 Prozent des Wassers verbraucht. Reiche Länder wie die USA, Australien oder Kanada können Wasser aus feuchten Gebieten in trockene pumpen; arme Länder können das nicht.

|578|Die Erderwärmung droht ab 2020 noch die finstersten Fantasien der Immigrationsgegner wahr zu machen. Einige zehn Millionen hungriger und verzweifelter Menschen könnten aus der muslimischen Welt nach Europa oder aus Mittelamerika in die USA fliehen. Diese Bevölkerungswanderungen könnten alles historisch Dagewesene in den Schatten stellen und die Probleme wieder aufleben lassen, für die früher der Steppenschnellweg stand.

Eines dieser Probleme könnten Krankheiten sein, der vierte der apokalyptischen Reiter. Die Wanderungen durch die Steppe verbreiteten die Pestepidemien des 2. und des 12. Jahrhunderts. Die größte Pandemie des 20. Jahrhunderts, die H1N1-Grippe von 1918, wurde durch die Flut junger Männer unter Waffen von Europa nach Amerika geschleppt. Diese so genannte Spanische Grippe raffte mehr Menschen in einem Jahr dahin – etwa 50 Millionen – als der Schwarze Tod in einem Jahrhundert, zwei- oder dreimal so viele wie AIDS in den letzten 30 Jahren.

Flugreisen haben es noch schwieriger gemacht, Krankheiten einzudämmen. Die früheste in Afrika dokumentierte Infektion mit dem HIV-Virus datiert von 1959, und seit etwa 1980 überschwemmte AIDS vier Kontinente. SARS (Schweres Akutes Atemwegssyndrom) sprang 2003, nachdem sich das Virus einige Wochen lang in Südchina entwickelt hatte, über in 37 Länder. Genetiker haben die DNA dieser Infektionskrankheit in 31 Tagen sequenziert (im Fall von HIV hatte das 15 Jahre gedauert), konzertierte internationale Aktionen konnten sie im Keim ersticken. Als die Epidemiologen die so genannte Schweinegrippe (bekannt als Neues H1N1, um es vom Grippevirus des Jahres 1918 zu unterscheiden) 2009 identifiziert hatten, hatte sich das Virus bereits so weit verbreitet, dass die Epidemie nicht mehr eingedämmt werden konnte.

Wenn die Schweinegrippe oder eine der nicht minder beunruhigenden Stämme der Vogelgrippe sich wie die Asiatische Grippe (H2N2) zu verhalten beginnen, der 1957 ein bis zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen, dann, so schätzt die Weltgesundheitsorganisation, wird eine solche Epidemie zwei bis 7,4 Millionen Menschen das Leben kosten. Sollten sie sich verhalten wie 1918, können ihnen bis zu 200 Millionen Menschen zum Opfer fallen. Die Welt heute ist besser vorbereitet als 1918, doch selbst dann, wenn nur ein Zehntel der Menschen sterben würde, die damals zu Tode kamen, hätte dies einen kurzfristigen ökonomischen Crash zur Folge, gegen den die Finanzkrise von 2008/09 trivial aussähe. Die Weltbank rechnet damit, dass eine Pandemie die Wirtschaftsleistung weltweit um fünf Prozent verringern würde. Noch alarmierender lesen sich einige der »Zehn Punkte, die Sie über eine Grippe-Pandemie wissen sollten«, die die Weltgesundheitsbehörde auf ihre Website gestellt hat:

  • Die Welt könnte sich am Rand einer neuen Pandemie befinden.

  • Alle Länder werden betroffen sein.

  • |579|Die medizinische Versorgung wird nicht ausreichend sein.

  • Es wird sehr viele Tote geben.

  • Die wirtschaftlichen und sozialen Brüche werden groß sein.26

Wie während der apokalyptischen Reiterzüge in der Vergangenheit werden Klimawandel, Hunger, Migration und Krankheiten auch diesmal den fünften Reiter loslassen, den Zusammenbruch der Staaten. Im Bogen der Instabilität liegen einige der Staaten mit den weltweit schwächsten Regimes, und wenn der Druck zunimmt, könnten einige ebenso komplett zusammenbrechen wie jene in Afghanistan oder Somalia – mit der Folge, dass die Nöte der Menschen zunehmen und Terroristen weitere Schlupflöcher finden werden. Und wenn diese Instabilität dann die Kernregionen erreicht, deren Volkswirtschaften von den Ressourcen der Bogenstaaten abhängig sind, könnten wir ins schlimmste aller denkbaren Szenarien schlittern.

Bereits 1943 hat eine US-Gesandtschaft in der Golfregion das Hauptproblem erkannt. Das Öl dort, heißt es in ihrem Bericht, »ist der größte Hauptgewinn der Geschichte«.27 Die reichen Nationen der westlichen Kerngebiete haben ihre Strategien denn auch rasch auf die Ölvorkommen rund um den Persischen Golf abgestellt. Als in den 1950er Jahren die Macht Westeuropas schwand, übernahmen die USA das Zepter. Sie intervenierten verdeckt und offen, unterstützten Verbündete, schadeten feindlichen Staaten – alles, um den Zugang zu den Ressourcen des Bogens zu behalten. Auch die Sowjetunion, die vom Öl der Golfregion weniger abhängig war, mischte kräftig mit, um den Einfluss der USA einzudämmen. Und als sich Russland in den 1990er Jahren zurückzog, sah sich China wegen seines Ölbedarfs (der seit 2000 für 40 Prozent des weltweiten Nachfrageanstiegs verantwortlich ist) gezwungen, ins große Spiel einzusteigen.

Chinas Hunger nach Rohstoffen (Soja, Eisen, Kupfer, Kobalt, Bauholz sowie Erdgas und Öl) lässt erwarten, dass es im Bogen der Instabilität in naher Zukunft permanent zu Konflikten mit westlichen Interessen kommen wird. Chinesische Diplomaten betonen den »friedlichen« Aufstieg ihres Landes (manche mildern dies ab zu »friedlicher Entwicklung«28), seit den 1990er Jahren aber wird der Westen immer nervöser. 2004 etwa verursachte Chinas Nachfrage nach Eisen, was die Zeitungen bald zum »großen Eisenraub«29 machten, Diebe in aller Welt, hieß es, sammelten Abflussgitter ein und schafften sie zum Einschmelzen in den Osten. Allein in Chicago sind angeblich in einem einzigen Monat 150 Gullydeckel verschwunden. Wo sollte das noch enden – heute die Deckel, morgen die ganze Welt? Einer Umfrage von 2005 zufolge hielten 54 Prozent der Amerikaner Chinas Aufstieg für »eine Bedrohung des Weltfriedens«.30 In einer Umfrage von 2007 landete China bei der Frage nach der größten Bedrohung der weltweiten Stabilität auf dem zweiten Platz, direkt hinter dem Iran.31

China erwiderte diese Komplimente mit dem größten Vergnügen. Als 1999 NATO-Jets Belgrad bombardierten, dabei auch die chinesische Botschaft trafen und drei Journalisten töteten, attackierten wütende Massen die US-Botschaft in |580|Beijing mit Steinen und warfen Brandsätze gegen das US-Konsulat in Chengdu. »Menschen empört über verbrecherischen Akt«, titelte China Daily.32 Noch 2004 sprach die Kommunistische Partei hochoffiziell von einer »strategischen Verschwörung feindlicher Kräfte, um China zu verwestlichen und seine Einheit zu untergraben«.33

1914, als Europas Großmächte um die Reste des Osmanischen Reiches auf dem Balkan rangelten, reichte die Pistole eines serbischen Attentäters, um den Ersten Weltkrieg auszulösen. 2008 fand es eine amerikanische Untersuchungskommission »mehr als wahrscheinlich, dass Ende 2013 irgendwo in der Welt eine Massenvernichtungswaffe zu einem terroristischen Angriff eingesetzt wird«.34 Heute, wo die Großmächte im Bogen der Instabilität um die Hinterlassenschaften der europäischen Imperien rangeln, mag man sich gar nicht ausmalen, welches Chaos ein Anschlag von Al-Qaida oder der Hisbollah mit solchen Waffen anrichten würde.

Die Konflikte im Bogen sind bei weitem bedrohlicher als die auf dem Balkan vor einem Jahrhundert, weil sie sich leicht nuklear entladen könnten. Israel hat sich seit etwa 1970 ein großes Waffenarsenal zugelegt, darunter auch (wenngleich jahrzehntelang nicht offiziell bestätigt) Atombomben. 1998 haben sowohl Indien als auch Pakistan Atombomben getestet. Seit 2005 werfen die EU und die USA dem Iran vor, das gleiche Ziel zu verfolgen. Das von vielen Beobachtern vermutete nukleare Potenzial des Iran wird möglicherweise ein halbes Dutzend muslimischer Staaten2* zu eigenen nuklearen Abschreckungsmaßnahmen veranlassen. Allerdings wird Israel dabei nicht tatenlos zusehen. Israelische Kampfflugzeuge haben bereits Atomanlagen im Irak und in Syrien zerstört, neue Angriffe könnten erfolgen, wenn das Waffenprogramm des Iran fortschreitet.

Sollte es im Bogen der Instabilität zu einem Atomkrieg zwischen ihrem engsten Verbündeten und ihrem erbittertsten Feind kommen, könnte keine US-Regierung neutral bleiben. Auch Russland oder China dürften sich in einem solchen Fall nicht einfach still verhalten. Beide Staaten haben Irans nukleare Ambitionen kritisiert, allerdings auch zugelassen, dass sich der Iran um Mitgliedschaft in ihrer Shanghai Cooperation Organization3* beworben hat. Diese lose Vereinigung hat sich vertrauensbildende und friedensfördernde Maßnahmen auf die Fahnen geschrieben, will aber vor allem den amerikanischen Interessen in Zentralasien entgegenwirken.

Ein »Großer Krieg« zwischen Osten und Westen wäre natürlich eine Katastrophe. Für China wäre er selbstmörderisch, denn die USA verfügen über das Zwanzigfache an nuklearen Gefechtsköpfen und gut und gern über das Hundertfache an konventionellen Gefechtsköpfen, denen China noch so gut wie keine Raketenabwehr |581|entgegenzusetzen hat. Ferner können die USA elf Flugzeugträgerkampfgruppen aufbieten – China keine einzige (allerdings hat die Volksrepublik 2009 den ersten Träger auf Kiel legen lassen). Vorerst also ist der waffentechnische Vorsprung der Amerikaner nicht einzuholen. Auch wenn die USA weder in der Lage sind noch ein Interesse daran haben, China zu besetzen, würde doch jedes vorstellbare Kriegsszenario mit einer demütigenden Niederlage für das Reich der Mitte enden, mit dem Sturz der Kommunistischen Partei und vielleicht mit dem Auseinanderbrechen des Landes.

Und dennoch: Ein Sieg in einem solchen Krieg wäre für die USA kaum weniger grauenhaft als für China. Selbst ein auf kleiner Flamme ausgetragener Konflikt würde enorme Kosten verursachen. Beide Seiten stünden dann vor einem finanziellen Desaster. Noch schlimmer wäre ein nuklearer Schlagabtausch, der die nordamerikanische Westküste und weite Teile Chinas in radioaktive Wüsten verwandeln, einige hundert Millionen Menschen töten und die Weltwirtschaft in eine Abwärtsspirale ohne absehbares Ende stürzen würde. Außerdem und noch fataler: Ein chinesisch-amerikanischer Krieg könnte ohne weiteres auch Russland mit einbeziehen, das noch immer über das weltweit größte Nukleararsenal verfügt.4*

Wie immer wir das betrachten: Ein atomarer Weltkrieg wäre Wahnsinn. Zum Glück versichert uns eine Phalanx von Experten, dass in einer globalisierten Welt ein solcher Wahnsinn unmöglich sei. »Keine physische Gewalt kann die Macht des Kreditwesens beiseite schieben«, sagt einer dieser Autoritäten.35 Für einen anderen ist die »internationale Bewegung des Kapitals der größte einzelne Garant des Weltfriedens«36. Und ein dritter fügt hinzu: Ein Krieg würde »die Ausgabe einer so großen Geldsumme und einen so großen Eingriff in die Wirtschaft notwendig machen, dass er von einem totalen Zusammenbruch des Kreditwesens und der Industrie in Europa begleitet sein oder dieser auf ihn folgen würde«37; denn ein Krieg hätte »absolut unberechenbare Ergebnisse: totale Erschöpfung und Verarmung; Industrie und Handel würden ruiniert und die Macht des Kapitals zerstört werden.«38.

Das klingt beruhigend – nur: Diese Experten sprechen nicht über den chinesisch-amerikanischen Krieg irgendwann nach 2010; die Zitate stammen vielmehr aus der Zeit von 1910 bis 1914. Allen Kronzeugen war daran gelegen, die Unmöglichkeit eines Kriegs zwischen den europäischen Großmächten zu demonstrieren. Wir wissen, wie das ausging.

Vielleicht werden uns die Staatsmänner der Welt ein ums andere Mal von einem Abgrund zurückreißen. Vielleicht können wir für eine weitere Generation ein atomares 1914 vermeiden, vielleicht sogar die nächsten 50 Jahre lang. Doch ist die Annahme wirklich realistisch, dass wir Terroristen und Schurkenstaaten dauerhaft daran hindern können, die Bombe in ihren Besitz zu bringen? Können |582|wir jedem politischen Führer zu jedem Zeitpunkt klarmachen, dass ein nuklearer Krieg nie und nimmer die beste Option wäre? Selbst wenn wir die Weitergabe von Atomwaffen halbwegs begrenzen können, wird es um 2060 knapp 20 Atommächte geben – und einige davon im Bogen der Instabilität.

Jahr für Jahr wird, auch wenn wir Armageddon verhindern können, die Bedrohung der apokalyptischen Reiter dennoch weiter wachsen. Der Druck auf die Ressourcen wird größer werden, neue Krankheiten werden sich herausbilden, Atomwaffen werden weitergegeben werden und – die schleichendste dieser Gefahren – extreme Wettereignisse werden unsere Überlegungen in unvorhersehbarer Weise umstoßen. Der Glaube, wir könnten solche Gefahren dauerhaft ausbalancieren, hat etwas Aberwitziges.

Offenbar nähern wir uns einer neuen harten Decke. Als die Römer ihre Entwicklung im 1. Jahrhundert u. Z. der damals undurchdringlichen Grenze entgegentrieben, gab es für sie zwei Möglichkeiten: einen Weg zu finden, um die Decke zu durchstoßen (dann hätte die gesellschaftliche Entwicklung einen weiteren Sprung gemacht), oder ihn eben nicht zu finden (dann hätten die apokalyptischen Reiter sie erwischt). Die Römer sind gescheitert, und damit begann ein 600-jähriger Niedergang, der die Rate der gesellschaftlichen Entwicklung um mehr als ein Drittel nach unten drückte. Im 11. Jahrhundert, als die Song die gleiche harte Decke erreichten, misslang auch ihnen der Durchbruch, und die Rate der gesellschaftlichen Entwicklung im Osten fiel zwischen 1200 und 1400 um fast ein Sechstel.

Wenn wir uns nun im 21. Jahrhundert einem gleichermaßen undurchdringlichen Deckel nähern, stehen auch wir vor den beiden Optionen, allerdings mit verschärften Konsequenzen. Als Römer und Song keine Lösungen fanden, war ihr Niedergang vergleichsweise luxuriös, da er sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte. Dieses Glück werden wir nicht haben. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie sich unsere Zukunft entwickeln könnte, doch die meisten laufen auf ein finsteres Ende hinaus: auf die Schwärze der Weltendämmerung.

Darüber, was Singularität für die Vorherrschaft des Westens bedeuten wird, lässt sich endlos diskutieren, was es mit der Epochendämmerung auf sich hat, zeichnet sich sehr viel klarer ab. 1949 sagte Albert Einstein zu einem Journalisten: »Ich weiß nicht, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen werden wird, aber ich kann Ihnen sagen, womit sie im vierten kämpfen werden: mit Steinen.«39 Nach der Dämmerung wird niemand die Welt regieren, weder Ost noch West.

Das Große Rennen

Das Gespräch mit dem Geist des Vergangenen führt zu einem beunruhigenden Schluss: Das 21. Jahrhundert kann eigentlich nur zu einem Wettlauf werden. Auf der einen Bahn unterwegs ist die Singularität, auf der anderen die Weltendämmerung. Eine wird gewinnen, die andere verlieren. Eine Silbermedaille wird es nicht |583|geben. Entweder werden wir bald (vielleicht schon vor 2050) eine Transformation in Gang setzen, die die industrielle Revolution weit in den Schatten stellen und die meisten unserer aktuellen Probleme in Wohlgefallen auflösen wird; oder wir stolpern in einen Zusammenbruch, wie es bislang keinen gab. Schwer zu sagen, wie irgendein mittlerer Weg funktionieren soll – ein Kompromiss, durch den es allen Menschen ein bißchen besser geht, China schrittweise die Führung übernimmt und alles andere ähnlich weiterläuft wie bisher.

Das aber heißt, dass die nächsten 40 Jahre die bedeutsamsten der Weltgeschichte sein werden.

Was die Welt braucht, um ihrer Dämmerung zu entgehen, ist in erster Linie, alles dafür zu tun, um einen globalen Atomkrieg zu verhindern. Und was die Großmächte dazu beitragen können, ist die Reduktion ihrer Arsenale. Deren völlige Abschaffung könnte paradoxerweise ein größeres Risiko bergen, denn die Erfindung der Atombombe ist nicht rückgängig zu machen, und die bad guys, Terroristen und die Machthaber in Schurkenstaaten, werden Atomwaffensperrverträge in jedem Fall ignorieren. Am stabilsten wird die Situation daher bleiben, wenn die Großmächte über genügend Waffen verfügen, Aggressoren abzuschrecken, diese aber nicht ausreichen, um uns alle auszulöschen.

Die ursprünglichen Atommächte – USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China – haben sich seit den 1980er Jahren in diese Richtung bewegt. Während des Kalten Krieges machte Lewis Fry Richardson – der britische Mathematiker, Pazifist und Meteorologe (der die Wetterforschung aufgab, als ihm klar wurde, wie sehr er damit die Luftwaffe unterstützte) – eine viel zitierte Rechnung auf. Ihr zufolge lag die Wahrscheinlichkeit bei 15 bis 20 Prozent, dass vor 2000 ein Atomkrieg ausbrechen würde. 2008 jedoch konnte der Energiewissenschaftler Vaclav Smil eine deutlich optimistischere Schätzung vorlegen. Er bezifferte die Chance, dass ein Konflikt der Größenordnung des Zweiten Weltkriegs (dem 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen) vor 2050 ausbrechen könnte, mit weniger als einem Prozent.40

Zweithöchste Priorität hat die Aufgabe, das »global weirding« zurückzudrängen, also die Zunahme extremer Witterungsereignisse zu bremsen. Darum steht es nicht sonderlich gut. 1997 versammelten sich die Mächtigen der Welt in Kioto zur Verabschiedung eines Klimaschutzprotokolls. Vereinbart wurde, die Emission von Treibhausgasen bis 2012 um 5,2 Prozent unter den Stand von 1990 zu drücken. Den größten Teil dieser Reduktionen hätten die reichen Staaten des Westens bewerkstelligen müssen, weshalb es die USA – in den 1990er Jahren die weltgrößten Luftverschmutzer – vorzogen, das Protokoll nicht zu ratifizieren. Viele Kritiker hatten, wie ein indischer Delegierter formulierte, den Eindruck, hier empfählen »Leute mit starker Fettleibigkeit anderen, die sich gerade von Auszehrung erholen, eine heftige Diät«41. Doch die amerikanische Regierung blieb stur: Auch Indien und China (das die USA 2006 als größten Luftverschmutzer ablöste) müssten zu Einschnitten bereit sein.

|584|Der politische Wille zu umfassenden Vereinbarungen fehlt offenbar noch immer, wie vor allem der Ende 2009 gescheiterte Weltklimagipfel in Kopenhagen bewiesen hat. Nicholas Stern hat in seinem Report geschätzt, dass die Einführung CO2-armer Technologien, der Schutz der Wälder und die Steigerung der Energieeffizienz – von Maßnahmen also, die in der Lage wären, die CO2-Konzentration bis 2050 auf 450 ppm zu beschränken – etwa eine Billion US-Dollar kosten würden. Das ist viel, aber vergleichsweise unbedeutend, wenn wir die Kosten bedenken, die durch Nichtstun entstünden. Doch aufgrund der durch die Krise von 2007–09 ruinierten Staatsfinanzen schrecken viele Regierungen vor kostspieligen Programmen zur Emissionsreduktion zurück.

Trotz der offenkundigen Unterschiede zwischen Atomkrieg und Klimaerwärmung verweisen beide auf das gleiche Problem. 5000 Jahre lang waren Staaten und Großreiche die effektivsten Organisationsformen. Nun aber haben sie, seit die gesellschaftliche Entwicklung die Bedeutung der geographischen Bedingungen verändert hat, deutlich an Effektivität verloren. Thomas Friedman hat das 1999 sehr hübsch auf den Punkt gebracht: »Wir können die Unterschiede zwischen den beiden Globalisierungsperioden folgendermaßen zusammenfassen: Wenn die erste Globalisierungsrunde [etwa 1870–1914] die Welt von ›Large‹ auf ›Medium‹ schrumpfen ließ, dann läßt die aktuelle Runde [seit 1989] sie auf ›Small‹ zusammenschnurren.«42 Sechs Jahre später war der Schrumpfungsprozess so weit fortgeschritten, dass Friedman eine neue Phase gekommen sah: »Globalisierung 3.0«. »In dieser neuen Phase«, schreibt er, »schrumpft die Welt von einem kleinen zu einem winzigen Gebilde und zugleich wird das Spielfeld eingeebnet«.43

In dieser winzig und flach gewordenen Welt gibt es keinen Platz, etwas zu verstecken. Atomwaffen, Klimawandel, Terrorismus, Migration, Finanzen und Nahrungsmittel – all das sind globale Probleme, die globale Lösungen fordern. Staaten, die nur in ihren eigenen Grenzen über Souveränität verfügen, können sie nicht wirkungsvoll angehen.

Noch unter dem Eindruck der beiden Atombomben, die Hiroshima und Nagasaki in Schutt und Asche gelegt hatten, verwies Einstein im Gespräch mit einem Journalisten der New York Times auf die offenkundige Lösung: »Die einzige Rettung der Zivilisation und der menschlichen Gattung liegt in der Schaffung einer Weltregierung.« Natürlich mokierte man sich über den weltfremden Wissenschaftler, darum legte er nach: »Wenn die Idee einer Weltregierung nicht realistisch ist, dann gibt es nur eine realistische Aussicht für unsere Zukunft: die völlige Vernichtung der Menschen durch Menschen.«44

Blickt man zurück auf die letzten 15 000 Jahre, dann hat Einstein die Richtung der geschichtlichen Entwicklung offenbar korrekt beurteilt. Von der Steinzeit bis zu den frühen Staaten wie Uruk und dem der Shang, von frühen Reichen wie Assyrien und das der Qin bis zum weltumspannenden Britischen Imperium gab es einen Trend zu immer größeren politischen Einheiten. Das logische Resultat scheint der Aufstieg eines weltumspannenden amerikanischen Imperiums zu Beginn |585|des 21. Jahrhunderts zu sein – oder, wenn das ökonomische Pendel gegen den Westen ausschlägt, ein weltumspannend-chinesisches Imperium Mitte oder Ende dieses Jahrhunderts.

Ein Problem allerdings steckt in dieser Logik. Größere politische Einheiten sind bislang stets durch Kriege entstanden – und das soll die von Einstein geforderte Weltregierung ja gerade verhindern. Wenn es tatsächlich nur einer Weltregierung möglich sein sollte, einen künftigen Atomkrieg zu verhindern, und wenn die einzige Möglichkeit, eine Weltregierung entstehen zu lassen, in einem chinesischamerikanischen Krieg liegen sollte, dann stünden die Chancen schlecht.

Glücklicherweise trifft keine dieser Voraussetzungen wirklich zu. Seit 1945 haben nicht- und suprastaatliche Organisationen mehr und mehr Funktionen übernommen. Das reicht von karitativen Initiativen und NGOs über multinationale Unternehmen bis zu internationalen Organisationen wie der Europäischen Union, den Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation, die in staatliche Hoheitsrechte eingreifen. Natürlich bleiben die einzelnen Staaten die Garanten der Sicherheit (die UNO hat sich, was die Verhinderung von Kriegen angeht, als kaum effektiver erwiesen denn der Völkerbund) und der Finanzen (2008/09 mussten etliche Regierungen durch staatliche Firmenübernahmen den Kapitalismus retten). Darum werden sie in absehbarer Zeit auch nicht verschwinden. Der einzige Weg aber, die Weltendämmerung für weitere 40 Jahre zu verhindern, besteht wohl darin, die Staaten unter teilweisem Verzicht auf ihre überkommene Souveränität noch stärker in überstaatliche Organisationen einzubinden. Schwierig genug – und selbst das ist nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dafür, dass die Singularität das Rennen gewinnt.

Wir müssen zunächst die politische Geographie neu ordnen, um Platz zu schaffen für globale Institutionen, die in der Lage sind, die Kriegsgefahr zu bannen und den Klimawandel zu bremsen. Und wir müssen ferner die Zeit nutzen und die Energieausbeute ein weiteres Mal revolutionieren. Nur so versetzen wir uns in die Lage, die von den fossilen Energieträgern vorgegebene Grenze zu durchbrechen. Wenn wir weiterhin so viel Öl und Kohle verbrennen wie im 20. Jahrhundert, erwischt uns die Weltendämmerung vielleicht noch, bevor die Kohlenwasserstoffe verbraucht sind.

Einige Umweltschützer empfehlen ein anderes Vorgehen. Sie plädieren für die Rückkehr zu einfacheren Lebensweisen, um den Energieverbrauch zu senken und dadurch die Erderwärmung zu stoppen. Doch ist zweifelhaft, ob und wie das gelingen kann. Die Weltbevölkerung wird wahrscheinlich bis 2050 um weitere drei Milliarden Menschen auf ihr Maximum wachsen und entsprechend mehr Energie verbrauchen. David Douglas, als Vizepräsident von Sun Microsystems für eine nachhaltige Unternehmenspolitik verantwortlich, hat vorgerechnet, dass allein, wenn jeder dieser zusätzlichen Menschen nur eine herkömmliche 60-Watt-Birne besitzt und diese bloß täglich vier Stunden lang nutzt, weltweit weitere 20 oder mehr 500-Mega-Watt-Kraftwerke ans Netz gehen müssen.45 Und die Internationale |586|Energieagentur (IEA) veranschlagt einen Anstieg des Erdölbedarfs von täglich 86 Millionen Barrel im Jahr 2007 auf 116 Millionen im Jahr 2030 – und dann wären noch immer 1,4 Milliarden Menschen ohne Strom.

Die Zahl der Armen auf der Welt wird sich vervielfachen, aber auch in bestimmten Regionen und für die Angehörigen bestimmter sozialer Schichten wird der Wohlstand zunehmen – und dieser Doppelschlag wird verhindern, dass die Energieausbeute in den nächsten 50 Jahren sinken wird. Setzen wir weniger Energie zur Herstellung von Düngemitteln und zum Transport von Lebensmitteln ein, werden Hunderte von Millionen Armen verhungern. Dann wird vermutlich die Weltendämmerung noch schneller über uns hereinbrechen als alles andere. Doch wenn die Menschen nicht Hungers sterben, werden sie mehr und mehr Energie verlangen. Allein in China kommen jeden Tag 14 000 neue Kraftwagen auf die Straße. 400 Millionen Menschen (mehr als die Gesamtbevölkerung der USA) werden zwischen 2000 und 2030 ihre niederenergetischen Äcker und Höfe verlassen und in die Städte mit ihrem hohen Energiebedarf ziehen. Und die Zahl der Reisenden, die für ihre Ferien mit Düsenjets nach Übersee fliegen und dort in Hotels leben, wird von 34 Millionen im Jahr 2006 auf 115 Millionen im Jahr 2020 steigen.

Nichts spricht dafür, dass wir unsere Energieaufnahme reduzieren werden, bevor uns eine Katastrophe dazu zwingt – was bedeutet, dass wir dem Ausverkauf der Ressourcen, der Vergiftung des Planeten oder beidem nur dann entkommen, wenn wir saubere, also erneuerbare Energiequellen anzapfen.

Atomenergie wird wohl oder übel ein großer Teil davon sein. Die Furcht vor radioaktiver Strahlung hat den Atomprogrammen seit etwa 1970 Fesseln angelegt; vielleicht wird diese Furcht vergehen, wenn das neue Jahrhundert auch auf neue Gedanken kommt. Gewiss wird auch die Sonnenenergie größere Bedeutung erlangen: Nur die Hälfte eines Billionstels der Energie, die die Sonne ausstrahlt, gelangt zur Erde, und davon wiederum wird rund ein Drittel zurück ins All reflektiert. Und doch erreicht uns jede Stunde genügend Sonnenenergie, um den aktuellen Energiebedarf der Menschheit für ein Jahr komplett zu decken – wenn wir diese Energie denn effektiv nutzbar machen könnten. Vielleicht könnten auch mit Hilfe der Nanotechnologie und der Genetik völlig neue Energiequellen geschaffen werden. Das mag noch nach Science-Fiction klingen, und es wird gewaltiger technischer Anstrengungen bedürfen, um ein Zeitalter ausreichend verfügbarer sauberer Energien herbeizuführen. Doch wenn uns solche Sprünge nicht – und vor allem: bald – gelingen, wird die Weltendämmerung das Rennen machen.

Damit wir die Singularität erreichen, müssen wir die Hunde des Krieges an der Leine halten, die Klimasprünge meistern und eine Energierevolution durchziehen. Und das alles muss gleichermaßen klappen. Um die Weltendämmerung gewinnen zu lassen, reicht es aus, dass die Beherrschung nur eines Faktors misslingt. Die Chancen stehen nicht gut.

|587|Was uns erwartet

Einige Wissenschaftler glauben bereits zu wissen, wer das Rennen macht. Die Antwort, sagen sie, stehe in den Sternen. Irgendwann um 1950 (keiner erinnert sich an den genauen Tag) trafen sich der Physiker Enrico Fermi und drei seiner Kollegen zum Mittagessen im Los Alamos National Laboratory in New Mexico. Nachdem sie sich über eine Karikatur des New Yorker amüsiert hatten, die eine fliegende Untertasse zeigte, gingen sie zu konventionelleren wissenschaftlichen Themen über. Plötzlich platzte Fermi heraus: »Aber wo sind sie?«46

Fermis Kollegen brauchten ein, zwei Augenblicke, bis ihnen klar war, dass er noch immer an die Besucher von fremden Sternen dachte. Während des Essens waren ihm ein paar Überlegungen durch den Kopf gegangen. Selbst dann, wenn nur ein verschwindend kleiner Teil der 250 Milliarden Sterne unserer Galaxis Planeten hätte, auf denen die Entstehung von Leben möglich wäre1*, müsste das All doch voll sein mit Außerirdischen. Die Erde ist – bezogen auf das Alter der Galaxis – relativ jung, weniger als fünf Milliarden Jahre alt, also könnten manche dieser Wesen einen sehr viel älteren Stammbaum haben und sehr viel weiter entwickelt sein als wir. Selbst wenn ihre Raumschiffe so langsam wären wie unsere, hätten sie höchstens 50 Millionen Jahre gebraucht, um das ganze Milchstraßensystem zu erkunden. Also, wo sind sie? Warum haben sie keinen Kontakt mit uns aufgenommen?

1967 präsentierten die Astronomen Josef Schklowski und Carl Sagan eine ernüchternde Lösung für das Fermi-Paradoxon. Wenn auch nur jeder 250 000. Stern von einem bewohnbaren Planeten umkreist wird, dann, so berechneten sie, gäbe es in der Milchstraße potenziell eine Million extraterrestrische Zivilisationen. Die Tatsache, dass wir keinerlei Spuren von ihnen haben2*, könne, so die beiden Astronomen, nur bedeuten, dass fortgeschrittene Zivilisationen sich stets selbst zerstörten. Und zwar müsse das jeweils innerhalb von 100 Jahren nach der Erfindung von Atomwaffen geschehen, andernfalls nämlich hätten die Außerirdischen genügend Zeit gehabt, den Kosmos mit Signalen zu füllen, die wir auffangen könnten.

Wenn wir dieses Argument auf unseren eigenen Planeten anwenden, dann spräche alles für eine Weltendämmerung im Jahr 2045, dem 100. Jahrestag der Bomben über Hiroshima und Nagasaki. (Es ist irgendwie verstörend, dass Kurzweil ausgerechnet für 2045 auch das Erreichen der Singularität prognostiziert hat.)

|588|Trösten wir uns mit dem Gedanken, dass die Antwort, wie das Große Rennen ausgehen wird, nicht in den Sternen steht, sondern in unserer Geschichte liegt. Selbst wenn die Geschichtswissenschaft uns nicht die präzisen Mittel der Voraussage an die Hand gibt, die Isaac Asimov in der Foundation-Trilogie imaginiert hat, so versieht sie uns doch mit einigen verlässlichen Hinweisen. Und ich halte diese Hinweise für das einzige wirkliche Fundament, um vorauszuschauen.

Kurzfristig betrachtet, legen die Muster, die sich in der Vergangenheit herauskristallisiert haben, nahe, dass der Wechsel von Macht und Wohlstand von Westen nach Osten unausweichlich ist. Wahrscheinlich um 2030, so gut wie sicher um 2040 wird Chinas Bruttoinlandsprodukt das der USA übertreffen. Irgendwann im Verlauf dieses Jahrhunderts wird China die Vorteile der Rückständigkeit aufgezehrt haben, doch auch dann wird das Weltzentrum der wirtschaftlichen Schwerkraft im Osten verbleiben und nun auch Süd- und Südostasien mit umfassen.

Noch indes hat der alte westliche Kern einen gewaltigen Vorsprung an Energieausbeute pro Kopf, Technik und militärischer Macht. Während der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wird daher der Westen seine Vorherrschaft in irgendeiner Form ganz sicher bewahren. Solange die USA stark genug sind, den Weltpolizisten zu spielen, werden größere Kriege eher unwahrscheinlich sein. Doch irgendwann ab 2025 oder 2050 wird Amerikas Vorsprung vor dem Rest der Welt schrumpfen, und damit werden sich die Instabilitäten vergrößern und die Risiken steigen: sowohl das Risiko eines neuen Weltkriegs als auch das eines atomaren Überfalls von ein paar durchgeknallten bad guys.

Hoffen wir auf die Weisheit der Staatenlenker und politisch-militärischen Strategen, die erforderlich sein wird, um im konfusen 21. Jahrhundert den Frieden zu bewahren und damit zumindest die Option auf die Singularität offen zu halten. Ich habe das ganze Buch hindurch den Gedanken vertreten, dass große Männer oder Frauen ebensowenig wie große Stümper und Idioten die entscheidende Rolle gespielt haben, die zu spielen sie glaubten. Sie haben den Lauf der Geschichte kaum geändert, sie haben allenfalls die Prozesse beschleunigen oder bremsen können, die dem Geschichtsverlauf als Muster zugrunde liegen. Seit 1945 jedoch ist das anders. Jetzt haben die politischen Führer die reale Möglichkeit, tief in die Geschichte einzugreifen. Chruschtschow und Kennedy waren dem 1962 sehr nahe. Atomwaffen lassen keinen Raum mehr für Irrtum und Fehlentscheidung, es gibt keine zweite Chance. Ein falsches Kommando kann heute das Ende der Welt bewirken. Das erste Mal in der Geschichte kommt es wirklich auf die Führung an. Wir können nur hoffen, dass unser Zeitalter, wie die meisten zuvor auch, die Gedanken entwickelt, die es braucht.

Und langfristig?

In langfristiger Perspektive scheint mir nur eine Voraussage verlässlich zu sein: Weder die Weltendämmerung noch die Singularität wird das Große Rennen gewinnen – einfach weil es keine Ziellinie gibt. Wenn wir 2045 erreichen (der von |589|Kurzweil angenommene Zeitpunkt für das Eintreten der Singularität, zugleich, nach Schklowski und Sagan, der späteste Eintritt der Weltendämmerung), werden wir weder das Ende der Geschichte noch einen Sieger zu verkünden haben. Ich gehe davon aus, dass es uns Mitte dieses Jahrhunderts noch immer gelingt, die Gefahr einer Weltendämmerung zu bannen, und dass die gesellschaftliche Entwicklung über die 2000-Punkte-Marke schießt. In diesem Fall wird die Singularität das Große Rennen weniger beenden als vielmehr unterwegs dessen Wettkampfregeln verändern – indem sie vor allem die Gattung Mensch verändern wird.

In einem äonenübergreifenden Blickwinkel stellt es sich so dar, dass die Bedrohungen, die uns heute in Schrecken versetzen, eine Menge gemeinsam haben mit den Kräften, die in früheren Zeiten wiederholt die Evolution beschleunigt haben. Immer wieder haben einigermaßen plötzliche Umweltveränderungen zu Bedingungen geführt, unter denen sich neue Mutationen besser durchsetzen konnten. Vor etwa 1,8 Millionen Jahren hat es das Austrocknen ostafrikanischer Wälder den Freaks mit den größeren Gehirnen erlaubt, besser zurechtzukommen als Homo habilis. Und vor rund 100 000 Jahren hat wahrscheinlich gerade eine besonders harte Phase der Eiszeit Homo sapiens die Chance verschafft, sich zu bewähren. Und nun, im 21. Jahrhundert, könnte sich etwas Ähnliches ereignen.

Eine massenhafte Auslöschung findet bereits statt. Etwa alle 20 Minuten verschwindet eine Pflanzen- oder Landtierart. Eine 2004 vorgelegte Studie geht davon aus, dass im besten Fall bis 2050 etwa neun Prozent der weltweit zehn Millionen Pflanzen- und Landtierarten ausgestorben sein werden. Manche Biologen erwarten für denselben Zeitraum eine Schrumpfung der Biodiversität um ein Drittel bis gar um die Hälfte. Mittlerweile ist sogar die Rede von einem sechsten Massenaussterben3*, das bis 2100 zwei Drittel der Arten ausgelöscht haben wird. Eine dieser Arten könnten die Menschen selbst sein. Was aber, wenn die harten Lebensbedingungen des späteren 21. Jahrhunderts unsere Gattung nicht einfach auslöschen, sondern – wie die Perioden vor 1,8 Millionen oder vor 100 000 Jahren – eher neue Mutationen begünstigen würden? Wenn also der alte Homo sapiens in einer neuen Art mit größeren und schnelleren Gehirnen aufginge? Mit Gehirnen, in denen Neuronen und Chips auf jetzt noch ungeahnte Weise verschmolzen wären? Statt uns niederzutrampeln könnten uns die Hufschläge der apokalyptischen Reiter dazu antreiben, aus unseren Trippelschritten Richtung Singularität einen großen Sprung zu machen.

Die Singularität könnte jedoch eine ebensolche Gruselgeschichte werden wie die Weltendämmerung. Kurzweils Vision einer Verschmelzung von Menschen und Computern könnte ihrerseits nur eine Zwischenphase sein, bevor das, was |590|wir herablassend »künstliche« Intelligenz nennen, Homo sapiens so gründlich ersetzt, wie dieser vor Zeiten alle anderen Affenmenschen ersetzt hat. Eine sich selbst vervollkommnende Singularität wäre das Ende der Biologie, wie wir sie kennen – damit auch das Ende von Faulheit, Angst und Gier als Motoren der Geschichte. Sie erinnern sich an mein Morris-Theorem, dass aller Wandel von faulen, gierigen und furchtsamen Menschen bewirkt wird, die (ohne wirklich zu wissen, was sie tun) nach leichteren, profitableren und sichereren Methoden suchen, ihre Angelegenheiten zu regeln? Das wäre dann ein für allemal erledigt.

Nicht nur die künftigen Biologen, sondern auch ihre Kollegen aus der Soziologie und der Geographie (sofern es diese akademischen Fächer dann noch gibt) dürften dann ziemlich irritiert aus der Wäsche schauen. Denn nach welchen Regeln eine robotergesteuerte Gesellschaft funktioniert, können wir heute nur raten; und natürlich wird die Singularität die alte politökonomische Geographie auslöschen. Die uralten Unterscheidungen zwischen Osten und Westen werden Robotern völlig gleichgültig sein.

Wenn Historiker (deren künftiges Geschick ebenso ungewiss ist wie das der Vertreter anderer Disziplinen) im Jahr 2103 zurückblicken auf den Übergang von kohlenstoff- zu silikonbasierter Intelligenz, mag ihnen dieser Übergang als unabdingbar erscheinen – als so unabdingbar, wie es in meiner Perspektive die früheren Übergänge von der Wildbeuterei zum Ackerbau, vom Dorf- zum Stadtleben, von der Landwirtschaft zur Industrie gewesen sind. Als ebenso offenkundig mag sich möglicherweise im Nachhinein erweisen, dass die jeweiligen Traditionen, die sich seit Ende der Eiszeit in den ursprünglichen Entwicklungskernen sukzessive herausbildeten, zwangsläufig zu einer einzigen posthumanen Weltzivilisation verschmolzen sind. Darum könnte die Ängstlichkeit, mit der zu Anfang des 21. Jahrhunderts nach der Vorherrschaft des Westens und ihrer Dauer gefragt worden ist, ein wenig lächerlich anmuten.

»Und sie kommen niemals zusammen …«

Das Ganze ist nicht ohne eine gewisse Ironie. Ich habe dieses Buch begonnen mit einer kleinen »Was wäre wenn«-Geschichte über das Reich der Mitte, das den englischen Prinzgemahl 1848 als Geisel nach Beijing schleppt; habe dann elf Kapitel lang erklärt, warum das nicht hat geschehen können. Die Antwort auf die Leitfrage dieses Buchs, habe ich gesagt, sei die Geographie. Es waren Karten, nicht Kerle, die dafür gesorgt haben, dass der kleine Hund Looty nach Balmoral verfrachtet wurde und nicht Albert nach Beijing.

In diesem letzten Kapitel habe ich behauptet, dass eine Erklärung der Vorherrschaft des Westens auch erkennen lässt, was demnächst geschehen wird. So sicher es die Geographie war, die vorschrieb, dass der Westen die Welt regierte, so sicher diktiert sie auch, dass der Osten die Vorteile der Rückständigkeit so lange ausnutzen |591|wird, bis er mit seiner gesellschaftlichen Entwicklung den Westen überholt. Doch jetzt ändern sich die Spielregeln. Stets hat die steigende gesellschaftliche Entwicklung die Bedeutung der geographischen Bedingungen verändert, im 21. Jahrhundert aber wird diese Entwicklung ein so hohes Niveau erreichen, dass die Geographie alle Bedeutung verliert. Das Einzige, was nun noch zählt, ist das Große Rennen zwischen Singularität und Weltendämmerung. Um die Gefahr letzterer zu bannen, werden wir unsere Angelegenheiten zunehmend globalisieren müssen, und darüber wird die Frage, welcher Teil der Welt die höchste gesellschaftliche Entwicklung aufweist, immer mehr an Bedeutung verlieren.

Darin steckt eine neuerliche Ironie. Die Antwort auf die erste Frage dieses Buches – Warum regiert der Westen die Welt? – beantwortet zum großen Teil auch bereits die zweite Frage: Wie wird es weitergehen? Denkt man die Antwort auf die zweite Frage aber zu Ende, dann verliert die erste immer mehr an Bedeutung. Wer genau hinschaut, um herauszufinden, was nun geschehen wird, dem öffnet sich der Blick für das, was von jeher hätte selbstverständlich sein sollen: Die Geschichte, auf die es wirklich ankommt, ist nicht die des Westens, nicht die des Ostens, auch nicht die einer anderen Unterabteilung der Menschheit. Die bedeutsame Geschichte ist global, ist eine der Evolution. Sie erzählt uns, wie wir vom Leben als Einzeller zur Singularität gelangt sind.

Ich habe durch das ganze Buch hindurch gezeigt, dass und warum weder Theorien langfristiger Determination noch solche kurzfristig wirksamer, zufälliger Ereignisse den Geschichtsverlauf besonders gut zu erklären vermögen. Doch auch hier möchte ich jetzt einen Schritt weitergehen. Auf wirklich lange Sicht, auf der Zeitleiste der Evolutionsgeschichte, kommt es auf die eine der beiden Theorien sowenig an wie auf die andere. Vor 15 000 Jahren, vor dem Ende der Eiszeit, bedeuteten Osten und Westen wenig. In einem Jahrhundert werden sie wiederum wenig bedeuten. Und die Bedeutung, die sie in der Zeit dazwischen erlangten, war nur ein Nebeneffekt der Bedeutung der geographischen Bedingungen. Wenn die gesellschaftliche Entwicklung von den sechs Indexpunkten, die die frühen Ackerbauern erwirtschaftet haben, durch die ersten postbiologischen Mensch-Maschine-Wesen auf die 5000-Punkte-Marke hinaufgeschossen sein wird – also wohl irgendwann zwischen 2045 und 2103 –, dann wird die Geographie keine große Rolle mehr spielen. Osten und Westen stehen dann für eine Phase, die wir überwunden haben werden.

Selbst wenn in dem ungleich kürzeren Zeitabschnitt der Neuzeit alles, was man sich vorstellen kann, anders verlaufen wäre – wenn zum Beispiel Zheng He tatsächlich Tenochtitlán eingenommen, wenn sich ein pazifisches und kein atlantisches Wirtschaftssystem entwickelt, wenn es eine chinesische und keine englische industrielle Revolution gegeben hätte, wenn schließlich Albert nach Beijing geraten wäre und nicht Looty nach Balmoral –, selbst dann hätten die tieferen, in Biologie, Soziologie und Geographie verankerten Triebkräfte die Geschichte in ungefähr die gleiche Richtung getrieben. Amerika (oder Zhengland, wie es dann |592|vielleicht heute hieße) wäre zum Teil des östlichen und nicht des westlichen Entwicklungskerns geworden, und dann wäre es jetzt der Westen, der zum Überholmanöver auf den Osten ansetzt. In jedem Fall aber wäre die Welt von »Large« über »Medium« auf »Small« geschrumpft und würde weiter schrumpfen auf »Tiny«. Der Beginn des 21. Jahrhunderts wäre auch dann von Chimerica dominiert worden, und das Rennen zwischen Weltendämmerung und Singularität hätte ebenso begonnen. Am Ende hätten Ost und West wiederum ihre Bedeutung verloren.

Diese Aussicht sollte uns nicht weiter schockieren. Bereits 1889, als die Welt dabei war, von »Large« auf »Medium« zu schrumpfen, konnte ein junger Dichter namens Rudyard Kipling ein Stück dieser Wahrheit erkennen. Kurz zuvor von weit entfernten Frontlinien nach London zurückgekehrt, gelang Kipling der Durchbruch mit einer spannenden Geschichte imperialer Verwegenheit unter dem Titel Die Ballade von Ost und West1*. Erzählt wird die Geschichte von Kamal, einem Räuber im Grenzgebiet, der einem britischen Obersten die Stute stiehlt. Dessen Sohn, selbst Offizier, springt aufs eigene Pferd und setzt Kamal nach, eine episch ausgebreitete Jagd durch die Wüste beginnt. Schließlich aber stürzt der Engländer, Kamal reitet zurück, mit erhobener Flinte. Doch alles wird gut, die beiden Männer stellen fest, dass sie einander vertrauen können.

Es sind vor allem die ersten Zeilen – »Ost ist Ost und West ist West, und sie kommen niemals zusammen« –, die alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und oft als Beispiel für die unerträgliche Selbstzufriedenheit des Westens im 19. Jahrhundert zitiert werden. Dabei war es Kipling selbst darum überhaupt nicht zu tun, wie der vollständige Balladenanfang belegt:

 

Oh, East is East, and West is West, and never the twain shall meet,

Till Earth and Sky stand presently at God’s great Judgment Seat;

But there is neither East nor West, Border, nor Breed, nor Birth,

When two strong men stand face to face,

tho’ they come from the ends of the earth!

(Ah, Ost ist Ost und West ist West, und sie kommen niemals zusammen,

bis Erde und Himmel bald vor Gottes großem Richterstuhl stehen;

doch gibt es weder Ost noch West noch Grenze, Erziehung, Geburt,

wenn sich zwei starke Männer gegenüberstehen,

kämen sie auch von den Enden der Welt!)47

 

Nach Kiplings Ansicht sind Menschen (nun ja, zumindest richtige Männer) überall ziemlich gleich. Für ihn ist es die Geographie gewesen, die diese Wahrheit verschleiert hat. Wegen der großen Entfernungen, die ihn und seine Landsleute von den »Fremden« getrennt haben, mussten sie bis ans Ende der Welt reisen, um diese Wahrheit herauszufinden. Im 21. Jahrhundert aber werden solche Reisen mit der rasanten gesellschaftlichen Entwicklung und der schrumpfenden Welt überflüssig |593|werden. Wenn wir die biologischen Begrenztheiten überwunden haben werden, wird es weder Ost und West noch Grenzen und Rasse und Herkunft geben. »Und sie kommen doch zusammen« – sofern es uns gelingt, die Weltendämmerung lange genug hinauszuzögern.

Wird uns das gelingen? Ich denke, ja. Der große Unterschied zwischen den Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, und jenen, an denen vor 1000 Jahren Song-China und vor weiteren 1000 Jahren das Römische Reich scheiterten, als ihre Entwicklung jeweils gegen eine undurchdringliche Decke stieß, liegt darin, dass wir sehr viel besser Bescheid wissen über die Probleme, um die es dabei geht. Anders als bei den Römern und Song-Chinesen könnte unsere Epoche tatsächlich das Denken entwickeln, das sie braucht.

Auf den letzten Seiten seines Buches Kollaps schreibt der Biologe und Geograph Jared Diamond, es gebe zwei Kräfte, die die Welt vor der Katastrophe retten könnten: die Archäologen und das Fernsehen. Erstere, weil sie die Fehler vergangener Gesellschaften detailliert aufdecken; letzteres, weil es diese Ergebnisse allgemein bekannt macht.48 Als Archäologe, der ziemlich viel fernsieht, kann ich dem nur beipflichten. Doch einen dritten Retter möchte ich noch hinzufügen: die Geschichte. Nur Historiker können die große Erzählung gesellschaftlicher Entwicklung im Zusammenhang darstellen; nur sie können die Unterschiede erklären, die die Menschen voneinander trennen; nur sie können uns lehren, wie wir verhindern, dass diese Unterschiede uns zerstören.

Dieses Buch, so hoffe ich, hat ein wenig dazu beigetragen.

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
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