13.

Schwarzgraue Geier mit aufgeblähten Bäuchen hüpften über die Ebene. Einige stritten noch immer über die Kadaver, die zwischen den zerstörten Zelten lagen. Auch Krähen hatten sich versammelt und schössen zwischen den Geiern umher, um mit ihren scharfen Schnäbeln in widerstandsloses Fleisch zu hacken. Rauch stieg träge von den brennenden Zelten auf und bildete einen grauen Vorhang über dem Schauplatz des Massakers.

Angel lenkte sein Pferd auf die Ebene hinunter. Die vollgefressenen Geier, die dem Reiter am nächsten waren, watschelten davon, die anderen beachteten ihn nicht weiter.

Belash und Shia ritten an Angels Seite. »Das war der Grünaffen-Stamm«, sagte Belash. »Keine Wölfe.« Er schwang sich aus dem Sattel und ging zwischen den Toten umher.

Angel blieb im Sattel. Links von ihm war ein kleiner Kreis von Toten, die Männer am Außenrand, Frauen und Kinder innen. Offensichtlich waren die letzten Krieger gestorben, als sie ihre Familien verteidigten. Eine Frau hatte ihr Baby mit dem eigenen Körper zu schützen versucht, aber die abgebrochene Lanze, die aus ihrem Rücken ragte, war auch durch den Leib des Säuglings gedrungen.

»Müssen mehr als hundert Tote sein«, sagte Senta. Angel nickte. Rechts von ihm lagen die Leichname von fünf Kleinkindern mit zerschmettertem Schädel, die vor einen Wagen geworfen worden waren. Blutflecken auf den Rädern zeigten deutlich, auf welche Weise die Babys getötet worden waren.

Belash ging zurück zu Angel. »Mehr als tausend Soldaten«, sagte er. »Auf dem Weg in die Berge.«

»Mutwilliges Gemetzel«, wisperte Angel.

»Ja«, gab Belash ihm recht. »Sie können ja nicht alle schlecht sein, wie?«

Angel fühlte glühende Scham in sich aufsteigen, als Belash seine eigenen Worte wiederholte, aber er sagte nichts, sondern zog an den Zügeln und galoppierte zurück auf den Hügel, wo Miriel wartete.

Ihr Gesicht war aschgrau, und sie umklammerte den Sattelknauf so fest, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. »Ich kann ihre Schmerzen fühlen, Angel«, sagte sie. »Ich kann es fühlen. Ich kann es nicht ausblenden.«

»Dann versuch es gar nicht erst«, sagte er.

Sie stieß einen schaudernden Seufzer aus; große Tränen rannen ihr über die Wangen. Angel stieg ab, hob sie aus dem Sattel und hielt sie fest an sich gedrückt, als abgehackte Schluchzer ihren Körper schüttelten. »Es ist im Land«, sagte sie. »All die Erinnerungen. Getränkt in Blut. Das Land weiß.«

Er rieb ihren Rücken und strich ihr übers Haar. »Dieses Land hat schon oft Blut gesehen, Miriel. Und diesen Menschen hier kann niemand mehr weh tun.«

»Was für Männer können so etwas tun?« tobte sie. Zorn verdrängte ihren Kummer.

Angel wußte keine Antwort. Einen Mann im Kampf zu töten, das verstand er, aber ein Baby bei den Füßen zu nehmen und ... er schauderte. Das ging über jedes Verständnis hinaus.

Belash, Shia und Senta kamen den Hügel hinauf. Miriel wischte sich die Augen und blickte Belash an. »Die Soldaten sind zwischen uns und den Bergen«, sagte sie. »Dies ist dein Land. Was rätst du uns?«

»Es gibt Pfade, die sie nicht kennen«, antwortete er. »Ich werde euch führen - wenn du noch immer weiterwillst.«

»Warum sollte ich nicht?« entgegnete Miriel.

»Wo wir hinreiten, Frau, wird es keine Zeit für Tränen geben. Nur Schwerter und aufrichtige Herzen.«

Sie lächelte ihn an, ein kaltes Lächeln, und stieg auf ihr Pferd. »Du führst uns, Belash. Wir folgen dir.«

»Warum tust du das?« fragte Shia. »Wir sind nicht dein Volk, und Angel haßt die Nadir. Warum also?«

»Weil Kesa Khan mich gebeten hat«, antwortete Miriel.

»Das akzeptiere ich«, sagte das Mädchen nach einem Augenblick. »Aber was ist mit dir?« Sie wandte sich an Senta.

Senta lachte leise und zog sein Schwert. »Diese Klinge«, erwiderte er, »wurde extra für mich von einem Meister der Waffenschmiedekunst gefertigt. Es war ein herrliches Geschenk. Eines Tages kam er zu mir und zeigte mir das Schwert. Kein Mann hat mich je mit einem Schwert besiegt, und ich bin ziemlich stolz darauf. Aber, weißt du, ich habe den Waffenschmied nicht nach der Qualität des Stahls gefragt oder wieviel Mühe er sich mit der Bearbeitung gegeben hat. Ich habe einfach das Geschenk angenommen und ihm dafür gedankt. Verstehst du?«

»Nein«, antwortete sie. »Was hat das mit meiner Frage zu tun?«

»Als ob man einem Fisch Lesen und Schreiben beibringen wollte«, sagte Senta kopfschüttelnd.

Angel ritt heran und beugte sich weit zu Shia hinüber. »Wir wollen es mal so sagen, meine Dame. Er und ich sind die besten Schwertkämpfer, die du jemals sehen wirst. Aber die Gründe, weshalb wir hier sind, gehen dich verdammt noch mal nichts an!«

Shia nickte ernst. »Das stimmt«, gab sie zu. In ihrer Stimme lag keine Spur von Zorn.

Senta lachte laut auf. »Du hättest Diplomat werden sollen, Angel.« Der Gladiator grunzte nur.

Belash ritt voran nach Osten auf die fernen Berge zu, gefolgt von Miriel und Shia, während Angel und Senta die Nachhut bildeten. Dunkle Wolken türmten sich über den Gipfeln, und Blitze zuckten wie zackige Speere vom Himmel zur Erde. Der Donner folgte fast unmittelbar.

»Die Berge sind zornig«, erklärte Belash, an Miriel gewandt. »Ich auch«, erwiderte sie. Ein heulender Ostwind trieb dichten Regen über das öde, gestaltlose Land, und bald kauerten die Reisenden völlig durchnäßt im Sattel.

Sie ritten ein paar Stunden, bis schließlich die Felswände der Mondberge vor ihnen aufragten. Der Regen ließ nach, und Belash ritt voraus und bog nach Süden ab, um die abweisenden Gipfel und die offenen Steppen nach Norden zu überprüfen. Sie hatten keine Soldaten gesehen, aber jetzt, wo die Wolken aufbrachen, konnten sie in der Ferne den Rauch vieler Lagerfeuer sehen, der aufstieg und sich mit dem grauen Himmel vermischte.

»Dies ist der geheime Weg«, sagte Belash und zeigte auf die Felswand.

»Da gibt es doch niemals einen Weg hindurch!« sagte Angel mit einem Blick auf die schwarze Basaltwand. Doch Belash ritt einen kurzen Geröllhang hinauf - und verschwand. Angel blinzelte. »Bei den Göttern«, flüsterte er.

Miriel drängte ihr Pferd den Hang hinauf, und die anderen folgten. Von außen praktisch unsichtbar, klaffte ein Spalt im Gestein, gut einen Meter breit, der zu einem schimmernden Tunnel führte. Miriel ritt hinein, gefolgt von Angel. Zwischen den Schenkeln der Reiter und dem Fels war auf beiden Seiten kaum ein Fingerbreit Platz, und manchmal mußten sie die Beine auf den Sattel schwingen, damit ihre Tiere sich hindurchquetschen konnten. Die Felswände wirkten bedrohlich, und Angel spürte, wie sein Herz schneller schlug. Uber ihren Köpfen hingen riesige, lose Steinbrocken, die unsicher ineinander verkeilt waren.

Senta sagte: »Wenn ein Schmetterling sich darauf niederläßt, bricht alles zusammen.« Seine Stimme hallte in dem Spalt wider. Ein tiefes Stöhnen kam von oben, und schwarzer Staub rieselte durch die Steine.

»Still!« zischte Shia.

Sie ritten weiter, bis sie schließlich auf einen breiten Sims gelangten, von dem aus man auf einen schüsseiförmigen Krater hinunterblicken konnte. Mehr als hundert Zelte waren hier aufgeschlagen. Belash gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte den Hang hinunter.

»Ich glaube, wir sind zu Hause«, meinte Senta.

Von diesem hohen Aussichtspunkt konnte Angel die ungeheure Weite der Steppe jenseits der Berge sehen, sanfte Hügel, bucklige Höhenzüge, so weit das Auge reichte. Es war ein hartes, trockenes Land, und doch, als die Sonne tief hinter die Gewitterwolken sank, sah Angel in der Steppe eine wilde Schönheit, die sein Kriegerherz rührte. Es war die Schönheit einer Schwertklinge, hart und unnachgiebig. Hier gab es keine Felder oder Wiesen, keine silbernen Flüsse. Selbst die Hügel hatten scharfe Konturen und wirkten abweisend. Und die Stimme des Landes flüsterte ihm zu:

Sei stark oder stirb.

Die Berge ragten um sie herum wie eine zackige schwarze Krone auf. Die Zelte der Nadir wirkten zerbrechlich, fast unwirklich vor der ewigen Macht der Felsen, auf denen sie standen.

Angel schauderte. Senta hatte recht.

Sie waren zu Hause.

Altharin war wütend. Er war wütend, seit der Kaiser ihm dieses Kommando übertragen hatte. Worin lag der Ruhm, wenn man Ungeziefer ausrottete? Wie sollte er sich auf diese Weise einen höheren Rang erobern? Binnen weniger Tage würde der Großteil der Armee durch das Land der Sathuli marschieren, um in Drenai einzufallen; die Krieger würden die Sentranische Ebene überfluten, um den Kampf gegen die Drenai Schwert gegen Schwert, Lanze gegen Lanze aufzunehmen.

Aber nein. Nicht für Altharin. Er warf einen Blick zu den drohenden schwarzen Gipfeln empor und wickelte seine hochgewachsene, hagere Gestalt enger in seinen pelzgefütterten Umhang.

Was für eine Gegend!

Basaltfelsen, zerklüftet und scharf. Hier konnte man nicht reiten - die Lavafelsen würden die Hufe der Pferde völlig zerfetzen. Und Männer zu Fuß mußten lange Klettertouren unternehmen, die sie entkräfteten, ehe sie den Feind erreichten. Altharin blickte nach links, wo die Lazarettzelte aufgeschlagen worden waren. Bislang siebenundachtzig Tote in fünf elenden Tagen.

Er machte kehrt und schlenderte zu seinem eigenen Zelt zurück, wo in einem eisernen Becken Kohlen glühten. Er nahm seinen Umhang ab und warf ihn über einen mit Segeltuch bespannten Stuhl. Sein Diener Becca machte eine tiefe Verbeugung.

»Gewürzwein, Herr?«

»Nein. Schicke nach Powis.« Der Diener huschte aus dem Zelt.

Altharin hatte vermutet, daß dieser Auftrag nicht so einfach werden würde, wie der Kaiser glaubte. »Umzingelt und tötet ein paar hundert Nadir; dann kehrt zurück zur Haupttruppe im Südlager. < Altharin schüttelte den Kopf. Der erste Angriff war gut verlaufen. Die Grünaffen hatten dagesessen und beobachtet, wie die Gothir-Lanzenreiter herankamen, und erst als das Gemetzel begann, dämmerte ihnen, daß sie todgeweiht waren. Doch als die Späher das Lager der Wölfe erreichten, fanden sie es verlassen vor, und die Spuren führten in diese verfluchten Berge.

Altharin seufzte. Morgen würde die Bruderschaft kommen, und jede seiner Bewegungen würde beobachtet und berichtet, alle seine Handlungen in Frage gestellt, seine Strategien verspottet. Ich kann hier nicht siegen, dachte er.

Die Zeltklappe ging hoch, und Powis schlüpfte hindurch. »Du hast mich rufen lassen, Herr?«

Altharin nickte. »Du hast die Berichte zusammengetragen?«

»Noch nicht alle, Herr«, antwortete der junge Mann. »Bernas ist beim Arzt. Er hat eine häßliche Wunde an der Schulter und im Gesicht. Und Gallis ist noch auf dem Gipfel und versucht, sich einen Weg von Norden her zu erkämpfen.«

»Was hast du von den anderen erfahren?«

»Nun, wir haben nur drei Wege ins Innere gefunden. Alle werden von Bogenschützen und Schwertkämpfern verteidigt. Der erste Weg ist sehr schmal, so daß die Männer nur zu zweit nebeneinander gehen können. Das macht sie zu leichten Zielen, nicht nur für Pfeile, sondern auch für Felsen, die von oben heruntergerollt werden. Der zweite Weg liegt etwa dreihundert Schritt weiter nach Norden. Er ist ziemlich breit, aber die Nadir haben Felsblöcke und Steine quer darüber gelegt, so daß eine behelfsmäßige, aber wirksame Mauer entstand. Heute morgen haben wir dort vierzehn Mann verloren. Der letzte Weg ist der, wo Gallis sich durchzukämpfen versucht. Er hat dreihundert Mann dabei. Ich weiß noch nicht, ob er Erfolg hatte.«

»Zahlen?« fauchte Altharin.

»Heute gab es einundzwanzig Tote und etwas mehr als vierzig Verwundete.«

»Feindliche Verluste?«

»Schwer zu sagen, Hauptmann.« Der junge Mann zuckte die Achseln. »Die Männer neigen dazu, solche Dinge zu übertreiben. Sie behaupten, sie hätten hundert Nadir getötet. Ich schätze, daß es weniger als die Hälfte sind, vielleicht nur ein Viertel.«

Becca, der Diener, schlüpfte ins Zelt und verbeugte sich. »Offizier Gallis kehrt zurück, Herr.«

»Schick ihn zu mir«, befahl Altharin.

Einen Augenblick später trat ein großer, breitschultriger Mann ein. Er war etwa vierzig Jahre alt, hatte dunkle Augen und einen schwarzen Bart. Sein Gesicht war schweißüberströmt und mit schwarzem Vulkanstaub verschmiert. Sein grauer Umhang war zerfetzt und schmutzverkrustet; seine gehämmerte eiserne Brustplatte wies mehrere Beulen auf.

»Erstatte Bericht, Vetter«, forderte Altharin ihn auf.

Gallis räusperte sich, nahm seinen Helm mit dem weißen Federbusch ab und ging zu dem Klapptisch, auf dem ein Weinkrug und einige Becher aus Kupfer und Silber standen. »Mit deiner Erlaubnis?« krächzte er.

»Selbstverständ lieh.«

Der Offizier füllte einen Becher und leerte ihn in einem Zug. »Der verdammte Staub ist überall«, sagte er. Er holte tief Luft. »Wir haben vierundvierzig Männer verloren. Der Paß ist an der Basis eng, weitet sich aber weiter oben. Wir haben uns etwa zweihundert Schritt näher an ihr Lager herangekämpft.« Er rieb sich die Augen, wobei er sich schwarze Asche über die Stirn schmierte. »Sie leisteten starken Widerstand, aber ich dachte, wir würden durchkommen.« Er schüttelte den Kopf. »Dann, am engsten Punkt, schlugen die Renegaten zu.«

»Renegaten?« fragte Altharin.

»Jawohl, Vetter. Verräter, Drenai oder Gothir. Zwei Schwertkämpfer, unglaublich geschickt. Hinter ihnen, rechts oberhalb, war eine junge Frau mit einem Bogen. Sie war ganz in Schwarz gekleidet. Jeder Pfeil traf sein Ziel. Zwischen ihr und den Schwertkämpfern habe ich an dieser einen Stelle fünfzehn Mann verloren. Und hoch über uns warfen die Nadir von beiden Seiten Steine und Felsen auf uns herab. Ich ordnete einen Rückzug an und befahl den Männern, sich auf einen zweiten Angriff vorzubereiten. Dann verlor Jar-vik den Kopf und stürmte auf die Schwertkämpfer zu, um sie herauszufordern. Ich habe versucht, ihn aufzuhalten.« Gallis zuckte die Achseln.

»Sie haben ihn getötet?«

»Ja, Vetter. Einer der Schwertkämpfer, der häßlichste Kerl, den ich je gesehen habe, trat vor und nahm seine Herausforderung an.«

»Du willst mir doch nicht erzählen, daß er Jarvik im Zweikampf besiegt hat?«

»Genau das will ich sagen, Vetter. Jarvik hat ihn getroffen, aber der Mann war nicht aufzuhalten.«

»Das kann ich nicht glauben!« sagte Powis und trat näher. »Jarvik hat letztes Frühjahr den Kampf um den Silbernen Säbel gewonnen.«

»Glaub es mir, mein Junge«, fauchte Gallis. Der Offizier wandte sich an Altharin und schüttelte noch einmal den Kopf. »Danach war niemand mehr in der Stimmung, den Angriff fortzusetzen. Ich habe hundert Mann zurückgelassen, um unsere Position zu halten, und den Rest zurückgebracht.«

Altharin fluchte; dann ging er zu einem zweiten Klapptisch, auf dem Karten ausgebreitet waren. »Das ist weitgehend unerforschtes Gelände«, sagte er, »aber wir wissen, daß es nur wenig Nahrungsquellen in den Bergen gibt - vor allem im Winter. Normalerweise würden wir den Gegner aushungern, aber das entspricht nicht dem Befehl des Kaisers. Vorschläge, meine Herren?«

Gallis zuckte die Achseln. »Wir haben die zahlenmäßige Übermacht, sie letztendlich zu besiegen. Wir müssen einfach immer weiter an allen drei Fronten angreifen. Irgendwann gelingt uns dann der Durchbruch.«

»Wie viele Männer werden wir dabei verlieren?« fragte Altharin.

»Hunderte«, gab Gallis zu.

»Und wie wird es in Gulgothir aussehen? Der Kaiser betrachtet unseren Einsatz als kurze Strafexpedition. Und wir alle wissen, wer morgen kommt.«

»Schick die Bruderschaft hin, wenn sie kommen«, sagte Gallis. »Dann werden wir sehen, wie weit ihre Zauberei sie bringt.«

»Ich habe leider keine Befehlsgewalt über die Bruderschaft. »Ich weiß allerdings, daß hier unser Ruf und unsere Zukunft auf dem Spiel stehen.«

»Da stimme ich dir zu, Vetter. Ich werde Befehl geben, die Angriffe auch während der Nacht fortzusetzen.«

»Hör auf zu grummein«, sagte Senta, als die gebogene Nadel wieder in Angels Schulter drang, um die Wundränder zusammenzunähen.

»Dir macht das doch Spaß, du Bastard!« gab Angel zurück.

»Wie grausam!« Senta lachte leise. »Aber warum läßt du dich auch von einem Bauernjungen aus Gothir mit einer Gegenriposte täuschen?«

»Er war gut, verdammt noch mal!«

»Er hat sich mit der Anmut einer kranken Kuh bewegt. Du solltest dich schämen, alter Mann.« Senta beendete den letzten von zehn Stichen und biß den Faden ab. »Hier. Fast wie neu.«

Angel warf einen Blick auf die zusammengenähte Wunde. »Du hättest Nähfräulein werden sollen«, murmelte er.

»Nur eins meiner zahlreichen Talente«, erwiderte Senta, stand auf und verließ die Höhle, um über die Berge zu schauen. Vom Höhleneingang her hörte er die fernen Schreie der Verwundeten, das widerhallende Klirren des Krieges. Die Sterne schienen hell von einem klaren Himmel, und ein kalter Wind fauchte über die Gipfel und Spalten. »Wir können diesen Ort nicht halten«, sagte er, als Angel sich zu ihm gesellte.

»Bislang halten wir uns ganz gut.«

Senta nickte. »Aber es sind zu viele, Angel. Und die Nadir verlassen sich auf den Wall über den Mittelpaß. Sobald die Soldaten ihn durchbrechen ...«Er breitete die Hände aus.

Zwei Nadirfrauen kamen mit Schalen voll klumpigem Käse zu ihnen. Sie blieben kurz vor den Drenaikriegern stehen, die Augen abgewandt, stellten die Schalen vor sie auf den Boden und zogen sich so schweigend zurück, wie sie gekommen waren.

»Wir sind hier richtig willkommen, was?« meinte Senta.

Angel zuckte die Achseln. In dem riesigen Krater standen mehr als hundert Zelte verstreut, und von der hochgelegenen Höhle aus konnten die beiden Männer sehen, wie die Kinder der Nadir im Mondschein spielten. Sie rannten umher, wobei sie Wolken von schwarzem Vulkanstaub aufwirbelten. Linkerhand zog eine Reihe von Frauen mit hölzernen Eimern in die Höhlen, um Wasser aus den artesischen Brunnen tief unten in den Bergen zu holen.

»Wo werden sie morgen angreifen?« fragte Angel und setzte sich mit dem Rücken zu den Felsen.

»An der Mauer, glaube ich«, antwortete Senta. »Die beiden anderen Pässe sind leicht zu verteidigen. Ja, sie werden an der Mauer angreifen.« Ein Schatten bewegte sich rechts von ihnen. Senta lachte leise. »Da ist er wieder, Angel.«

Der Gladiator fluchte und schaute sich um. Ein kleiner junge von vielleicht neun Jahren hockte auf den Fersen und beobachtete sie. »Verschwinde!« brüllte Angel, doch das Kind beachtete ihn nicht. »Ich hasse es, wie er uns einfach so anstarrt«, knurrte Angel. Der Junge war dünn, beinahe zum Skelett abgemagert, seine Kleider fadenscheinig. Er trug eine alte Ziegenfelltunika, die längst schon fast alle Haare verloren hatte, und ein Paar dunkler Beinkleider, die an den Knien zerrissen und an der Hüfte ausgefranst waren. Er hatte schrägstehende schwarze Augen, die die beiden Männer musterten, ohne zu blinzeln. Angel versuchte, den Jungen zu ignorieren. Er nahm die Schale mit Käse, tauchte die Finger in die klumpige Masse und aß. »Pferdeäpfel würden besser schmecken als das hier«, sagte

»Sie haben sich wohl dran gewöhnt«, erwiderte Senta.

»Bei den Göttern, das kann ich nicht essen!« Er wandte sich dem Jungen zu. »Willst du was?« Der Junge rührte sich nicht. Angel hielt ihm die Schale hin. Das Kind leckte sich die Lippen, blieb aber, wo es war. Angel schüttelte den Kopf. »Was will er denn?« fragte er und stellte die Schale wieder ab.

»Ich habe keine Ahnung. Aber er ist offensichtlich fasziniert von dir. Er ist dir heute gefolgt und hat deinen Gang nachgeahmt. Wirklich lustig. Ich hatte es vorher noch gar nicht bemerkt, aber du gehst so schwankend wie ein Seemann.«

»Habe ich noch andere Angewohnheiten, die du gern kritisieren möchtest?«

»Zu viele, um sie aufzuzählen.«

Angel stand auf und reckte sich. Sofort tat das Kind es ihm nach. »Laß das!« sagte Angel und beugte sich vor, die Hände in die Hüften gestemmt. Die winzige Gestalt nahm dieselbe Haltung an. Senta lachte laut auf. »Ich werde jetzt ein bißchen schlafen«, sagte Angel, wandte dem Kind den Rücken zu und trat wieder in die Höhle.

Senta blieb an seinem Platz und lauschte auf die fernen Kampfgeräusche. Der Junge näherte sich vorsichtig, schnappte sich die Schale und zog sich in die Schatten zurück, um zu essen. Senta döste eine Weile; dann hörte er eine Bewegung auf dem Berghang. Sofort war er hellwach. Belash kletterte zur Höhle empor.

»Sie haben sich zurückgezogen«, sagte er und kauerte sich neben dem Schwertkämpfer nieder. »Bis zum Morgengrauen kein Kampf mehr, denke ich.« Senta blickte zu der Stelle, wo der Junge gehockt hatte, aber da war nur noch die leere Schale. »Wir haben viele getötet«, sagte Belash mit finsterer Genugtuung.

»Nicht genug. Es müssen mehr als dreitausend Mann sein.«

»Mindestens«, stimmte Belash zu. »und es kommen noch mehr. Es wird lange dauern, sie alle zu töten.«

»Immer Optimist, was?«

»Du glaubst, wir können nicht siegen? Du verstehst die Nadir nicht. Wir sind geboren, um zu kämpfen.«

»Ich bezweifle nicht die Fähigkeiten deines Volkes, Belash. Aber dieser Ort ist letzten Endes nicht zu verteidigen. Wie viele Kämpfer kannst du aufbringen?«

»Heute morgen hatten wir... dreihundert... und... dreiundsiebzig«, antwortete er schließlich.

»Und heute abend?«

»Wir haben vielleicht fünfzehn verloren.«

»Verwundete?«

»Dreißig. Aber einige von ihnen können wieder kämpfen.«

»Wie viele Verluste hatten wir insgesamt in den letzten vier Tagen?«

Belash nickte mürrisch. »Ich verstehe, was du sagen willst. Wir können vielleicht noch acht bis zehn Tage aushalten. Aber bis dahin werden wir viele Feinde töten.«

»Das ist wohl kaum der Punkt, mein Freund. Wir müssen eine

zweite Verteidigungslinie aufbauen. Weiter in den Bergen vielleicht.«

»Da ist nichts.«

»Als wir hier herunterkamen, sah ich im Westen ein Tal. Wohin führt das?«

»Dorthin können wir nicht gehen. Es ist ein Ort des Bösen und des Todes. Ich würde lieber ehrenvoll hier sterben.«

»Eine edle Gesinnung, Belash. Aber ich möchte so bald lieber nirgends sterben.«

»Du brauchst ja nicht zu bleiben«, erwiderte Belash.

»Das ist wahr«, gab Senta zu, »aber, wie mein Vater so oft sagt, Dummheit liegt bei uns in der Familie.«

Hoch oben über den Bergen, verbunden mit dem Geist Kesa Khans, schwebte Miriel unter den Sternen. Unter ihr, auf der mondbeschienenen Ebene, standen die Zelte der Gothir, die in Reihen zu zwanzig ordentlich und im rechten Winkel aufgeschlagen waren, jedes im gleichen Abstand zum anderen. Südlich davon waren etliche Pfahlreihen eingeschlagen worden, um die Pferde anzubinden, und im Osten war ein Latrinengraben ausgehoben, genau zehn Meter lang. Hundert Lager feuer brannten hell, und Wächter gingen am Rand des Lagers Patrouille.

»Ein methodisches Volk«, pulste die Stimme Kesa Khans. »Sie nennen sich zivilisiert, weil sie große Burgen bauen und ihre Zelte mit geometrischer Präzision aufschlagen können, aber von hier aus kannst du die Wirklichkeit sehen. Ameisen bauen genauso. Sind sie zivilisiert? Was meinst du?«

Miriel sagte nichts. Aus dieser großen Höhe konnte sie sowohl das kleine Lager der Nadir als auch die Macht der Gothirschen Angreifer sehen. Es war entmutigend. Kesa Khan lachte leise. »Laß dich nie von Verzweiflung übermannen, Miriel. Das ist immer die Waffe des Feindes. Schau sie dir an! Selbst von hier aus kannst du ihre Eitelkeit spüren.«

»Wie können wir sie besiegen?«

»Wie könnten wir es nicht?« entgegnete er. »Wir zählen nach Millionen, aber sie sind nur wenige. Wenn >der die Stämme eint< kommt, werden sie hinweggefegt wie Grassamen.«

»Ich meinte jetzt.«

»Ach, die Ungeduld der Jugend! Laß uns sehen, was es zu sehen gibt.«

Die Sterne wirbelten, und Miriel blickte auf ein kleines Lagerfeuer in der flachen Höhle eines Berghangs herab. Sie sah Waylander vor den Flammen kauern; ausgestreckt neben ihm lag der Hund Scar. Waylander wirkte müde, und sie erspürte seine Gedanken. Er war gejagt worden, doch er war den Verfolgern entkommen und hatte mehrere von ihnen getötet. Er hatte inzwischen das Gebiet der Sathuli hinter sich gelassen und dachte daran, in einer Gothirstadt, die etwa fünfzehn Kilometer weiter nördlich lag, ein Pferd zu stehlen.

»Ein starker Mann«, sagte Kesa Khan. »Der Drachenschatten.«

»Er ist erschöpft«, sagte Miriel und wünschte, sie könnte die Arme ausstrecken und den einsamen Mann am Lagerfeuer umarmen.

Die Szenerie veränderte sich und zeigte jetzt eine aus Stein gebaute Stadt in den Bergen und ein tiefes Verlies, in dem ein großer Mann an eine naßkalte Wand gekettet war. »Galen, du verräterischer Schuft«, sagte der Gefangene.

Ein großer, dünner Krieger im roten Umhang eines Drenai-Lan-zenreiters trat vor, packte den Gefangenen bei den Haaren und riß seinen Kopf zurück. »Genieß deine Beleidigung, du Hurensohn! Deine Tage sind gezählt, und grobe Worte sind alles, was du noch hast. Aber sie werden dir nicht helfen. Morgen reist du in Ketten nach Gulgothir.«

»Ich werde dich holen, du Bastard!« schwor der Gefangene. »Sie werden mich nicht festhalten!«

Der dünne Krieger lachte; dann ballte er die Faust und schlug dem hilflosen Mann dreimal ins Gesicht, so daß ihm die Lippe aufplatzte. Blut rann ihm übers Kinn, und sein eines, helles Auge richtete sich auf den rotgewandeten Soldaten. »Ich nehme an, du wirst Asten erzählen, wir wären verraten worden, aber es wäre dir gelungen zu entkommen?«

»Ja. Und dann, wenn die Zeit reif ist, bringe ich den Bauern um. Dann wird die Bruderschaft in Drenan herrschen. Wie gefällt dir das?«

»Das dürfte ein interessantes Gespräch werden. Ich wäre gern dabei, wenn du Asten erzählst, wie ich gefangen wurde.«

»Oh, ich werde es gut erzählen. Ich werde von deiner ungeheuren Tapferkeit sprechen und davon, wie du erschlagen wurdest. Es wird mir Tränen in die Augen treiben.«

»Du sollst in der Hölle verfaulen!« stieß der Gefangene hervor.

Miriel spürte die Nähe von Kesa Khan, und die Stimme des alten Schamanen wisperte in ihrem Geist. »Weißt du, wer das ist?«

»Nein.«

»Das ist Karnak, der Einäugige, der Reichsverweser der Drenai. Er wirkt jetzt nicht mehr so mächtig, angekettet in einem Sathuli-verlies. Kannst du seine Gefühle spüren?«

Miriel konzentrierte sich, und die warmen Wogen von Karnaks Zorn überschwemmten sie. »Ja. Ich kann es fühlen. Er stellt sich vor, wie sein Folterknecht von einem Soldaten mit roten Haaren getötet wird.«

»Ja. Aber du solltest noch etwas beachten, Mädchen. Karnak spürt keine Verzweiflung, oder? Nur Zorn und den brennenden Wunsch nach Rache. Er ist ungeheuer eingebildet, aber er besitzt auch gewaltige Kraft. Er fürchtet weder die Ketten noch seine Feinde. Er schmiedet bereits Pläne und nährt seine Hoffnungen. Einen solchen Mann darf man nie außer acht lassen.«

»Er ist ein Gefangener, unbewaffnet und hilflos. Was kann er schon tun?« fragte Miriel.

»Laß uns in die Berge zurückkehren. Ich werde allmählich müde. Morgen wird sich der wahre Feind zeigen. Wir müssen bereit sein, es mit dem Bösen aufzunehmen, das er auf uns losläßt.« In einem einzigen Augenblick verschwand alles Licht, und Miriel schlug die Augen ihres Körpers auf und setzte sich. Das Feuer in der Höhle war heruntergebrannt. Kesa Khan legte Holz auf die ersterbenden Flammen und streckte sich, daß die Knochen seines Rückens knirschten und knackten. »Ah, ja! Das Alter ist kein Segen!« sagte er.

»Was ist das Böse, von dem du gesprochen hast?« fragte Miriel.

»Gleich, gleich! Ich bin alt, mein Kind, und der Ubergang vom Geist ins Fleisch dauert eine Weile. Laß mich erst meine Gedanken sammeln. Erzähl mir was!«

Sie betrachtete den verwitterten alten Mann. »Was denn?«

»Irgendwas. Von deinem Leben, der Liebe, deinen Träumen. Erzähl mir, mit welchem der beiden Männer du ins Bett willst.«

Miriel wurde rot. »Solche Gedanken sind nichts für müßige Plaudereien«, schalt sie.

Er kicherte und musterte sie durchdringend. »Dummes Gör! Du kannst dich nicht entscheiden. Der junge Mann ist geistreich und sieht gut aus, aber du weißt, daß seine Liebe unbeständig ist. Der ältere ist wie eine Eiche, mächtig und ausdauernd, aber du fürchtest, seine Liebeskünste könnten nicht sehr aufregend sein.«

»Wenn du meine Gedanken bereits kennst, warum fragst du dann?«

»Es macht mir Spaß. Möchtest du meinen Rat?«

»Nein.«

»Gut. Ich mag es, wenn eine Frau selber denken kann.« Er schniefte und griff nach einem der vielen Tontöpfe neben dem Feuer, tauchte einen Finger hinein und stopfte sich ein hellgraues Pulver in den Mund. Er schloß die Augen und seufzte. »Ja ... ja ...« Er holte tief Luft und schlug die Augen auf. Miriel beugte sich vor. Seine Pupillen waren praktisch verschwunden, und die Iris hatte sich von dunkelbraun in hellbraun verwandelt. »Ich bin Kesa Khan«, flüsterte er mit einer helleren, freundlicheren Stimme. »Und ich bin Lao Shin, der Geist der Berge. Und ich bin Wu Deyang, der Reisende. Ich bin der, der alles sieht.«

»Das Pulver ist ein Rauschmittel?« fragte Miriel leise.

»Natürlich. Es öffnet das Fenster zu den Welten. Jetzt hör mir zu, Drenaimädchen. Du bist tapfer, das ist gar keine Frage. Aber morgen werden die Toten wieder unter uns wandeln. Hast du das Herz, dich ihnen zu stellen?«

Sie leckte sich die Lippen. »Ich bin hier, um dir zu helfen«, antwortete sie.

»Ausgezeichnet. Keine Aufschneiderei. Ich werde dir zeigen, wie du dich bewaffnen kannst. Ich werde dich lehren, Waffen herbeizurufen, wenn du sie brauchst. Aber die größte Waffe, die du besitzt, ist der Mut deines Herzens. Wir wollen hoffen, daß der Drachenschatten dich gut unterwiesen hat, denn wenn nicht, wirst du mit keinem der beiden guten Krieger ins Bett gehen. Dann wird deine Seele in alle Ewigkeit über die Grauen Pfade wandern.«

»Er hat mich gut unterwiesen«, sagte Miriel.

»Wir werden sehen.«

Waylander wanderte über die steinübersäte Ebene, der Hund rannte voraus. Hier gab es nur wenige Bäume, und das Land fiel sanft zu einem Dorf mit weißen Häusern an einem Flußufer ab. Im Norden des Dorfes war eine Pferdeweide eingezäunt, im Süden fraßen Schafe das letzte Herbstgras ab. Es war eine kleine Siedlung, ohne

Mauern erbaut, ein Zeichen für das langjährige Abkommen zwischen Gothir und Sathuli. Hier gab es keine Überfälle. Es kam Waylander seltsam vor, daß die Gothir die Sathuli so gut behandelten und die Nadir so schlecht. Beides waren Nomadenvölker, die langsam von Norden und Osten her hier eingewandert waren. Beides waren Kriegervölker, die andere Götter verehrten als die Gothir, und doch wurden sie ganz unterschiedlich betrachtet. Die Sathuli waren den Legenden der Gothir zufolge stolz, intelligent und ehrenwert. Die Nadir hingegen wurden als minderwertig, verräterisch und verschlagen betrachtet. Während seines ganzen Erwachsenenlebens hatte Waylander sich unter den Stämmen bewegt und nichts entdeckt, was die Ansicht der Gothir rechtfertigte.

Außer vielleicht der schieren Anzahl der Nadir, die über die Steppe streiften. Die Sathuli stellten keine Bedrohung dar, während die Nadir, die nach Millionen zählten, ein potentieller Feind waren, den man fürchten mußte.

Waylander wischte solche Überlegungen mit einem Achselzucken beiseite und hielt Ausschau nach dem Hund. Er war nirgends zu sehen. Hier gab es viele Felsen, und wahrscheinlich scharrte der Hund an einem Kaninchenbau. Waylander lächelte und wanderte weiter. Es war kalt; der schwache Sonnenschein vermochte dem Wind nicht die beißende Kälte zu nehmen. Er zog seinen pelzgefütterten Umhang fester um die Schultern.

Die Sathuli würden sich an die Jagd erinnern, wenn sie das Lied des Scheidens für die Krieger sangen, die nicht zurückkehrten. Waylander dachte an den Jungen, der zuerst versucht hatte, ihn aus dem Hinterhalt zu überfallen, und freute sich, daß er ihn nicht getötet hatte. Was die anderen betraf... nun, sie hatten ihre Wahl getroffen, und er bedauerte ihren Tod nicht im mindesten.

Er sah, wie sich Menschen unten im Dorf bewegten: einen Schäfer mit langem Krummstab, der den Berg hinaufschritt, neben sich ein Hund; ein paar Frauen am Dorfbrunnen, die in Eimern das kalte Wasser heraufzogen; Kinder, die an der Pferdeweide spielten. Es war ein friedliches Bild.

Er folgte weiter dem Pfad, der sich zwischen zwei riesigen Felsblöcken hindurchschlängelte, die aus der Erde ragten. In der Ferne wieherte ein Pferd. Er hielt inne. Das Geräusch war von Osten gekommen. Er drehte sich um und warf einen Blick auf den spärlichen Baumbestand des Berghangs. Dort wuchsen auch Büsche, und er konnte kein Pferd sehen. Er warf seinen Umhang über die Schulter zurück, nahm seine Armbrust, spannte sie und legte zwei Bolzen ein. Hier kann es nichts mehr geben, was du fürchten mußt, tadelte er sich. Es war unwahrscheinlich, daß die Sathuli sich so weit nach Norden wagten. Doch er wartete.

Wo war Scar?

Waylander bewegte sich mit erhöhter Vorsicht und näherte sich den Felsen. Eine Gestalt kam in Sicht; ihr grüner Umhang flatterte im Wind, und in den Händen hielt sie einen Bogen. Waylander warf sich nach rechts, als der Pfeil die Sehne verließ und an seinem Gesicht vorbeischoß. Er traf mit der Schulter auf dem Boden auf, und durch den Aufprall ballte er die Hand, so daß er die Armbrust auslöste. Die Bolzen bohrten sich in die weiche Erde. Er rollte sich auf die Füße und zog seinen Säbel.

Der Mann im grünen Umhang warf seinen Bogen beiseite und zog sein eigenes Schwert. »So sollte es sein, Schwert gegen Schwert«, sagte er lächelnd.

Waylander löste die Bänder, die seinen Umhang hielten, so daß er zu Boden glitt. »Du mußt Morak sein«, sagte er leise.

»Wie erfreulich, wenn man erkannt wird«, antwortete der Schwertkämpfer und bewegte sich auf den wartenden Waylander zu. »Soviel ich weiß, ist der Säbel nicht deine beste Waffe. Deshalb werde ich dir eine kurze Lektion erteilen, ehe ich dich töte.«

Waylander sprang vor und griff an. Morak parierte und konterte. Das Klirren von Stahl auf Stahl hallte in den Bergen wider; die beiden Schwerter glitzerten in der Sonne. Morak wehrte mit perfekter Balance jeden Angriff ab. Seine Klinge ritzte Waylander die Wange auf. Waylander warf sich zurück und holte zu einem gewaltigen Stoß auf Moraks Bauch aus. Der Grüne wich gewandt aus.

»Ich würde sagen, du bist besser als der Durchschnitt«, sagte er. »Deine Balance ist gut, aber du bist ein bißchen steif im unteren Teil des Rückens. Das beeinträchtigt den Stoß.«

Waylanders Hand zuckte nach vorn; ein schwarzes Wurfmesser sirrte auf Moraks Kehle zu. Der Säbel des Kopfgeldjägers fuhr hoch und lenkte die Klinge ab, die gegen einen der Felsen klirrte. »Sehr gut«, sagte Morak. »Aber jetzt hast du es mit einem Meister zu tun, Waylander.«

»Wo ist mein Hund?«

»Dein Hund? Wie rührend! Du stehst auf der Schwelle des Todes und sorgst dich um einen flohzerfressenen Hund? Ich habe ihn selbstverständlich getötet.«

Waylander erwiderte nichts. Er wich auf etwas ebeneren Grund zurück und beobachtete, wie der Schwertkämpfer ihm folgte. Morak lächelte, aber das Lächeln reichte nicht bis zu den grün glitzernden Augen. »Ich werde dich sehr, sehr langsam töten«, sagte er. »Ein paar Schnitte hier und ein paar dort. In dem Maße, wie du Blut verlierst, versagen auch deine Kräfte. Glaubst du, daß du um dein Leben betteln wirst?«

»Das bezweifle ich«, sagte Waylander.

»Alle Männer betteln, weißt du. Selbst die stärksten. Es kommt nur darauf an, an welcher Stelle das Messer eindringt.« Morak sprang vor. Waylanders Säbel parierte den Stoß. Wieder und wieder klirrten die Klingen gegeneinander. Ein zweiter Schnitt erschien auf Waylanders Unterarm. Morak lachte. »Du bist nicht in Panik - noch nicht. Das gefällt mir. Was ist mit deiner Tochter passiert? Beim Himmel, ich werde noch meinen Spaß mit ihr haben. Lange Beine, festes Fleisch. Ich werde sie zum Schreien bringen. Dann schlitze ich sie vom Hals bis zum Bauch auf.«

Waylander wich zurück, ohne etwas zu sagen.

»Gut! Gut! Ich kann dich offenbar nicht wütend machen. Das ist selten! Es wird mir Spaß machen, deine Bruchstelle zu finden, Waylander. Wird es sein, wenn ich dir deine Finger abschneide? Oder wenn deine Männlichkeit über dem Feuer brutzelt?«

Er machte einen Ausfall, und sein Schwert schlitzte das Leder von Waylanders Tunika knapp über der linken Hüfte auf. Waylander warf sich nach vorn und hämmerte dem Kopfgeldjäger seine Schulter ins Gesicht. Morak fiel ungeschickt, rollte sich aber wieder auf die Füße, ehe Waylander sein Schwert benutzen konnte. Wieder prallten die Klingen aufeinander. Waylander zielte einen Stoß auf Moraks Kopf, doch der Schwertkämpfer wich aus, blockte den Stoß ab und antwortete mit einem Gegenstoß, der Waylanders Hals nur knapp verfehlte. Waylander wich zu den Felsen zurück. Morak griff an und zwang seinen Gegner weiter den Pfad hinab. Beide Männer schwitzten trotz der Kälte heftig.

»Das ist ja erstaunlich«, sagte Morak. »Ich hatte nicht erwartet, daß du so hartnäckig bist.«

Waylander griff an. Morak parierte; dann attackierte er mit einer verwirrenden Serie von Hieben und Stößen, gegen die Waylander sich verzweifelt zur Wehr setzte. Zweimal durchdrang Moraks Säbel Waylanders Tunika, wurde aber von dem gepanzerten Schulterstück abgelenkt. Doch der ältere Mann wurde allmählich müde, und Morak wußte es. Er trat einen Schritt zurück. »Möchtest du eine Pause haben, um Luft zu holen?« fragte er mit einem spöttischen Grinsen.

»Wie hast du mich gefunden?« fragte Waylander, dankbar für die Atempause.

»Ich habe Freunde unter den Sathuli. Nach unserer ... unglücklichen ... Begegnung in den Bergen kam ich her, auf der Suche nach weiteren Kriegern. Ich war bei dem Herrscher der Sathuli, als die Nachricht von der Jagd überbracht wurde. Der Herr der Sathuli ist äußerst begierig darauf, dich tot zu sehen. Er betrachtet deine Reise durch sein Land als eine Beleidigung der Stammesehre. Er hätte mehr Männer ausgeschickt - aber im Moment hat er andere Dinge im Kopf. Statt dessen hat er mich bezahlt. Übrigens, würdest du gern wissen, wer die Gilde angeheuert hat, um dich zu jagen?«

»Ich weiß es bereits«, antwortete Waylander.

»Ach, wie schade. Aber ich bin von Natur aus ein gutherziger Mann, also werde ich dir wenigstens ein paar Neuigkeiten berichten, ehe ich dich töte. Während wir uns hier unterhalten, liegt der Reichsverweser der Drenai in Ketten in einem Sathuliverlies, um dem Kaiser der Gothir ausgeliefert zu werden.«

»Das ist unmöglich!«

»Ganz und gar nicht. Er wurde überredet, sich mit dem Sathu-lihäuptling zu treffen, um zu verhindern, daß Gothirtruppen unbehelligt Stammesgebiet durchqueren können. Er reiste mit einer kleinen Gruppe loyaler Soldaten und einem ziemlich unloyalen Offizier. Seine Männer wurden niedergemacht, und man hat Karnak lebend gefangengenommen. Ich habe ihn selbst gesehen. Es war ziemlich komisch. Ein ungewöhnlicher Mann. Er bot mir ein Vermögen, wenn ich ihm bei der Flucht helfen würde.«

»Offensichtlich kennt er dich nicht besonders gut«, sagte Waylander.

»Ganz im Gegenteil - ich habe schon für ihn gearbeitet. Oft sogar. Er bezahlte mich dafür, daß ich Egel tötete.«

»Das glaube ich nicht!«

»O doch, das tust du - ich sehe es in deinen Augen. Na, wieder bei Atem? Gut. Dann wollen wir Blut sehen!« Morak griff an. Seine

Klinge schoß vor. Waylander wehrte ab, wurde aber zurückgedrängt, an den vorspringenden Felsen vorbei. Morak lachte. »Die Lektion ist vorbei«, sagte er. »Jetzt wird es Zeit fürs Vergnügen.«

Ein dunkler Schatten bewegte sich hinter ihm, und Waylander sah den Hund, Scar, der sich unter Schmerzen auf den Vorderpfoten vorwärtsschob. Die Hinterbeine waren schlaff und nutzlos. Ein Pfeil war ihm durch die Rippen gedrungen, Blut rann aus dem großen Maul. Waylander bewegte sich nach links, Morak nach rechts. Er hatte den sterbenden Hund nicht gesehen. Waylander sprang vor und sandte einen wilden Hieb auf Moraks Gesicht. Der Attentäter wich einen Schritt zurück - und Sears gewaltige Kiefer schlössen sich um seinen rechten Unterschenkel; die Reißzähne drangen durch Haut, Fleisch und Sehnen. Morak schrie auf vor Schmerz. Waylander trat vor, rammte dem Mörder seinen Säbel in den Bauch und stieß ihn hoch bis in die Lungen.

»Das ist für den alten Mann, den du gefoltert hast!« zischte Waylander. Mit einer Drehung zerrte er seine Klinge heraus, so daß dem Schwertkämpfer die Eingeweide heraushingen. »Und das ist für meinen Hund!«

Morak fiel auf die Knie. »Nein!« stöhnte er. Dann sank er seitwärts zu Boden.

Waylander warf sein Schwert weg und kniete neben dem Hund nieder. Er streichelte den großen Kopf. Er konnte nichts tun, um das Tier zu retten. Der Pfeil hatte sein Rückgrat durchbohrt. Aber er saß bei ihm, bettete den großen Kopf in seinen Schoß und sprach leise und beruhigend auf ihn ein, bis das stoßweise Atmen langsamer wurde und schließlich aufhörte.

Dann erhob er sich, suchte seine Armbrust und ging zu dem Wäldchen, in dem Morak sein Pferd versteckt hatte.