Wie Napoleon besiegt wurde


Ein weiterer Wermutstropfen im Freudenbecher unserer Ehe ist meine verwerfliche Gewohnheit, mich nicht sofort an den Tisch zu setzen, wenn die Chefin des Hauses den Ruf erschallen läßt, daß das Essen aufgetragen ist. Ich weiß wirklich nicht, warum ich ihr das immer wieder antun muß, ich weiß es so wenig wie Millionen anderer Ehemänner. Vielleicht handelt es sich um einen Protest meines Unterbewußtseins gegen ihre selbstherrliche Art, die Mahlzeit-Zeiten festzulegen, ohne mich zu fragen. Vielleicht ist ihre Kochkunst nicht mehr das, was sie war. Sei dem wie immer - der Fall hat auch historische Aspekte; zumindest in der folgenden Geschichte. 

Man schrieb den 18. Juni 1815.

Die Sonne ging über den Schlachtfeldern auf. Im Sitzungssaal seines Landschlößchens stand der Kaiser, umgeben von seinen Marschällen und Generälen, am Tisch mit der großen Landkarte, um die letzten Anordnungen für den entscheidenden Zusammenstoß mit Europas Monarchen zu treffen. Sein Selbstbewußtsein und sein strategisches Genie hatten unter dem Exil auf Elba in keiner Weise gelitten. Nur sein Haar war ein wenig schütter geworden und zeigte an den Schläfen die ersten silbrigen Strähnen.

Aus der Ferne wurde Geschützfeuer hörbar: Blüchers Armee marschierte vom Norden her gegen Waterloo. Man glaubte zu spüren, wie die Welt den Atem anhielt. 

»Napoleon! Dein Frühstück ist fertig!«

In der Türe erschien Sarah, Napoleons dritte Ehefrau und die beste von allen, ihre Frisur von einem hinten zusammengeknoteten Kopftuch geschützt, in der Hand einen Staublappen.

Der Kaiser hatte sie auf Elba geheiratet. Wie es hieß, entstammte sie einer der besten jüdischen Familien der Insel.

»Das Frühstück wird kalt, Napoleon!« rief die Kaiserin. »Komm zu Tisch! Deine Freunde hier werden nicht weglaufen. Ach Gott, ach Gott...« Und während sie sich mit dem Staublappen an einigen Möbelstücken zu schaffen machte, wandte sie sich an den respektvoll schweigenden Generalstab: »Jeden Tag die gleiche Geschichte. Ich frage ihn: Napoleon, willst du essen oder willst du nicht essen, sag ja oder nein, er sagt ja, ich mach das Essen, und kaum ist es fertig, hat er plötzlich irgend etwas zu tun, stundenlang läßt er mich warten, ich muß das Essen immer von neuem aufwärmen, erst gestern hat uns das Mädchen gekündigt und jetzt steh ich da, ganz allein mit dem Buben... Napoleon! Hörst du nicht? Das Frühstück ist fertig!«

»Einen Augenblick«, murmelte der Kaiser und zeichnete auf dem Schlachtplan eine Linie ein. »Nur einen Augenblick noch.«

Der Kanonendonner wurde lauter. Die Artillerie des Herzogs von Wellington begann sich einzuschießen. Marschall Ney sah besorgt nach der Uhr.

»Ich kann mich kaum auf den Füßen halten«, jammerte Sarah. »Überall in der Wohnung läßt du deine Kleidungsstücke herumliegen, und ich hab das Vergnügen, sie einzusammeln und in den Schrank zu hängen. Wie soll ich das alles bewältigen? Und steck nicht immer die Hand zwischen die zwei oberen Brustknöpfe, hundertmal hab ich dir gesagt, daß der Rock davon einen häßlichen Wulst bekommt, der sich nicht mehr ausbügeln läßt... Wirklich, meine Herren, Sie haben keine Ahnung, wieviel mir die schlechten Gewohnheiten meines Herrn Gemahl zu schaffen machen... Napoleon! Komm endlich frühstücken!«

»Ich komm ja schon«, antwortete der große Korse. 

»Ich hab nur noch ein paar Worte mit meinen Generälen zu sprechen.« Er nahm Haltung an, seine Gesichtsmuskeln spannten sich. »Blücher und Wellington, daran besteht für mich kein Zweifel, werden ihre Armeen vereinigen wollen. Wir müssen einen Keil zwischen sie treiben.«

»Das Essen ist schon wieder eiskalt!« kam aus dem Nebenzimmer Sarahs Stimme.

»In einer Stunde greifen wir an«, sagte Napoleon abschließend.

Von draußen klang das Geräusch schwerer, eiliger Schritte. General Cambron, der Adjutant des Kaisers, nahm immer drei Marmorstufen auf einmal, so eilig hatte er's.

»O nein! Kommt gar nicht in Frage!« Am Treppenabsatz trat ihm Sarah entgegen. »Ziehen Sie zuerst Ihre Stiefel aus! Ich lasse mir von Ihnen nicht das ganze Haus verschmutzen.«

In Strümpfen trat General Cambron zu den anderen bestrumpften Heerführern.

»Wenn ich eine Hilfe im Haushalt hätte, war's etwas anderes«, erläuterte die Kaiserin ihre Anordnung. »Aber seit gestern hab ich keine mehr. Herrn Bonaparte interessiert das natürlich nicht. Den interessiert alles, nur nicht sein eigenes Haus. Jetzt bin ich am Wochenende ohne Mädchen und kann mich wegen eurer dummen Schlacht nicht einmal um einen Ersatz kümmern. Wenn Sie vielleicht von einem anständigen Mädchen hören, lassen Sie mich's bitte wissen. Mit Kochkenntnissen. Und sie muß auch auf den Buben aufpassen. Aber keine Korsin, bitte. Die reden zuviel.«

»Gewiß, Majestät.« General Cambron salutierte und übergab dem Kaiser ein zusammengefaltetes Papier. Napoleon las es und erbleichte:

»Meine Herren - Fouche ist zum Feind übergegangen. Was tun wir jetzt?« »Jetzt frühstücken wir«, entschied die Kaiserin und ging ins Nebenzimmer voran. Noch einmal trat Napoleon an den Tisch und fixierte mit dem Zeigefinger einen Punkt auf der Karte:

»Hier wird sich das Schicksal Europas  entscheiden. Wenn der Gegenangriff von Südwesten kommt, fangen wir ihn an der Flanke auf. Meine Herren -«

»Napoleon!« unterbrach Sarahs Stimme.  »Willst du Rühr- oder Spiegeleier?«

»Egal.« 

»Rühreier?«

»Ja.«

»Dann sag's doch.«

»Meine Herren - vive la France!« beendete Napoleon den unterbrochenen Satz.

»Vive la France!« riefen die Marschälle und Generäle. 

»Vive l'Empereur!«

»Napoleon!« rief Sarah und steckte den Kopf durch die Türe. »Der Bub will dich sehen!«

»Majestät!« rief Marschall Murat. »Der Feind nähert sich!«

»Ich, lieber Herr«, fuhr die Kaiserin dazwischen, »ich bin es, die den ganzen Tag mit dem weinenden Kind auskommen muß, ich, nicht Sie. Wollen Sie dem Kaiser vielleicht verbieten, seinem Sohn einen Abschiedskuß zu geben?«

»Wo ist er?« fragte Napoleon.

»Er macht gerade Pipi.«

Und während der Kaiser sich zum Aiglon begab, stimmte die Kaiserin nochmals ihr Klagelied an. 

»Ich hab kein Mädchen. Ich muß alles allein machen. Drei Stockwerke. Wie oft, meine Herren, habe ich Sie schon gebeten, keine Asche auf den Teppich zu streuen ?«

Im Hintergrund erschien Napoleon und strebte mit hastigen Schritten dem Ausgang zu.

»Was soll ich sagen, wenn jemand nach dir fragt?« wollte die Kaiserin wissen.

»Sag, daß ich in der Schlacht bei Waterloo bin.«

»Wann kommst du nach Hause?«

»Weiß ich nicht.«

»Hoffentlich rechtzeitig zum Mittagessen. Was möchtest du haben?«

»Egal.«

»Gestopften Gänsehals?« 

»Ja.«

»Dann sag's doch. Und vergiß nicht«, rief sie ihm nach, »ich brauch ein Mädchen. Und komm nicht zu spät...« 

Der Kaiser hatte sein Pferd bestiegen. An der Spitze seiner Heerführer nahm Napoleon den Weg durch die eng gewundene Schlucht, die in Richtung Waterloo führte.

Sarah nahm Besen und Schaufel, um die Halle vom Straßenschmutz zu säubern, der von den Stiefeln der Militärs zurückgeblieben war. Sie mußte alles allein machen, denn sie hatte kein Mädchen.

Durch das offene Fenster konnte man jetzt schon das Mündungsfeuer der Geschütze sehen. Blücher und Wellington setzten zu ihrem erfolgreichen Umklammerungsmanöver an.

Die Geschichte weiß zu berichten, daß die beiden siegreichen Feldherren ihre Ehefrauen weit, weit hinter sich gelassen hatten.