Der Denunziant

(sehr frei nach Franz Kafka)


Als der Großindustrielle K. eines Morgens erwachte, fand er sich in ein riesiges Insekt verwandelt.

»Was ist da passiert?« fragte er sich entsetzt. Dann rief er sich die Ereignisse des vorangegangenen Tages, die zweifellos an seiner peinlichen Lage schuld waren, ins Gedächtnis zurück.

Er erinnerte sich genau an die sachliche, unbeteiligte Stimme, mit der ihm sein Buchhalter am Vortag mitgeteilt hatte, daß sein, K.'s, Unternehmen - eine florierende Import-Export-Gesellschaft - das laufende Geschäftsjahr mit einem Gewinn von einer halben Million israelischer Pfund, in Ziffern NIS 500000,-, abgeschlossen hatte.

Das bedeutete nach den geltenden Steuergesetzen, daß die Firma bzw. Herr K., nach Bezahlung der Körperschaftssteuer, der Investitionsanleihe, der Krankenversicherung, der Pensionsversicherung und einer Reihe anderer Abgaben dem Staat eine Gesamtsumme von 106,3% des erwirtschafteten Profits schuldete, in Ziffern NIS 531500,-, ein ansehnlicher Betrag, über den K. nicht verfügte.

»Das darf nicht wahr sein«, stellte K. in Gedanken fest. Es wollte ihm nicht in den Kopf, daß die Steuer, die er zahlen sollte, die Höhe seiner Einnahmen überstieg. 

Mittlerweile hatte er sich wieder in den loyalen furchtsamen Bürger zurückverwandelt, der er war. Er erhob sich von der Lagerstatt seines alptraumgeschüttelten Schlafs, kleidete sich an und verließ das Haus, um der Angelegenheit nachzugehen. Sein Weg führte ihn in die Kanzlei einer renommierten Steuerberatungsstelle, die sich in den Geheimnissen des Steuerwesens um so besser auskannte, als sie von zwei ehemaligen Beamten des Finanzministeriums geleitet wurde. Die beiden Herren lauschten ihm mit gelangweilter Miene, denn sie bekamen solche oder ähnliche Geschichten beinahe täglich zu hören.

Als er geendet hatte und sie um Rat fragte, rieten sie ihm, sein Steuerbekenntnis zu fälschen.

»Wenn Sie es halbwegs geschickt anstellen«, sagten sie, »wird Ihnen weder das Finanzamt dahinterkommen, noch riskieren Sie, daß Sie wegen der zehnprozentigen Belohnung, die das Finanzamt für Hinweise auf Steuerhinterziehungen auszahlt, von einem Spitzel denunziert werden.«

»Ich habe Angst«, sagte K. »Gibt es keinen anderen Weg?«

»Doch. Es gibt einen.«

»Nämlich?«

»Zahlen«, sagten die Steuerberater und geleiteten ihn zur Türe.

Der eine von ihnen, ein elegant gekleideter Mann in dunklem Anzug mit diskret gestreifter Krawatte, flog am Nachmittag nach Vaduz, der Hauptstadt des Fürstentums Liechtenstein, um eine größere Finanztransaktion abzuschließen.

Als K. nach Hause kam, fand er eine Vorladung zur Steuerbehörde. Er ging sogleich hin und wurde von einem untergeordneten Beamten empfangen, der seit jeher die Steuerangelegenheiten der Firma K. behandelte. 

»Ich habe einige Fragen an Sie zu richten«, begann der Beamte. »Wie ich sehe, schulden Sie uns erheblich mehr, als Sie in diesem Jahr verdient haben. Es würde mich interessieren, aus welchen fragwürdigen Quellen Sie die Differenz begleichen wollen?«

Er heftete einen durchdringenden Blick auf K. und wartete auf Antwort.

K. versuchte den gegen ihn gerichteten Verdacht durch die Angabe zu zerstreuen, daß er genügend Geld erspart hätte, um die zusätzliche Steuer zahlen zu können. Der Beamte runzelte die Brauen: Nach den ihm vorliegenden Geheiminformationen habe K. - wie übrigens auch andere gefinkelte Großverdiener - seine gesamten Ersparnisse in eine freiwillige Staatsanleihe investiert, die einen nicht unbeträchtlichen Zinssatz abwerfen würde, zahlbar am Ende des Jahrhunderts.

In tiefen Gedanken verließ K. das Steueramt. Seine Unterlippe zitterte ein wenig, und er überlegte, ob er sich den entstandenen Komplikationen nicht durch Abreise entziehen sollte.

Dann fiel ihm ein Ausweg ein, ganz plötzlich, ein so naheliegender und simpler Ausweg, daß er sich wundern mußte, wieso er ihm nicht schon früher eingefallen war. 

Zu Hause angelangt, nahm K. das für seine Steuererklärung vorgesehene Formular zur Hand und erklärte, daß seine Firma im abgelaufenen Geschäftsjahr keinen Profit zu verzeichnen hatte, nicht einen einzigen Groschen. Hierauf kehrte er zum Finanzamt zurück und richtete an den Beamten, während er ihm das Formular übergab, die höfliche Frage:

»Bitte, darf ich Sie auf einen Fall von Steuerhinterziehung hinweisen, der zufällig zu meiner Kenntnis gelangt ist?«

»Selbstverständlich« antwortete er Beamte. »Das ist das mindeste, was ein ehrlicher Bürger tun kann.«

»Und bekomme ich dann auch die ausgesetzte Belohnung?«

»Selbstverständlich«, antwortete abermals der Beamte, dessen Wortschatz nicht übermäßig groß war. 

»Gut«, sagte K. »Hiermit informiere ich Sie, daß ich im Steuerbekenntnis meiner Firma einen Jahresgewinn von 500000 Shekel verheimlicht habe. Ich bitte um Auszahlung der üblichen Belohnung von zehn Prozent, das sind 50 000 Shekel, steuerfrei.«

Der Beamte tat, was Beamte immer tun, wenn sie mit einem originellen Einfall konfrontiert werden: Er glotzte. Nachdem er ungefähr eine Minute lang geglotzt hatte, verließ er den Raum und begab sich zu seinen Vorgesetzten, um ihren Rat einzuholen.

Höheren Orts machte man sich unverzüglich an das Studium der einschlägigen Verordnungen und Erlässe, konnte jedoch keine einzige Klausel entdecken, die es für ungesetzlich erklärt hätte, daß jemand sich selbst denunziert. Alle Versuche, K. von seiner Forderung abzubringen, blieben erfolglos, und als er drohte, notfalls bis zum Obersten Gerichtshof zu gehen, gab die Steuerbehörde nach. Man wollte den Fall unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit gelangen lassen; er könnte, so befürchtete man, Schule machen.

K. erhielt bald darauf einen Scheck des Finanzministeriums auf NIS 50000,-, liquidierte seine Firma und suchte in Begleitung einer ihm befreundeten Dame einen beliebten Badeort im Süden des Landes auf.