15.

Kasai und seine Männer waren schon seit mehr als drei Stunden auf der Jagd, als sie den Südländer auf dem riesigen roten Hengst sahen. Kasai zügelte sein Bergpony. Es war ein schönes Tier, vierzehn Hand hoch, doch das Pferd des Südländers maß mindestens sechzehn Hand. Kasais Vetter Chulai hielt neben ihm. »Wollen wir ihn töten?« fragte er.

»Abwarten«, befahl Kasai und musterte den näher kommenden Reiter. Der Mann war ganz in Schwarz gekleidet. Über seine Schulter hatte er einen pelzgefütterten Umhang geschlungen. Sein Gesicht war von getrocknetem Blut verkrustet.

Der Reiter erblickte sie und lenkte sein Pferd auf die wartende Gruppe zu. Kasai konnte bei dem Mann keine Anzeichen von Furcht erkennen.

»Schönes Pferd«, sagte Kasai, als der Mann sein Tier zügelte.

»Besser als der Mann, den ich getötet habe, um es zu bekommen«, sagte der Reiter. Seine dunklen Augen richteten sich prüfend auf die Gruppe. Er wirkte amüsiert, und das ärgerte Kasai.

»Ein solches Pferd ist es wert, dafür zu töten«, sagte er mit Nachdruck, die Hand am Schwert.

»Allerdings«, stimmte der Reiter zu. »Aber die Frage, die ihr euch stellen müßt, lautet: Ist es auch wert, dafür zu sterben?«

»Wir sind fünf, du bist nur einer.«

»Falsch. Einer und einer. Du und ich. Denn wenn es losgeht, werde ich dich töten, ehe dein Herz auch nur einmal schlägt.« Die Worte wurden mit einer ruhigen Sicherheit ausgesprochen, die an Kasais Selbstvertrauen zerrte wie der Winterwind.

»Du tust meine Brüder so einfach ab?« fragte er in dem Versuch, ihre Überzahl noch einmal hervorzuheben.

Der Reiter lachte und ließ seinen Blick über die anderen schweifen. »Ich tue niemals einen Nadir so einfach ab. Ich habe schon gegen zu viele gekämpft. Es sieht so aus, als hättest du zwei Möglichkeiten: Entweder du kämpfst mit mir, oder wir reiten in euer Lager und essen.«

»Laß uns ihn töten«, sagte Chulai in der Sprache der Nadir.

»Das würde deine letzte Tat auf Erden sein, Vogelhirn«, sagte der Reiter in perfektem Nadir.

Chulai wollte sein Schwert ziehen, doch Kasai gebot ihm Einhalt. »Wieso sprichst du unsere Sprache?« erkundigte er sich.

»Essen wir oder kämpfen wir?« entgegnete der Mann.

»Wir essen. Wir bieten dir die Gastfreundschaft des Zeltes. Also, wieso sprichst du unsere Sprache?«

»Ich bin viele Jahre lang unter den Nadir gewandert, sowohl als Freund wie auch als Feind. Mein Name ist Waylander, aber bei dem Zeltvolk habe ich noch andere Namen.«

Kasai nickte. »Ich habe von dir gehört, Ochsenschädel - du bist ein mächtiger Krieger. Folge mir, und du bekommst das Mahl, das du willst.« Kasai riß sein Pony herum und galoppierte nach Norden davon. Chulai warf dem Drenai einen mörderischen Blick zu und folgte ihm.

Zwei Stunden später saßen sie um ein Kohlebecken in einem großen Zelt aus Ziegenleder. Waylander saß mit verschränkten Beinen auf einem Teppich, Kasai vor ihm. Beide Männer hatten aus einer gemeinsamen Schüssel mit eingedickter Milch gegessen und sich einen irdenen Becher mit starkem Schnaps geteilt.

»Was führt dich in die Steppe, Ochsenschädel?«

»Ich suche Kesa Khan von den Wölfen.«

Kasai nickte. »Sein Tod ist längst überfällig.«

Waylander lachte leise. »Ich bin nicht hier, um ihn zu töten. Ich will ihm helfen, zu überleben.«

»Das kann nicht wahr sein!«

»Ich versichere dir, daß es so ist. Meine Tochter und meine Freunde sind bei ihm - hoffe ich jedenfalls.«

Kasai war erstaunt. »Warum? Was bedeuten die Wölfe dir? Wir erzählen noch immer von Kesa Khans Magie und von den Werun-geheuern, die er aussandte, dich zu töten. Warum willst du ausgerechnet ihm helfen?«

»Der Feind meines Feindes ist mein Freund«, antwortete Waylander. »Es gibt einen Mann, der dem Kaiser dient. Er ist der Feind, dessen Tod ich wünsche.«

»Zhu Chao! Mögen die Götter seine Seele verfluchen, bis die Sterne verlöschen! Ja, ein guter Feind, der Mann. Aber du kommst zu spät, um den Wölfen zu helfen. Die Gothir haben bereits mit dem Angriff auf die Bergfestung begonnen. Es gibt keinen Weg zu ihnen.«

»Ich werde einen Weg finden.«

Kasai nickte und nahm den letzten Schluck aus dem Becher; dann füllte er ihn erneut aus dem Krug, der neben ihm stand. Er bot ihn Waylander an, der vorsichtig nippte. »Mein Volk sind die Langen Speere. Wir sind Feinde der Wölfe. Ein Leben lang - und noch länger. Aber ich möchte nicht, daß die Gothir sie vernichten. Ich möchte der Mann sein, der Anshi Chen sein Messer in den Bauch rammt. Ich möchte Belash den Kopf abhacken. Ich möchte Kesa Khan das Herz herausreißen. Ein solches Vergnügen darf nicht von einem rund-äugigen, in Steinzelten wohnenden Schwein genossen werden.«

»Wie viele Männer hast du hier?«

»Kämpfer? Sechshundert.«

»Vielleicht solltest du überlegen, ob du den Wölfen hilfst.«

»Pah! Meine Zunge würde schwarz werden, und alle meine Vorfahren würden mir den Rücken zukehren, wenn ich ins Tal der Ruhe komme. Nein, ich werde ihnen nicht helfen, aber ich werde dir helfen. Ich gebe dir Proviant und, wenn du willst, einen Führer mit. Es gibt noch andere Wege in die Berge.«

»Ich danke dir, Kasai.«

»Es ist nichts. Wenn du Kesa Khan findest, sag ihm, warum ich dir geholfen habe.«

»Das werde ich tun. Träumst du von dem Tag, an dem der kommt, der die Stämme eint?«

»Natürlich. Welcher Nadir tut das nicht?«

»Wie stellst du ihn dir vor?«

»Er wird vom Stamme der Langen Speere sein, soviel ist gewiß.«

»Und wie wird er die Nadir einen?«

Kasai lächelte. »Zuerst werden wir die Wölfe auslöschen und dann alle anderen verräterischen Stämme.«

»Angenommen, der die Stämme eint ist nicht von den Langen Speeren. Angenommen, er ist von den Wölfen?«

»Unmöglich.«

»Er muß ein außergewöhnlicher Mann sein«, meinte Waylander.

»Darauf wollen wir trinken«, sagte Kasai und reichte ihm den Becher.

Eingewickelt in seinen Umhang, den Kopf auf seinen Sattel gebettet, lag Waylander auf dem Teppich und lauschte dem Nachtwind, der um das Zelt heulte. Auf der anderen Seite des Kohlebeckens schlief

Kasai, seine beiden Frauen links und rechts von ihm, seine Kinder dicht dabei. Waylander war müde, doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Er drehte sich auf den Rücken und beobachtete, wie der Rauch durch das Loch im Dach des Zeltes abzog und vom Wind davongewirbelt wurde. Er konnte drei Sterne sehen, die hoch am Himmel standen. Er schloß die Augen.

Und erinnerte sich an den Tag, an dem er gekämpft hatte, um die Bronzerüstung zu beschützen. Die Nadir waren gekommen, ihn zu töten, aber er hatte sie erschlagen. Dann hatte sich das letzte der Wolfsungeheuer angeschlichen. Zwei Bolzen durchs Hirn hatten diesen Schrecken endlich beendet. Verwundet und allein hatte er sich aus der Höhle geschleppt - nur um den Rittern der Bruderschaft gegenüberzustehen. Diese konnte er nicht mehr besiegen, aber Durmast, der Riese, der verräterische Durmast war gekommen, um ihn zu retten, um sein Leben für einen Mann zu geben, den er hatte verraten wollen.

Waylander seufzte. So viele waren tot. Durmast, Gellan, Danyal, Krylla ... Und immer wieder Kriege, Eroberung und Kampf, Niederlage und Verzweiflung.Wo endet das alles? dachte er. Im Grab? Oder geht die Schlacht weiter?

Kasai schnarchte inzwischen. Waylander hörte ihn grunzen, als eine seiner Frauen ihn anstieß. Er schlug die Augen auf und sah sich im Zelt um. Die Kohlen im Becken waren fast erloschen, und ein weiches, rotes Glühen erhellte das Innere. Kasai hatte eine Familie. Er hatte der Zukunft ein Geschenk gemacht. Er wurde geliebt.

Waylander drehte sich auf die Seite, so daß sein Gesicht von der Nadirfamilie abgewandt war. Wieder versuchte er einzuschlafen, aber diesmal sah er Dardalion vor sich, an den Baum gebunden, voller blutender Schnittwunden, umgeben von den Männern, die ihn verspotteten und auslachten.

Das war der Tag, an dem sich Waylanders Welt verändert hatte. Er hatte den Priester gerettet und war damit in den ewigen Kampf gezogen worden, Licht gegen Dunkelheit, Harmonie gegen Chaos. Und er hatte Danyal kennengelernt. Er stöhnte und drehte sich wieder herum, erschöpft, mit schmerzenden Muskeln.

Hör auf, an die Vergangenheit zu denken, befahl er sich. Denke an morgen. Nur an morgen. Er würde einen Weg in die Mondberge finden. Er würde neben Miriel und Angel stehen und das tun, was er am besten konnte. Er würde kämpfen.

Er würde töten.

Der Schlaf überraschte ihn, und seine Seele sank in die Dunkelheit.

Die Wände waren feucht, der Gang dunkel und beengt. Waylander blinzelte und versuchte, sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war. Es war schwer, sich zu konzentrieren. Suchte er etwas? Oder jemanden?

Es gab weder Türen noch Fenster, nur diesen endlosen Tunnel. Kaltes Wasser drang in seine Stiefel, während er voranwatete.

Ich habe mich verirrt, dachte er.

Es gab nirgends eine Lichtquelle; dennoch konnte er sehen.

Treppen. Ich muß eine Treppe suchen. Angst kroch in ihm hoch, doch er unterdrückte sie energisch. Bleib ruhig! Denk nach! Er ging weiter. Etwas Weißes an der gegenüberliegenden Wand erregte seine Aufmerksamkeit. Dort war eine Nische. Er platschte durch das fließende Wasser und sah ein Skelett, das von rostigen Ketten an der Wand gehalten wurde. Die Sehnen und Bänder waren noch nicht verwest; das Skelett war vollständig, bis auf das linke Bein, das vom Knie ab fehlte. Irgend etwas bewegte sich im Brustkorb, und Waylander sah, daß zwei Ratten sich dort ein Nest gebaut hat-

»Willkommen«, sagte eine Stimme. Waylander wich entsetzt einen Schritt zurück. Der Kopf war kein Schädel mehr, sondern ein gutaussehendes Gesicht, umrahmt von goldenem Haar. Es lächelte ihn an. Waylanders Herz klopfte wild, und er tastete nach seiner Armbrust. Erst jetzt merkte er, daß er ohne Waffen war. »Willkommen in meinem Heim«, sagte der Kopf.

»Ich träume!«

»Vielleicht«, gab der Kopf zu. Eine Ratte kletterte durch die Rippen und sprang auf einen Felsvorsprung in der Nähe.

»Wo bin ich hier?« fragte Waylander.

Der Kopf lachte; der Klang hallte durch den Tunnel. »Na, wollen wir mal überlegen ... Sieht es aus wie das Paradies?«

»Nein.«

»Dann muß es woanders sein. Aber man darf sich nicht beklagen, oder? Es ist schön, nach so langer Zeit Besuch zu haben. Die Ratten leisten mir natürlich auch Gesellschaft, aber eine Unterhaltung mit ihnen ist ziemlich eingeschränkt.«

» Wie komme ich hier raus?«

Der Kopf lächelte, und Waylander sah, wie sich die hellen Augen triumphierend weiteten. Waylander wirbelte herum. Ein Schwert stieß auf seine Kehle zu. Er wich aus und rammte seine Faust in ein Gesicht aus einem Alptraum. Sein Angreifer fiel rücklings ins Wasser, erhob sich aber rasch wieder. Er hatte menschenähnliche Gestalt, abgesehen davon, daß seine Haut geschuppt war und die riesigen Augen wie bei einem Fisch an den Seiten des Kopfes saßen. Er hatte keine Nase, lediglich Schlitze; das Maul war geformt wie ein umgekehrtes V, lippenlos und von Fangzähnen gesäumt.

Das Wesen machte einen Satz nach vorn. Waylander packte eine der Rippen des Skeletts und riß sie mit einem Ruck los. Das Schwert sauste nieder. Waylander warf sich zur Seite und rammte die abgebrochene Rippe in die Brust des Wesens. Es ließ das Schwert fallen und stieß ein entsetzliches Heulen aus. Und verschwand.

Waylander packte das Schwert und wirbelte zu dem Skelett herum. Der schöne Kopfivar nicht mehr zu sehen. Der Totenschädel sackte nach hingen und fiel in das trübe Wasser.

Mit dem Schwert in der Hand ging Waylander weiter, alle Sinne aufs höchste angespannt.

Der Tunnel weitete sich, und er sah einen steinernen Bogen und einen Weg, der zu einer Treppe führte. Auf der ersten Stufe saß ein alter Mann. Seine Kleider waren zerlumpt und mit Schimmel und Moderflecken übersät. In den Händen hielt er einen durchsichtigen Kristall, in dessen Innerem ein weißes Licht schimmerte.

Waylander ging auf ihn zu.

»Dies ist deine Seele«, sagte der alte Mann und hielt den Kristall hoch. »Wenn ich ihn fallen lasse oder zerbreche oder zermalme, kommst du niemals hier heraus. Du wirst für alle Ewigkeit durch diese Tunnel wandern. Geh den Weg zurück, den du gekommen bist.«

»Ich möchte die Treppe hinaufgehen, alter Mann. Geh beiseite.«

»Einen Schritt näher, und deine Seele stirbt!« warnte der alte Mann, den Kristall hoch erhoben. Waylander sprang vor. Sein Schwert zerschmetterte den Kristall, so daß die glitzernden Splitter ins Wasser fielen. Der alte Mann wich zurück. »Woher wußtest du ...?« jammerte er.

»Meine Seele gehört mir«, antwortete Waylander. Der alte Mann verschwand.

Und die Stufen lockten.

Waylander ging vorsichtig weiter. Die Wände des Treppenaufgangs schimmerten in einem matten Grün, und die Stufen glänzten wie geölt. Er holte tief Luft, dann wagte er sich auf die erste Stufe. Dann die zweite. Arme schössen aus den Wänden, gekrümmte Finger und Klauen griffen nach ihm. Das Schwert sauste herab und hieb auf eine geschuppte Hand ein. Finger packten seine Ledertunika. Er riß sich los und kämpfte sich die Treppe hoch. Seine Klinge hackte und hieb sich einen Weg durch die tastenden, sich windenden Glieder.

Am oberen Ende der Treppe befand sich ein rechteckiger Absatz. Zwei Türen gingen davon ab. Eine war in Gold gefaßt und stand halb offen, die andere wurde von einer riesigen dreiköpfigen Schlange bewacht, deren Windungeri sich um den ganzen Rahmen schlängelten. Die halboffene Tür ließ einen Strahl Sonnenlicht sehen, warm und willkommenheißend, lockend. Waylander ignorierte sie; seine Augen fixierten die Schlange. Ihre Mäuler waren gewaltig. Jedes hatte Fangzähne, die über zwanzig Zentimeter lang waren. Gift tropfte aus ihnen auf den Steinfußboden, wo es zischte und blubberte.

Eine Gestalt in einem Lichtgewand erschien in der halboffenen Tür. »Komm hierher! Rasch!« sagte die Gestalt, ein Mann mit freundlichem Gesicht, weißem Haar und liebevollen blauen Augen. »Komm zum Licht!« Waylander machte eine Bewegung auf ihn zu, als wollte er gehorchen, doch als er dicht genug heran war, packte er den Mann, zerrte ihn an seinen Kleidern und schleuderte ihn auf die Schlange zu. Zwei der Köpfe schössen vor. Der erste schloß sich um die Schulter des Mannes, der zweite stieß seine Zähne in sein Bein. Die Schreie des Opfers erfüllten die Luft.

Als Waylander an dem um sich schlagenden Mann vorbeisprang, zuckte der dritte Kopf herab. Waylander stieß ihm sein Schivert ins Auge. Schwarzes Blut quoll aus der Wunde, und der Kopf fuhr zurück. Waylander warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Er spürte, wie das Holz nachgab, und stürzte in einen großen Saal. Als er sich auf die Füße rollte, sah er, daß ein Mann ihn erwartete.

Es war Morak.

»Jetzt rettet dich kein sterbender Hund mehr!« sagte der tote Meuchelmörder.

»Bei Hurensöhnen wie dir brauche ich keine Hilfe«, erwiderte Waylander. »Damals warst du nichts. Jetzt bist du weniger als nichts.«

Moraks Gesicht verzerrte sich, und er setzte zum Angriff an. Waylander wich aus, parierte den Stoß und konterte mit einem Hieb, der Morak fast den Kopf von den Schultern schlug. Der Meuchelmörder taumelte, fing sich jedoch wieder. Sein Kopf war in einem unnatürlichen Winkel geneigt.

»Wie tötet man einen toten Mann?« höhnte er und griff erneut an. Waylander parierte und zielte wieder auf den klaffenden Hals. Der Kopf fiel zu Boden, doch der Körper setzte seinen Angriff fort. Waylander blockte zwei Hiebe ab und stieß seine Klinge in den bereits geöffneten Brustkasten, doch er verlangsamte seinen kopflosen Gegner nicht einmal. Gelächter erklang aus der Luft. »Bekommst du Angst?« Moraks Stimme hallte in dem Saal wider; durch die Luft schwirrten gekreischte Unflätigkeiten.

Waylander duckte sich unter einem wilden Hieb und lief dann zu dem abgetrennten Kopf, den er bei den Haaren hochriß. Er wirbelte herum und schleuderte ihn auf die offene Tür zu. Der Kopf prallte auf und kollerte durch den Spalt. Eine Schlange stieß herab, das riesige Maul klappte zu. Sofort hörte das Gekreische auf.

Der kopflose Körper brach zusammen.

Waylander fuhr herum, in Erwartung des nächsten Angriffs.

»Woher wußtest du, zoelche Tür du nehmen mußtest?« fragte eine andere Stimme. Waylander suchte nach der Quelle, konnte aber niemanden sehen.

»Das war nicht schwer«, antwortete er, das Schwert kampfbereit in den Händen.

»Ja. Ich verstehe. Das Sonnenlicht und das weiße Gewand waren etwas zu offensichtlich. Diesen Fehler werde ich nicht noch einmal machen. Ich muß sagen, Morak war eine Enttäuschung. Als er noch am Leben war, hat er dir einen anständigen Kampf geliefert.«

»Er hatte auch mehr, wofür zu kämpfen sich lohnte«, sagte Waylander. » Wer bist du? Zeig dich.«

»Natürlich, wie unhöflich von mir.« Am anderen Ende des Saals erschien eine Gestalt, ein hochgewachsener Mann in purpurnen Gewändern. Sein Haar war mit Öl flach an den Schädel geklebt, bis auf zwei geflochtene Koteletten, die ihm bis auf die schmalen Schultern reichten. »Ich bin Zhu Chao.«

»Den Namen habe ich schon gehört.«

»Natürlich hast du das. So, wollen wir mal sehen, ivas wir zu unserem Vergnügen zusammenbrauen können. Etwas aus deiner Vergangenheit, vielleicht?« Zhu Cho breitete die Arme aus und deutete auf einen Punkt in der Mitte des Saals. Schwarzer Rauch wirbelte dort und formte sich zu einem Wesen, das fast drei Meter groß war. Es hatte den Kopf eines Wolfes und den Körper eines riesigen Mannes. »Wie schade, daß du deine kleine Armbrust nicht mitgebracht hast«, sagte Zhu Chao.

Waylander wich zurück, als das Wesen auf ihn zukam, die blutroten Augen auf seine Beute gerichtet. Ein silberner Pfeil sirrte durch den Saal

und drang dem Wesen in den Hals. Ein zweiter folgte und durchschlug die gewaltige Brust. Das Wesen sank in die Knie; dann stürzte es kopfüber auf die steinernen Fliesen.

Waylander fuhr herum. Mit der Armbrust in der Hand stand Miriel in der Tür, an ihrer Seite Angel. Angel lief auf ihn zu.

»Zurück!« befahl Waylander mit erhobenem Schwert.

»Was, zum Teufel, ist los mit dir?« fragte Angel.

»Nichts ist hier, wie es scheint«, sagte Waylander. »Und ich lasse mich nicht von einem Dämon täuschen, nur weil er wie ein Freund aussieht.«

Miriel trat vor. »Urteile nach Taten, Vater«, sagte sie. Waylanders Armbrust materialisierte in seiner Hand; ein Köcher voller Bolzen erschien an seinem Gürtel.

»Wie seid ihr hergekommen?« fragte er, immer noch mißtrauisch.

»Kesa Khan hat uns geschickt. Jetzt müssen wir fort von hier.«

Waylander lud seine Armbrust und drehte sich zu Zhu Chao um.

Doch der Zauberer war verschwunden.

Auf beiden Seiten des Saales gab es zahlreiche Türen. Miriel lief auf die nächste zu, doch Waylander rief sie zurück.

»Was ist das für ein Ort?« fragte er sie.

»Er existiert in der Leere. Zhu Chao erschuf diese Burg als Falle für dich. Wir müssen raus hier, aus der Reichweite seiner Macht.« Wieder wollte Miriel auf die Tür zu, doch Waylander packte ihren Arm. In seinen dunklen Augen loderte Zorn.

»Bleib stehen und denk nach!« fuhr er sie an. »Dies ist seine Schöpfung, also wird keine der Türen in die Freiheit führen. Dahinter liegen nur noch größere Gefahren.«

»Was schlägst du vor?« fragte Angel. »Warten wir einfach hier?«

»Genau. Auch seine Macht ist nicht unerschöpflich. Wir bleiben und kämpfen. Was auch immer kommt, wir töten es.«

»Nein«, widersprach Miriel. »Du hast keine Vorstellung davon, was in der Leere existiert. Dämonen, Ungeheuer, Geister - Wesen, die überaus böse sind. Kesa Khan hat mich vor ihnen gewarnt.«

»Wenn Zhu Chao die Macht hätte, solche Wesen zu beschwören, wäre ich schon tot«, sagte Waylander leise. »Aber welche Uber-raschungen er für uns auch auf Lager hat, sie warten hinter diesen Türen. Dort oder hier. Das ist unsere einzige Wahl. Und hier haben wir wenigstens Platz. Erzähl mir von der Leere«, bat er Miriel.

»Es ist ein Ort des Geistes«, erklärte sie, »des Wanderns. Es ist die Große Leere zwischen dem, was war und dem, was ist.«

»Also ist hier nichts wirklich?«

»Wirklich und doch nicht wirklich.«

»Diese Armbrust ist nicht aus Ebenholz und Stahl?«

»Nein. Sie ist ein Gegenstand des Geistes - deines Geistes. Eine Verlängerung deines Willens.«

»Dann muß ich sie nicht laden?«

»Ich ... weiß nicht recht.«

Waylander hob die Waffe und betätigte die Auslöser. Die Bolzen schössen durch die Halle und hämmerten in eine schwarze Tür. Er blickte auf die Waffe hinunter, deren Sehnen schlaff hingen. Dann hob er sie wieder. Sofort schössen zwei Bolzen durch die Luft. »Gut«, sagte er. »Jetzt laß sie kommen. Und ich will meine Messer haben.« Ein Wehrgehänge erschien um seine Brust, von dem drei Messer in ihren Scheiden hingen. Seine Schulterpanzerung materialisierte -nicht in Schwarz, sondern aus schimmerndem Silber. »Was ist mit dir, Angel?« fragte er breit grinsend. »Was willst du haben?«

Der Gladiator lächelte. »Zwei goldene Schwerter und eine mit Edelsteinen besetzte Rüstung.«

»Du sollst sie haben!«

Ein goldener Helm erschien; ein weißer Federbusch wippte elegant bis in den Nacken. Dazu eine Brustplatte und Beinschienen, glitzernd vor Rubinen und Diamanten. Zwei Schwerter in ihren Scheiden tauchten schimmernd an seinen Hüften auf.

Alle Türen im Saal öffneten sich, und eine Schar schattenhafter Gestalten schwärmte auf die wartenden Krieger zu.

»Ich will Licht!« brüllte Waylander. Die Decke verschwand. Sonnenschein erfüllte den Saal und drang durch die schwarze Horde, die sich auflöste wie Nebel im Morgenwind.

Dann bildete sich eine schwarze Wolke über ihnen, die das Licht verdeckte, und eine kalte Stimme zischte überall um sie herum. »Du lernst rasch, Waylander, aber du kannst es nicht mit mir aufnehmen.«

Noch als die letzten Worte erklangen, erschienen neun Ritter in schwarzer Rüstung, lange, dreieckige Schilde am Arm, schwarze Schwerter in Händen. Waylander fuhr herum und schoß zwei Bolzen auf den ersten Krieger ab. Sie prallten wirkungslos gegen den Schild. Miriel schoß einen Pfeil ab, aber auch dieser wurde beiseite gefegt. Und die Ritter rückten vor.

»Was machen wir jetzt?« fragte Angel flüsternd und zog seine Schwerter.

Waylander zielte mit der Armbrust über die vorrückenden Krieger und schoß. Der Bolzen sauste los, machte kehrt und drang dem ersten in den Rücken. »Hier ist alles möglich«, sagte Waylander. »Laßt eurer Phantasie freien Lauf!«

Die Ritter griffen an, die Schilde vor sich haltend. Ein weißer Schild erschien an Waylanders Arm; seine Armbrust wurde zu einem Schwert aus Licht. Er sprang vor, rammte den ersten Ritter mit seinem Schild, so daß er das Gleichgewicht verlor, sprang in die entstandene Lücke und hieb mit seinem Schwert nach links, so daß es einem nachrückenden Krieger durch die Rippen fuhr.

Angel nahm zwei Schritte Anlauf; dann warf er sich zu Boden und rollte in die angreifenden Ritter. Drei stolperten über ihn, und ihre Schilde fielen klirrend zu Boden. Er sprang auf und tötete die beiden ersten - den einen mit einem Stich in den Bauch, den zweiten mit einem Rückhandstoß. Miriel tötete den dritten, indem sie ihm einen Pfeil ins Auge schoß.

Zwei Ritter drängten sich um Miriel. Sofort wurde aus ihrem Bogen ein glitzernder Säbel. Sie duckte sich unter einem wilden Hieb und sprang auf. Ihr Fuß schmetterte dem ersten Angreifer gegen das Kinn. Er wurde nach hinten geschleudert. Der zweite stieß sein Schwert auf Miriels Gesicht zu. Sie wich zur Seite und holte mit ihrem Säbel zu einem wuchtigen Hieb aus, der durch die Kettenpanzerung an der Kehle des Mannes drang. Er fiel vornüber, und sie stieß ihm die Klinge in den ungeschützten Rücken.

Die drei verbliebenen Ritter wichen zurück. Angel setzte ihnen nach. »Nein!« brüllte Waylander. »Laß sie gehen.«

Angel kehrte zu Waylander und Miriel zurück. »Ich kann mir nichts Magisches mehr ausdenken«, brummte er.

»Das brauchst du auch nicht«, sagte Waylander und deutete auf die verblassenden Burgmauern. »Es ist vorbei.«

Nach wenigen Augenblicken standen sie auf einer breiten, grauen Straße. Die Burg war nur noch Erinnerung.

»Du hast dein Leben für mich riskiert, Miriel«, sagte Waylander und nahm seine Tochter in die Arme. »Du bist für mich in die Hölle gegangen. Das werde ich nie vergessen, solange ich lebe.« Er ließ sie los und wandte sich an Angel. »Dir auch nicht, mein Freund. Wie kann ich dir danken?«

»Du könntest damit anfangen, daß ich Miriel hier wegbringen darf«, antwortete Angel, der nervöse Blicke auf den schiefergrauen Himmel und die düsteren Berge warf.

Waylander lachte. »Also gut. Wie kommen wir von hier fort, Miriel?«

Sie trat auf ihn zu und legte ihm die Hände über die Augen. »Denk an deinen Körper und wo er schläft. Dann entspanne dich, als wolltest du einschlafen. Wir sehen uns in den Bergen, schon sehr bald.«

Er nahm ihre Hände und hielt sie fest. »Ich komme nicht in die Berge«, sagte er leise.

»Was meinst du damit?«

»Dort bin ich nur ein weiteres Schwert. Ich muß dahin gehen, wo meine Gaben am besten nützen.«

»Doch nicht nach Gulgothir?« fragte sie ängstlich.

»Doch. Zhu Chao ist die Ursache für das alles. Wenn er tot ist, ist es vielleicht vorbei.«

»O Vater, er ist ein Magier. Und er wird schwer bewacht. Schlimmer noch, er weiß, daß du kommen wirst - deswegen hat er dir diese Falle gestellt. Er wird warten. Wie willst du da Erfolg haben?«

»Er ist Waylander der Schlächter«, sagte Angel schlicht.

»Was für ein Narr!« kicherte Kesa Khan, sprang auf und schlug Kapriolen durch die Höhle. Seine Müdigkeit war vergessen. Miriel schaute ihm erstaunt zu. Angel schüttelte nur den Kopf. »Sich vorzustellen«, fuhr der Schamane fort, »daß er versucht hat, Waylander direkt zu töten! Das ist geradezu eine Wonne! Als ob man einen Löwen dadurch zu ersticken versucht, daß man ihm den Kopf ins Maul steckt. Was für eine Wonne!«

»Wovon redest du überhaupt?« fragte Miriel.

Kesa Khan seufzte und ließ sich am Feuer nieder. »Du bist seine Tochter und siehst es nicht? Er ist wie ein Feuer. Sich selbst überlassen, brennt er bis auf glimmende Asche herunter. Aber ihn anzugreifen bedeutet, Aste und Zweige auf die Hammen zu werfen. Begreifst du das? Sieh nur!« Kesa machte eine Handbewegung über den Flammen, die zu einem flachen Spiegel aus Feuer wurden. Darin sahen sie Waylander, der langsam durch den Tunnel in die Leere watete. »Hier hatte er Angst, denn es gab keine Feinde, nur Dunkelheit. Er war verloren. Keine Erinnerung. Keine Waffen.« Sie beobachteten, wie die winzige Gestalt das Skelett erreichte, sahen, wie der goldhaarige Kopf erschien. »Jetzt schaut zu!« befahl Kesa Khan.

Das Schuppenwesen richtete sich hinter Waylander auf, der sich die Rippe schnappte und sie der Bestie in den Leib rammte. »Jetzt«, sagte der Schamane, »hat er ein Schwert. Jetzt hat er ein Ziel. Er ist umgeben von Feinden. Seine Fähigkeiten sind zielgerichtet. Seht nur, wie er sich bewegt. Wie ein Wolf.«

Schweigend sahen sie zu, wie die kleine Gestalt die Kugel zerstörte und sich die Treppe aus Händen und Klauen hinaufkämpfte. »Das hier fand ich großartig«, kicherte der Schamane, als Waylander den weißgekleideten Priester der Schlange ins Maul warf. »Er wußte es, versteht ihr? In der Dunkelheit, umgeben von Feinden, wußte er, daß es keinerlei Unterstützung gab. Die Tür, die er wählte, war die bewachte. Oh, es ist so vollkommen! In seinen Adern muß Nadirblut fließen! Und Sonnenlicht in die Leere zu rufen ... wunderschön. Vollkommen! Zhu Chao zittert jetzt bestimmt. Bei allen Göttern, ich würde es auch!«

»Ich weiß nicht, ob er zittert«, sagte Miriel, »aber ich weiß, daß mein Vater auf dem Weg nach Gulgothir ist. Und dort gibt es keinen Sonnenschein, den er herbeirufen könnte. Zhu Chao wird sich mit bewaffneten Wächtern umgeben. Er wird auf ihn warten.«

»So wie die Götter«, sagte Kesa Khan mit einer Handbewegung. Das Feuer flackerte wieder auf. »Morgen müssen wir die Frauen und Kinder nach Kar-Barzac bringen. Ich habe Anshi Chen eine Botschaft geschickt. Er wird eine kleine Nachhut zurücklassen, um die Pässe zu halten. Fünfzig Männer werden bis zur Dunkelheit hierbleiben, um die Mauer zu verteidigen. Das sollte reichen.«

»Was ist mit meinem Vater?« beharrte Miriel.

»Sein Schicksal liegt in den Händen der Götter«, antwortete Kesa Khan. »Er wird leben oder sterben. Wir können nichts tun.«

»Zhu Chao wird versuchen, ihn durch Magie aufzuspüren«, meinte Miriel. »Kannst du ihn abschirmen?«

»Nein. Die Macht habe ich nicht. Im Tal von Kar-Barzac gibt es tödliche Kreaturen. Ich brauche meine ganze Kraft, um sie in die Berge zu treiben, um für mein Volk den Weg zur Festung frei zu machen.«

»Was für eine Chance hat mein Vater dann?«

»Das werden wir sehen. Unterschätze ihn nicht.«

»Wir müssen doch irgend etwas tun können!«

»Ja, ja. Wir kämpfen weiter. Wir sorgen dafür, daß Zhu Chao seine Energie auf Kar-Barzac konzentriert. Das ist es, was er will. Seine Träume liegen in dieser alten Festung.«

»Wieso?« wollte Angel wissen.

»Die Älteren haben sie gebaut. Sie haben dort große Zauber gewirkt, lebende Dämonen erschaffen, die man als Bastarde kannte und die ihre Kriege für sie austrugen. Tiere, die sie mit Menschen verschmolzen. Eine ungeheure Magie! So groß, daß sie die Älteren letztendlich zerstörte. Aber in Kar-Barzac lebte die Magie weiter und strahlte aus. Ihr werdet es sehen. Sie hat das Tal verzerrt, Bäume deformiert, fleischfressende Schafe und Ziegen geschaffen. Ich habe dort sogar ein Kaninchen mit Fangzähnen gesehen. Nichts kann in diesem Tal leben, ohne zu verderben, sich zu verzerren. Sogar die Festung selbst ist mittlerweile eine Monstrosität. Ihre Granitblöcke sind verformt, als wären sie aus nassem Ton.«

»Wie, bei allen Göttern, können wir dann dorthin gehen?« fragte Angel.

Kesa Khan lächelte, und seine dunklen Augen strahlten. »Irgend jemand war so freundlich, die Magie zu beenden«, sagte er. Er wandte den Blick von ihnen und starrte ins Feuer.

»Was verschweigst du uns?« fragte Miriel.

»Eine ganze Menge«, gab der Schamane zu. »Aber vieles braucht ihr auch nicht zu wissen. Unsere Feinde erreichten Kar-Barzac vor uns. Sie haben die Quelle der Magie beseitigt - ja, und sind dabei gestorben. Jetzt ist es dort sicher. Wir werden seine Mauern verteidigen, und dort wird die Linie dessen fortgesetzt, der die Stämme eint.«

»Wie lange können wir diese Festung halten?« erkundigte sich Angel.

»Wir werden sehen«, antwortete Kesa Khan. »Aber zuerst muß ich die Ungeheuer aus dem Tal treiben. Laßt mich allein.«