Ein nicht ganz orthodoxes Gespräch


Bei jeder »Bar-Mizwah«-Feier stellt sich die Frage, nach welchem Ritus die Wandlung des Jünglings zum Manne vollzogen werden soll. Das Streitgespräch über diesen Punkt findet nicht etwa zwischen den jeweils beteiligten Eltern und Söhnen statt, sondern zwischen den verschiedenen rabbinischen Gremien. Und es geht dabei schon deshalb so hitzig zu, weil der Mensch seinem Mitmenschen alles verzeihen kann bis auf eines: daß er nach einem anderen Ritus zu seinem Schöpfer betet. Im Lande Israel tobt der Disput am leidenschaftlichsten zwischen jenen, welche die von Moses erlassenen Gesetze bis zum kleinsten Buchstaben genauso beobachten, wie sie damals auf der Generalversammlung am Berg Sinai protokolliert wurden - und einer Reformbewegung, die darauf Rücksicht nimmt, daß sich seither einiges auf Erden geändert hat und daß die Menschheit mit Computern, Vitamintabletten, Che Guevara und der Ehe ohne Trauschein gesegnet wurde.

Daß ich in diese Diskussion geriet, habe ich mir selbst zuzuschreiben.

Es war ein stürmischer Abend, stürmisch wie der im Parlament erfolgte Angriff der Nationalreligiösen Fraktion auf das Reformjudentum, als mir plötzlich der Gedanke kam, den eigentlich und unmittelbar Betroffenen um Seine Meinung zu fragen. Es würde schon in Anbetracht des delikaten Themas kein leichtes Interview werden, das war mir klar. Aber es interessierte mich, den offiziellen Standpunkt zu unserem offenbar unvermeidlichen Kulturkampf kennenzulernen.

ICH: Was ist Ihrer Meinung nach der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Haupttendenzen innerhalb der jüdischen Religion?

DER HERR (entschuldigend): Ich bin da leider nicht ganz auf dem laufenden, da mich in der letzten Zeit ein völlig anders geartetes Problem beschäftigt. Die Schwerkraft im Weltraum nimmt ab, das Universum beginnt sich auszudehnen, und es besteht die Gefahr, daß es mit der sogenannten Unendlichkeit über kurz oder lang vorbei sein wird. Dann stehe ich da und kann von vorne anfangen. Wie weit seid ihr - ich meine die Erde - von der Sonne entfernt?

ICH: In jüdischen oder arabischen Ziffern?

DER HERR: Natürlich arabisch.

ICH: 153 000 000 km.

DER HERR: Dann werdet ihr also... dann werdet ihr in ungefähr einer Billion Jahre mehr als zweihundert Millionen Kilometer von der Sonne entfernt sein... Wer weiß, was dann passiert... Bedenken Sie bitte, daß die Erde nur ein kleiner Planet im Sonnensystem ist und daß es in jeder Galaxie Millionen von Sonnensystemen gibt. 

ICH: Als der Rabbiner des Orthodoxenviertels von Jerusalem einem Reformgottesdienst beiwohnte, spuckte er zweimal aus.

DER HERR: Da die erwähnten Millionen von Sonnensystemen mir einiges zu schaffen geben, kann ich meine Aufmerksamkeit nicht restlos auf den ehrwürdigen Rabbi konzentrieren.

(Ich stellte mit Vergnügen fest, daß der Herr sich als höflicher, urbaner, ja geradezu brillanter Gesprächspartner erwies. Er ist, wie man weiß, weltberühmt für die Erschaffung der Welt und hat ungefähr 3000 Jahre vor Christi Geburt der Erde ihre heutige Gestalt gegeben, einschließlich Bevölkerung, in insgesamt sechs Tagen. Das Gespräch wurde in idiomatischem Hebräisch geführt, dann und wann mit ungarischen Brocken dazwischen.)

ICH: Ich nehme an, Herr, daß Sie mehr als irgend jemand anderer auf die strikte Befolgung Ihrer Gebote Wert legen. Sind Sie religiös?

DER HERR (nach einigem Zögern): Nein. Ursprünglich stand ich auf Seiten der Orthodoxen, aber jetzt gehen sie mir auf die Nerven. (Scharf.) Euch dort unten ist jeder Vorwand recht, um eure politischen oder persönlichen Ziele zu fördern!

Ihr denkt an alles, nur nicht an mich. Überhaupt befinde ich mich in einer unmöglichen Situation. Ihr schreibt mir die Erschaffung der Welt zu, ich gelte euch als ein überirdisches Wesen, dessen Werke das menschliche Fassungsvermögen weit übersteigen. Und trotzdem behandelt ihr mich wie einen Schmierenschauspieler, dem der Applaus über alles geht. Jeden Morgen muß ich mir die gleichen unterwürfigen Lobeshymnen anhören (er zitiert aus einem aufgeschlagenen Buch): »Herrscher der Welt, unser Vater, König der Könige, dem nichts verborgen bleibt, wir preisen Dich in Ehrfurcht, Allmächtiger, der Du entscheidest über Leben und Tod und dessen Augen alles sehen...« (Klappt das Buch zu.) Und so weiter und so fort. Ich muß schon sagen...

ICH: Herr, sie singen Ihren Preis aus Liebe.

DER HERR: Sie schmeicheln mir, das ist alles. Und sie beleidigen meine Intelligenz. Als ob der Schöpfer der Welt auf solche Lobhudelei angewiesen wäre. Sie würden es niemals wagen, den Computer der Stadtverwaltung von Tel Aviv mit so etwas zu füttern. Glauben Sie mir, lieber Freund: es ist höchste Zeit, die Dinge ein wenig aufzulockern. Ein paar kleine Kürzungen und Änderungen werden niemandem weh tun. Warum sollen Männer und Frauen nicht zusammen beten? Und wo steht geschrieben, daß die Männer immer etwas auf dem Kopf tragen müssen, vielleicht gar eine mittelalterliche polnische Pelzmütze? Habe ich euch jemals befohlen, in langen, schwarzen, schweren Mänteln herumzulaufen, auch im Sommer? Bin ich euer Feind? Auf diese Weise entfremdet ihr mir die Jugend! 

ICH: Es ist Tradition, Herr. Ihre Tradition.

DER HERR: Reden Sie sich doch nicht immer auf mich aus, wenn ich bitten darf. In einer Zeit, in der die Menschen auf den Mond fliegen, beharren Sie darauf, daß sie am Sabbath nicht fahren dürfen. Oder nehmen Sie Ihre Hochzeitszeremonie. Die wird noch immer auf aramäisch abgehalten, in einer Sprache, die nicht einmal ich verstehe. Was soll das alles? Ich habe nichts gegen die Orthodoxen, solange sie mich nicht

zwingen, ebenso zu denken wie sie. Aber gleich ausspucken, wenn jemand nach einem ändern Ritus betet? Wie läßt sich das mit der Tatsache vereinbaren, daß es schließlich in jedem Ritus um mich geht? Habe ich euch dazu euern Staat gründen lassen? Was werden sich die Zodiac-Anbeter auf dem Mars denken?

ICH: Das klingt beinahe, Herr, als ob Sie ein Ungläubiger geworden wären.

DER HERR (energisch): Bin ich nicht! In keiner Weise! Bitte machen Sie das Ihren Lesern eindeutig klar! Ich versuche nur, den Fanatikern gegenüber meine Position zu wahren. Sie sollen mir doch nicht länger unterstellen, daß ich nach wie vor die strikte Einhaltung aller 613 Gebote und Verbote erwarte, als wäre in der Zwischenzeit nichts passiert. Damit mache ich mich ja in den Augen jedes denkenden Menschen einfach lächerlich. Versuchen Sie die Dinge doch einmal von meinem Standpunkt aus zu sehen, um Gottes willen... 

ICH: Dann gehören Sie also der Reformbewegung an? 

DER HERR (vorsichtig): Ich möchte mich nicht festlegen. Sagen wir, daß ich mit den Reformern sympathisiere. Hauptsache bleibt, daß ich Jude bin.

ICH: Mit allem Respekt, Herr: wie wollen Sie das beweisen?

DER HERR (überrascht): Da haben Sie recht. Es gibt keine gesetzliche Definition des jüdischen Gottes... Ich bin Jude, weil ich Jude bin... (Mit wärmerer Stimme): Ich liebe euch alle. Ich bin des guten Willens voll. Aber auch Sie müssen Konzessionen machen. Treiben Sie keinen Keil zwischen mich und meine Religion. Geben Sie mir die Möglichkeit, mein Amt auch in kommenden Zeiten und für kommende Generationen zu versehen.

ICH: Herr, ich danke Ihnen für dieses Gespräch. Darf ich meinen Lesern sagen, daß Sie uns noch immer für das auserwählte Volk halten?

DER HERR (herzlich): Gewiß. Ich mag euch mehr als alle anderen Völker.

ICH: Warum?

DER HERR: Ihr seid so komisch.