Wie paradiere ich Hit?

 

Meine Abneigung gegen die Welt des mechanischen Lärms hat nicht nur ästhetische Ursachen, gilt nicht nur der Stereophonie. Ich bekenne mich darüber hinaus zu einem Gefühl der Mißgunst und des Neides. Es bezieht sich auf die Verfasser der erfolgreichen Schlager, auf die »Goldenen Schallplatten«, mit denen sie ausgezeichnet werden, und nicht zuletzt auf das Geld, das sie verdienen. Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, und warum sollte es das, haben Komponist und Textdichter des unsterblichen Liedes »Ich küsse Ihre Hand, Madame« damit mehr Geld verdient als Dostojewski mit seinen sämtlichen Werken. Irgendein Schmierfink, der in fünf Minuten einen Schlagertext hinfetzt, wird für sein ganzes Leben zum Millionär. Das schmerzt. 

Das erscheint sehr ungerecht, ist es aber nicht.

Wir alle kennen die Namen der Koryphäen, die allwöchentlich die Hitparade anführen. Aber haben wir auch eine richtige Vorstellung von der unendlichen Mühe und Arbeit, die sie dorthin gebracht hat?

Wir haben keine richtige Vorstellung.

Daher die Kulturkrise.

Sie begann von einigen Jahren, als »Galei Zahal«, der Rundfunksender der israelischen Armee, eine Publikumsbefragung veranstaltete, die über den populärsten Schlager der Woche entscheiden sollte. Die Rundfunkhörer wurden aufgefordert, ihren Favoriten auf einer Postkarte namhaft zu machen und diese einzusenden. So einfach war das.

Ein begabter junger Komponist namens Gideon Wiesel wurde daraufhin von einer genialen Inspiration überkommen. Er setzte sich ans Klavier, klappte den Deckel zu und schrieb 23 Postkarten, im Stil ein wenig verschieden, aber jede mit dem Titel seines letzten Schlagers versehen. »Schließlich bin ja auch ich ein Rundfunkhörer«, sagte er sich. »Also habe ich das

Recht, an der Abstimmung teilzunehmen.«

Zu seiner maßlosen Enttäuschung erreichte der von ihm sowohl komponierte als auch genannte Schlager nicht den ersten Platz. Der erste Platz ging an die ebenfalls junge und begabte Ruthi Ron, die mit Hilfe ihrer Eltern, ihres Schwagers, des Telefonbuchs und eines untrüglichen musikalischen Instinkts insgesamt 88 Postkarten abgeschickt hatte, mit dem Ergebnis, daß ihre jüngste Platte sich wie warme Semmeln verkaufte. 

An diesem Punkt betrat der international bekannte Impresario Emil Jehuda Beltzer die Szene. 

»Wir dürfen das Feld nicht länger den Amateuren überlassen«, wandte er sich an seinen Lakai, den Dichter Tola'at Shani. »Es wird Zeit, daß wir Profis ins Hitparade-Geschäft einsteigen.«

Das gesamte Personal der Firma Beltzer, bestehend aus Tola'at Shani, drei Sekretärinnen und dem Laufburschen Tuval, trat in Aktion und legte einen Index aller erreichbaren Rundfunkhörer sowie einen Vorrat von Kugelschreibern, Federn, Tinte, Bleistiften und Farbbändern an. Ein Gremium geschulter Psychologen verfaßte die nötigen Texte, die von Tuval in einer Mischung aus kindlicher Handschrift und eingeborenem Niveau verwertet wurden. Hier ein Muster:

»Ich glaube, das ich daß schöne Lied >Küß mich, Mummi< von Tola'at Shani für daß schönste Lied halte und es gehört auf den ersten und zweiten und dritten Platz. Hochachtungsvoll Uzzi Porat, Schüler, Tel Aviv.«

Binnen kurzem erreichte der Stab der Firma Beltzer den imposanten Ausstoß von 135 Postkarten pro Stunde. Tuval bekam eine Gehaltserhöhung, und Tola'at Shani bekam die Goldene Schallplatte, was dem von ihm textierten Schlager eine Verkaufsziffer von mehr als 50000 Exemplaren einbrachte. Der Minister für Unterricht und Volksbildung eröffnete die feierliche Preisverteilung und stellte in seiner Ansprache fest, daß »der einfache Mann auf der Straße durch sein Postkarten-Votum die künstlerisch-folkloristischen Werte unserer heimischen Produktion richtig erkannt und beurteilt hat«.

Tola'at Shani vergoß Tränen des Glücks und umarmte seinen Partner, den Komponisten Mordechai Schulchan, mehrmals vor mehreren Kameras.

Das Team hielt lange Zeit die Spitze. Seine Hauptrivalen, Gideon Wiesel und der begabte Textdichter Gogo, kamen niemals über 6000 Postkarten hinaus. 

Zum Teil lag das an ihrer minderwertigen Propagandatechnik, zum Teil an internen Streitigkeiten. Jeder bezichtigte den anderen der Zeitvergeudung und warf ihm vor, Songs statt Postkarten zu schreiben. Eines Abends attackierten die beiden den berühmten Popsänger Gershon Schulz in einem Cafe auf der Dizengoffstraße und verlangten von ihm, daß auch er sein Teil zum gemeinsamen Ringen um den Erfolg beitragen solle.

»Du verdienst ja ganz schön an unseren Platten, oder nicht? Da könntest du dich wenigstens mit hundert schäbigen Postkarten wöchentlich beteiligen!«

Schulz berief sich auf seine untaugliche Handschrift und behauptete, daß es ausschließlich Sache der Komponisten und Textdichter sei, Postkarten zu schreiben.

»Wer sagt das?« begehrten Wiesel & Gogo zu wissen.

Es stellte sich heraus, daß niemand etwas dergleichen gesagt, festgelegt, stipuliert oder vorgeschrieben hatte. Die Rundfunkstation hatte keine Regeln verlautbart und nirgends angegeben, ob die Abstimmungskarten von Komponisten, Textern oder Sängern kommen sollten. 

Die Beendigung dieses anarchischen Zustands schien um so dringlicher geboten, als der Zweite Kanal eine eigene Postkarten-Parade ankündigte, wobei jede Karte aus Registrationsgründen zweifach auszufertigen war. Der Verkauf von Briefmarken und Telefonbüchern stieg sprunghaft.

Als die Namensreserven des Telefonbuchs erschöpft waren, wandte man sich dem reichen Quellenmaterial der Bibel zu. Ein pfiffiger Tonsetzer ging so weit, ein Exemplar von »Archipel Gulag« käuflich zu erwerben und schob sich mit Einsendern wie Sergej Vavilov (Haifa) oder Michail Dimitrewitsch Krapotkin (Ramat-Gan) auf den fünften Platz vor.

Damit nicht genug, nahm eine neugegründete »Top-Pop-GmbH« den Betrieb auf. Ihre Reklameslogans lauteten: »Unser Schall fördert die Platte!« und »Mit Top-Pop zum Pop-Top«. Anstelle der bisherigen zeitraubenden Geschäftsmethoden verwendete die Firma einen hochorganisierten Computer, der jede Adresse auf ihre geographische Authentizität und jeden Text auf seine Glaubhaftigkeit prüfte, ehe die Karten nach Postleitzahlen gestapelt und ihr Versand in praktisch unbegrenztem Umfang aufgenommen wurde. »Erfolg garantiert!« hieß es im Prospekt. »Sondergebühren für Jahresabonnenten, Studenten und Militär.«

Die Rationalisierung des Kunstbetriebs hatte einen neuen, gewaltigen Schritt nach vorne getan. Fortan blieb es unseren ausübenden Künstlern erspart, ihr Talent und ihren Erfindungsgeist von so altmodischen Arbeitsprozessen wie dem Anfeuchten von Briefmarken behindern zu lassen.