14.
Die Mauer war grob zusammengefügt, jedoch mit einem Mörtel aus dem schwarzen Vulkanstaub der Berge verfugt. Sobald die Ritzen damit zugestopft und anschließend mit Wasser begossen wurden, wurde er hart wie Granit. Von Süden her stand der Feind einer dreieinhalb Meter hohen Mauer gegenüber, doch auf der Seite der Verteidiger befand sich ein Wehrgang, über den sie sich hinweglehnen und einen Pfeilhagel nach dem anderen auf die Angreifer abschießen konnten, um sich sofort danach zu ducken und so außer Sichtweite der feindlichen Bogenschützen zu kommen.
Bislang hatte die Mauer gehalten. An einigen Stellen hatten die Gothir Steine an ihren Fuß gerollt, um einen Aufstieg zu versuchen, und später hatten die ersten Reihen grob gezimmerte Leitern angeschleppt. Andere benutzten Taue mit eisernen Haken, um nach oben zu gelangen, doch die Verteidiger kämpften mit der Wildheit ihres Stammes und töteten alle, die den oberen Rand erreichten.
Einmal hatten die Gothir beinahe eine keilförmige Bresche geschlagen. Sechs Männer hatten sich ihren Weg auf die Brüstung erzwungen, doch Angel, Senta und Belash hatten sie angegriffen -und die Gothirkrieger waren in wenigen Sekunden gestorben. Wieder und wieder griffen die Gothir an, eine Welle nach der anderen, und versuchten, die Nadir durch ihre schiere Überzahl zu überwältigen. Es war ihnen nicht gelungen.
Noch nicht.
Aber jetzt hatte sich etwas geändert, und jeder Verteidiger spürte die ersten Anzeichen einer entsetzlichen Angst. Angel bemerkte es als erster - eine Kälte im Bauch. Seine Hände begannen zu zittern. Der Nadirkrieger neben ihm ließ sein Schwert fallen, und ein tiefes, klagendes Stöhnen entrang sich seinen Lippen. Angel warf einen Blick auf Senta. Der Schwertkämpfer lehnte an der Mauer und starrte über die Engstelle des Passes hinweg. Die Gothir waren zurückgewichen, doch statt sich neu zu formieren, hatten sie sich außer Sichtweite zurückgezogen. Zuerst hatten die fünfzig Nadirkrieger, die die grobe Mauer bemannten, gejubelt und gebrüllt. Doch jetzt hatte sich ein unbehagliches Schweigen über die Verteidiger gelegt.
Angel schauderte. Die schwarzen Berge ragten unheilvoll um ihn herum auf, und er hatte das Gefühl, er stünde im klaffenden Maul eines gewaltigen Ungeheuers. Das Zittern wurde schlimmer. Er versuchte, sein Schwert einzustecken, doch es klirrte gegen die Scheide. Er fluchte und lehnte die Klinge gegen die Mauer.
Drei Nadirkrieger machten kehrt und rannten den Paß hinauf, ließen ihre Waffen zurück. Belash brüllte ihnen hinterher. Die fliehenden Männer hielten inne und drehten sich um, mit einfältiger Miene. Doch die Angst wuchs.
Angel ging zu Senta hinüber. Seine Beine fühlten sich vollkommen kraftlos an, und er lehnte sich haltsuchend an die Mauer. »Was, zum Teufel, geht hier vor?« fragte er Senta. Der andere Mann - das Gesicht leichenblaß, die Augen weit aufgerissen - antwortete nicht. Am Eingang des Passes rührte sich etwas. Angel wandte den Kopf und sah eine Reihe von Männern in schwarzer Rüstung und schwarzen Umhängen, die sich auf die Mauer zubewegten.
»Die Ritter des Blutes!« flüsterte Senta mit zitternder Stimme.
Ein Nadir neben ihm schrie auf und stürzte; seine Blase versagte; Urin durchnäßte seine Beinkleider. Angel sah, wie Belash sein Schwert wegsteckte und einem Krieger den Bogen aus der Hand riß. Der stämmige Nadir legte einen Pfeil auf die Sehne, kletterte auf die Mauer und spannte den Bogen. Angel hörte ihn stöhnen - und aufschreien. Dann drehte Belash sich langsam um.
Angel warf sich auf Senta und riß ihn genau in dem Moment beiseite, als der Pfeil die Sehne verließ. Er sirrte an ihnen vorbei, prallte gegen einen Stein und drang einem hockenden Krieger in die Schulter.
Schweigend rückten die Ritter des Blutes voran.
Die Nadir schienen machtlos, sie aufzuhalten. Angel stemmte sich auf die Füße und nahm sein Schwert. Das Zittern war jetzt so stark, daß er wußte, er würde die Waffe nicht benutzen können. Die Verteidiger begannen, von der Mauer zu strömen - selbst Belash.
Ein winziger Mann in Lumpen erschien. An seiner Seite war Miriel. Der Mann war uralt und verwittert, doch Angel spürte eine plötzliche Woge der Erregung, die durch die Angst drang und sein Blut erhitzte. Die Nadir hielten in ihrer Flucht inne. Der kleine Schamane rannte zur Mauer und kletterte geschickt hinauf. Die Ritter des Blutes waren keine zwanzig Schritt mehr von der Mauer entfernt.
Kesa Khan hob die Hände, und Blitze aus blauem Feuer sprangen von Handfläche zu Handfläche. Angel fühlte, wie alle Angst von ihm abfiel und von heißer Wut verdrängt wurde. Der Schamane breitete die Hände aus und deutete mit seinen knochigen Fingern auf die marschierenden, schwarzgekleideten Krieger. Blaues Feuer stieß in ihre Reihen und züngelte über Brustplatten und Helme. Der Mann in der Mitte der Reihe stolperte. Das blaue Feuer wurde rot, als sein Haar in Flammen aufging. Umhänge und Beinkleider gerieten in Brand. Die vorrückende Reihe brach auf. Die Männer schlugen auf die Flammenzungen ein, die an ihren Kleidern leckten.
Die Nadirverteidiger kehrten auf die Mauer zurück, nahmen wieder Bogen und Speer zur Hand und schickten einen Pfeil nach dem anderen in die durcheinanderlaufenden Männer.
Die Ritter des Blutes gaben Fersengeld.
Der kleine Nadir sprang von der Mauer und ging ohne ein Wort davon.
Miriel kam zu Angel herüber. »Du solltest dich setzen. Du bist weiß wie Schnee.«
»Ich habe noch nie solche Angst verspürt«, gestand er.
»Aber du bist nicht davongelaufen«, sagte sie mit Nachdruck.
Er beachtete das Kompliment nicht, sondern sah dem Nadirschamanen hinterher. »Ich nehme an, das war Kesa Khan. Er verschwendet nicht viel Zeit mit Konversation, stimmt's?«
Sie lächelte. »Er ist ein zäher alter Mann, aber er ist erschöpft. Dieser Zauber hat ihn wahrscheinlich mehr geschwächt, als du dir vorstellen kannst.«
Senta kam zu ihnen. »Wir können diese Stellung nicht halten«, sagte er. »Heute morgen wäre der Feind beinahe durchgebrochen, zweimal. Nur die QUELLE weiß, wie wir ihn aufgehalten haben.«
Einer der Verteidiger stieß einen Schrei aus. Senta fuhr herum und sah Hunderte von Gothir, die den Paß attackierten. Er zog sein Schwert und rannte zurück zur Mauer.
»Er hat recht«, sagte Angel. »Rede mit dem alten Mann! Wir müssen einen anderen Ort finden.« Dann stürmte auch er los.
Bodalen folgte Gracus, der die Fackel trug, tief in die Eingeweide der Burg, durch endlose Gänge und metallene Treppen hinunter. Alles war krumm und schief, unnatürlich. In der Luft lag ein tiefes Summen, das Bodalens Kopf dröhnen ließ.
Hinter dem hochgewachsenen Drenai kamen die anderen acht
Krieger der Bruderschaft, finstere, schweigende Männer. Der neunte hatte die Pferde in die Berge geführt, und so hatte Bodalen alle Hoffnung verloren, von diesem verwünschten Ort zu fliehen.
Tiefer und tiefer ging es hinab, fünf Ebenen hinunter. Das Summen wurde immer lauter. Hier bestanden die Mauern der Burg nicht mehr aus Stein, sondern aus glattem, schimmerndem Metall, das an einigen Stellen verbeult und rissig war. Hinter den Rissen konnte man Drähte aus Kupfer und Eisen, Gold und Silber erkennen, die miteinander verflochten waren.
Bodalen haßte die Festung und fürchtete die Geheimnisse, die sie bergen mochte. Doch ungeachtet seiner Feigheit wuchs seine Faszination. Es gab keine Möbel, doch eine Wand zeigte eine kleine Verzierung: einen eingeritzten Tisch, umgeben von zwölf runden, in Messing gefaßten Steinen, von denen jeder ein Symbol trug, das Bodalen nicht deuten konnte.
Ansonsten gab es hier nichts von Interesse, und die Krieger drangen auf der Suche nach Treppen weiter voran.
Schließlich gelangten sie in einen großen Saal, der wie von Sonnenlicht erleuchtet war, hell und freundlich. Doch es gab keine Fenster, und Bodalen wußte, daß sie mindestens hundert Meter unter der Oberfläche waren. Gracus legte die blakende Fackel auf den metallenen Fußboden und schaute sich um. Es gab Tische und Stühle, alles aus Metall, und große eiserne Schränke, reich verziert mit funkelnden Juwelen, in denen sich das Licht brach.
Überall an den Wänden befanden sich Paneele aus undurchsichtigem Glas, die in weißem Licht glühten. Gracus zog sein Schwert und schlug gegen ein Paneel. Es zerbrach und ließ Splitter auf den Fußboden regnen. Dahinter befand sich ein langer, glänzender Zylinder. Ein zweiter Krieger schlenderte heran und stieß sein Schwert hinein. Es gab einen Blitz, und der Ritter wurde von den Füßen gehoben und meterweit durch den Raum geschleudert. Die Hälfte der Lichter in der Halle wurde schwächer und erlosch.
Gracus lief zu dem am Boden liegenden Mann und kniete neben ihm nieder. »Tot«, sagte er, stand auf und wandte sich den anderen zu. »Rührt nichts an! Wir werden auf den Meister warten. Die Zauber sind mächtiger, als wir begreifen können.«
Bodalen, der das Summen so laut empfand, daß es ihm Übelkeit verursachte, ging durch den Saal auf eine offene Tür zu. Dahinter sah er einen gewaltigen Kristall von etwa einem Meter Umfang, der zwischen zwei goldenen Schalen schwebte. Winzige schimmernde Lichtblitze umzuckten ihn, während er sich um sich selbst drehte. Bodalen trat in den Raum. Hier waren die Wände ganz aus Gold, bis auf die gegenüberliegende Wand, von der die Verkleidung teilweise abgerissen war, so daß behauene Granitblöcke sichtbar wurden, die derart verformt waren, daß man ihre ursprüngliche Form kaum mehr erkennen konnte.
Doch es war weder der Kristall, noch waren es die goldenen Wände, die ihm den Atem raubten.
»Gracus!« rief er. Der Ritter der Bruderschaft betrat den Raum -und blickte auf das ungeheure Skelett, das vor der gegenüberliegenden Wand ausgestreckt lag.
»Bei den Göttern! Was ist das?« flüsterte Bodalen.
Gracus schüttelte den Kopf. »Eine Ausgeburt der Hölle sicherlich«, antwortete er und kniete neben den beiden Schädeln nieder. Seine Finger fuhren die Zwillingslinie von Wirbeln entlang, die zu den gewaltigen Schultern führten. Das Wesen, was es auch gewesen sein mochte, besaß drei Arme, von denen einer unterhalb des gewaltigen Brustkastens entsprang. Einer der Ritter versuchte, den Oberschenkelknochen anzuheben, doch die verrotteten Sehnen hielten ihn fest.
»Ich kann nicht einmal die Hände um den Knochen legen«, sagte der Mann. »Das Biest muß mindestens vier Meter groß gewesen sein, vielleicht noch größer.«
Bodalen warf einen Blick zurück auf die Tür, die nicht mehr als einen Meter breit und zwei Meter hoch war. »Wie ist es hier hereingekommen?« fragt er. Gracus ging zur Tür. In dem Metall, das den Rahmen umgab, befanden sich lange Kratzer, durch die man den dahinterliegenden Stein sehen konnte.
»Ich weiß nicht, wie es hereingekommen ist«, sagte Gracus leise, »aber es hat sich die Finger bis auf die Knochen aufgerissen, um hier herauszukommen. Es muß noch einen anderen Zugang geben. Einen verborgenen.«
Eine Zeitlang suchten sie die Wände nach einer Geheimtür ab, fanden aber nichts. Bodalen spürte, wie ihn eine gewaltige Müdigkeit überkam, und seine Kopfschmerzen verschlimmerten sich. Er wollte zur Tür, doch seine Beine gaben nach, und er sank zu Boden. Die Müdigkeit überwältigte ihn, und er sah Gracus vor dem kreisenden Kristall in die Knie gehen.
»Wir müssen ... hier raus«, sagte Bodalen und versuchte, sich über den glänzenden goldenen Boden zu ziehen. Doch ihm fielen die Augen zu, und er sank in einen tiefen Schlaf.
Langsam kam er wieder zu sich. Er sah ein Bauernhaus an einem Bach, dahinter ein Kornfeld und blaue, im Dunst liegende Berge in der Ferne. Ein Mann ging hinter einem Ochsengespann her. Er pflügte ein Feld.
Vater.
Nein, nicht Vater. Vater ist Karnak. Er hat nie in seinem Leben ein Feld gepflügt.
Vater.
Verwirrung schlug über ihm zusammen wie Nebel, wirbelnd, unwirklich. Er blickte zur Sonne auf, aber es gab keine Sonne, nur einen kreisenden Kristall hoch am Himmel, der summte wie tausend Bienen.
Der Mann mit dem Pflug drehte sich zu ihm um. »Sei nicht so faul, Gracus!« sagte er.
Gracus? Ich bin nicht Gracus. Ich träume. Das ist es! Ein Traum. Wach auf!
Er spürte, wie er sich aus dem Schlaf erhob, spürte sein Fleisch und seine Muskeln. Er versuchte, den Arm zu bewegen, doch er schien wie festgenagelt. Er schlug die Augen auf. Gracus lag neben ihm. Dicht neben ihm. Er muß auf meinem Arm liegen, dachte Bodalen. Er versuchte, sich wegzurollen, doch Gracus bewegte sich mit ihm. Sein Kopf wackelte hin und her, und sein Mund stand offen. Bodalen mühte sich, aufzustehen. Er spürte ein ungewohntes Gewicht auf seiner rechten Seite und drehte den Kopf. Da lag noch ein Mann.
Und er hatte keinen Kopf.
Ich liege auf seinem Kopf, dachte Bodalen. Panik erfaßte ihn. Er setzte sich ruckartig auf. Der Körper rechts von ihm erhob sich mit ihm. Bodalen schrie auf. Der kopflose Körper war ein Teil von ihm; die Schultern waren mit Bodalens Fleisch verwachsen.
Gerechter Himmel! Beruhige dich, befahl er sich selbst. Das ist alles nur ein Traum. Nur ein Traum!
Sein linker Arm war verschwunden, hatte sich mit Gracus' Schulter verschmolzen. Er versuchte, ihn loszureißen, doch der schlaffe Körper des Bruderschaftsritters kam statt dessen näher. Ihre Beine berührten sich - und verschmolzen.
Der Kristall kreiste weiter.
Bodalen sah die Körper der anderen Ritter im Raum liegen, miteinander verschmelzen, sich windend wie in einer lautlosen, widernatürlichen Orgie. Und zwischen ihnen, auf dem goldenen Fußboden, lag immer noch das riesige Skelett.
Bodalen schrie wieder.
Und verlor das Bewußtsein.
Es erwachte ohne Erinnerungen, aber es streckte seine riesigen Muskeln und rollte sich auf den Bauch. Die drei Beine stemmten es hoch, die beiden Köpfe berührten die goldene Decke. Wut durchflutete das Wesen, und einer seiner Köpfe brüllte vor Zorn. Der andere schwieg. Graue Augen blinzelten in das Licht, das der Kristall ausströmte.
Die beiden anderen Wesen schliefen noch.
Der Kristall kreiste; blaues Licht tanzte zwischen den goldenen Schalen.
Das Wesen schlurfte darauf zu und streckte seine drei Arme danach aus. Ein massiger Finger berührte das flackernde blaue Feuer. Schmerz durchzuckte die gewaltigen Glieder und verbrannte das Wesen. Jetzt brüllten beide Köpfe. Ein Arm holte aus, schlug gegen den Kristall, schleuderte ihn an die gegenüberliegende Wand. Die blauen Flammen erstarben.
Und alle Lichter wurden schwächer und verloschen.
Die fast völlige Dunkelheit war tröstend, beruhigend. Das Wesen hockte sich auf die Fersen. Es hatte Hunger. Der Geruch von verbranntem Fleisch kam aus dem Saal nebenan. Es ging zur Tür und sah ein kleines totes Wesen auf dem Boden liegen. Der Kadaver war teils in Leder und Metall gekleidet. Das Fleisch war noch frisch, und der Hunger des Wesens wuchs. Es versuchte, durch die Tür zu gelangen, doch sein massiger Körper paßte nicht hindurch. Es richtete sich auf und begann, an den freigelegten Steinblöcken über dem Metallrahmen zu zerren. Die anderen Wesen schlössen sich ihm an, fügten ihre Kraft der seinen hinzu.
Und langsam begannen die großen Steine zu bersten und nachzugeben.
Kesa Khan schlug die Augen auf und lächelte. Miriel beobachtete ihn, sah den Triumph in seinen Augen glänzen. »Wir können jetzt gehen«, sagte er mit einem trockenen Lachen. »Der Weg ist frei.«
»Aber du sagtest, wir könnten nirgends hin!«
»Das war auch so. Aber jetzt können wir. Es ist eine Festung - eine sehr alte. Sie heißt Kar-Barzac. Morgen ziehen wir dorthin.«
»Es gibt ziemlich viel, was du mir nicht erzählst«, sagte Miriel mit Nachdruck.
»Es gib viel, was du nicht wissen mußt. Ruh dich aus, Miriel. Du wirst deine Kräfte noch brauchen. Geh zu deinen Freunden. Laß mich allein. Ich rufe dich, wenn die Zeit gekommen ist.«
Miriel wollte ihn weiter ausfragen, doch der kleine Mann hatte schon wieder die Augen geschlossen und saß mit verschränkten Armen vor dem Feuer.
Sie stand auf und schlenderte in die Nacht hinaus. Senta schlief, als sie zu der kleinen Höhle gelangte, doch Angel saß unter den Sternen und lauschte den fernen Kampfgeräuschen, die vom Paß herüberklangen. Ein kleiner Junge hockte in seiner Nähe. Miriel lächelte. Die beiden Gestalten hatten, etwa sieben Meter voneinander entfernt, dieselbe Haltung eingenommen. Der Gladiator schärfte sein Schwert an einem Wetzstein, der Junge hatte ein Stück Holz in der Hand und ahmte ihn nach.
»Ich sehe, du hast einen Freund gefunden«, sagte Miriel. Angel grunzte etwas Unverständliches. Miriel setzte sich neben ihn. »Wer ist das?«
»Woher soll ich das wissen? Er spricht nie ein Wort. Er macht mir nur alles nach.«
Miriel streckte die Fühler ihrer Gabe aus; dann zog sie sich zurück. »Er ist völlig taub«, sagte sie. »Ein Waisenjunge.«
Angel seufzte. »Das hätte ich wissen müssen«, sagte er und schob sein Schwert in die Scheide. Das in Lumpen gekleidete Kind steckte seinen Stock in den Gürtel.
Miriel strich dem Gladiator sanft übers Gesicht. »Du bist ein guter Mann, Angel.«
Er packte ihr Handgelenk und hielt es fest. »Du solltest mich nicht berühren«, sagte er leise. »Der Mann für dich ist da drin. Jung. Gutaussehend. Ohne Narben.«
»Ich wähle selbst einen Mann, wenn die Zeit kommt«, erwiderte Miriel. »Ich bin nicht irgendeine Drenai-Adelige, deren Heirat ein
Bündnis zwischen verfeindeten Parteien bedeutet. Und ich muß mich auch nicht um meine Aussteuer sorgen. Ich werde einen Mann heiraten, den ich mag, den ich respektiere.«
»Du hast die Liebe vergessen«, meinte er.
»Davon habe ich viel reden hören, Angel, aber ich weiß nicht, was das ist. Ich liebe meinen Vater. Ich liebe dich. Ich liebte meine Schwester und meine Mutter. Ein Wort. Unterschiedliche Gefühle. Oder sprechen wir von Lust?«
»Zum Teil«, gab er zu. »Und daran ist nichts Unrechtes, wenn es auch Leute gibt, die uns etwas anderes glauben machen wollen. Aber es ist mehr als das. Ich hatte einmal eine Affäre mit einer dunkelhaarigen Frau. Unglaublich. Im Bett konnte sie eine größere Leidenschaft in mir entfachen als eine meiner Ehefrauen. Aber ich blieb nicht bei ihr. Verstehst du, ich liebte sie nicht. Ich verehrte sie. Aber ich liebte sie nicht.«
»Da ist das Wort schon wieder!« tadelte Miriel.
Er kicherte leise. »Ich weiß. Es ist einfach eine knappe Form, jemanden zu beschreiben, der Freund ist, Bettgefährte, Schwester, ja, manchmal sogar Mutter, jemand, der deine Leidenschaft, deine Bewunderung und deinen Respekt weckt. Jemand, der auch dann fest an deiner Seite steht, wenn sich die ganze Welt gegen dich verschworen hat. Suche nach so jemandem, Miriel.« Er ließ ihre Hand los und wandte den Blick ab.
Sie beugte sich vor. »Was ist mit dir, Angel? Würdest du Freund, Liebhaber, Bruder und Vater sein?«
Er wandte sein vernarbtes Gesicht zu. »Ja, das würde ich.« Er zögerte, und sie spürte seine Unentschlossenheit. Schließlich lächelte er, nahm ihre Hand und küßte sie. »Meine Stiefel sind älter als du, Miriel. Vielleicht glaubst du, es macht keinen Unterschied, aber das stimmt nicht. Du brauchst einen Mann, der sich mit dir entwickeln kann, keinen, der neben dir senil wird.« Er holte tief Luft. »Wenn es auch schwerfällt, das zuzugeben.«
»Du bist nicht alt«, erwiderte sie.
»Gefällt dir Senta denn nicht?« entgegnete er.
Sie wandte den Blick ab. »Ich finde ihn ... aufregend ... beängstigend.«
»Das ist gut«, sagte er. »So sollte das Leben sein. Ich bin wie ein alter Lehnstuhl. Bequem. Ein Mädchen wie du braucht mehr als das. Gib ihm eine Chance. In ihm steckt viel Gutes.«
»Warum hast du ihn so gern?«
Er grinste. »Ich kannte seine Mutter«, antwortete er. »Vor langer Zeit. Bevor er geboren wurde.«
»Heißt das ...?«
»Ich habe keine Ahnung, aber es könnte sein. Auf jeden Fall schlägt er nicht nach dem Ehemann. Aber das bleibt unter uns! Verstanden?«
»Und trotzdem hättest du damals bei der Hütte gegen ihn gekämpft?«
Er nickte ernst. »Ich hätte ihn nicht besiegt. Er ist sehr gut. Der beste, den ich je gesehen habe.«
Plötzlich lachte Miriel.
»Was ist denn so lustig?« wollte Angel wissen.
»Er wollte dich gar nicht töten. Das habe ich in seinen Gedanken gelesen. Er wollte dich entwaffnen oder verwunden.«
»Das wäre ein schwerer Fehler gewesen.«
Sie blickte ihm in die Augen, und ihr Lächeln verblaßte. »Aber du hättest deinen eigenen Sohn töten können!«
»Ich weiß. Nicht sehr erhebend, nicht wahr? Aber ich bin ein Krieger, Miriel, und wenn die Schwerter gezogen werden, gibt es keine Gefühle. Nur Überleben oder Tod.« Er warf einen Blick auf den Nadirjungen, der an einen Felsen gelehnt schlief, den Kopf auf die dünnen Ärmchen gelehnt, die Knie angezogen. Angel stand lautlos auf, ging zu dem Kleinen und deckte ihn mit seinem Umhang zu. Dann kehrte er zu Miriel zurück. »Was hat der alte Mann vor?« fragte er.
»Ich weiß nicht, aber wir werden umziehen - morgen. In eine alte Festung in den Bergen.«
»Gute Neuigkeiten. Wir können hier nicht viel länger ausharren. Du solltest etwas schlafen.«
»Ich kann nicht. Er wird mich bald brauchen.«
»Wofür?«
»Für die wandelnden Toten«, antwortete sie.
Kesa Khan saß am Feuer. Sein alter Körper zitterte, wenn der Nachtwind die Flammen flackern ließ. Er war inzwischen jenseits aller Müdigkeit. Eine tödliche Erschöpfung legte sich über ihn. Alles war so komplex - so viele Schicksalslinien, die sich trafen. Warum, fragte
er sich müßig, war dies nicht geschehen, als er noch jung und im Vollbesitz seiner Kräfte war? Warum jetzt, wo er alt und müde und bereit fürs Grab war? Die Götter waren wirklich launisch.
Pläne, Ideen, Strategien wirbelten durch seine Gedanken. Und der Erfolg eines jeden Planes hing wiederum von anderen ab. Auch die Reise von tausend Kilometern beginnt mit einem einzigen Schritt, sagte er sich. Konzentriere dich nur auf den vor dir liegenden Schritt.
Die Dämonen würden kommen, und mit ihnen die Seelen der Toten. Wie sollte er sie am besten bekämpfen? Die Drenaifrau war stark, stärker, als sie wußte. Aber sie allein konnte seinen Erfolg nicht garantieren. Er schloß die Augen und rief im Geiste Miriel herbei. Die Zeit war fast gekommen.
Er griff nach dem irdenen Topf mit dem grauen Pulver, zog die Hand jedoch wieder zurück. Er hatte bereits zuviel genommen. Ah, aber die Götter liebten tollkühne Männer. Er tauchte einen Finger in das Pulver und steckte eine Prise in den Mund. Sein Herz begann unregelmäßig zu schlagen, und er spürte, wie Kraft in seine Glieder floß. Das Feuer brannte gelb, dann golden, dann purpurn, und die Schatten an den Wänden wurden Tänzer, die sich drehten und wendeten.
Die Drenaifrau trat in die Höhle. Oh, ist sie häßlich! dachte er. Zu groß und zu sehnig. Selbst in seiner Jugend hätte er sie nicht attraktiv gefunden. Der Drenaikrieger mit dem Narbengesicht kam hinter ihr her. Kesa Khan richtete seine dunklen Augen auf den Mann. »Dies ist kein Ort für Menschen ohne Macht«, sagte er.
»Das habe ich ihm auch schon gesagt«, erklärte Miriel und setzte sich dem alten Mann gegenüber. »Aber er ist trotzdem gekommen.«
»Sie sagte, hier würden Dämonen und Untote sein. Kann man sie mit einem Schwert erschlagen?« fragte Angel.
»Nein«, antwortete der Schamane.
»Mit bloßen Händen?«
»Nein.«
»Wie soll Miriel dann gegen sie kämpfen?«
»Mit ihrem Mut und ihrer Gabe.«
»Dann werde ich an ihrer Seite bleiben. Mein Mut ist noch nie in den Schatten gestellt worden.«
»Du wirst hier gebraucht, um die Mauer zu bemannen. Du mußt die menschlichen Feinde aufhalten. Es wäre eine schlimme Torheit, dir zu erlauben, in die Leere zu gehen. Es wäre eine Vergeudung.«
»Du kontrollierst mein Leben nicht!« brüllte Angel. »Ich bin ihretwegen hier. Wenn sie stirbt, gehe ich. Ihr verlausten Barbaren interessiert mich einen Dreck! Verstehst du? Also - wenn sie in Gefahr ist, gehe ich mit ihr.«
Kesa Khans Augen verschleierten sich, als er den hoch aufragenden Drenai musterte. Wie ich sie hasse, dachte er. Ihre Arroganz, ihre ungeheure Herablassung. Er hob die Augen und begegnete Angels hellem Blick, und Kesa Khan ließ zu, daß der Krieger seinen Haß spüren konnte. Angel lächelte und nickte langsam. Kesa Khan erhob sich. »Wie du willst, Nicht-Umzubringen. Du sollst mit der Frau reisen.«
»Gut«, sagte der Gladiator und setzte sich neben Miriel.
»Nein«, widersprach sie. »Wenn ich kämpfen soll, kann ich nicht auf Angel aufpassen.«
»Ich brauche keinen Aufpasser!« protestierte er.
»Sei still!« fuhr sie ihn an. »Du hast keine Vorstellung von dieser Reise ... oder den Gefahren ... oder was nötig ist, um dich auch nur selbst zu schützen. Du wirst wie ein Säugling in meinen Armen sein. Und ich werde keine Zeit haben, dich zu beruhigen!«
Er wurde rot und erhob sich. Kesa Khan trat vor. »Nein, nein!« sagte er. »Ich glaube, du schätzt die Situation falsch ein, Miriel, wie auch ich es zuerst getan habe. Die Leere ist ein tödlicher Ort, doch ein Mann mit Mut sollte nicht leichtfertig abgewiesen werden. Ich werde euch beide schicken. Und ich werde Nicht-Umzubringen mit Waffen ausstatten, mit denen er umzugehen versteht.«
»Wo wirst du sein?«
»Hier. Ich warte. Aber ich werde mit euch verbunden sein.«
»Aber hierher werden die Dämonen doch bestimmt kommen?«
»Nein. Sie werden nicht mich jagen. Hast du das nicht begriffen? Deswegen brauche ich dich. Sie werden deinen Vater suchen. Zhu Chao weiß, daß er eine schreckliche Gefahr für ihn darstellt. Er hat versucht, ihn in dieser Welt zu töten, und ist gescheitert. Jetzt wird er versuchen, seine Seele in die Leere zu locken. Er muß geschützt werden.«
»Auch er hat keine Gabe«, sagte Miriel, in der Angst aufstieg.
»Da irrst du«, flüsterte Kesa Khan. »Er hat die größte Gabe, die es gibt. Er weiß zu überleben.«