Warum ich ein Fußballfan bin


Jeder Mensch hat seine Schwäche. Die meine besteht darin, daß ich ein Fußballfan bin und es nicht über mich bringe, während der Übertragung eines Spiels den Fernsehapparat abzustellen. Ich habe es schon mehrmals versucht. Aber sobald meine Hand dem bewußten Knopf in die Nähe kommt, beginnt sie zu zittern wie die Hand eines Morphiumsüchtigen kurz vor der Injektion. Ich kann nicht. Ich muß zuschauen.

Dabei ist es mir vollkommen gleichgültig, ob gerade die Cupentscheidung zwischen Arsenic und Tottenhot übertragen wird oder das Nachtragsspiel zwischen Maccabi Eilat und Hakoah Ramat-Gan, den beiden Nachzüglern der israelischen B-Liga. Hauptsache, daß auf dem Bildschirm zwei Mannschaften hinter dem Ball herjagen. Und ich beschränke mich nicht etwa auf passives Glotzen, ich bin kein teilnahmsloser Zuseher, o nein. Mit anfänglich schriller und später heiserer Stimme feuere ich die Spieler an, und wenn die berühmte Sturmspitze Avigdor (»Tempotempo«) Falafel einen dieser unhaltbaren halbhohen Schüsse ins gegnerische Netz flitzen läßt, springe ich auf und brülle ein übers andere Mal: 

»Tor! Tor! Tor!«

Natürlich verblassen meine Emotionen gegen die Erschütterung, die unsern Avigdor (»Tempotempo«) Falafel in solchen Augenblicken überwältigt. Er sinkt auf die Knie, hebt die Hände zu Gott dem Herrn empor, als wollte er sagen: »Wir haben's wieder einmal geschafft, wir zwei«, und wenn die Kamera an ihn heranfährt, sieht man deutlich, wie ihm Freudentränen über die Wangen rinnen.

Das nächste, was man sieht, ist ein unentwirrbarer Knäuel von Mitspielern, die über ihn herfallen, ihn küssen und umarmen und zu Boden reißen und vor Begeisterung nicht ein noch aus wissen. Es sind erhabene Augenblicke. Aus dem Hintergrund glaubt man die weihevollen Klänge der Neunten Symphonie von Beethoven zu hören. Der Gipfel irdischer Wonnen ist erreicht.

Schreiber dieser Zeilen darf in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, daß er im Leben einiges geleistet hat. Er hat eine Reihe erfolgreicher Bücher, Filme und Theaterstücke verfaßt, hat Preise und Auszeichnungen eingeheimst, hat dreimal geheiratet und ist im Besitz eines persönlichen Handschreibens von Golda Meir. Nichts von alledem hat ihm auch nur einen Bruchteil jener ekstatischen Beseligung vermittelt, von der Avigdor (»Tempotempo«) Falafel und seine Teamkameraden durchflutet werden, wenn einer der vorhin erwähnten halbhohen Bälle im Tor des Gegners landet. Es ist schon so: Das Leben hält keinen Vergleich mit dem Fußballsport aus. 

Und zwar in jeder Hinsicht. Man denke nur an einige neuerdings populär gewordene Begriffe wie Recht, Gesetz und Ordnung. Sie werden im Fußballspiel geradezu vorbildlich gewahrt. Während auf den Rängen des Stadions die Anhänger der beiden Mannschaften in wütende Raufhändel verstrickt sind, an denen sich auch Ordner und Polizisten beteiligen, herrscht unten auf dem grünen Rasen strengste Disziplin, wird der geringste Verstoß gegen die festgesetzten Regeln vom Schiedsrichter augenblicklich geahndet. Nirgends sonst folgt dem Verbrechen die Strafe so dicht auf dem Fuß wie hier, und die Zuschauer achten leidenschaftlich darauf, daß das geschieht. Wenn ein Spieler einen anderen regelwidrig zu Fall bringt, springt alles auf und brüllt: »Hundesohn! Gangster! Hinaus mit ihm!« Bierflaschen und andere Haushaltsgegenstände fliegen aufs Feld, die Empörung kennt keine Grenzen.

Aber dieselben Menschen, die da in Saft geraten, drehen sich nicht einmal um, wenn auf einer verkehrsreichen Straße ein Passant von einem anderen niedergeschlagen wird.

Oder es geht der nun schon mehrfach genannte Avigdor (»Tempotempo«) Falafel nach einem Zweikampf zu Boden und krümmt sich. Sofort stürzt ein Rudel von Ärzten, Masseuren, Trainern und Krankenwärtern aufs Feld. Sie beugen sich über den Verletzten, hegen ihn, pflegen ihn, massieren ihn, streicheln ihn, und selbst der Gegenspieler, der an allem schuld ist, klopft ihm zärtlich auf den Rücken und flüstert: »Ich liebe dich, Tempotempo!«

Aber wenn ein normaler Bürger in einem dunklen Haustor eins über den Schädel bekommt, ist niemand da, sich über ihn zu beugen und ihm zu helfen. 

Wir sollten, meine ich, das Leben mehr dem Fußballsport angleichen. Was wären das doch für paradiesische Zustände, wenn unser Alltag nach Fußballregeln abliefe! Kaum begeht jemand einen Regelverstoß, eilt ein schwarz bedreßter Referee herbei und stellt mit einem scharfen Pfiff die Ordnung wieder her. Um ein Beispiel zu nehmen: Du hast dich in die Schlange vor einer Kinokasse eingereiht, kommst in langsamen Rucken immer näher an das ersehnte Ziel und verspürst plötzlich einen stechenden Schmerz zwischen den Rippen. Ein Rowdy will dich von deinem Platz verdrängen. »Verschwind, sonst gibt's was!« stößt er zwischen den Zähnen hervor. Du erstarrst vor Schreck. Aber da ist schon der Schiedsrichter vom Dienst zur Stelle und hält ihm die gelbe Karte unter die Nase: »Noch so ein Foul und Sie werden ausgeschlossen!«

Unter solchen Umständen wäre das Leben wieder lebenswert, Ruhe und Ordnung wären gesichert, Anstand und Moral kämen zu ihrem Recht.

Ich bin ein Fußballfan.