Wer die Durchwahl hat, hat die Qual


Ferngespräche mit dem Ausland waren lange Zeit eines der beliebtesten Geduldspiele in Israel. Man wählte die Nummer 18 und wurde sofort mit einer Stimme verbunden, die sich in mehreren Sprachen der höflichen Mitteilung befliß, daß leider alle Linien besetzt wären, bitte seien Sie nicht ungehalten, wenn Sie noch ein wenig warten müssen, danke. Und nicht selten geschah es, daß man von einer schmerzhaften Fingerlähmung befallen wurde, bevor man endlich Chikago erreicht hatte. Da sich jedoch der Fortschritt der Technik nicht aufhalten läßt, können wir seit kurzem nach allen überseeischen Ländern selbst durchwählen. Seither wächst unter den israelischen Telefonteilnehmern die Anzahl der Konkurse.

Beim erstenmal ist es ja noch Spaß. In der Abenddämmerung, wenn die Schafherden heimwärts ziehen und im Fernsehen arabisch gesprochen wird, überkommt dich das dringende Verlangen, direkt mit Tante Frieda in Los Angeles zu sprechen. Du begibst dich an die Drehscheibe, drehst so lange, bis du die Nummer 001213957342189 zu Ende gedreht hast, hältst den Hörer ans Ohr und freust dich des summenden Geräusches, das ihn erfüllt. Es wird von einem kurzen »Klick« abgelöst, dem ein Klingelsignal folgt - und dann, wahrhaftig, hebt jemand in einer Entfernung von 12 000 km den Hörer ab. 

»Tante Frieda?« fragst du atemlos. 

»Nein«, antwortet eine männliche Stimme. 

»Ist dort 001213957342189?«

»Hier ist sechs Uhr früh, Sie Idiot.«

Immerhin - es war eine direkte Verbindung mit Kalifornien, und das darf man sich getrost die 4,18 Shekel pro Sekunde kosten lassen, die das Tarifbulletin des Verkehrsministeriums angibt. Wie aus dieser lehrreichen Publikation des weiteren hervorgeht, vermerkt das Telefonamt bei internationalen Ferngesprächen weder Ort noch Zeit des Anrufs. Von einem automatischen Zähler registriert, wird die Gebühr ohne nähere Angaben in die Monatsrechnung des Teilnehmers einbezogen. 

Der Umstand, daß seine Anonymität gewahrt bleibt, regt den israelischen Telefonbenützer zu einer interessanten Überlegung an, mit der er sich wie folgt an die beste Ehefrau von allen wendet:

»Ich habe Lust, Kamtschatka anzurufen. Wie war's -und wir besuchen heute abend die Seeligs?« 

Der Rest ist ein Kinderspiel. Um 22.30 Uhr - für Kamtschatkianer eine frühe Nachmittagsstunde - erhebt man sich aus dem Fauteuil in Seeligs gastlichem Wohnzimmer, wirft einen besorgten Blick auf die Armbanduhr und murmelt, sotto, aber doch voce,

»Entschuldigt mich einen Augenblick - ich habe den Kindern versprochen, sie anzurufen...«

»Aber bitte«, sagt Erna Seelig. »Das Telefon steht im Schlafzimmer.«

Besser könnte man's gar nicht treffen. Man laßt sich behaglich auf die weiche Schlafstatt des Hausherrn nieder und hat alsbald die Verbindung mit Lajos Friedländer hergestellt, einem ehemaligen Mitschüler, der jetzt als erfolgreicher Rechtsanwalt in Kamtschatka lebt. Nach einem Viertelstündchen erinnerungsträchtigen Geplauders kehrt man ins Wohnzimmer zurück und verkündet zufrieden, daß zu Hause alles in Ordnung ist.

So weit, so gut.

Einige Zeit danach bekommt Felix Seelig seine monatliche Telefonrechnung und stellt befremdet fest, daß sie um 1800 % über der vorangegangenen liegt. Bei einer zufälligen Begegnung im Stiegenhaus wirft er mir einen stummen, vorwurfsvollen Blick zu, den ich jedoch ignoriere. Er kann mir ja nichts beweisen, oder?

Tags darauf nimmt die Sachlage eine unerfreuliche Wendung. Unsere eigene Telefonrechnung ist auf die erschreckende Summe von mehr als 4000 Shekel gestiegen, obwohl ich seit dem abortiven Versuch mit Tante Frieda von meinem Telefon kein wie immer geartetes Ferngespräch geführt habe. Zweifellos hat da jemand in der schäbigsten Weise unsere Gastfreundschaft mißbraucht. Aber wer?

»Einen Augenblick.« Die beste Ehefrau von allen legt die Stirne in nachdenkliche Falten. »Vorige Woche hatten wir die Picklers zu Besuch. Erinnerst du dich, wie Akiba Pickler mit seiner Schwester telefonieren wollte? Ja? Aber weißt du auch, daß er italienisch gesprochen hat?« 

Meiner Meinung nach war es nicht Akiba Pickler. Es war unser Nachbar Felix Seelig, der sich an uns gerächt hat. Er kam eines Abends zu uns herüber und bat um die Erlaubnis, unser Telefon zu benützen - seines, so behauptete er, sei gestört.

Zur Liste der Verdächtigen gehört auch der Mann von der Kühlschrankfirma, der zum Zweck einer angeblich fälligen Kontrolle erschien und dann die Zentrale anrief, die sich möglicherweise in Philadelphia befand.

Diese Beispiele menschlicher Niedertracht erschütterten mich so sehr, daß ich einen Besuch im Hause des Ehepaars Spiegel benützte, um mit meinen in aller Welt verstreuten Familienangehörigen Fühlung zu nehmen. Als ich gerade mit einer weitläufigen Verwandten in Buenos Aires sprach, mußte ich ein plötzliches Absinken der Tonqualität feststellen, woraus ich schloß, daß Frau Spiegel, diese heimtückische Hexe, von ihrer Nebenstelle in der Küche mithörte. Ich wechselte blitzschnell zu Hebräisch, sagte: »Gut, dann werde ich den Wagen morgen abholen« und legte auf, Mir kann man mit so billigen Tricks nicht beikommen.

Jedenfalls ist das israelische Volk seit Einführung des direkten Durchwahlsystems mit den Juden der ganzen Welt in innigerem Kontakt als je zuvor. Allerdings erfordern diese Gratisgespräche ein beträchtliches Ausmaß von Erfindungsgeist und Umsicht. Man darf beispielsweise nicht allzu laut sprechen, wenn man einen Babysitter anruft, der in New York wohnt. Auch sollte man Fremdsprachen nach Möglichkeit vermeiden. Im übrigen sind diese Gratisgespräche in Wahrheit gar nicht so gratis, weil man ja auf Umwegen doch wieder für sie bezahlt.

Aber damit die Dinge nicht ausarten, haben wir jetzt an unserer Wohnungstür eine kleine Tafel angebracht:

»Gestörtes Telefon. Bissiger Hund. Bitte lassen sie Nachricht zurück. Wir besuchen Sie gerne.«