Wem die Stunde schlägt


Ohne Rücksicht auf die harten Tatsachen des Lebens und auf die Forschungsergebnisse der Kinderpsychologie dekretiert die jüdische Religion, daß ein Kind männlichen Geschlechtes sich an seinem dreizehnten Geburtstag übergangslos in einen Erwachsenen verwandelt. Dieses schicksalsschwere Ereignis - »Bar-Mizwah« geheißen - begehen die Eltern des Wunderkindes mit einer prunkvollen Feier, die dem neu geschaffenen Mann nicht nur auferlegt, wie ein ausgelernter Rabbiner zu beten, sondern sich bei Papi und Mammi für alle erwiesenen Wohltaten überschwenglich zu bedanken. Das Kind wird zum Mann, und die Eltern werden kindisch. Die Denkrede aber machte mir zu schaffen. 

Im ersten Morgengrauen schrillte das Telefon. 

»Hallo«, sagte eine gedämpfte Männerstimme. »Ich muß dringend mit Ihnen sprechen.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Nicht telefonisch.«

Es war die übliche Eröffnung, den Schachfreunden als Israelisches Gambit geläufig. Ich wählte die Sizilianische Verteidigung: »Es tut mir leid, aber ich bekomme täglich ungefähr ein Dutzend Anrufe dieser Art, und meistens handelt sich's dann um die Bar-Mizwah des kleinen Jonas, für die ich ihm eine Rede schreiben soll. Ich bin nicht -«

»Herr!«, unterbrach mich hörbar empört mein Gesprächspartner. »Glauben Sie, daß ich Sie um diese frühe Morgenstunde wegen einer solchen Lappalie anrufen würde? Kommen Sie sofort!«

Er nannte mir seinen Namen, der mir bekannt vorkam - jedenfalls stand der Mann im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, irgendwo zwischen Regierung und Großindustrie. Nun, man kann nie wissen. Ich machte notdürftig Toilette und eilte zu der angegebenen Adresse.

Der Regierungsindustrielle erwartete mich vor dem Haustor.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, informierte er mich streng, während wir die Stiegen hinaufkeuchten. »Mein Sohn Jonas begeht in wenigen Tagen seine Bar-Mizwah und braucht eine Rede.«

Ich wollte wortlos kehrtmachen, aber er hielt mich zurück. Seine Stimme wurde um einige Grade milder: »Bitte enttäuschen Sie uns nicht. Ein bedrängtes Elternpaar baut auf Ihre Hilfe. Der Junge liebt und verehrt uns und hat keinen sehnlicheren Wunsch, als uns für all die Wohltaten, die wir ihm erwiesen haben, so recht von Herzen zu danken.«

»Soll er.«

»Durch eine Rede.«

»Die soll er sich selber schreiben.«

»Das kann er nicht. Dazu reicht's bei ihm nicht. Bitte, bitte!« Tränen drohten seine Stimme zu ersticken. »Sie müssen uns helfen. Nur ein Genie wie Sie ist dazu imstande. Selbstverständlich gegen Honorar, wenn Sie es wünschen. Geld spielt keine Rolle. Wichtig ist nur die Zeit. Sie drängt. Jede Stunde ist kostbar. Was sage ich - jede Minute. Verstehen Sie mich doch! Verstehen Sie ein besorgtes Vaterherz!«

Und er traf Anstalten, vor mir niederzuknien.  Ich verwehrte es ihm und fühlte, wie ich innerlich weich wurde. Auch er fühlte das.

»Nur eine kleine, kurze Rede. Gefühlvoll, überquellend von kindlicher Dankbarkeit, womöglich in Reimen. Wie oft im Leben hat man denn schon Bar-Mizwah? Ein einziges Mal! Sie können mir nicht Nein sagen.«

Ich konnte wirklich nicht. Das besorgte Vaterherz hatte mich herumgekriegt.

»Bis wann wollen Sie das Manuskript haben?«

»Bis gestern. Wir sind verzweifelt knapp dran.«

»Ich brauche mindestens zwei Tage.« 

»Unmöglich!« Mein großzügiger Auftraggeber schauderte zusammen. »Bedenken Sie - das Kind muß ja noch den ganzen Text auswendig lernen. Heute abend, ich beschwöre Sie! Heu

te abend!«

»Na schön. Sagen wir: um neun.«

»Halb neun! Ich verdopple das Honorar, wenn Sie um halb neun liefern!«

Beinahe hätte er mir zum Abschied die Hand geküßt. Und noch vom Haustor rief er mir nach: »Um acht! Vergessen Sie nicht - spätestens um acht!« 

Zu Hause empfing mich die beste Ehefrau von allen mit der Mitteilung, es hätte soeben jemand angerufen und nichts weiter gesagt als »Zehn Minuten vor acht«. Ich bat sie, mir einen enorm starken, enorm schwarzen Kaffee zu kochen, und ging ans Werk.

Zunächst versuchte ich, die geistigen und seelischen Wallungen nachzuempfinden, die sich in des jungen Jonas Brust zum feierlichen Anlaß regen mochten. Wie würde er sie wohl ausdrücken? Vielleicht so:

Ihr lieben Eltern alle zwei Habt mich umsorgt vom ersten Schrei.  Noch heute dank ich euch dafür, Ihr beiden lieben Eltern ihr!

Vielleicht ein wenig trocken, wenn auch keineswegs ohne die gewünschte Dankbarkeit und Ehrfurcht. Ein brauchbarer Anfang.

Während ich über die Fortsetzung nachdachte, wurde ich von einem Boten gestört, der mir einen Blumenstrauß mit einem Kärtchen überbrachte. Auf dem Kärtchen stand: »Alles Gute! Bitte um halb acht!«

Die nächste Strophe lautete:

Liebe Mutter und lieber Vater,

Ihr seid meine besten Berater,

Ihr zeigt mir das Leben so, wie es ist.

Seid in Verehrung umarmt und geküßt.

Die nächste Störung erfolgte durch das Telefon: »Wie sieht's aus?«  erkundigte sich das besorgte Vaterherz. »Haben Sie schon etwas fertig?«

Ich las ihm das Ergebnis meiner bisherigen Arbeit vor. 

»Nicht schlecht«, meinte er. »Aber auch der Name des Jungen sollte gereimt werden. Er liebt uns abgöttisch. Sieben Uhr zwanzig?«

»Ich werde mein Bestes tun«, versicherte ich ihm, schaltete das Telefon aus und machte mich auf die Suche nach einem Reim auf Jonas. Es war zu dumm. Hätten die Leute ihren überflüssigen Sprößling nicht anders nennen können? Zum Beispiel Gideon, mit dem eingebauten Reim auf Sohn? Ganz zu schweigen von Ephraim, ein vorbildlicher Name, der sich wie von selbst auf Jeruscholajim reimt, und das paßt immer. Aber nein, Jonas muß er heißen. 

Endlich hatte ich ihn erwischt:

Euch, Eltern, gilt mein kindlich Sehnen, 

Euch gelten meine Dankestränen. 

Schon machen sie mein Mikrophon naß – 

Es schluchzt vor Rührung euer Jonas.

Darüber war es Nachmittag geworden und Zeit für die Ankunft eines Telegramms: »Mehr Gefühl mehr Tempo bitte um Fertigstellung bis sieben Uhr.«

Allmählich begannen sich bei mir gewisse Ermüdungserscheinungen bemerkbar zu machen. Nach der vierzehnten Strophe ging ich unter die Dusche, wo ich es bis zur achtzehnten brachte, dann dichtete ich in der Badewanne weiter, aber ein geeigneter Schluß wollte sich auch am Schreibtisch nicht einstellen und fehlte selbst dann noch, als um halb sieben der Bote des abgöttisch geliebten Elternpaares eintraf, um das Manuskript abzuholen. Er pflanzte sich dicht hinter meinem Schreibtisch auf und ließ mich wissen, daß er den Motor seines Wagens nicht abgestellt hätte.

Unter dem Druck dieser Inspiration warf ich die abschließende Strophe aufs Papier:

So laßt mich, teure Eltern, enden – 

Mein Schicksal liegt in euern Händen.

Dort bleibt es liegen allezeit,

In Freud und Leid und Dankbarkeit.

Der Bote riß das Papier an sich und verschwand. Ich durfte mir sagen, daß ich die einseitig festgesetzte Stunde der Ablieferung genau eingehalten hatte. Dann fiel ich in tiefen, traumlosen Schlummer.

Wochen vergingen, ohne daß ich von meiner Bank etwas über den Eingang eines Honorars oder von meinem Auftraggeber ein diesbezügliches Sterbenswörtlein gehört hätte.

Ich griff zum Telefon und fragte ihn, ob die Sache damals in Ordnung gewesen sei.

»Welche Sache?« fragte er zurück. »Wann?« 

Nicht ohne Stolz gab ich mich als Verfasser der kunstvoll gereimten Rede zu erkennen, die Jung-Jonas zur Feier seiner Bar-Mizwah gehalten hatte.

»Ach so«, klang es mir ans Ohr. »Richtig. Ich erinnere mich. Leider habe ich noch keine Zeit gehabt, ihr Manuskript zu lesen. Rufen Sie mich doch noch einmal an.«

 »Morgen früh? Um acht?«

»Es eilt nicht. Vielleicht gegen Mittag. Oder nächste Woche.«