20.
Zhu Chao zitterte. Schweiß rann ihm über die Wangen. Er kämpfte um Gelassenheit, doch sein Puls raste, und er spürte das unregelmäßige Pochen seines Herzens.
Er kann dich nicht erreichen, sagte er sich. Er ist nur ein einzelner Mann. Ich habe viele Krieger. Und da sind die Hunde. Ja, ja, die Hunde. Sie werden ihn aufspüren!
Er setzte sich an sein Schreibpult und starrte auf die offene Tür, an der zwei Wachen mit gezogenen Schwertern warteten.
Die Hunde waren ihm aus Kiatze geschickt worden, prachtvolle Tiere mit gewaltigen Kiefern und kräftigen Schultern. Man sagte ihnen nach, daß sie als Jagdhunde sogar Bären zur Strecke brachten. Sie würden ihn zerfleischen, ihm das Fleisch von den Knochen reißen!
Der Zauberer schenkte sich einen Becher Wein ein, doch er zitterte so sehr, daß er die Flüssigkeit über einige Pergamente verschüttete, die auf der eichenen Tischplatte lagen. Es war ihm egal. Nichts war mehr wichtig, nur daß er diese Nacht der Angst überlebte.
»Herr!« pulste Casta.
»Ja?«
»Einer der Hunde ist tot. Die anderen schlafen. Wir haben Reste von frischem Fleisch bei ihnen gefunden. Ich glaube, er hat sie vergiftet. Herr! Kannst du mich hören?«
Zhu Chao war wie betäubt, und er spürte, wie sein Verstand in einer Woge der Panik davongespült wurde.
»Herr! Herr!« pulste Casta. Doch Zhu Chao konnte nicht antworten. »Ich habe Befehl gegeben, daß alle Männer sich zum Hauptpalast begeben«, fuhr Casta fort. »Wir haben das Erdgeschoß abgeriegelt, und meine Männer bewachen alle drei Treppenaufgänge.«
Der Zauberer trank seinen Wein aus und schenkte sich einen zweiten Becher ein. Der Alkohol stärkte seinen schwindenden Mut. »Gut«, pulste er zurück. Er stand auf - und schwankte, so daß er sich am Schreibtisch festhalten mußte. Zuviel Wein, dachte er, und zu rasch getrunken. Egal. Es würde vorübergehen. Er holte ein paarmal tief Luft und spürte, wie seine Kraft zurückkehrte.
Rasch durchquerte er das Zimmer und trat in den Flur hinaus. Die beiden Wachen nahmen Haltung an. »Folgt mir«, befahl er und marschierte zur Treppe, die in die Verliese führte. Er ließ zuerst einen Mann die Treppe hinuntergehen; der andere folgte ihm mit gezogenem Schwert. Am Fuß der Treppe gelangten sie in einen fackelerhellten Gang. Am anderen Ende saßen drei Männer beim Würfelspiel an einem Tisch. Sie sprangen auf, als Zhu Chao ins Licht trat.
»Bringt die Gefangenen ins Innere Heiligtum«, sagte er.
»Herr!« pulste Casta triumphierend.
»Sprich!«
»Er ist tot. Einer der Wächter fand ihn, als er auf das Dach klettern wollte. Sie kämpften, und der Attentäter wurde getötet und fiel vom Dach auf die Steinplatten hinunter!«
»Ja!« brüllte Zhu Chao und reckte eine Faust in die Luft. »Bringt mir seinen Leichnam. Ich werde ihn zur Hölle schicken!« Oh, wie süß schmeckte das Leben in diesem Augenblick! Die Worte klangen in seinem Kopf wie das Lied der Nachtigall: Waylander ist tot. Waylander ist tot!
Er verließ die Männer, betrat einen kleinen Raum am Ende des Ganges und verschloß die Tür hinter sich. Aus einem Geheimversteck unter einem Eichenschreibpult holte er das Fünfte Buch der Beschwörungen und studierte das neunte Kapitel. Er schloß die Augen, sprach die Worte der Macht und schwebte über den Mauern von Kar-Barzac. Doch es gab keinen Weg an der pulsierenden Macht vorbei, die von unterhalb der Festung ausstrahlte. Dann, so plötzlich wie Sonne auf Sturm folgt, verblaßte die Macht und erstarb. Zhu Chao war verblüfft. Rasch schickte er seinen Geist auf die Suche in das Labyrinth unter der Zitadelle und fand den Priester Ekodas, der den Kristall an sich drückte. Er spürte das Aufwallen seiner Gabe, seinen wachsenden Ehrgeiz, seine keimenden Begehren.
Er sprach mit dem Priester und spürte einen verwandten Geist. Als Ekodas sagte, er würde den Kristall nach Gulgothir bringen, wußte Zhu Chao, daß der Priester die reine Wahrheit sagte. Er hatte Mühe, seinen Triumph vor Ekodas zu verbergen, und kehrte in seinen Palast zurück.
Waylander war tot. Der Kristall war sein. Und in wenigen, kurzen Augenblicken würden die Seelen der Könige Shemak geopfert.
Und der Sohn eines Schuhmachers würde Herrscher der Erde sein!
Wieder hatte sich die Armee der Gothir zurückgezogen, doch die Verteidiger auf den Mauern waren jetzt dezimiert und erschöpft bis zur Verzweiflung. Dardalion ging von einem zum anderen der Dreißig und blieb nur beim Leichnam des dicken Merlon stehen. Er war an dem zerstörten Tor gestorben, als er sich in die Masse der Krieger geworfen hatte, die durch das zerbrochene Fallgitter gestürmt waren. Orsa Khan und eine Schar von Nadirkriegern waren zu ihm geeilt, und gemeinsam hatten sie die Angreifer zurückgeschlagen. Doch gerade als die Gothir sich in ihr Lager zurückzogen, war Merlon zu Boden gesunken, aus zahlreichen Wunden blutend.
Er starb binnen weniger Augenblicke. Dardalion kniete neben dem Toten nieder. »Du warst ein guter Mann, mein Freund«, sagte er leise. »Möge die QUELLE dich willkommen heißen.«
Aus dem Augenwinkel sah er Angel aus der Halle kommen, den Leichnam des Schwertkämpfers Senta in den Armen. Dardalion seufzte und stand auf. Miriel kam als nächste; an ihrer Seite war ein kleiner Junge. Der Abt ging zu ihnen und wartete schweigend, als Angel seinen toten Freund hinlegte. Vor dem silbergerüsteten Abt wich der kleine Junge zurück und verschwand in die Halle.
»Wo ist Ekodas?« fragte Dardalion schließlich.
»Er lebt«, sagte Angel. »Und der Kristall ist zerstört.«
»Die QUELLE sei gelobt! Ich war nicht sicher, ob selbst Ekodas die Kraft haben würde.«
Er sah, daß Miriel etwas sagen wollte, doch Angel kam ihr rasch zuvor. »Es war eine Schöpfung des Bösen«, sagte er.
Ekodas erschien in der Tür und blinzelte im nachlassenden Tageslicht. Dardalion lief zu ihm. »Du hast es geschafft, mein Sohn. Ich bin stolz auf dich.« Er wollte den Priester umarmen, doch Ekodas stieß ihn weg.
»Ich habe gar nichts getan - nur einen Mann sterben lassen«, flüsterte er. »Laß mich, Dardalion.« Der Priester taumelte davon. Der Abt wandte sich wieder an Miriel. »Erzählt mir alles«, sagte er. Miriel seufzte und berichtete von dem Kampf mit dem Ungeheuer, von Sentas Tod. Ihre Stimme war leise und tonlos, ihr Blick leer. Dardalion spürte ihren Schmerz und ihren Kummer.
»Es tut mir leid, mein Kind. So schrecklich leid.«
»In allen Kriegen sterben Menschen«, sagte Miriel tonlos. Wie im Traum ging sie davon zu den Wehrgängen.
Angel deckte Senta mit seinem Mantel zu; dann stand er auf. »Ich würde Kesa Khan am liebsten umbringen«, zischte er.
»Damit erreichst du nichts«, erwiderte Dardalion. »Geh mit Miriel. Sie ist gefährdet und könnte zu Schaden kommen.«
»Nicht, solange ich lebe«, sagte Angel. »Aber sag mir, Abt, wozu? Warum mußte Senta dort unten sterben? Bitte sag mir, daß es einen Sinn hatte. Und ich will nichts von Stammeseinern hören.«
»Ich kann nicht alle deine Fragen beantworten. Ich wünschte, ich könnte es. Aber kein Mensch weiß, wohin ihn seine Schritte letzten Endes lenken, oder zu welchen Ergebnissen seine Taten führen. Aber eins kann ich dir sagen, und ich bitte dich, es in deinem Herzen zu bewahren und zu keiner lebenden Seele ein Wort davon zu sagen. Dort ist sie, da auf dem Wehrgang. Was siehst du?«
Angel blickte auf und sah Miriel, gebadet in das feurige Licht des Sonnenuntergangs. »Ich sehe eine schöne Frau, zäh und doch sanft, stark und doch liebevoll. Was sollte ich deiner Ansicht nach sehen?«
»Was ich sehe«, wisperte Dardalion. »Eine junge Frau, die die Saat zukünftiger Größe in sich trägt. Selbst in diesem Moment wächst sie in ihr, winzig, nur ein Lebensfunken, geschaffen aus Liebe. Aber eines Tages, wenn wir hier überleben, könnte aus diesem Funken eine Hamme entstehen.«
»Sie ist schwanger.«
»ja. Sentas Sohn.«
»Das wußte er nicht«, sagte Angel mit einem Blick auf den zugedeckten Leichnam auf den Steinen.
»Aber jetzt weißt du es, Angel. Du weißt, daß sie etwas hat, wofür es sich zu leben lohnt. Aber sie braucht Hilfe. Es gibt nur wenige Männer, die stark genug sind, das Kind eines anderen Mannes anzunehmen.«
»Das macht mir nichts, Abt. Ich liebe sie.«
»Dann geh zu ihr, mein Sohn. Setz dich zu ihr. Teile ihren Kummer.«
Angel nickte und ging davon. Dardalion schlenderte in die Halle. Der Junge saß an einem Tisch und starrte auf seine Hände hinunter. Der Abt setzte sich ihm gegenüber. Ihre Blicke trafen sich, und Dardalion lächelte. Der Junge erwiderte sein Lächeln. Kesa Khan betrat die Halle von der Treppe her, die nach oben führte. Er sah Dardalion und kam zu seinem Tisch. »Ich habe sie auf dem Wehrgang gesehen«, sagte er. »Ich bin ... froh, daß sie es überlebt hat.«
»Ihr Geliebter hat nicht überlebt«, sagte Dardalion.
Der Schamane zuckte die Achseln. »Das ist nicht wichtig.«
Dardalion verkniff sich eine zornige Entgegnung und richtete seinen Blick wieder auf den Jungen. »Ich habe etwas für dich, Kesa Khan«, sagte er, immer noch das schwarzäugige Kind betrachtend.
»Ja?«
»Der junge Kriegsherr, der Shias Tochter heiraten wird.«
»Du weißt, wo er zu finden ist?«
»Du sitzt neben ihm«, sagte Dardalion und stand auf.
»Er ist stumm. Wertlos!«
»Bei allem, was heilig ist, Schamane, ich verabscheue dich!« brüllte Dardalion. Mühsam um Beherrschung kämpfend, beugte er sich vor. »Der Junge hatte eine Infektion im Ohr, die ihn taub machte. Da er nicht hören konnte, lernte er auch nie zu sprechen. Ekodas hat ihn geheilt. Jetzt ist alles, was er braucht, Zeit, Geduld und etwas, das dir wohl abgeht - Liebe!« Ohne ein weiteres Wort drehte Dardalion sich auf dem Absatz um und marschierte aus dem Saal.
Vishna traf ihn im Hof. »Sie sammeln sich wieder. Wir werden es schwer haben, sie aufzuhalten.«
Waylander kauerte auf dem Dach und beobachtete, wie die Männer sich unten um den Toten scharten. Der Wächter hätte ihn um ein Haar überrascht, aber der Mann hatte sein Schwert zu langsam gezogen, und ein schwarzes Wurfmesser war ihm in die Kehle gedrungen und hatte seine Unentschlossenheit beendet - und sein Leben. Waylander hatte den Mann schnell entkleidet, dann seine eigene Weste und die Beinkleider abgelegt und sie dem Mann angezogen.
Der Tote war etwas kleiner als Waylander, doch die schwarze Brustplatte und der Vollvisierhelm paßten ihm gut, wenn ihm auch die dunklen, wollenen Beinkleider nur halb über die Waden reichten. Dieser Mangel wurde jedoch von den knielangen Stiefeln verdeckt. Sie waren eng, aber das Leder war weich und nachgiebig, so daß sie Waylander nur wenig Unbequemlichkeit verursachten.
Als er sich über die Brüstung beugte, sah er die Wachen unten im Hof. Er zog das Schwert des Toten und hielt seine eigene Klinge in der rechten Hand. Dann rief er sie an. »Er ist hier! Auf dem Dach!« Außer Sichtweite der Männer unten klirrten zwei Schwerter gegeneinander; der mißtönende Klang hallte über dem Palast. Dann stieß Waylander dem Toten sein Schwert dreimal ins Gesicht, so daß die Knochen brachen und die Züge unkenntlich wurden. Anschließend legte er die Schwerter beiseite, hievte den Toten auf die Brüstung und warf ihn hinunter.
Er wartete ein paar Minuten und beobachtete, wie die Soldaten den Toten in den Palast trugen. Dann setzte er den Helm auf, sammelte sein zweites Seil wieder ein und lief zur Rückseite des Daches, wo er sich vorbeugte und die unter ihm liegenden Fenster prüfte. Nach der Information, die er von Matze Chai erhalten hatte, gab es eine Treppe an der Ecke des Gebäudes, die zu den unteren Etagen führte.
Er schlang sein Seil über eine vorstehende Säule, kletterte zur Wand hinunter und seilte sich ab, an zwei Fenstern vorbei, bis er zum dritten kam. Es stand offen, und drinnen brannte kein Licht. Er hakte sich mit einem Fuß über das Sims; dann kletterte er hinein. Es war ein Schlafzimmer mit einem schmalen Bett. Da keine Decken oder Laken darauf lagen, nahm er an, daß es sich um ein unbenutztes Gästezimmer handelte. Er verbarg seine Armbrust in den Falten des schwarzen Umhangs des Toten und trat hinaus in den Gang. Die Treppe war rechts von ihm, und er eilte darauf zu. Auf den Stufen hörte er Schritte, ging jedoch weiter. Zwei Ritter kamen um eine Biegung und stiegen zu ihm hinunter.
»Wer hat den Attentäter getötet?« fragte der erste.
Waylander zuckte die Achseln. »Ich nicht, leider«, sagte er und setzte seinen Weg fort.
»Wer ist denn sonst noch da oben?« fragte der erste Mann und faßte Waylander an der Schulter. Der Attentäter fuhr herum, die Armbrust im Anschlag.
»Niemand«, sagte er - und schoß einen Bolzen ab, der dem Mann in den offenen Mund und weiter ins Hirn drang. Der zweite Ritter versuchte davonzulaufen, doch Waylander schoß noch einmal und traf den Mann im Nacken. Er fiel auf die Stufen und regte sich nicht mehr.
Der Attentäter lud die Armbrust mit seinen letzten beiden Bolzen; dann ging er weiter.
Als seine Ketten gelöst wurden, spannte Karnak sich, doch eine Messerspitze berührte seine Kehle, und er wußte, daß ein Kampf sinnlos wäre. Der große Drenaigeneral starrte die Männer, die seine Arme hielten, finster an. »Bei allen Göttern, ich werde mir eure Gesichter merken«, erklärte er.
Einer von ihnen lachte. »Dann mußt du dich nicht mehr lange erinnern.«
Sie zerrten ihn aus dem Verlies in den fackelerhellten Korridor. Er sah Zhu Chao bei einer Tür stehen. »Die Pest auf dich, du gelber Hund!« rief er.
Der Kiatze antwortete nicht, sondern trat beiseite, als Karnak in das Innere Heiligtum geführt wurde. Auf dem Steinboden war mit Kreide ein Pentagramm gezeichnet, und man hatte Golddrähte so zwischen Kerzenhalter aus rostigem Eisen gespannt, daß sie einen sechszackigen Stern über der Kreidezeichnung bildeten. Karnak wurde zu einer Wand gezerrt, wo er wieder an den Handgelenken angekettet wurde. Er sah, daß schon ein anderer Gefangener da war, ein großer schlanker Mann, der trotz der Schrammen und Blutergüsse im Gesicht königlich wirkte.
»Ich kenne dich«, flüsterte Karnak.
Der Mann nickte. »Ich bin der Narr, der Zhu Chao vertraute.«
»Du bist der Kaiser.«
»Ich war«, erwiderte der Mann verdrießlich. Er seufzte. »Die Schlange tritt ein ...«
Karnak drehte den Kopf und sah die purpurgewandete Gestalt Zhu Chaos näher kommen.
»Heute abend, meine Herren, werdet ihr das höchste Geschenk der Macht miterleben.« Seine schrägstehenden Augen glänzten, als er sprach, und der Hauch eines Lächelns umspielte seinen dünnlip-pigen Mund. »Ich schätze, daß ihr mein Vergnügen nicht teilt, obwohl ihr wesentlich dazu beitragen werdet.« Er beugte sich vor und legte eine Hand auf Karnaks massige Brust. »Ihr müßt wissen, ich beginne damit, dir das Herz herauszuschneiden und es auf den goldenen Altar zu legen. Diese Gabe wird den Diener unseres Gottes Shemak herbeirufen.« Er wandte sich an den Kaiser. »Und dann kommst du an die Reihe. Du wirst als Ganzes geopfert, und der Dämon wird dich verschlingen.«
»Mach, was du willst, Zauberer«, fauchte der Kaiser, »aber langweile mich nicht länger.«
»Ich versichere, Eure Hoheit wird sich nicht mehr lange langweilen.« Drei Männer betraten den Raum, die einen blutüberströmten Körper trugen. Zhu Chao drehte sich um. »Ah«, sagte er. »Meine angebliche Nemesis! Bringt ihn her!«
Die Ritter legten den Toten auf den Fußboden. Zhu Chao lächelte. »Seht nur, wie kümmerlich er im Tod aussieht, das Gesicht vom scharfen Schwert eines tapferen Ritters wegrasiert? Seht ihr, wie ...« Er brach ab. Seine Augen starrten die rechte Hand des Toten an. Der Mittelfinger fehlte; es war eine alte Wunde, bedeckt von einer weißen Narbe. Zhu Chao kniete nieder und hob die rechte Hand des Mannes hoch. Am Ringfinger steckte ein rotgoldener Ring, geformt wie eine zusammengerollte Schlange. »Ihr Idioten!« zischte Zhu Chao. »Das ist Onfel! Seht doch nur den Ring!« Zhu Chao kam ungeschickt auf die Füße. Wütend und fassungslos brüllte er: »Waylander lebt! Er ist im Palast. Raus! Ihr alle! Findet ihn!«
Die Ritter stürmten aus dem Raum. Zhu Chao knallte die Tür zu und ließ einen schweren Riegel zufallen.
Karnak lachte dröhnend. »Er wird dich umbringen, Zauberer. Du bist schon so gut wie tot!«
»Halt dein stinkendes Maul!« kreischte Zhu Chao.
»Wie willst du mich dazu bringen? Womit willst du mir drohen?« fragte der riesige Drenai. »Mit dem Tod? Das glaube ich nicht. Ich kenne den Mann, der dich jagt. Ich weiß, wessen er fähig ist. Bei den Gebeinen Missaels, ich habe ihn selbst jagen lassen. Mit den besten Meuchelmördern, den besten Schwertkämpfern. Doch er lebt noch immer.«
»Nicht mehr lange«, sagte der Zauberer. Ein langsames, grausames Lächeln krümmte seine schmalen Lippen. »Ach ja, du hast Meuchelmörder angeheuert - um deinen geliebten Sohn Bodalen zu beschützen. Er hat mir erst kürzlich davon erzählt.«
»Du hast meinen Sohn gesehen?«
»Ihn gesehen? Oh, ich habe ihn oft gesehen, mein lieber Karnak. Er gehörte mir, weißt du. Er hat mir alle deine Pläne verraten, weil ich ihm versprach, daß er über die Drenai herrschen würde, wenn ich dich erst getötet hätte.«
»Du lügnerischer Hurensohn!« tobte Karnak.
»Aber nein. Frag doch deinen Nachbarn, den ehemaligen Kaiser. Er hat keinen Grund zu lügen. Er wird an deiner Seite sterben. Bodalen war schwach, ohne Rückgrat und letztendlich nur wenig von
Nutzen für mich.« Zhu Chao lachte. Es war ein hohes, schrilles Geräusch, das in der Kammer widerhallte. »Selbst wenn er die Kraft von zehn Männern besaß, hatte er Schwierigkeiten, seine Aufgabe zu erfüllen. Der arme, dumme, tote Bodalen.«
»Tot?« flüsterte Karnak.
»Tot«, wiederholte Zhu Chao. »Ich habe ihn in eine verzauberte Festung geschickt. Du würdest bestimmt nicht gern sehen, was aus ihm geworden ist. Deshalb werde ich es dir zeigen.«
Der Zauberer schloß die Augen, und in Karnaks Kopf drehte sich alles. Er starrte in eine schwach erleuchtete Kammer, in der ein Wesen wie aus einem Alptraum gegen eine junge Frau und den Gladiator Senta kämpfte. Er sah, wie Senta zu Boden ging und wie ein zweiter Arenakrieger, Angel, zum Angriff ansetzte. Dann verblaßte das Bild.
»Ich würde dir gern mehr zeigen, aber leider mußte ich gehen«, sagte Zhu Chao voller Bosheit. »Aber das Ungeheuer war Bodalen -und ein paar meiner Männer, durch Magie verschmolzen.«
»Ich glaube dir nicht«, sagte Karnak.
»Das dachte ich mir. Also, Drenai, zeige ich dir zu deiner Erbauung eine andere Szene aus Kar-Barzac.«
Wieder verschwamm ihm alles vor Augen, und Karnak stöhnte, als er sah, wie Bodalen und die anderen Krieger in der Kristallkammer in Schlaf fielen, wie ihre Körper sich zu winden begannen und verschmolzen ...
»Nein!« schrie er und zerrte wild an den Ketten, die ihn hielten.
»Oh, ich genieße deine Qual, Drenai«, sagte Zhu Chao. »Und hier ist noch eine Quelle der Pein für dich. Morgen wird Galen deinen Freund Asten töten, und die Drenai werden, wie schon die Gothir, unter die Herrschaft der Bruderschaft kommen. Und auch Ventria. Drei Reiche unter einem Herrscher. Mir selbst.«
»Du vergißt Waylander«, schnaubte Karnak. »Bei allen Göttern, ich würde meine Seele geben, um den Augenblick zu erleben, wo er dich tötet.«
»Ehe die Nacht vorüber ist, wird meine Macht so groß sein, daß keine Klinge mich mehr verletzen kann. Dann werde ich diesen ... Drenaiwilden ... willkommen heißen!«
»Heiße ihn jetzt willkommen«, tönte eine kalte Stimme auf der anderen Seite des Raumes.
Zhu Chao fuhr herum. Seine dunklen Augen verengten sich, als er in die Schatten bei der Tür spähte. Ein Ritter trat hinter einer Säule hervor und nahm den Vollvisierhelm ab, den er trug.
»Du kannst nicht hier sein!« flüsterte Zhu Chao. »Du kannst nicht!«
»Ich kam mit den Männern herein, die den Toten brachten. Zu freundlich von dir, daß du sie ausgesperrt hast.«
Der Attentäter trat näher, die Armbrust erhoben. Zhu Chao rannte nach links und sprang über die goldenen Drähte, um zur Mitte des Pentagramms zu kommen. Waylander schoß einen Bolzen auf den Hals des Zauberers ab, aber Zhu Chao drehte sich im letzten Moment um und riß die Hand hoch. Der Bolzen durchschlug sein Handgelenk - und er schrie vor Schmerzen. Waylander zielte. Doch der Zauberer duckte sich hinter den goldenen Altar und begann zu singen.
Schwarzer Rauch waberte um den Altar, wirbelte hoch und formte eine massige Gestalt, mit Haaren und Augen aus grünem Feuer. Waylander schoß einen Bolzen in den gewaltigen Brustkasten, doch er drang einfach hindurch und prallte gegen die dahin-terliegende Mauer.
Zhu Chao erhob sich und stellte sich vor das Wesen aus Rauch und Feuer. »Und was machst du jetzt, kleiner Mann?« höhnte er. »Was für armselige Waffen willst du jetzt benutzen?« Der Attentäter erwiderte nichts. Er hatte keinen Bolzen mehr; deshalb ließ er die Armbrust fallen und zog seinen Säbel.
»Shemak!« kreischte Zhu Chao. »Ich verlange den Tod dieses Mannes!«
Die Gestalt mit den Flammenaugen breitete die gewaltigen Arme aus, und eine Stimme wie ferner Donner grollte durch den Raum. »Du erteilst mir keine Befehle, Sterblicher. Du bittest um einen Gefallen, und du bezahlst dafür mit Blut. Wo ist die Bezahlung?«
»Dort!« sagte Zhu Chao und deutete auf die angeketteten Männer.
»Sie leben noch«, sagte der Dämon. »Das Ritual ist unvollständig.«
»Ich werde dir ihre Stärke opfern, Herr, ich schwöre es! Aber zuerst, ich bitte dich, gib mir das Leben des Mörders Waylander.«
»Es würde mir besser gefallen, zu sehen, wie du ihn tötest«, sagte der Dämon. »Soll ich dir die Kraft verleihen?«
»Ja! Ja!«
»Wie du willst!«
Plötzlich schrie Zhu Chao vor Schmerzen auf; sein Kopf bog sich nach hinten. Sein Körper verrenkte sich und wuchs, dehnte sich, schwoll an. Seine Kleider fielen von ihm ab, als sich neue, dicke, harte Muskeln bildeten. Sein Körper verkrampfte sich, und seiner deformierten Kehle entrang sich ein schreckliches Stöhnen. Nase und Kinn wölbten sich vor; glattes, samtenes Fell drang durch seine Haut und überzog die inzwischen ungeheure, zweieinhalb Meter große Gestalt. Sein Mund öffnete sich und ließ lange Fangzähne sehen, und aus seinen Fingern, die jetzt drei Gelenke hatten, wuchsen Klauen.
Das Wesen, das einst Zhu Chao gewesen war, stolperte vorwärts, zerriß die zarten goldenen Drähte und warf die schwarzen Kerzenhalter um.
An der Wand zerrte Karnak mit seiner gewaltigen Kraft an seinen Ketten. Zwei der Glieder dehnten sich, gaben aber nicht nach. Wieder und wieder warf der Drenai sein Gewicht dagegen.
Waylander wich vor dem Ungeheuer zurück, und das Gelächter des Rauchdämons erfüllte den Raum.
Außerhalb des Pleiligtums hämmerten die übriggebliebenen Ritter des Blutes gegen die Tür und riefen nach ihrem Meister. Waylander rannte zu seinem Helm zurück. Er stülpte ihn über, hob den Riegel hoch und trat beiseite. Die Tür wurde aufgestoßen. Drei Ritter schössen herein. Einer fiel direkt vor dem entsetzlichen Ungeheuer auf die Knie. Der Mann schrie auf und versuchte, aufzustehen. Das Untier grub seine Klauen in den Leib des Mannes und hob ihn in die Luft. Die tödlichen Fangzähne rissen ihm die Kehle auf. Blut sprühte auf den Altar.
Die anderen Ritter blieben wie gelähmt stehen.
»Es hat den Meister getötet!« brüllte Waylander. »Nehmt eure Schwerter!«
Doch die Ritter machten kehrt und flohen. Das Ungeheuer sprang mit einem Satz auf Waylander zu. Er duckte sich unter den zuschlagenden Klauen und ließ sein Schwert auf den Bauch des Wesens sausen, doch seine Klinge ritzte lediglich die Haut. Waylander ließ sich fallen und rollte sich ab.
Mit einer letzten Anstrengung spannte Karnak die rechte Kette, drehte sich um, nahm beide Hände und riß die linke Kette aus ihrer Verankerung. Er drehte sich um sich selbst, schwang die Ketten über seinem Kopf und griff das Ungeheuer an. Die Eisenglieder trafen das Biest an der Kehle und wickelten sich um seinen Hals. Es drehte sich um und richtete sich zu voller Größe auf, so daß es Karnak von den Füßen riß. Waylander warf sich nach vorn und stieß sein Schwert mit aller Kraft und seinem ganzen Gewicht in den ungeschützten Bauch.
Es stieß ein lautes Heulen aus - und eine Klauenhand riß Waylander die Schulter auf. Er fiel rücklings. Karnak zerrte an den Ketten, die sich enger um die Kehle des Wesens schlössen. Es versuchte sich umzudrehen und seinen Angreifer zu zerfleischen, doch trotz seiner Masse bewegte sich Karnak gewandt und hielt die Kette straff gespannt. Waylander rannte zu dem gestürzten Ritter und nahm dessen Schwert an sich. Er hielt die Klinge mit beiden Händen, hob sie hoch und hämmerte sie auf den langgezogenen Schädel. Beim ersten Schlag prallte die Klinge ab, doch Waylander schlug noch zweimal zu. Beim drittenmal spaltete er den Schädelknochen, und das Schwert drang tief in den Kopf ein. Das Ungeheuer sank auf alle viere. Blut schoß aus seinem Maul, die Klauen scharrten auf den Steinen.
Und es starb.
Der Rauchdämon schwieg einen Moment. »Du machst mir viel Spaß, Waylander«, sagte er leise. »Aber das hast du immer schon getan. Und wirst du wohl auch immer tun.«
Der Rauch wallte auf und verging - und der Dämon verschwand.
Karnak wickelte die Kette vom Hals des toten Ungeheuers und ging zu Waylander. »Gut, dich zu sehen, alter Knabe«, sagte er mit breitem Lächeln.
»Die Männer, die du ausgeschickt hast, sind alle tot«, erwiderte Waylander kalt. »Jetzt bist nur noch du übrig.«
Karnak nickte. »Ich habe versucht, meinen Sohn zu schützen. Keine Entschuldigung. Er ist... tot. Du lebst. Laß es damit zu Ende sein.«
»Ich wähle das Ende selbst«, sagte Waylander und ging an dem großen Drenai vorbei zum Kaiser, der noch immer angekettet an der Wand stand. »Es hieß immer, du wärst ein Mann von Ehre«, sagte Waylander zu ihm.
»Darauf war ich immer stolz«, antwortete der Kaiser.
»Gut. Wie du siehst, habe ich zwei Möglichkeiten, Majestät. Ich kann dich töten, oder ich kann dich gehen lassen. Aber dann mußt du einen Preis bezahlen.«
»Nenne ihn, und wenn es in meiner Macht steht, soll er dir gehören.«
»Ich will, daß der Angriff auf die Nadirwölfe eingestellt wird, daß die Armee zurückbeordert wird.«
»Was bedeuten die Nadir dir?«
»Weniger als nichts. Aber meine Tochter ist bei ihnen.«
Der Kaiser nickte. »Es wird geschehen, wie du wünschst, Waylander. Und für dich selbst willst du nichts?«
Der Attentäter lächelte müde. »Das kann mir niemand geben«, sagte er.
Angel schob den Tisch zur Treppe, wo er ihn auf die Seite kippte, so daß die feindlichen Bogenschützen auf dem Absatz oben keine Sicht mehr hatten. Dann sank er in die Hocke und blickte sich in der Halle um.
Die Gothir hatten am elften Tag der Belagerung das Fallgittertor bezwungen, und die Verteidiger hatten sich in die trügerische Sicherheit der Inneren Festung zurückgezogen. Die älteren Frauen und Kinder verbargen sich in den unteren Ebenen der Festung, während -wie Angel es vorhergesagt hatte - die jüngeren Frauen nun mit den Männern die Verteidigung der Zitadelle übernommen hatten.
Es waren nur noch fünfundachtzig Männer übrig, und diese waren müde bis zur Verzweiflung, als die Belagerung in den dreizehnten Tag ging. Die Barrikaden am Eingangstor zum Burgfried hielten, doch die Gothir hatten die äußeren Mauern erstiegen und waren durch unbewachte Fenster hineingeklettert. Jetzt kontrollierten sie alle oberen Ebenen und unternahmen gelegentlich einen Angriff auf die schmalen Treppenabgänge. Noch öfter aber schickten sie einfach Pfeile in die dichtbevölkerte Halle hinunter.
Ein Pfeil traf mit einem dumpfen Laut den umgedrehten Tisch. »Ich weiß, daß du da bist, Arschgesicht!« brüllte Angel.
Miriel kam zu ihm. Sie hatte abgenommen. Die Haut ihres Gesichts spannte sich, und ihre Augen glänzten unnatürlich. Seit Sentas Tod hatte sie gekämpft, als wäre sie von einem Todeswunsch besessen. Angel hatte es schwer gehabt, sie zu schützen, und hatte zwei kleinere Verletzungen davongetragen, eine an der Schulter, die andere am Unterarm, als er sich den Kriegern, die Miriel umringten, in den Weg warf.
»Wir sind am Ende«, sagte sie. »Die Barrikade wird sie nicht mehr lange aufhalten.«
Angel zuckte die Achseln. Eine Antwort war nicht nötig. Miriel hatte offensichtlich recht, und Angel spürte, wie sich unter den Nadir eine düstere Resignation ausbreitete. Miriel setzte sich neben ihn und lehnte den Kopf an seine Schulter. Er legte den Arm um sie. »Ich habe ihn geliebt, Angel«, sagte sie kaum hörbar. »Ich hätte es ihm sagen sollen, aber ich wußte es nicht, bis er nicht mehr da war.«
»Und deswegen fühlst du dich schuldig? Daß du die Worte nicht ausgesprochen hast?«
»Ja. Er hat mehr verdient. Und es ist so schwer hinzunehmen, daß er ...« Sie schluckte, unfähig, das Wort auszusprechen. Mit einem gezwungenen Lächeln hob sich ihre Stimmung für einen Augenblick. »Er hatte eine solche Lebensfreude, nicht wahr? Und er war immer so geistreich. Senta war ein ganzer Kerl, oder?«
»Ja, ein ganzer Kerl«, stimmte Angel ihr zu. »Er hat sein Leben in vollen Zügen gelebt. Er kämpfte, liebte ...«
»... und starb.« Sie sagte es rasch und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
»Ja. Aber - bei Shemak! - wir alle sterben.« Angel seufzte; dann lächelte er. »Um mich selbst tut es mir nicht leid. Ich hatte ein erfülltes Leben. Aber es macht mich traurig zu wissen, daß ... du jetzt hier bei mir bist. Alles liegt noch vor dir - oder sollte es zumindest.«
Sie nahm seine Hand. »Wir werden in der Leere zusammen sein. Wer weiß, welche Abenteuer auf uns warten. Und vielleicht ist er da ... und wartet!«
Ein weiterer Pfeil krachte in den Tisch; dann hörte Angel Stiefelgetrappel auf der Treppe. Er sprang auf und zog sein Schwert. Als die Gothir herunterschwärmten, zerrte Angel den Tisch beiseite, um sich ihnen zu stellen. Miriel war dicht hinter ihm.
Angel tötete zwei Krieger, Miriel einen dritten, und die Gothir wichen zurück. Ein Bogenschütze tauchte oben an der Treppe auf. Miriel warf ein Messer, das ihn in die Schulter traf, und der Mann fiel hintenüber. Angel wich zurück und verkeilte den Tisch im Treppenaufgang. »Na«, sagte er mit einem breiten Grinsen, »noch sind wir nicht am Ende.«
Als er durch die Halle marschierte, sah er den Priester Ekodas, der neben dem getroffenen Dardalion kniete. Der Abt schlief noch, und Angel blieb stehen. »Wie geht es ihm?« fragte er.
»Er stirbt«, antwortete Ekodas.
»Ich dachte, du hättest die Wunde geheilt.«
»Habe ich auch, aber sein Herz hat aufgegeben. Es ist nahezu zerrissen, und die Klappen sind dünner als Papyrus.« Es war das erste Mal, daß die beiden Männer seit dem Kampf gegen das Ungeheuer miteinander sprachen. Ekodas blickte auf; dann erhob er sich und stand vor dem ehemaligen Gladiator. »Es tut mir leid, was geschehen ist«, sagte er. »Ich ... ich ...«
»Es war der Kristall«, warf Angel rasch ein. »Ich weiß. Er hatte eine ähnliche Wirkung auf mich.«
»Aber du hast ihn zerstört.«
»Ich hatte ihn auch nie in den Händen. Quäl dich nicht, Priester.«
»Ich bin kein Priester mehr. Ich bin nicht würdig.«
»Ich bin kein Richter, Ekodas, aber wir alle haben unsere Schwächen. Wir sind so geschaffen.«
Der schlanke Priester schüttelte den Kopf. »Das ist sehr großmütig von dir. Aber ich schaute zu, wie dein Freund starb - und ich schloß einen Pakt mit dem Bösen. Zhu Chao kam zu mir in jene Kammer. Er schien wie ... wie ein seelenverwandter Bruder. Und in dieser kurzen Zeit hatte ich solche abscheulichen Träume. Ich hätte nie gedacht, daß eine solche ... Dunkelheit in mir steckt. Ich werde jetzt einen anderen Pfad wählen.« Er zuckte die Achseln. »Der Kristall hat mich nicht verändert, verstehst du. Er hat mir lediglich die Augen geöffnet, was ich bin.«
Dardalion regte sich. »Ekodas!«
Der junge Priester kniete neben dem Abt nieder und nahm seine Hand. Angel ging zur Barrikade hinüber.
»Ich bin hier, mein Freund«, sagte Ekodas.
»Alles ... tat ich ... im Glauben, mein Sohn. Und ich fühle, daß die anderen auf mich warten. Rufe die Lebenden zu mir.«
»Es ist nur noch Vishna da.«
»Ah. Dann hole ihn.«
»Dardalion, ich ...«
»Du möchtest von ... deinen Gelübden entbunden werden. Ich weiß. Die Frau, Shia.« Dardalion schloß die Augen, und Schmerzen verkrampften seine Züge. »Du bist frei, Ekodas. Frei zu heiraten, zu leben ... zu sein.«
»Es tut mir leid, Vater.«
»Es gibt nichts, was dir ... leid tun müßte. Ich habe dich dort hinuntergeschickt. Ich kannte dein Schicksal, Ekodas. Von dem Augenblick an, als Shia zum Tempel kam, bestand ein Band zwischen euch. Lebe in Frieden, Ekodas ... und genieße die Freuden der Liebe.« Er lächelte schwach. »Du hast deine Pflicht mir und den anderen gegenüber getan. Jetzt... hol Vishna, denn die Zeit wird knapp.«
Ekodas schickte einen Gedankenimpuls aus, und der große Krieger mit dem gegabelten Bart rannte von der anderen Seite der Halle herbei und kniete neben dem sterbenden Abt nieder. »Ich kann nicht mehr sprechen«, flüsterte Dardalion. »Nimm Verbindung mit mir auf.«
Vishna schloß die Augen, und Ekodas wußte, daß ihre beiden Geister jetzt vereint waren. Er machte keinen Versuch, sich ihnen anzuschließen, und wartete geduldig darauf, daß es vorbei war. Er hielt Dardalions Hand, als der Abt starb. Vishna riß sich stöhnend los; dann schlug er die dunklen Augen auf.
»Was hat er gesagt?« fragte Ekodas und ließ die Hand los.
»Wenn wir überleben, soll ich nach Ventria reisen und einen neuen Tempel gründen. Die Dreißig werden weiterleben. Es tut mir leid, daß du mich nicht begleitest.«
»Ich kann nicht, Vishna. Ich habe es verloren. Und, um die Wahrheit zu sagen, ich möchte es nicht zurückhaben.«
Vishna stand auf. »Weißt du, in dem Moment, als er starb und mir entglitt, spürte ich die Gegenwart der anderen - Merlon, Palista, Magnic. Sie alle warteten auf ihn. Es war wunderbar. Wirklich wunderbar.«
Ekodas blickte in Dardalions totes Gesicht, das vollkommen ruhig und ernst war. »Lebwohl, Vater«, flüsterte er.
Die Stille außerhalb der Festung wurde durch ferne Trompetenstöße durchbrochen.
»Die QUELLE sei gelobt«, sagte Vishna.
»Was bedeutet das?«
»Es ist das Signal der Gothir zum Rückzug.« Vishna setzte sich und schloß die Augen. Sein Geist flog aus der Festung. Wenige Augenblicke später kehrte er zurück. »Ein Bote kam vom Kaiser. Die Belagerung ist aufgehoben. Es ist vorbei, Ekodas! Wir leben!«
An der Barrikade spähte Angel in den Hof hinaus. Die Gothir zogen sich geordnet zurück, schweigend und in Dreierreihen. Angel steckte sein Schwert ein und wandte sich an die Verteidiger. »Ich glaube, ihr habt gesiegt, Freunde!« rief er.
Orsa Khan sprang auf die Barrikade und beobachtete die abziehenden Soldaten. Dann stürmte er zu Angel, schlang die Arme um den Gladiator und küßte ihn auf beide vernarbten Wangen. Die noch übriggebliebenen Nadir rannten herbei, hoben Angel auf ihre Schultern und brachen in Jubel aus.
Miriel lächelte, als sie dieses Bild sah, doch ihr Lächeln verging, als sie sich in der Halle umschaute. Die Toten lagen überall. Kesa Khan tauchte an der Treppe aus den unteren Ebenen auf und führte Frauen und Kinder zurück ans Tageslicht. Der alte Schamane ging auf sie zu.
»Dein Vater hat Zhu Chao erschlagen«, sagte er, ohne ihr in die Augen zu sehen. »Ihr habt für uns gesiegt, Miriel.«
»Zu einem hohen Preis«, erwiderte sie.
»Ja, der Preis war nicht gering.« Der kleine Junge, der Angel gefolgt war, stand neben dem Schamanen, und Kesa Khan strich ihm über den Kopf. »Wir haben noch immer eine Zukunft«, sagte der alte Mann. »Ohne dich wären wir nur noch Staub in den Bergen. Ich wünsche dir alles Glück.«
Miriel holte tief und langsam Luft. »Ich kann nicht glauben, daß es vorbei ist.«
»Vorbei? Nein. Nur diese Schlacht. Aber es wird andere geben.«
»Nicht für mich.«
»Auch für dich. Ich bin in der Zukunft gewandert, Miriel. Du bist ein Kind des Kampfes. Und das wird auch so bleiben.«
»Wir werden sehen«, sagte sie und wandte sich von ihm ab. Sie sah Angel kommen. Sie blickte in sein vernarbtes, verwüstetes Gesicht, die zwinkernden grauen Augen. »Es sieht aus, als bliebe uns trotz allem noch etwas Zeit«, sagte sie.
»Es sieht allerdings so aus«, stimmte er ihr zu. Angel bückte sich und hob den kleinen Nadirjungen auf seine Schultern. Das Kind kicherte glücklich und schwenkte sein Holzschwert durch die Luft.
»Du kannst gut mit Kindern umgehen«, stellte Miriel fest. »Er betet dich an.«
»Er ist ein mutiges Bürschchen. Er folgte mir in die Tiefen, und dann griff er das Ungeheuer mit einer brennenden Fackel an. Hast du ihn gesehen?«
»Nein.«
Angel wandte sich an Kesa Khan. »Wer wird sich um ihn kümmern?« fragte er.
»Ich. Wie um einen Sohn«, antwortete der Schamane.
»Gut. Ich werde euch hin und wieder besuchen. Ich nehme dich beim Wort.« Er setzte den Knaben ab und sah ihm nach, als Kesa Khan ihn wegführte. »Was jetzt?« fragte er Miriel.
»Ich bin schwanger«, sagte sie und blickte in seine hellen Augen.
»Ich weiß. Dardalion hat es mir gesagt.«
»Es macht mir angst.«
»Dir? Der Kriegsgöttin von Kar-Barzac? Das glaube ich nicht.«
»Ich habe zwar kein Recht, dich zu bitten, aber ...«
»Sag es nicht, Mädchen. Dessen bedarf es nicht. Der alte Angel wird dasein. Er wird immer dasein. Auf jede Art, wie du ihn haben willst.«
Die Mauern von Dros Delnoch ragten hoch in den südlichen Himmel, als Waylander sein Pferd zügelte. Karnak trieb sein Pferd neben den schwarz gekleideten Attentäter. »Der Krieg ruft«, sagte er.
»Ich bin sicher, du wirst sie erobern, General. Das kannst du gut.«
Karnak lachte. »Ich denke schon.« Dann verblaßte sein Lächeln. »Was ist mit dir, Waylander? Wie stehen die Dinge zwischen uns?«
Der Attentäter zuckte die Achseln. »Was wir hier sagen, wird kein Jota an dem ändern, was kommen wird. Ich kenne dich, Karnak, immer schon. Du lebst für die Macht, und du hast ein langes Gedächtnis. Dein Sohn ist tot - das wirst du nicht vergessen. Und nach einer Weile wirst du mich - oder die Meinen - dafür verantwortlich machen. Wir sind Feinde, du und ich. Und das werden wir auch bleiben.«
Der Führer der Drenai lächelte dünn. »Du hältst nicht gerade viel von mir. Ich kann nicht sagen, daß ich dich dafür tadele, aber du irrst dich. Ich bin bereit, die Vergangenheit zu vergessen. Du hast mein Leben gerettet - und damit wahrscheinlich die Drenai vor dem Untergang bewahrt. Daran werde ich mich erinnern.«
»Vielleicht«, meinte Waylander und ritt den Mondbergen entgegen.
Karnak kehrte nach Dros Delnoch zurück, sammelte dort seine Armee und führte sie gegen die Ventrier. In zwei entscheidenden Schlachten bei Erekban und Lentrum schlug er sie vernichtend.
In den folgenden zwei Jahren begann Karnak, sich vor einem Attentat zu fürchten, und war überzeugt, daß Waylander ihn eines Tages aufspüren und töten würde. Gegen den Rat von Asten nahm er wieder Kontakt zur Gilde auf und erhöhte den Preis, den er auf den Kopf des Attentäters ausgesetzt hatte.
Eine wahre Armee von Suchern wurde ausgeschickt, doch in Drenan war nichts von Waylander zu erfahren.
Bis eines Tages drei der besten Jäger zurückkehrten, mit einem verwesten Schädel, in Leintuch gewickelt, und einer kleinen Doppelarmbrust aus Ebenholz und Stahl. Vom Fleisch befreit, wurde der Schädel zusammen mit der Armbrust im Museum in Drenan ausgestellt, unter der in Bronze gegossenen Inschrift: »Waylander der Schlächter, der Mann, der den König tötete<.
An einem Wintertag drei Jahre später - fünf Jahre nach der Belagerung von Kar-Barzac - wurde die Armbrust gestohlen. In derselben Woche, als Karnak an der Spitze der jährlichen Siegesparade marschierte, trat eine junge Frau mit langen, dunklen Haaren aus der Menge. In ihrer rechten Hand lag die gestohlene Armbrust.
Die Menschen in der Menge sahen sie mit dem Drenaiführer sprechen, unmittelbar bevor sie ihn tötete, indem sie ihm zwei Bolzen in die Brust schoß. Ein Reiter, mit einem zweiten Pferd am Zügel, galoppierte auf die Königsallee, und die Frau schwang sich in den Sattel, als die Leibwache Karnaks auf sie zustürzte, um sie festzunehmen.
Die beiden Attentäter entkamen, und es gab zahlreiche Theorien, was diesen Mord betraf: Der Sohn des ventrischen Königs, des Kriegsmonarchen, dessen Leiche nach der Niederlage bei Erekban in ein Massengrab geworfen worden war, hatte sie angeheuert. Oder sie war eine von Karnaks Mätressen, wütend, weil er sie eines jüngeren, hübscheren Mädchens wegen hatte fallen lassen. Irgend jemand wollte in dem männlichen Reiter Angel erkannt haben, einen ehemaligen Gladiator. Niemand kannte die Frau.
Karnak erhielt ein Staatsbegräbnis. Zweitausend Soldaten marschierten hinter dem Wagen, auf dem er aufgebahrt lag. Die Königsallee war von Menschen gesäumt, und zahlreiche Tränen wurden für den Mann vergossen, der auf seinem Grabstein als >der größte aller Helden von Drenai < bezeichnet wurde.
Der Schädel Waylanders wurde acht Jahre später verkauft. Ein Gothirhändler namens Matze Chai erwarb ihn auf einer Versteigerung, im Namen eines Kunden, eines geheimnisvollen Edlen, der in einem Palast in der Gothirstadt Namib lebte. Als er gefragt wurde, welcher Ausländer eine solche Riesensumme für den Schädel eines Drenai-Mörders bezahlen wollte, lächelte Matze Chai und breitete mit einer eleganten Geste die Arme aus.
»Aber du mußt es doch wissen?« beharrte der Kurator des Museums.
»Ich versichere dir, daß ich es nicht weiß.«
»Aber der Preis ... er ist ungeheuer!«
»Mein Kunde ist sehr reich. Er hat sein Geld seit Jahren bei mir angelegt.«
»War er ein Freund von diesem Waylander?«
»Ich glaube, sie standen sich nahe«, gab Matze Chai zu.
»Aber was will er mit dem Schädel? Ihn ausstellen?«
»Das bezweifle ich. Er sagte mir, er beabsichtige, ihn zu begraben.«
»Warum?« fragte der Mann erstaunt. »Vierzigtausend Raq, nur um ihn zu beerdigen?«
»Er ist ein Mann, der gern selbst das Ende bestimmt«, erwiderte Matze Chai.
ENDE