Der Aufstieg des Jakob Schreibermann


Nach der Anzahl seiner im Druck vorliegenden Werke zu urteilen, war Jakob Schreibermann ein arrivierter Autor, denn er hatte nicht weniger als dreizehn Bücher veröffentlicht. Leider wurden sie vom hebräischen Lesepublikum nicht zur Kenntnis genommen. Die Möglichkeit, daß der eine oder andere Sonderling eines oder das andere der dreizehn Bücher gelesen hatte, läßt sich zwar nicht gänzlich ausschließen, aber keines von ihnen ist jemals gekauft worden. Sie vergilben allesamt in den Lagerräumen der Verleger.

Jakob Schreibermann litt entsetzlich unter diesem offenbar unabänderlichen Schicksal. Er wanderte von Redaktion zu Redaktion, er wartete und ging wieder weg und kam zurück und wartete aufs neue und fiel auf die Knie und bettelte und flehte und kam nochmals zurück und weinte und wehklagte und kam so oft zurück, bis schließlich alle Zeitungen ein paar lobende Zeilen über sein jeweils jüngstes Werk gebracht hatten. Einmal wurde ihm von einem Literaturredakteur nahegelegt, die kurze Notiz der Einfachheit halber selbst zu schreiben - er, der Autor, wüßte ja über sein Buch besser Bescheid als irgendein Fremder. Jakob wollte den Mann im ersten Impuls ohrfeigen, besann sich jedoch eines besseren, ging nach Hause und schrieb die vereinbarte Eigenrezension. Natürlich schrieb er sie nicht unter seinem Namen, sondern unter einem Pseudonym: Simon S. Sluchowsky. Sie geriet so enthusiastisch, daß sogar Jakob von Begeisterung übermannt wurde und heiße Dankbarkeit für Sluchowsky empfand - aber das Buch blieb trotzdem liegen.

Ab und zu suchte Jakob die Buchhandlung an der Straßenecke auf:

»Wie geht mein Buch?« fragte er.

»Schlecht«, antwortete der Buchhändler. »Sehr schlecht.

Vielleicht zieht's zu den Feiertagen ein wenig an. Aber vorläu

fig ist nichts los damit. Absolut nichts.« 

»Wie ist das möglich?« beharrte Jakob. »Wo doch in allen Zeitungen so gute Besprechungen erschienen sind?«

Daraufhin zuckte der Buchhändler nur noch die Achseln. Jakob Schreibermann war der Verzweiflung nahe. Er erwog, das Verfassen von Büchern überhaupt aufzugeben und sich der Literaturkritik zuzuwenden. Dann entschloß er sich zu einem letzten produktiven Versuch, schrieb einen Roman über einen demobilisierten Soldaten, der die Kassa eines Kibbuz veruntreut hatte, und gab ihm den Titel »Der Moosmacher«, womit er sowohl den landwirtschaftlichen Hintergrund als auch den Charakter des Helden andeuten wollte. Die Kritik sprach von einem Meilenstein bzw. Höhepunkt bzw. Wahrzeichen der neueren israelischen Literatur, und das Buch wurde nicht gekauft.

Jakobs Nerven begannen zu versagen. Als er eines Tages im Autobus saß und von einem vollbärtigen Fahrgast aufgefordert wurde, seinen Sitzplatz an eine ältere Dame abzutreten, reagierte er äußerst unwirsch. Das fiele ihm gar nicht ein, sagt er, es hätte ja auch niemand seinen Roman »Der Moosmacher« gekauft, und warum sollte er sich den Menschen dafür noch gefällig zeigen. Der Vollbart - der, was Jakob nicht wußte, ein führender israelischer Literaturkritiker und obendrein mit der betreffenden Dame verheiratet war - erwiderte nichts, stieg aus, erwarb ein Exemplar des »Moosmachers« und schrieb eine vernichtende Kritik:

»...Es ist ein erbärmlicher Einfall«, hieß es dort unter anderem, »aus einem israelischen Soldaten, einem der heldenhaften Verteidiger unseres Vaterlands, einen Betrüger zu machen. Davon abgesehen, hat Herr Schreibermann keine Ahnung vom Aufbau eines Romans, wie ihm ja überhaupt die Kenntnis aller akzeptierten Regeln und Gepflogenheiten abgeht. Er gehört offenbar zu jener jungen Generation, die nicht einmal soviel Lebensart besitzt, im Autobus älteren Damen Platz zu machen. Und von solchen Leuten müssen wir uns etwas erzählen lassen!«

Nach der Lektüre dieser Kritik wollte Jakob Schreibermann aus dem Fenster springen. Erst als er auf dem Fensterbrett stand, erkannte er die Zwecklosigkeit seines Vorhabens: Er wohnte ebenerdig. Also setzte er sich hin und schrieb einen 26 Seiten langen Entschuldigungsbrief an den bärtigen Kritiker, flehte ihn an, ihm noch eine letzte Chance zu geben, er würde von jetzt an immer im selben Bus mit ihm fahren und der verehrten Gattin des verehrten Literaturpapstes pausenlos seinen Sitz anbieten, nur möge jener um Himmels willen davon ablassen, ihn öffentlich zu zerfleischen.

Auf dem Weg zum Postamt widerfuhr dem von Panik Erfaßten ein Wunder. Der Buchhändler an der Ecke teilte ihm mit, daß er bereits vier Exemplare des »Moosmachers« verkauft hätte, und das grenzte nach israelischen Begriffen an einen Bestseller.

Jakob wurde von einem wilden Freudentaumel erfaßt und zerriß den Brief.

Noch in derselben Woche fand er sich einem weiteren Angriff ausgesetzt. Ein anderer führender Kritiker, erbost darüber, daß er den »Moosmacher« nicht als erster verrissen hatte, schrieb eine noch bösere Kritik, bezeichnete den Roman als schnödes Machwerk und den Autor als Schandfleck der Nation, warnte vor den demoralisierenden Folgen solcher Bücher und gab abschließend der Hoffnung Ausdruck, daß sich für Jakob Schreibermann in Hinkunft kein Verleger finden würde.  Diesmal dachte Jakob nicht mehr daran, aus dem Fenster zu springen. Hatte ihn doch der Buchhänder an der Ecke informiert, daß der Verkauf des »Moosmachers« um sechs weitere Exemplare angestiegen sei - ein in der Literaturgeschichte Israels einmaliges Ereignis, das eine Wende in der Haltung des lesenden Publikums zu signalisieren schien. Tatsächlich beantwortete der Verleger, dem er zufällig auf der Straße begegnete, Jakobs Gruß mit einem freundlichen »Hallo, wie geht's?«

Der Trend hielt an.

Wenige Wochen später wurde Jakob Schreibermann, der ebenso bekannte wie umstrittene Autor, zu einem Meeting der Organisation »BEJ«, des »Bundes Enttäuschter Jugend«, als Hauptredner eingeladen und nahm die Gelegenheit wahr, sich gründlich mit seinen Kritikern auseinanderzusetzen. Er stehe hinter jedem Wort seines Romans, sagte er, und niemand, auch kein noch so einflußreicher Möchtegern-Fachmann, könne ihn davon abbringen, »daß ein demobilisierter Soldat unter bestimmten Umständen durchaus fähig wäre, eine Kibbuzkassa zu veruntreuen.«

Diese kühnen Worte riefen in der Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung hervor, prominente Persönlichkeiten wandten sich in Leserbriefen und Protestversammlungen gegen den Roman, und Jakob bekam den ersten Vorschuß seines Lebens.

In einer stillen Stunde machte er sich daran, sein Werk nochmals zu lesen und stieß auf einige schlüpfrige Stellen, die er rot anzeichnete und mit der Randbemerkung »Pornographie!!« versah. Dann schleuderte er das Exemplar durch ein offenes Fenster in die Wohnung des angesehenen Literaturkritikers Jehuda Misrachi.

Die gewünschten Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Im Kulturteil einer allgemein respektierten Wochenzeitschrift erschien aus Jehuda Misrachis Feder ein dreispaltiger Artikel, der wohl das Schärfste darstellte, was bisher gegen den »Moosmacher« geschrieben worden war: »Welch ein Abgrund sittlichen Tiefstandes tut sich hier vor uns auf! Da ist, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, von den >bebenden Brüsten einer jungen Mulattin< die Rede, die sich >wie zwei Hügel aus Schokolade unter ihrer durchsichtigen Bluse wölbten< und ähnliches mehr. Mit solchen Mitteln wird auf die niedrigsten Instinkte des Lesers spekuliert. Wer braucht diesen schmierigen Absud einer perversen Phantasie? Es ist ein Skandal, daß so etwas bei uns überhaupt gedruckt wird!« Tags darauf bildeten sich vor den Buchhandlungen Schlangen von Käufern, die »das Buch mit den Schokoladehügeln« verlangten. Die Auflage war in wenigen Stunden vergriffen, auf dem schwarzen Markt wurden Überpreise für die wenigen noch vorhandenen Exemplare gezahlt, und als Schreibermann den Literaturprofessor in einem Interview als »alten impotenten Ziegenbock« bezeichnete, forderte dieser in einem offenen Brief an den Unterrichtsminister das Verbot des Romans, selbstverständlich erfolglos. Es erschien im Gegenteil eine zweite und kurz darauf eine dritte Auflage.

Jakob Schreibermanns Popularität wuchs ebenso wie sein Bankkonto. Er wurde zu einem begehrten Gast auf öffentlichen und privaten Veranstaltungen, zu einem allseits umbuhlten Gesellschaftslöwen und zur Hauptfigur auf der Jahresversammlung des Schriftstellerverbandes, wo er sich durch höhnische Zwischenrufe bemerkbar machte und in einer kurzen Wortmeldung behauptete, daß die israelische Literatur im vergangenen Geschäftsjahr außer dem »Moosmacher« nichts Nennenswertes hervorgebracht hätte. Ein Teil der Presse wandte sich heftig gegen diese Anmaßung, ein anderer Teil schlug sich auf die Seite des Autors und schien recht zu behalten: Schreibermann wurde mit dem begehrten Literaturpreis der Grinbotter-Stiftung ausgezeichnet.

Bald nach der feierlichen Preisverteilung brachte ein vielgelesenes Boulevardblatt einen von Simons S. Sluchowsky gezeichneten Artikel, der in der rüdesten Weise über die Preisrichter und den Autor herfiel und von nicht wiederzugebenden Schmähungen nur so strotzte. 

Mittlerweile liegt der »Moosmacher« in einer sechsten Auflage vor, und der Kampf der Meinungen wogt immer noch hin und her. Jakob Schreibermann wird, wenn man nicht bald aufhört, ihn zu beschimpfen, über kurz oder lang als der bedeutendste Schriftsteller seiner Generation gelten.