9.

Ekodas liebte den Wald, die majestätischen Bäume, die in stiller Brüderlichkeit lebten, die Pflanzen und Blumen, die die Erde bedeckten, und die Feierlichkeit, geboren aus ewigem Leben. Als die Welt noch jung war, die Erde noch warm, waren die ersten Bäume hier gewachsen, lebten und atmeten. Und ihre Nachkommen waren noch immer hier, sahen ohne Ende die kleinen, flüchtigen Leben der Menschen vorbeiziehen.

Der junge Priester, dessen weiße Gewänder jetzt schmutzig verkrustet waren, ging zu einer gewaltigen Eiche und legte seine Hand auf die rauhe Rinde. Er schloß die Augen. Der Baum hatte kein Herz, dessen Schlag er hören konnte; dennoch pulsierte Leben in dem Stamm, dem langsam durch die Kapillaren fließenden Saft, dem Wachstum von neuem Holz.

Ekodas fühlte sich in Frieden.

Er ging weiter. Seine Gedanken waren offen für die Geräusche des Waldes. Ein einsamer Vogel sang, kleine Tiere huschten durchs Gebüsch. Er spürte den Herzschlag eines Fuchses ganz in der Nähe und roch den nach Moschus duftenden Pelz eines alten Dachses. Er blieb stehen. Und lächelte. Der Fuchs und der Dachs teilten sich einen Bau.

Eine Eule schrie. Ekodas blickte auf. Das Tageslicht verblaßte, und die Sonne versank im Westen im Meer.

Er machte kehrt und begann den langen Aufstieg zum Tempel. Die Debatte fiel ihm wieder ein, und er seufzte. Er bedauerte seine Schwäche, die dazu geführt hatte, daß er seine Prinzipien verriet. Tief in seinem Innern wußte er, daß Dardalion sich selbst auch nicht sicher war über den Weg, den sie gingen. Der Abt hatte beinahe gewünscht, von dem Schicksal erlöst zu werden, das er so lange geplant hatte. Beinahe.

Doch wenn die Liebe an jenem Tag gewonnen hätte, wäre alles, wonach Dardalion gestrebt hatte, nichtig erschienen. Eine tragische Vergeudung von Leben und Gaben. Das konnte ich dir nicht antun, Dardalion, dachte Ekodas. Ich konnte aus deinem Leben keinen Schmerz machen.

Der junge Priester holte tief Luft und versuchte, wieder die Ruhe des Waldes zu spüren. Doch statt dessen fuhr ein scharfer, brennender Stoß durch seine Gedanken. Zorn. Furcht. Erregung. Lust. Er konzentrierte sich auf seine Gabe und suchte den Wald ab. Und spürte zwei Männer ... und ... ja, eine Frau auf.

Er bahnte sich einen Weg durch die Büsche neben dem Pfad und überquerte den Hang, bis er zu einem Wildpfad gelangte, der in eine tiefe Schlucht hinabführte. Er hörte die Stimme eines Mannes.

»Sei doch vernünftig, Weib. Wir wollen dir nicht weh tun. Wir bezahlen ja sogar!«

Eine andere Stimme fiel ein, rauh und tief. »Genug geredet! Packt die Gans!«

Ekodas kam um die letzte Biegung und sah die beiden Männer, ihrer Kleidung nach Waldarbeiter, mit gezogenen Messern vor einer jungen Nadirfrau stehen. Sie hielt ebenfalls ein Messer in der Hand und wartete ruhig, mit dem Rücken zu einem Felsen.

»Guten Abend, Freunde«, sagte Ekodas. Der erste der Männer, groß und schlank, in einer grünen Tunika aus handgesponnener Wolle, braunen Lederbeinkleidern und Stiefeln, fuhr zu ihm herum. Er war noch jung; die sandfarbenen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Das ist kein Ort für einen Priester!« sagte er.

Ekodas ging weiter und blieb direkt vor dem Mann stehen. »Der Wald ist ein wundervoller Ort zum Meditieren, Bruder.« Er spürte die Verwirrung des Mannes. In ihm war nicht viel Böses, doch seine Lust war entfacht und hatte seinen Verstand umnebelt. Er wollte die Frau, und in seinen Gedanken brodelten erotische Bilder.

Der zweite Mann drängte sich nach vorn. Er war kleiner und stämmiger, die Augen klein und rund. »Scher dich dahin, wo du herkommst!« befahl er. »Ich lasse mich von deinesgleichen nicht beiseite schieben.«

»Was ihr vorhabt, ist böse«, sagte Ekodas leise. »Ich kann es nicht zulassen. Wenn ihr dieser Schlucht folgt, kommt ihr auf die Straße nach Estri. Das ist ein kleines Dorf. Soviel ich weiß, gibt es dort eine Frau, die für Männer mit Geld ein besonderes Lächeln hat.«

»Ich weiß, wo Estri ist«, zischte der zweite Mann. »Und wenn ich deinen verdammten Rat haben will, werde ich dich fragen. Weißt du, was das ist?« Sein Messer zuckte hoch und hielt vor Ekodas' Gesicht inne.

»Ich weiß, was das ist, Bruder. Warum zeigst du es mir?«

»Bist du blöd?«

Der erste Mann nahm seinen Freund beim Arm. »Laß doch, Caan. Es spielt keine Rolle.«

»Für mich schon. Ich will diese Frau.«

»Du kannst doch keinen Priester töten!«

»Das siehst du doch!« Das Messer fuhr hoch. Ekodas wich aus, packte das Handgelenk des Mannes und verdrehte den Arm nach hinten. Sein Fuß stieß vor und hakte sich hinter das Knie des Messerstechers. Der Waldarbeiter verlor den Halt. Ekodas ließ los, und der Mann fiel zu Boden.

»Ich habe nicht den Wunsch, dir weh zu tun«, sagte Ekodas.

Der Mann kam auf die Füße und griff erneut an. Ekodas fegte den Waffenarm beiseite und ließ seinen Ellbogen gegen das Kinn des Mannes krachen. Er ging zu Boden wie von einer Axt gefällt.

Ekodas wandte sich an den ersten Mann. »Bring deinen Freund nach Estri«, riet er ihm. »Und wenn ihr dort seid, verabschiede dich von ihm. Er bringt das Schlechteste in dir zum Vorschein.« Er ging an dem Mann vorbei und auf die Nadirfrau zu. »Ich grüße dich, Schwester. Wenn du mir folgst, bringe ich dich für die Nacht zu einer Unterkunft. Es ist ein Tempel, und die Betten sind hart, aber du wirst gut und ohne Angst schlafen können.«

»Ich schlafe immer ohne Angst, wo ich auch bin«, sagte sie. »Aber ich komme mit dir.«

Ihre Augen waren schön und dunkel, ihre Haut blaß, doch mit einem goldenen Schimmer angehaucht. Ihre Lippen waren voll, der Mund breit. Ekodas merkte, wie ihm die Bilder aus den Gedanken des Waldarbeiteres in den Sinn kamen. Er wurde rot und begann den langen Aufstieg.

»Du kämpfst gut«, sagte sie und schloß zu ihm auf. Ihr Messer steckte jetzt in einer Ziegeniederscheide. Über die Schultern hatte sie einen kleinen Ranzen geschlungen.

»Bist du weit gereist, Schwester?«

»Ich bin nicht deine Schwester«, betonte sie.

»Alle Frauen sind meine Schwestern. Alle Männer meine Brüder. Ich bin ein Priester der QUELLE.«

»Dein Bruder da unten hat einen gebrochenen Kiefer.«

»Das tut mir leid.«

»Mir nicht. Ich hätte ihn getötet.«

»Ich heiße Ekodas«, sagte er und hielt ihr die Hand hin. Die Frau beachtete sie nicht und ging voran.

»Ich heiße Shia.« Sie erreichten den gewundenen Pfad zum Tempel, und sie warf einen Blick auf die hohen Steinmauern. »Das ist eine Festung«, stellte sie fest.

»Das war es einmal. Jetzt ist es ein Ort des Gebets.«

»Es ist immer noch eine Festung.«

Die Tore standen offen, und Ekodas führte die Frau hinein. Vishna und einige andere Priester holten Wasser vom Brunnen. Shia blieb stehen und starrte sie an. »Habt ihr keine Frauen für diese Arbeit?« fragte sie Ekodas.

»Hier gibt es keine Frauen. Ich sagte doch, wir sind Priester.«

»Und Priester haben keine Frauen?«

»Genau.«

»Nur Schwestern?«

»Ja.«

»Dein kleiner Stamm wird nicht lange überleben«, sagte sie mit einem tiefen, kehligen Lachen.

Die Schreie erstarben, und der Sklave ließ nur noch ein heiseres, ersticktes Todesröcheln hören. Seine Arme entspannten sich, so daß er in den Ketten zusammensackte; seine Beine zuckten in Krämpfen. Zhu Chao stieß das Messer durch die Rippen, durchtrennte die Arterien des Herzens und riß das Organ heraus. Er trug es zur Mitte des Kreises, wobei er sorgsam über die Kreidelinien trat, die auf die Steine gemalt waren, im Zickzack zwischen den Kerzen und den Golddrähten, die den Kelch und den Kristall verbanden. Er legte das Herz in den Kelch und wich zurück, bis seine Füße in den Doppelkreisen Shemaks standen.

Das Vierte Buch der Beschwörungen lag aufgeschlagen auf einem bronzenen Lesepult, und Zhu Chao blätterte die Seite um und begann laut zu lesen in einer Sprache, die der Welt der Menschen seit hundert Jahrtausenden verloren war.

Die Luft um ihn herum knisterte. Flammen liefen entlang der Golddrähte und umhüllten den Kelch mit Feuerkreisen. Das Herz blubberte. Dunkler Rauch stieg von ihm auf und formte eine Gestalt. Massige runde Schultern erschienen und ein gewaltiger Kopf mit einem höhlengleichen Maul. Augen klappten auf, gelb und geschlitzt. Lange Arme, dick vor Muskeln, sprossen aus den Schultern.

Zhu Chao begann zu zittern und spürte, wie ihn sein Mut verließ.

Das Wesen aus Rauch warf den Kopf zurück, und ein schlangengleiches Zischeln erfüllte den Raum.

»Was willst du von mir?« fragte der Dämon.

»Einen Tod«, antwortete Zhu Chao.

»Kesa Khan?«

»So ist es.«

Das Rauchwesen ließ ein Geräusch hören, ein langsames vulkanisches Zischen, das Zhu Chao für Gelächter hielt. »Er wünscht ebenfalls deinen Tod«, sagte der Dämon.

»Kann er mit Blut und Schmerz bezahlen?« entgegnete Zhu Chao. Er spürte, daß ihm Schweiß übers Gesicht rann und seine Hände zitterten.

»Er hat meinem Meister gut gedient.«

»Wie ich.«

»Allerdings. Aber ich werde deine Bitte nicht erfüllen.«

»Warum nicht?«

»Schau dir deine Lebenslinien an, Zhu Chao.«

Der Rauch löste sich auf, als wäre ein frischer Wind durch den Raum gefahren. Der Kelch war leer, das Herz spurlos verschwunden. Zhu Chao drehte sich um, aber dort, wo noch wenige Augenblicke zuvor der Körper des jungen Sklaven in Ketten gehangen hatte, war nichts mehr. Auch er war verschwunden.

Der Zauberer stolperte aus dem Kreis. Jetzt achtete er nicht mehr auf die Kreidelinien, die seine Sandalen verschmierten. Er nahm das Dritte Buch der Beschwörungen, trug es zu einem lederbezogenen Schreibpult und suchte in den Seiten. Der Zauber, den er brauchte, war nur schwach und verlangte kein Blut. Er sprach die Worte und zeichnete dann ein Muster in die Luft. Dort, wo seine Finger entlangfuhren, erschien eine schimmernde Linie, die sich zu einem Spinnennetz formte. Als er schließlich zufrieden war, deutete er auf verschiedene Schnittpunkte. Kleine Kugeln tauchten an jedem Fleck auf -einige blau, andere grün, eine golden, zwei schwarz. Zhu Chao holte tief Luft und konzentrierte sich. Das Netz begann sich zu verändern und zu bewegen; die Kugeln drehten sich, umkreisten die goldene Kugel in der Mitte. Der Zauberer nahm eine Schreibfeder und tauchte sie in ein kleines Tintenfaß. Er nahm ein großes Stück Papyrus und begann zu schreiben. Hin und wieder warf er einen Blick auf das wirbelnde Muster in der Luft.

Nach einer Stunde hatte er die Seite mit Symbolen gefüllt. Müde rieb er sich die Augen und streckte den Rücken. Das wirbelnde Netz verschwand. Er nahm das Blatt, ging zurück zu dem Kelch, sprach die Sechs Worte der Macht und ließ den Papyrus in die goldene Schale fallen.

Sie brach in Flammen aus, die eine brennende Kugel bildeten, einen großen Ball, der vom Kelch aufstieg, bis er vor seinem Gesicht in der Luft schwebte. Die Kugel dehnte sich aus und flachte ab, die Flammen erstarben, und Zhu Chao sah einen Mann in Schwarz, der über die hohen Mauern seines Palastes ging. In den Händen des Mannes befand sich eine kleine Armbrust.

Die Szene flackerte auf und wechselte. Eine alte Festung, mit hohen, gekrümmten Mauern und schiefen Türmen. Eine Armee war dort versammelt, hielt Strickleitern und Seile bereit. Auf der Mauer, auf dem höchsten Turm, stand Kesa Khan. Neben ihm stand eine Frau, auch sie in Schwarz gekleidet.

Das Bild flimmerte, und Zhu Chao sah einen Drachen hoch am Himmel, der über der Festung kreiste. Doch dann machte er kehrt und flog geradewegs nach Gulgothir, über die stillen Häuser, wie ein Pfeil zu Zhu Chaos eigenem Palast. Sein Schatten glitt über das Land wie ein schwarzer Dämon. Er flog über die Palastmauern in den Hof. Dort erstarrte der Schatten auf dem Pflaster, schwärzer als die Nacht, erhob sich und wurde zu einem Mann.

Derselbe Mann, mit der Armbrust.

Schon schwächer, wirbelte das Bild noch einmal, und Zhu Chao betrachtete eine Hütte in den Bergen. Dort war der Mann wieder -und die Leichen der neun Ritter. Der Zauberer war entsetzt. Wie hatte Waylander die Ritter besiegt? Er kannte keine Zauber. Furcht flackerte in Zhu Chaos Herzen auf. Der Drache im Traum war zu seinem Palast geflohen, versprach Verzweiflung und Tod.

Nicht meinen Tod, dachte Zhu Chao und kämpfte die aufsteigende Panik nieder. Nein, nicht meinen Tod.

Seine Müdigkeit war vergessen, als er die Wendeltreppe zu den oberen Räumen hinaufstieg. Bodalen war dort, lümmelte auf einer Couch herum, die gestiefelten Füße auf der Silberplatte eines Tisches.

»Was hast du mir von Waylander verschwiegen?« wollte der Zauberer wissen.

Bodalen schnellte sich auf die Füße. Er war groß, mit breiten Schultern und eckigem Kinn; die blauen Augen lagen unter dichten

Brauen, der Mund war groß und voll. Er war ein Abbild des jüngeren Karnak, und seine Stimme hatte den gleichen vollen Klang. »Nichts, Herr. Er ist ein Meuchelmörder - das ist alles.«

»Der Meuchelmörder hat neun meiner Ritter getötet. Verstehst du? Männer mit großer Macht.«

Bodalen leckte sich die Lippen. »Das kann ich mir nicht erklären, Herr. Mein Vater hat oft von ihm gesprochen. Von Magie hat er nichts gesagt.«

Zhu Chao schwieg. Welchen Grund hatte Waylander, in seinen Palast zu kommen, außer, Bodalen zu töten? Wenn Karnaks Sohn nicht mehr hier wäre ... Er lächelte den jungen Drenai an. »Er ist keine Bedrohung für uns«, sagte er. »Aber jetzt gibt es etwas, das du für mich tun kannst, mein Junge.«

»Gern, Herr.«

»Ich möchte, daß du zu den Mondbergen reitest. Ich werde dir eine Karte mitgeben. Dort gibt es eine uralte Festung, einen seltsamen Ort. Unter ihr befinden sich zahlreiche Tunnel und Kammern, angefüllt mit Gold und Juwelen, heißt es. Nimm zehn Männer und reichlich Proviant und geh in diese Festung. Such ein Versteck in den unterirdischen Höhlen. In den nächsten Wochen wird Kesa Khan dorthin reisen. Dann kannst du auftauchen und ihn töten.«

»Er wird viele Nadirkrieger bei sich haben«, warf der jüngere Mann ein.

Zhu Chao lächelte dünn. »Das Leben ist voller Gefahren, Bodalen, und ein tapferer Mann kann sie alle überwinden. Es würde mich freuen, wenn du diese kleine Aufgabe übernimmst.«

»Du weißt, ich würde mein Leben für die Sache geben, Herr. Es ist nur ...«

»Ja, ja«, fauchte Zhu Chao. »Ich verstehe. Du hast das Aussehen deines Vaters, aber nichts von seinem Mut mitbekommen. Aber eins mußt du wissen, Bodalen: An seiner Seite warst du von großem Nutzen für mich. Hier, als Ausreißer, bist du wertlos. Mach nicht den Fehler, mich zu enttäuschen.«

Bodalen wurde blaß. »Natürlich nicht, Herr. Ich ... ich wäre glücklich ... eine Karte, sagst du?«

»Du sollst eine Karte haben und zehn vertrauenswürdige Männer. Sehr vertrauenswürdig. Und wenn du erfolgreich bist, Bodalen, wirst du so reich belohnt, wie du es dir in deinen kühnsten Träumen nicht ausmalen kannst. Du wirst König aller Drenai werden.«

Bodalen nickte und lächelte. »Ich werde dir gut dienen, Herr. Und du irrst: Es mangelt mir nicht an Mut. Ich werde es dir beweisen.«

»Selbstverständlich, mein Junge. Verzeih mir, ich sprach im Zorn. Jetzt geh und bereite deine Reise vor.«

Ekodas führte Shia durch den Speisesaal und hinauf durch den zweiten und dritten Stock zu Dardalion, der in seinem Studierzimmer saß. Der junge Priester klopfte an die Tür.

»Herein«, rief der Abt. Ekodas öffnete die Tür und schob die junge Nadirfrau ins Zimmer.

Dardalion stand auf und verbeugte sich. »Willkommen, meine Liebe. Es tut mir leid, daß deine Reise nach Drenai einen so erschütternden Anfang genommen hat.«

»Habe ich gesagt, es war erschütternd?« entgegnete Shia, trat vor und betrachtete den Raum. Ihr spöttischer Blick wanderte über die überquellenden Regale und offenen Schränke, in denen sich Schriftrollen, Pergamente und Bücher stapelten.

»Liest du?« fragte Dardalion.

Sie schüttelte den Kopf. »Wozu soll das dienen?«

»Um unsere Bedürfnisse und Wünsche zu verstehen, müssen wir zuerst die Bedürfnisse und Wünsche unserer Vorfahren verstehen.«

»Das sehe ich nicht so«, antwortete sie. »Die Wünsche unserer Vorfahren sind offensichtlich - deswegen sind wir ja hier. Und diese Wünsche ändern sich nicht - deswegen haben wir Kinder.«

»Glaubst du, die Geschichte kann uns nichts lehren?« fragte Ekodas.

»Die Geschichte schon«, gab sie zu, »aber das hier ist nicht Geschichte, das sind lediglich Schriftstücke. Bist du hier der Anführer?« fragte sie und wandte sich an Dardalion.

»Ich bin der Abt. Die Priester, die du gesehen hast, sind meine Schüler.«

»Er kämpft gut«, sagte sie mit einem Lächeln und deutete auf Ekodas. »Er sollte nicht hier unter Betbrüdern sein.«

»Du benutzt das Wort als Beleidigung«, klagte Ekodas und errötete.

»Wenn du dich dadurch beleidigt fühlst, dann muß es so sein«, sagte sie.

Dardalion kicherte und ging um sein Schreibpult herum. »Du bist

willkommen hier, Shia, Tochter von Nosta Vren. Morgen früh werden wir dich zu deinem Bruder Belash führen.«

Ihre dunklen Augen funkelten, und sie lachte. »Deine Kräfte erstaunen mich nicht, Silberhaar. Ich wußte, daß du ein Mystiker bist.«

»Woher?« wollte Ekodas wissen.

Dardalion ging zu dem verblüfften Priester und legte dem jungen Mann eine Hand auf den Arm.

»Woher sonst sollte ich von dem ... erschütternden ... Angriff wissen?« fragte Dardalion. »Du hast einen scharfen Verstand, Shia. Und du bist eine tapfere Frau.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich brauche dich nicht, um mir zu sagen, was ich bin. Aber es freut mich, das Kompliment zu hören. Ich möchte jetzt schlafen. Der kämpfende Betbruder hat mir ein Bett angeboten.«

»Ekodas, bring unseren Gast in den Westflügel. Ich habe ein Feuer in dem Schlafraum anzünden lassen, der nach Süden liegt.« Er wandte sich wieder an Shia und verbeugte sich noch einmal. »Mögen deine Träume angenehm sein, junge Dame.«

»Das werden sie sein ... oder auch nicht«, antwortete sie. In ihren Augen stand noch immer leiser Spott. »Darf dein Mann mit mir schlafen?«

»Ich fürchte, nein«, antwortete Dardalion. »Wir leben hier im Zölibat.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum spielen Männer solche Spiele?« fragte sie. »Zuwenig Liebesspiel macht Bauch und Rücken krank. Und schlimme Kopfschmerzen.«

»Aber dafür«, sagte Dardalion, der nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückte, »befreit es den spirituellen Geist und führt ihn in Höhen, die man in irdischen Freuden selten findet.«

»Weißt du das aus Erfahrung oder nur aus deinen Schriften?« entgegnete sie.

»Nur aus den Schriften«, gab er zu. »Aber der Glaube ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens hier. Schlaf gut.«

Ekodas, der tiefrot geworden war, führte die Nadirfrau durch den Westkorridor. Sein Unbehagen wurden, durch das Lachen des Abts, das ihnen nachhallte, noch verstärkt.

Der Raum war klein, aber ein helles Feuer brannte im Kamin, und frische Decken lagen auf dem schmalen Bett.

»Ich hoffe, du wirst es hier bequem haben«, sagte er steif. »Ich wecke dich morgen früh mit einem leichten Frühstück - Brot, Käse und Saft von Sommeräpfeln.« »Träumst du, Betbruder?« »Ja. Oft.«

»Träum von mir«, sagte sie.