Nachtwache, nicht von Rembrandt


Israel ist das einzige Land, in dem die von der Arbeit heimkehrenden Männer nach Erledigung ihrer Haushaltspflichten wieder weggehen, weil sie - einschließlich Opa - im Rahmen der zivilen Landesverteidigung ihren Wachtdienst versehen müssen, auf freiwilliger Basis, bei Nacht, und was das Schlimmste ist: paarweise. 

Am Anfang war ein Rundschreiben, gezeichnet von Dr. Wechsler und folgenden Inhalts:

»Alle Männer in unserem Häuserblock haben sich bereits freiwillig gemeldet. Was ist mit Ihnen?« 

Dann kam das gleiche Zirkular noch einmal. 

Dann kam die beste Ehefrau von allen: 

»Was werden die Nachbarn sagen? Du mußt dich zum freiwilligen Zivilschutz melden.« 

Ich rief Wechsler an.

»Hallo«, sagte ich. »Wegen dieser Sache mit dem -« 

»Sie sind heute um drei Uhr dran«, antwortete Wechsler. 

»Um drei Uhr nachts. Oder um drei Uhr früh. Ganz wie Sie wollen. Um drei.«

Meine Vereidigungszeremonie verlief äußerst feierlich. Als ich im Hauptquartier ankam - es war im Werkzeugschuppen unserer Volksschule untergebracht -, fand ich auf dem Tisch ein beinahe neues Notizbuch sowie zwei Flinten aus der Zeit der Französischen Revolution; daneben, zusammengekauert vor sich hin dösend, einen Zivilschützer, der soeben seine Wache beendet hatte. Er übergab mir das Kommando und murmelte mit schlaftrunkener Stimme: 

»Immer um den Häuserblock herumgehen... und wenn du fertig bist, laß alles auf dem Tisch liegen... gute Nacht...«

Hierauf stieß er zwei undeutliche Flüche aus, den einen gegen Arafat, den anderen gegen unsere Regierung, und döste weiter.

Die Sache war die, daß unsere Dienstzeiten viel zu lange dauerten, nämlich vier volle Stunden. Und das taten sie deshalb, weil sich außer mir noch niemand freiwillig gemeldet hatte. Ich fragte nach Wechsler und erfuhr, daß er schlief. In seinem Bett. Er hätte das Intervall von 3 bis 7 übernehmen sollen, aber er schlief, und jetzt fiel es mir zu, gemeinsam mit Isachar. Damit händigte mir Kamerad Halbschlaf die Flinte ein. »Sie hat zwei Magazine«, grunzte er. »Der Ingenieur auf Nummer 8 weiß, wie man das Zeug bedient, der Lange mit der Glatze, laß mich schlafen.«

Kurz darauf erschien Isachar. Ich warf noch rasch einen Blick in das Logbuch. Die letzte Eintragung lautete: »Stellte um 01.35 einen Verdächtigen. Er behauptete, auf Nummer 14 zu wohnen. Wurde nachgeprüft. Wohnt auf Nummer 14. Das ist alles, glaube ich. Schluß.«

Wir begannen unsere Wache. Isachar hatte seine Französische Revolution geschultert, ich trug die meine in der Hand. Sie besaß einen kräftig ausladenden Kolben, und wer damit eins über den Kopf bekam, war nicht zu beneiden.

»Gehen wir ein wenig«, schlug Isachar vor. »Es regnet nicht.«

Wir fielen in Marschtritt, um militärischer zu wirken. Die Patronen in meiner Tasche zogen meine Hosen hinab und ließen meine Moral steigen. Achtung, hier kommen wir, links-rechts, links-rechts, schlaft ruhig, Nachbarn, wir schützen euch.

Das einzige, was meine patriotische Hochstimmung ein wenig trübte, war die Monotonie des Unternehmens. Die trostlose Eintönigkeit. Wie lange kann man denn als erwachsener Mensch um einen Häuserblock herummarschieren, herum und wieder herum, und wenn's vorbei ist, nochmals herum?

»Dauert's noch lange?« fragte ich nach einer Stunde meinen Waffengefährten. Er warf einen Blick auf die Uhr.

»Noch drei Stunden und vierundfünfzig Minuten.«

Wir waren also erst sechs Minuten auf Wache. Merkwürdig. Ich hatte den Eindruck, daß wir uns schon dem Ende näherten. So kann man sich täuschen. 

Isachar teilte mir mit, daß er um sechs Uhr aufstehen müsse. Eine dringende Arbeit in Sichron. Er ist in der chemischen Isolierungsbranche tätig. Das heißt, er stopft Mauerlöcher, damit's nicht hineinregnet. 

»Es gibt jetzt eine Menge neuer Präparate«, belehrte er mich. »Wir verwenden keinen Kitt mehr, sondern eine großartige neue Flüssigkeit. Polygum. Auf Polyesterbasis. Wirklich hervorragend. Klebt nicht an der Kelle und trocknet in zwei Tagen. Wenn's nicht regnet.«

Ich hing an seinen Lippen und warf von Zeit zu Zeit eine fachmännische Frage dazwischen, zum Beispiel über die Widerstandskraft von Polybumsti oder wie das heißt. Man kann ja nicht stundenlang mit einem Menschen umhermarschieren, ohne ein Wort zu äußern.

»Es stimmt, die Belgier haben ein Isolationsmaterial auf den Markt gebracht, das keine Luftblasen macht«, gestand Isachar. »Aber das taugt meiner Meinung nach nur für undicht gewordene Grundmauern, die keiner direkten Feuchtigkeit ausgesetzt sind. Wenn's um große, luftige Räumlichkeiten geht, käme es für mich nicht in Frage. Nicht für mich!«

Es war ihm anzusehen, daß man ihm ein Vermögen bieten könnte - und er würde dieses belgische Zeug nicht anrühren. Er ist ein Fachmann, er muß auf seinen Ruf bedacht sein, er ist ein Fels in der Isolierbrandung. Glücklich der Mann, den Isachar isoliert! Was mich betrifft, so wurde ich mit der Zeit ein wenig nervös. Ich interessiere mich sehr für alles Chemische, aber nicht die ganze Nacht hindurch. Verstohlen blickte ich nach meiner Uhr: 40 Minuten vergangen. Also noch 3 Stunden und 20 Minuten gründlicher Isolierung.

»Dubcek« - ich versuchte dem Gespräch eine scharfe Wendung zu geben - »Dubcek wollte protestieren, als die Russen damals in die Tschechoslowakei einmarschierten, du erinnerst dich...«

Mir schwebte ein Themawechsel zum Politisch-Historischen vor. Allmählich hoffte ich bis zu Stalin zu gelangen. Die Tschechoslowakei schien mir ein guter Ausgangspunkt zu sein.

Isachar ging bereitwillig darauf ein.

»Ganz in der Nähe von hier wohnt ein tschechisches Ehepaar. Vorige Woche habe ich ihnen das Dach repariert. Mit einem Spezial-Silikonmantel auf Polyesterbasis.«

Verzweifelt hielt ich nach irgend etwas Ausschau, was für Zivilschutz geeignet gewesen wäre, aber die Gegend war niederschmetternd friedlich. Isachar fuhr fort, mir von seinen glorreichen Isolationsmanövern zu erzählen. Es gab im weiten Umkreis nichts, was er nicht zugestopft hätte, ausgenommen seinen Mund. Ich versuchte es nochmals mit dem Dubcek-Gambit, aber nach zwei Zugwechseln waren wir wieder auf der Polyesterbasis. Meine Uhr zeigte 4.15, und die Sonne wollte nicht aufgehen. Schon um mich wachzuhalten, stellte ich immer weitere Fragen, und Isachar erteilte mir immer weitere Auskünfte.

»Einmal«, so berichtete er um 5.20 Uhr, »hat mir Schechter eine Gallone Plastikzement verkauft. Auf halbem Weg nach Rischon schaue ich nach - und was muß ich sehen? Das Zeug ist hart wie Granit. So etwas kann mir mit amerikanischem Polyester nicht passieren. Aber wie willst du feststellen, ob die Flüssigkeit, die du kaufst, aus Amerika kommt? In einem neutralen Behälter? Wie willst du das feststellen?«

Ich wollte gar nichts feststellen, schon längst nicht mehr. Wenn zwei Eheleute eines Tages entdecken, daß sie nicht zueinander passen, lassen sie sich scheiden. Auch alte Geschäftspartner gehen gelegentlich auseinander. Nur ein Zivilschützer wie ich bleibt hoffnungslos einzementiert. Und es fehlten noch anderthalb Stunden.

»Halt!«

Ich stellte eine verdächtige Katze und verjagte sie aus unserem Rayon. Dann lehnte ich mich erschöpft an die Hausmauer...

Ich muß stehend eingeschlafen sein. Isachar klopfte mir auf die Schulter, um mich zur Fortsetzung unserer Marschtätigkeit aufzufordern. Aber er schwieg. Offenbar hatte ich meine fälli

ge Gegenfrage versäumt. 

»Und was«, fragte ich, »wenn das Zeug nicht rechtzeitig trocknet?«

Es war einer der größten Fehler meines Lebens. Isachar kam mit der Beantwortung meiner Frage bis 6.15 Uhr aus. Ich betete zu Gott, er möge uns ein paar Terroristen über den Weg schicken, damit ich endlich etwas anderes zu tun bekäme, als dieses entsetzliche Isoliergewäsch über mich ergehen zu lassen.

»Und was das beste ist«, fuhr Isachar erbarmungslos fort, »als Schechter mir das nächste Mal so einen Kanister andrehen wollte -«

An dieser Stelle geschah es. Nach den Berichten von Augenzeugen, die auf die Straße gestürzt kamen, begann ich wild in die Luft zu schießen und brüllte jedem, der sich mir näherte, allerlei unverständliche Befehle zu, wie: »Polyester in Dekkung!«, »Zement - Feuer!« und dergleichen mehr. Man konnte mich nur mit Mühe beruhigen.

Übrigens erfuhr ich, daß ich nicht das erste Zivilschutzopfer war. Schon vor mir hatte ein Zivilschützer, nach vierstündigem Wachdienst mit einem Installateur, durch Gewehrsalven größeren Sachschaden an den Fensterscheiben der umliegenden Häuser verursacht.

Um sieben Uhr früh deponierten wir unsere Ausrüstung im Hauptquartier. Isachar entkam nach Hause und wollte, wie Wechsler mich ein paar Tage danach wissen ließ, nie wieder mit mir zusammen Wache schieben. Ich hätte ihn, so sagte er, mit meinen Fragen zu Tode gelangweilt.