3.

Auf einem Meer von Schmerzen treibend, wußte Ralis, daß er starb. Seine Arme waren ihm auf den Rücken gebunden, die Haut seiner Brust versengt und zerschnitten, die Beine gebrochen. Man hatte ihn aller Würde beraubt durch die gequälten Schreie, welche die Messer und heißen Eisen seiner Seele entrissen hatten. Von dem Menschen Ralis war nichts mehr übrig außer einem kleinen, flackernden Funken Stolz.

Er hatte ihnen nichts gesagt. Kaltes Wasser durchweichte ihn und linderte die Schmerzen seiner Verbrennungen, und er öffnete sein eines verbliebenes Auge. Morak kniete vor ihm, ein entspanntes Lächeln auf dem gutaussehenden Gesicht.

»Ich kann dich von diesen Schmerzen befreien, alter Mann«, sagte er. Ralis erwiderte nichts. »Was ist er für dich? Ein Sohn? Ein Neffe? Warum erleidest du das für ihn? Du wanderst seit... fünfzig, sechzig? ... Jahren durch die Berge. Er ist hier, und du weißt, wo er ist. Wir werden ihn am Ende doch finden.«

»Er ... wird ... euch ... alle ... töten«, flüsterte Ralis.

Morak lachte, die anderen fielen ein. Ralis roch für einen Moment sein brennendes Fleisch, ehe der Schmerz in seinen Schädel fuhr. Doch seine Kehle war heiser und blutig vom Schreien, und er konnte nur noch ein kurzes, gebrochenes Stöhnen von sich geben.

Und plötzlich, wunderbarerweise, war der Schmerz verflogen, und Ralis hörte eine Stimme, die ihn rief.

Er erhob sich von seinen Fesseln und flog der Stimme entgegen. »Ich habe ihnen nichts gesagt, Vater«, rief er triumphierend. »Ich habe ihnen nichts gesagt!«

»Alter Narr«, stieß Morak hervor und starrte den Leichnam an, der in den Seilen hing. »Gehen wir!«

»Zäher alter Knabe«, meinte Belash, als sie die Lichtung verließen. Morak fuhr den untersetzten Stammesangehörigen der Nadir an.

»Seinetwegen haben wir einen halben Tag vergeudet - und wofür? Hätte er es uns gleich gesagt, wäre er mit zehn, vielleicht zwanzig Goldstücken davongegangen. Jetzt ist er nur noch totes

Fleisch für die Füchse und die Aasgeier. Ja, er war zäh. Aber er war auch dumm!«

Belashs jettschwarze Augen starrten in Moraks Gesicht. »Er starb ehrenhaft«, murmelte der Nadir. »Und man wird ihn in der Halle der Helden herzlich willkommen heißen.«

Morak brach in Gelächter aus. »Die Halle der Helden, was? Sie müssen wohl unter Nachschubmangel leiden, wenn sie schon auf alte Kesselflicker warten müssen. Welche Geschichten wird er wohl in der Tafelrunde erzählen? Wie ich ein Messer zum zweifachen seines Wertes verkauft habe, oder wie ich einen kaputten Kochtopf flickte? Ihnen stehen wahrlich fröhliche Abende bevor.«

»Die meisten Männer verspotten das, was sie niemals erreichen können«, sagte Belash und schritt voran, die Hand am Schwertknauf.

Die Worte zerschlugen Moraks gute Laune, und sein Haß auf den kleinen Nadir wallte auf. Der Ventrier fuhr zu den neun Männern herum, die ihm folgten. »Kreeg kam in diese Berge, weil er Informationen besaß, nach denen Waylander hier sein soll. Wir teilen uns auf und vierteln das Gebiet. In drei Tagen treffen wir uns am Fuß dieses Gipfels dort im Norden, wo der Fluß sich gabelt. Baris, du gehst nach Kasyra. Frag nach Kreeg - bei wem er wohnte, wo er trank. Finde heraus, woher er seine Informationen hatte.«

»Warum ich?« fragte der große junge Mann mit dem sandfarbenen Haar. »Und was geschieht, wenn ihr ihn findet, während ich weg bin? Bekomme ich dann trotzdem meinen Anteil?«

»Wir alle bekommen unseren Anteil«, versprach Morak. »Wenn wir ihn finden und töten, ehe du zurückkommst, sorge ich dafür, daß das Gold in Drenan für dich bereitgehalten wird. Kann ich gerechter sein?«

Der Mann wirkte noch nicht überzeugt, nickte aber und ging davon. Morak ließ seinen Blick über die verbliebenen acht Männer schweifen. Alle waren Waldläufer und erfahrene Krieger, Männer, die er früher schon eingesetzt hatte, zäh und nicht durch irgendwelche moralischen Skrupel behindert. Er verabscheute sie alle, achtete jedoch sorgfältig darauf, seine Gedanken für sich zu behalten. Niemand wollte aufwachen, weil eine Sägezahnklinge ihm die Kehle durchraspelte. Doch Belash war der einzige, den Morak haßte. Der Stammesangehörige war furchtlos und mit Messer oder Bogen absolut tödlich. Bei einer Jagd wie dieser war er soviel wert wie zehn

Männer. Aber eines Tages, dachte Morak mit grimmiger Freude, eines Tages werde ich dich töten. Ich werde dir ein Messer in deinen flachen Leib rammen und dir die Eingeweide herausreißen.

Er teilte die Männer zu Paaren ein und gab seine Anweisungen. »Wenn ihr auf Ansiedlungen trefft, fragt nach einem großen Mann mit einer jungen Tochter. Er benutzt vielleicht nicht den Namen Dakeyras, also sucht nach jedem Witwer, auf den die Beschreibung paßt. Und wenn ihr ihn findet, rührt euch nicht. Wartet, bis wir alle zusammen sind. Verstanden?«

Die Männer nickten ernst, dann brachen sie auf.

Zehntausend Raq in Gold warteten auf den Mann, der Waylander tötete, aber das Geld bedeutete Morak nicht viel. Er hatte zehnmal so viel bei Kaufleuten in Mashrapur und Ventria versteckt. Was für ihn zählte, waren die Jagd und das Töten - der Mann zu sein, der eine Legende erschlug. Er fühlte Vorfreude in sich aufsteigen, als er an all die Dinge dachte, die er tun würde, um Waylanders letzte Stunden mit Qualen zu erfüllen. Da war natürlich das Mädchen. Er konnte sie vor Waylanders Augen vergewaltigen und töten. Oder sie foltern. Oder sie den Männern überlassen, um sie zu mißbrauchen. Sei ruhig, befahl er sich. Laß die Vorfreude wachsen. Zuerst mußt du ihn finden.

Er schwang sich seinen blattgrünen Umhang um die Schultern und machte sich auf die Suche nach Belash. Der Nadir hatte in einer geschützten Senke ein Lager aufgeschlagen und kniete auf seiner Decke, die Hände im Gebet gefaltet. Einige alte Fingerknochen, gelblich und porös, lagen vor ihm. Morak ließ sich auf der anderen Seite des Feuers nieder. Was für eine abscheuliche Sitte, dachte er, die Knochen seines Vaters in einem Beutel mit sich herumzutragen. Barbaren! Wer würde sie je verstehen? Belash beendete seine Gebete und steckte die Knochen wieder in den Beutel an seiner Seite.

»Hatte dein Vater dir was Interessantes mitzuteilen?« fragte Morak. Seine grünen Augen leuchteten vor Vergnügen.

Belash schüttelte den Kopf. »Ich spreche nicht mit meinem Vater«, sagte er. »Er ist tot. Ich spreche mit den Mondbergen.«

»Ah, ja, die Berge. Wissen sie, wo Waylander sich aufhält?«

»Sie wissen nur, wo jeder einzelne Nadirkrieger ruht.«

»Da haben sie aber Glück«, erwiderte Morak.

»Es gibt Dinge, über die du nicht spotten solltest«, warnte Belash ihn. »Die Berge beherbergen die Seelen aller Nadir, der vergangenen und der zukünftigen. Und durch sie werde ich, wenn ich tapfer bin, den Mann finden, der meinen Vater tötete. Ich werde die Knochen meines Vaters im Grab dieses Mannes beisetzen, so daß sie auf seiner Brust ruhen. Und dann wird er meinem Vater für alle Zeit dienen.«

»Interessante Vorstellung«, meinte Morak mit unbeteiligter Stimme.

»Ihr kol-isha glaubt, ihr wißt alles. Ihr glaubt, die Welt wurde zu eurem Vergnügen erschaffen, aber ihr versteht das Land nicht. Du sitzt hier und atmest die Luft und fühlst die kalte Erde unter dir, und du merkst nichts. Und warum? Weil ihr euer Leben in Städten aus Stein lebt, Mauern baut, um den Geist des Landes fernzuhalten. Ihr seht nichts. Ihr hört nichts. Ihr fühlt nichts.«

Ich kann das Furunkel sehen, das sich auf deinem Hals bildet, du unwissender Wilder, dachte Morak. Und ich kann den Gestank aus deinen Achselhöhlen riechen. Laut sagte er: »Und was ist der Geist dieses Landes?«

»Er ist weiblich«, antwortete Belash. »Wie eine Mutter. Sie nährt jene, die ihr antworten, und gibt ihnen Stärke und Stolz. Wie dem alten Mann, den du getötet hast.«

»Und sie spricht zu dir?«

»Nein, denn ich bin der Feind dieses Landes. Aber sie läßt mich wissen, daß sie da ist und mich beobachtet. Und sie haßt mich nicht. Aber sie haßt dich.«

»Warum sollte das stimmen?« fragte Morak, der sich plötzlich unbehaglich fühlte. »Frauen haben mich immer gemocht.«

»Sie liest in deiner Seele, Morak. Und sie weiß, daß sie voll ist von finsterem Licht.«

»Aberglaube!« fauchte Morak. »Es gibt keine solche Frau. Es gibt keine Macht auf der Welt außer der, die in zehntausend scharfen Schwertern ruht. Sieh dir Karnak an. Er befahl die Ermordung des großen Helden Egel, und jetzt herrscht er an dessen Stelle, verehrt, sogar geliebt. Er ist die Macht in der Welt der Drenai. Liebt diese Frau ihn?«

Beash zuckte die Achseln. »Karnak ist ein großer Mann - trotz all seiner Fehler - und er kämpft für das Land. Vielleicht liebt sie ihn wirklich. Und kein Mensch weiß mit Sicherheit, ob Karnak Egels Ermordung befahl.«

Ich weiß es, dachte Morak und erinnerte sich an den Augenblick, als er vor dem Bett des großen Mannes stand und ihm den Dolch ins rechte Auge stach.

O ja, ich weiß es.

Es war kurz vor Mitternacht, als Waylander zurückkam. Angel saß am Feuer, Miriel schief im Hinterzimmer.Waylander legte den Riedel in die Eisenhalterungen der Tür, dann schnallte er den Köcher von seinem Gürtel und legte ihn neben der Ebenholzarmbrust auf den Tisch. Angel blickte auf. Das einzige Licht im Zimmer kam von dem flackernden Feuer. In seinem Schein sah Waylander wie eine Zaubergestalt aus, umgeben von tanzenden Dämonenschatten.

Schweigend nahm Waylander das schwarzlederne Wehrgehänge mit den drei Wurfmessern ab; dann band er die beiden Scheiden von den Unterarmen los und legte die Waffen auf den Tisch. Aus verborgenen Scheiden in den kniehohen Mokassins kamen noch zwei weitere Messer zum Vorschein. Schließlich ging er zum Feuer und setzte sich dem ehemaligen Gladiator gegenüber.

Angel lehnte sich zurück. Seine hellen Augen beobachteten den Krieger und bemerkten seine Anspannung.

»Ich habe gesehen, daß du mit Miriel gekämpft hast«, sagte Waylander.

»Nicht lange.«

»Nein. Wie oft hast du sie niedergeschlagen?«

»Zweimal.«

Waylander nickte. »Die Spuren waren nicht einfach zu lesen. Deine Fußabdrücke waren tiefer als ihre, aber sie überlagerten sich.«

»Woher weißt du, daß ich sie zu Boden geschlagen habe?«

»Der Boden war weich, und ich fand die Stelle, wo sie mit dem Ellbogen aufgekommen ist. Du hast sie leicht besiegt.«

»Ich habe siebenunddreißig Gegner in der Arena besiegt. Glaubst du, ich könnte einem Mädchen unterliegen?«

Für einen Augenblick sagte Waylander nichts. Dann fragte er: »Wie gut war sie?«

Angel zuckte die Achseln. »Gegen einen ungeübten Schwertkämpfer würde sie überleben, aber gegen Männer wie Morak oder Senta? Sie wäre in Sekunden tot.«

»Sie ist besser als ich«, meinte Waylander. »Und ich würde gegen sie länger überleben.«

»Sie ist besser als du, wenn ihr übt«, erwiderte Angel. »Du und ich, wir beide kennen den Unterschied zwischen Üben und der Wirklichkeit eines Kampfes. Miriel ist zu angespannt. Danyal hat mir einmal von der Probe erzählt, vor die du sie gestellt hast. Erinnerst du dich?«

»Wie könnte ich das vergessen?«

»Nun, wenn du diesen Test mit Miriel versuchst, würde sie versagen. Das weißt du, oder?«

»Vielleicht«, gab Waylander zu. »Wie kann ich ihr helfen?«

»Du kannst ihr nicht helfen.«

»Aber du könntest es.«

»Ja. Aber warum sollte ich?«

Waylander warf ein frisches Stück Holz auf die Kohlen und schwieg, während die ersten gelben Flammen an der Rinde leckten. Sein dunkler Blick richtete sich auf Angel. »Ich bin reich, Caridis. Ich bezahle dir zehntausend in Gold.«

»Wie ich sehe, lebst du nicht gerade in einem Palast«, meinte Angel.

»Ich ziehe es vor, hier zu leben. Kaufleute aus Drenan kümmern sich um meine Investitionen. Ich gebe dir einen Brief an einen dieser Leute mit. Er wird dich auszahlen.«

»Selbst wenn du tot bist?«

»Auch dann.«

»Ich habe nicht die Absicht, für dich zu kämpfen«, sagte Angel. »Verstehst du? Ich werde deiner Tochter ein Lehrer sein, aber das ist alles.«

»Ich brauche niemanden, der für mich kämpft«, fuhr Waylander ihn an. »Jetzt nicht. Niemals.«

Angel nickte. »Ich nehme dein Angebot an. Ich bleibe und unterrichte sie, aber nur so lange, wie ich glaube, daß sie dazulernt. Wenn der Tag kommt - und das wird der Fall sein! -, da ich ihr nichts mehr beibringen kann oder sie nichts mehr lernen kann, gehe ich. Bist du einverstanden?«

»Ja.« Waylander stand auf und ging zur rückwärtigen Wand der Hütte. Angel beobachtete, wie er die Handfläche gegen einen flachen Stein drückte und dann in eine verborgene Höhlung griff. Waylander drehte sich um und warf einen schweren Beutel durch den Raum. Angel fing ihn und hörte das Metall darin klirren. »Das ist eine Teilzahlung«, sagte Waylander.

»Wieviel?«

»Fünfzig Goldraq.«

»Ich hätte die Aufgabe allein dafür übernommen. Warum zahlst du so viel mehr?«

»Sag du es mir«, entgegnete Waylander.

»Du setzt den Preis so hoch wie das Kopfgeld auf dich. Damit nimmst du mir die Versuchung.«

»Das ist wahr, Caridris. Aber nicht die ganze Wahrheit.«

»Und was ist die ganze Wahrheit?«

»Danyal mochte dich«, antwortete Waylander und stand auf. »Und ich möchte dich nicht töten. Und jetzt sage ich dir gute Nacht.«

Der Schlaf wollte sich nicht einstellen, doch Waylander blieb still liegen, die Augen geschlossen, um seinem Körper Ruhe zu gönnen. Morgen würde er wieder laufen, um seine Kraft und seine Ausdauer zu trainieren, damit er auf den Tag vorbereitet war, an dem die Kopfgeldjäger kommen würden.

Er freute sich, daß Angel zu bleiben beschlossen hatte. Es wäre gut für Miriel. Und wenn die Mörder ihn aufspürten, würde er den Gladiator bitten, das Mädchen nach Drenan zu bringen. Sobald sie dort war, würde sie sein Vermögen erben, konnte sich einen Mann wählen und ein Leben ohne Gefahren genießen.

Langsam entspannte er und glitt in die Träume hinüber.

Danyal war neben ihm. Sie ritten an einem Seeufer entlang, und die Sonne leuchtete von einem strahlendblauen Himmel.

»Wer zuerst an der Weide ist!« rief sie und stieß ihrer grauen Stute die Fersen in die Hanken.

»Nein!« schrie Waylander in wachsener Panik. Doch sie ritt schon davon. Er sah das Pferd stolpern und stürzen, sah, wie es sich über Danyal wälzte, so daß der Sattelknauf ihr die Brust zerschmetterte. »Nein!« schrie er wieder und erwachte schweißgebadet.

Alles war still. Er schauderte. Seine Hände zitterten, und er stand auf und goß sich einen Becher Wasser ein. Zusammen hatten er und Danyal ein kriegsgeschütteltes Land durchquert, umgeben von Feinden. Werungeheuer hatten sie gejagt, Nadirkrieger hatten ihnen nachgespürt. Aber sie hatten überlebt. Doch in Friedenszeiten, an einem stillen See, war Danyal gestorben.

Er verdrängte diese Gedanken und konzentrierte sich statt dessen

auf die Gefahren, die ihm bevorstanden, und wie er ihnen am besten begegnete. Angst stieg in ihm auf. Er hatte von Morak gehört. Der Mann war ein Foiterer, der Freude an den Qualen anderer hatte - er mochte verstört, vielleicht sogar verrückt sein, aber er hatte noch nie versagt. Belash kannte er nicht, aber er war ein Nadir, und das bedeutete, daß er ein furchtloser Kämpfer war. Als Kriegerrasse hatten die Nadir wenig Zeit für Weichlinge. Immer im Kriegszustand, bekämpften die Stammeskrieger einander mit erbarmungsloser Wildheit, und nur die Starken erreichten das Mannesalter.

Senta, Courail, Morak, Belash ... wie viele noch? Und wer hatte sie bezahlt? Die letzte Frage schob er beiseite. Das spielte keine Rolle. Das kannst du noch herausfinden, wenn du die Jäger erst getötet hast, sagte er sich.

Wenn du die Jäger erst getötet hast...

Eine tiefe geistige Müdigkeit überfiel ihn. Er nahm eine Bronzelaterne von einem Haken über seinem Bett, griff nach den Anzündern und entfachte eine Flamme, die er an den Docht hielt. Ein goldenes Licht flackerte auf. Waylander hängte die Laterne wieder auf, setzte sich aufs Bett und betrachtete seine Hände.

Hände des Todes. Die Hände des Schlächters.

Als junger Soldat hatte er auf Seiten der Drenai gegen die Sathuli-Banden gekämpft, um die Bauern und Siedler der Sentranischen Ebene zu beschützen. Aber er hatte sie nicht gut genug beschützt, denn eine kleine Bande von Mördern war über die Berge gekommen, um zu rauben und zu plündern. Auf dem Rückweg hielten sie an seinem Bauernhaus, vergewaltigten und ermordeten seine Frau und tötete die Kinder.

An jenem Tag hatte Dakeyras sich verändert. Der junge Soldat reichte seinen Abschied ein und machte sich an die Verfolgung der Mörder. Als er ihr Lager fand, erschlug er zwei von ihnen, die anderen flohen. Aber er folgte ihnen und spürte einen nach dem anderen auf. Er folterte jeden Mann, den er fand. Er zwang sie, ihm die Namen und möglichen Ziele der noch fehlenden Mörder zu nennen. Es kostete ihn Jahre, und auf der endlosen Reise starb der junge Offizier Dakeyras und wurde durch die Tötungsmaschine ersetzt, die man als Waylander kannte.

Damals bedeuteten Tod und Leiden für den schweigenden Jäger nichts. Eines Nachts in Mashrapur, als er ohne Geld dastand, war ein Kaufmann auf ihn zugetreten, der sich an einem geschäftlichen Konkurrenten rächen wollte. Für vierzig Silberstücke führte Waylander seinen ersten Mord aus. Er versuchte nicht, seine Handlung zu rechtfertigen, nicht einmal vor sich selbst. Seine Jagd bedeutete ihm alles, und um die Mörder zu finden, brauchte er Geld. Kalt und herzlos zog er weiter, ein Mann, zerrissen und gefürchtet, der sich selbst vormachte, er könne wieder Dakeyras werden, wenn seine Aufgabe erfüllt war.

Doch als der letzte der Räuber unter Schreien gestorben war, gepfählt über einem Lagerfeuer, wußte Waylander, daß Dakeyras für immer verschwunden war. Und er hatte sein blutiges Geschäft fortgesetzt. Der Pfad zur Hölle trug ihn weiter bis zu dem Tag, an dem er den Drenai-König getötet hatte.

Die Ungeheuerlichkeit der Tat und ihre entsetzlichen Folgen verfolgten ihn noch immer. Das Land war in Krieg gestürzt. Tausende wurden erschlagen, waren verwitwet, verwaist.

Der goldene Schein der Laterne flackerte auf der gegenüberliegenden Wand, und Waylander seufzte. Er hatte versucht, sich zu erlösen, aber konnte ein Mann für solche Verbrechen je Vergebung erlangen? Er zweifelte daran. Und selbst wenn die QUELLE ihm Absolution erteilte, würde es nichts bedeuten. Denn sich selbst konnte er nicht vergeben. Vielleicht ist Danyal deswegen gestorben, dachte er nicht zum erstenmal. Vielleicht sollte er für alle Zeit gramgebeugt sein.

Er schenkte sich noch einen Becher Wasser ein, trank ihn aus und ging wieder zu Bett. Der sanfte Priester Dardalion hatte ihn vom Weg ins Verderben weggeführt, und Danyal hatte den winzigen Funken von Dakeyras gefunden, der noch glomm. Sie hatte ihn angefacht und ihn von den Toten zurückgeholt.

Aber jetzt war auch Danyal tot. Nur Miriel war geblieben. Ob er auch ihren Tod mit ansehen mußte?

Miriel würde bei dem Test versagen. Das hatte Angel gesagt, und er hatte recht. Dakeyras erinnerte sich an den Tag, als er Danyal auf die Probe gestellt hatte. Tief im Gebiet der Nadir hatten Attentäter ihn aufgespürt, und er hatte sie getötet. Danyal hatte ihn gefragt, wie er mit einer solchen Leichtigkeit töten könne.

Er entfernte sich ein paar Schritte von ihr, bückte sich und hob einen kleinen Stein auf. »Fang ihn«, sagte er und warf ihr den Kieselstein zu. Ihre Hand schoß vor und fing den Stein geschickt auf. »Das war leicht, oder?«

»Ja«, gab sie zu.

»Wenn ich jetzt Krylla und Miriel hier hätte, und zwei Männer hielten Messer an ihre Kehlen, und man würde dir sagen: >Wenn du den Stein verfehlst, müssen sie sterben. < Wäre er dann immer noch leicht zu fangen? Angst macht die einfachsten Handlungen komplex und schwierig. Ich bin, was ich bin, weil der Stein - wie auch die Folgen sein mögen - immer ein Stein bleibt.«

»Kannst du mir das beibringen?«

»Ich habe nicht die Zeit.«

Sie hatte auf ihn eingeredet, und schließlich sagte er: »Was fürchtest du in diesem Moment am meisten?«

»Ich fürchte, dich zu verlieren.«

Er ging, um einen zweiten Stein aufzuheben. Wolken verdeckten teilweise den Mond, und Danyal bemühte sich, seine Hand zu erkennen. »Ich werde ihn dir zuwerfen«, sagte er. »Wenn du ihn fängst, bleibst du, und ich werde dich unterrichten. Wenn du ihn verfehlst, kehrst du nach Skarta zurück.«

»Nein, das ist nicht fair! Das Licht ist zu schlecht.«

»Das Leben ist nicht fair, Danyal. Wenn du nicht einverstanden bist, reite ich allein weiter.«

»Dann bin ich einverstanden.«

Ohne ein weiteres Wort schleuderte er ihr den Stein entgegen - ein schlechter Wurf, zu schnell und zu weit links von ihr. Ihre Hand zuckte vor, und der Stein prallte von ihrer Handfläche ab. Doch als er fiel, schlössen sich blitzschnell ihre Finger darum und umklammerten ihn wie eine Trophäe.

Sie lachte.

»Warum freust du dich so?« fragte er.

»Ich habe gewonnen!«

»Nein. Sag mir, was du getan hast.«

»Ich habe meine Angst überwunden.«

»Nein.«

»Was dann? Ich verstehe dich nicht.«

»Das mußt du aber, wenn du lernen willst.«

Plötzlich lächelte sie. »Ich verstehe das Geheimnis, Waylander.«

»Dann sag mir, was du getan hast.«

»Ich habe einen Stein bei Mondlicht gefangen.«

Waylander seufzte. Der Raum war kalt, aber seine Erinnerungen waren warm. Draußen heulte ein Wolf den Mond an, ein einsamer Laut, ursprünglich und melancholisch. Und Waylander schlief

»Du bewegst dich mit der Anmut einer kranken Kuh«, wütete Angel, als Miriel sich auf die Knie hob und sich mühte, Luft in ihre müden Lungen zu pumpen. Verärgert sprang sie auf die Füße. Ihre Schwertspitze zielte auf Angels Bauch. Er wich geschickt aus, parierte den Stoß und schlug ihr mit der flachen linken Hand hinters Ohr. Miriel stürzte mit dem Gesicht voran zu Boden.

»Nein, nein, nein!« sagte Angel. »Du mußt lernen, deine Wut zu beherrschen. Und jetzt ruh dich etwas aus.« Er ging zum Brunnen, wand den kupferbeschlagenen Eimer hoch und spritzte sich Wasser ins Gesicht.

Miriel stand erschöpft auf. Ihre Stimmung war gedrückt. Monatelang hatte sie geglaubt, ihre Fähigkeiten im Umgang mit dem Schwert wären gut - besser als die der meisten Männer, hatte ihr Vater gesagt. Jetzt mußte sie der unangenehmen Wahrheit ins Auge sehen. Eine kranke Kuh, also wirklich! Langsam ging sie zu Angel, der auf dem Brunnenrand saß. Er war jetzt bis zur Hüfte nackt, und sie konnte die zahlreichen Narben auf seiner muskulösen Brust und dem Bauch sehen, auf den kräftigen Unterarmen und den breiten Schultern.

»Du hast viele Wunden davongetragen«, sagte sie.

»Das zeigt, wie viele gute Schwertkämpfer es gibt«, antwortete er mürrisch.

»Warum bist du wütend?«

Er schwieg einen Augenblick. Dann holte er tief Luft. »In der Stadt gibt es viele Schreiber, Verwaltungsangestellte, Organisatoren. Ohne sie würde Drenan nicht funktionieren. Es sind geschätzte Männer. Aber hier in den Bergen würden sie verhungern, inmitten von Wild und eßbaren Wurzeln. Verstehst du? Wie groß die Fähigkeiten eines Menschen sind, hängt von der Umgebung ab oder den Herausforderungen, denen er sich stellen muß. Im Vergleich mit den meisten Männern würdest du als hoch begabt gelten. Du bist schnell, und du hast Mut. Aber die Männer, die deinen Vater jagen, sind Krieger. Belash würde dich binnen zweier, dreier Herzschläge töten. Morak würde nicht viel länger brauchen. Senta und Courail haben ihre Fähigkeiten beide in der Arena erworben.«

»Kann ich genauso gut werden?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Auch wenn ich es nur ungern zugebe, ich glaube, in Männern wie ihnen ... Männern wie mir ... steckt das Böse. Wir sind von Natur aus Killer, und wenn wir auch nicht viel über unsere Gefühle reden, kennt doch jeder von uns die bittere Wahrheit. Wir lieben den Kampf. Wir lieben es zu töten. Ich glaube nicht, daß dies auch für dich gilt. Und ich bin der Meinung, das ist gut so.«

»Du glaubst, mein Vater tötet gern?«

»Er ist ein Rätsel«, gab Angel zu. »Ich erinnere mich, daß ich einmal mit Danyal darüber gesprochen habe. Sie sagte, in seinem Innern wären zwei Männer - der eine sanft, der andere ein Dämon. In jeder Seele gibt es Türen, die niemals geöffnet werden dürfen. Aber dein Vater fand einen Schlüssel.«

»Zu mir ist er immer sanft gewesen und zu meiner Schwester auch.«

»Das bezweifle ich nicht. Was ist mit Krylla geschehen?«

»Sie hat geheiratet und ist fortgezogen.«

»Als ich euch als Kinder kannte, hattet ihr eine ... Macht, ein Talent. Du und Krylla, ihr konntet miteinander reden, ohne zu sprechen. Ihr konntet Dinge sehen, die in weiter Ferne waren. Könnt ihr das immer noch?«

»Nein«, sagte sie und wandte sich ab.

»Wann hat es aufgehört?«

»Ich möchte nicht darüber reden. Können wir mit dem Unterricht weitermachen?«

»Natürlich«, antwortete er. »Dafür werde ich ja bezahlt. Steh still.« Er stand auf und stellte sich vor sie hin. Dann fuhr er mit den Händen über ihre Schultern und Arme; seine Finger drückten die Muskeln, verfolgten die Linie ihres Bizeps und Trizeps, hinauf über die Deltamuskeln und die Schultergelenke.

Sie fühlte, wie sie rot wurde. »Was tust du da?« fragte sie und zwang sich, ihm in die Augen zu sehen.

»Deine Arme sind nicht stark genug«, sagte er, »vor allem hier hinten nicht«, fügte er hinzu und drückte ihren Trizeps. »Deine ganze Kraft liegt in den Beinen und den Lungen. Und dein Gleichgewicht stimmt nicht. Gib mir deine Hand.« Noch bei Sprechen ergriff er ihr Handgelenk, hob ihren Arm und starrte auf ihre Finger hinunter. »Lang«, sagte er, fast zu sich selbst. »Zu lang. Das bedeutet, du kannst das Schwert nicht gut im Griff halten. Wir schneiden heute abend mehr Leder dafür zurecht. Folge mir!«

Er ging zum Waldrand, wanderte von Stamm zu Stamm und prüfte die Aste. Zufrieden blieb er schließlich unter einer ausladenden Ulme stehen. Ein dicker Ast sproß knapp außer seiner Reichweite über ihm. »Ich möchte, daß du springst, dich an den Ast hängst und dich dann langsam hochziehst, bis du ihn mit dem Kinn berühren kannst. Dann - immer noch langsam, vergiß das nicht -läßt du dich wieder herab, bis deine Arme fast ausgestreckt sind. Verstehst du?«

»Natürlich verstehe ich das«, fauchte sie. »Es war nicht gerade eine besonders schwierige Anweisung.«

»Dann tu es!«

»Wie oft?«

»So oft du kannst. Ich möchte die Grenzen deiner Kraft sehen.«

Sie sprang in die Höhe. Ihre Finger schlössen sich um den Ast, und für einen Augenblick blieb sie hängen, um sich richtig festzuhalten. Dann zog sie sich langsam hoch.

»Wie geht es?« fragte er.

»Einfach«, antwortete sie und ließ sich hinunter.

»Noch einmal!«

Bei drei spürte sie, wie ihr Bizeps sich streckte. Bei fünf begannen die Muskeln zu brennen. Bei sieben zitterten ihre Arme, und sie ließ los und fiel zu Boden. »Schwach«, sagte Angel. »Aber immerhin ein Anfang. Morgen früh beginnst du den Tag mit sieben Zügen, wenn du kannst, mit acht. Anschließend machst du Laufübungen. Wenn du zurückkommst, machst du noch einmal sieben Züge. In drei lägen erwarte ich, daß du zwölf schaffst.«

»Wie viele schaffst du?«

»Mindestens hundert«, antwortete er. »Folge mir!«

»Könntest du aufhören, folge mir zu sagen! Ich komme mir vor wie ein Hund.«

Doch er bewegte sich schon, während Miriel noch protestierte, und sie folgte ihm zurück über die Lichtung. »Warte hier«, befahl er. Dann ging er zu der Seite der Hütte, wo das Kaminholz für den Winter aufgestapelt war. Er suchte zwei große Scheite aus und brachte sie zu Miriel, wo er sie im Abstand von etwa sieben Metern auf den Boden legte. »Ich möchte, daß du von einem zum anderen läufst«, sagte er.

»Du willst, daß ich sieben Meter laufe? Warum?«

Seine Hand schoß vor und traf ihre Wange. »Hör auf, dumme Fragen zu stellen und tu, was man dir sagt.«

»Du Hurensohn!« brüllte sie. »Rühr mich noch einmal an, und ich bringe dich um!«

Er lachte und schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Aber tu, was ich dir sage - dann hast du vielleicht eines Tages wirklich die Fähigkeit dazu. Und jetzt geh zu dem ersten Holzstück.«

Immer noch von Zorn erfüllt, ging sie zum ersten Scheit, gefolgt von seiner Stimme. »Lauf zu dem zweiten, bück dich und berühr das Holz mit der rechten Hand. Mach sofort kehrt, renn zum ersten Scheit und berühre es mit der linken Hand. Bin ich zu schnell für dich?«

Miriel schluckte eine zornige Entgegnung hinunter und begann zu laufen. Doch sie überwand die Distanz mit nur wenigen Schritten und mußte bremsen. Sie kam sich linkisch vor und fühlte sich unbehaglich, als sie sich bückte, mit der Hand auf das Holzstück schlug, kehrt machte und zurücklief. »Die Idee hast du wohl begriffen«, sagte er. »Und jetzt zwanzigmal. Und ein bißchen schneller!«

Drei Stunden lang scheuchte er sie durch eine Reihe von strapaziösen Übungen, ließ sie laufen, springen und in endlosen Wiederholungen von Stößen und Hieben mit dem Schwert üben. Sie beklagte sich kein einziges Mal, doch sie sprach auch kein Wort mit ihm. Grimmig hielt sie alle Übungen durch, bis er mittags eine Pause vorschlug. Müde ging Miriel zurück zur Hütte. Ihre Glieder zitterten. Sie war es gewohnt zu laufen, abgehärtet gegen den Schmerz in den brennenden Lungen und den Waden, die von Sauerstoffmangel verkrampften. In Wahrheit genoß sie diese Gefühle sogar, das Gefühl von Freiheit, von Geschwindigkeit, von Kraft. Aber jetzt spürte sie die Erschöpfung und die Schmerzen an ungewohnten Stellen. Ihre Hüften und Taille fühlten sich zerschlagen an, ihre Arme waren bleiern, ihr Rücken tat weh.

Für Miriel bedeutete Kraft alles, und der Glaube an ihre eigenen Fähigkeiten war groß gewesen. Jetzt hatte Angel ihr Selbstvertrauen erschüttert - erst mit der ausgemachten Leichtigkeit, mit der er sie im Wald besiegt hatte, und jetzt mit den Strafübungen, die all ihre Schwächen offenbarten. Sie war wach gewesen, als Waylander dem ehemaligen Gladiator sein Angebot machte, und hatte seine Antwort gehört. Miriel glaubte zu wissen, was Angel vorhatte: Er wollte sie zwingen, seinen Unterricht zu verweigern. Er wollte sie demütigen, indem er sie zur Aufgabe zwang. Dann würde er seinen Lohn von ihrem Vater fordern. Und weil Dakeyras ein Mann von Stolz und Ehre war, würde er die zehntausend zahlen.

Aber so leicht mache ich es dir nicht, Angel! versprach sie. Nein, du wirst für dein Geld hart arbeiten müssen, du häßlicher Hurensohn!

Angel war mit den Übungen des Tages ziemlich zufrieden. Miriel hatte sich besser geschlagen, als er erwartet hatte, zweifellos angetrieben durch ihren Zorn über die Ohrfeige. Doch ihre Motive waren Angel egal. Es reichte, daß das Mädchen bewiesen hatte, daß es eine Kämpfernatur war. Damit ließ sich wenigstens arbeiten. Solange er Zeit hatte, natürlich.

Waylander war gleich nach Sonnenaufgang aufgebrochen. »Ich bin in vier Tagen zurück. Vielleicht auch fünf. Nutzt die Zeit gut.«

»Du kannst mir vertrauen«, hatte Angel erwidert.

Waylander lächelte dünn. »Versuch sie davon abzuhalten, jeden anzugreifen. Dann dürfte sie einigermaßen sicher sein. Die Gilde hat Regeln, was unschuldige Opfer betrifft.«

Morak hält sich nicht an Regeln, dachte Angel, aber er sagte nichts, als der hochgewachsene Krieger mit langen Schritten nach Norden marschierte.

Eine Stunde vor der Abenddämmerung beendete Angel die Arbeit für den Tag, war jedoch überrascht, als Miriel erklärte, sie wolle noch etwas laufen. Ist das nur Prahlerei? fragte er sich. »Trag ein Schwert«, ordnete er an.

»Ich habe mein Messer«, antwortete sie.

»Das habe ich nicht gemeint. Ich möchte, daß du ein Schwert trägst. Daß du es in der Hand hältst.«

»Ich muß laufen, um meine Muskeln zu entspannen, sie zu strecken. Das Schwert würde mich behindern.«

»Ich weiß. Tu es trotzdem.«

Sie nahm es ohne weitere Widerrede hin. Angel kehrte in die Hütte zurück und zog seine Stiefel aus. Auch er war müde, aber er wollte verdammt sein, wenn er das Mädchen dies wissen ließ. Zwei jähre fern der Arena, und seine Ausdauer und Zähigkeit waren verschwunden. Er goß sich etwas Wasser ein und sank vor dem erloschenen Feuer in den Sessel.

In einem Monat, vielleicht in zweien, konnte er etwas aus dem Mädchen machen. Ihre Geschwindigkeit steigern, ihre Reaktionszeit verkürzen. Die Sprints würden ihr zu besserem Gleichgewichtsgefühl verhelfen, die Aufbauarbeit an Armen und Schultern ihren Stößen und Hieben mehr Kraft verleihen. Aber das eigentliche Problem lag in ihrem Herzen. Wenn sie wütend wurde, war sie unbeherrscht und damit eine leichte Beute für einen geübten Schwertkämpfer. Wenn sie kühl war, waren ihre Bewegungen gestelzt, ihre Angriffe leicht zu berechnen und zu kontern.

Sie war vielleicht eine Stunde fort, als er ihre leichten Schritte auf der festgestampften Erde der Lichtung hörte. Er sah auf, als sie eintrat, die Tunika schweißnaß, das Gesicht gerötet, das lange Haar feucht. Das Schwert lag immer noch in ihrer Hand.

»Hast du es den ganzen Weg getragen?« fragte er leise.

»Ja. Das hast du mir doch gesagt.«

»Du hast es nicht am Wegrand niedergelegt und bei deiner Rückkehr wieder aufgenommen?«

»Nein!« antwortete sie gekränkt.

Er glaubte ihr und fluchte innerlich. »Tust du immer, was man dir sagt?« fuhr er sie an.

»Ja«, sagte sie schlicht.

»Warum?«

Sie warf das Schwert auf den Tisch und stellte sich vor ihn, die Hände in die Hüften gestemmt. »Kritisierst du mich jetzt dafür, daß ich dir gehorche? Was willst du eigentlich von mir?«

Er seufzte. »Nur dein Bestes - und das hast du heute gegeben. Ruh dich aus. Ich mache uns etwas zu essen.«

»Unsinn«, sagte sie zuckersüß. »Du bist ein alter Mann, und du siehst müde aus. Setz dich her, und ich bringe dir etwas zu essen.«

»Ich dachte, wir hätten einen Waffenstillstand«, sagte er und folgte ihr in die Küche, wo sie einen großen Schinken vom Haken nahm und ihn aufzuschneiden begann.

»Das war gestern. Bevor du versucht hast, meinen Vater zu betrügen.«

Sein Gesicht verdunkelte sich. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie jemanden betrogen.«

Sie fuhr zu ihm herum. »Nein? Und wie würdest du zehntausend in Gold für ein paar Wochen Arbeit nennen?«

»Ich habe nicht um die Summe gebeten! Er hat sie angeboten. Und wenn du schon gelauscht hast - eine weibliche Tugend, wie ich feststellen konnte -, dann hast du auch gehört, daß ich ihm sagte, ich hätte es für fünfzig getan.«

»Willst du Käse zum Schinken?« fragte sie.

»Ja, und Brot. Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Ich habe es gehört, aber ich glaube dir nicht. Du wolltest mich zwingen, aufzugeben. Gib's zu!«

»Ja, ich gebe es zu.«

»Dann gibt es dazu nichts mehr zu sagen. Hier ist dein Essen. Wenn du fertig bist, spül deinen Teller ab. Und dann tu mir den Gefallen und verbring den Abend in deinem Zimmer. Ich habe für heute genug von deiner Gesellschaft.«

»Die Arbeit endet nicht, nur weil die Sonne untergegangen ist«, sagte er leise. »Tagsüber haben wir an deinem Körper gearbeitet, heute abend arbeiten wir an deinem Geist. Und ich gehe dann in mein Zimmer, wenn es mir paßt. Was willst du essen?«

»Dasselbe wie du.«

»Hast du Honig?«

»Nein.«

»Getrocknete Früchte?«

»Ja - warum?«

»Iß ein paar. Ich habe vor langer Zeit gelernt, daß Süßigkeiten und Kuchen einem müden Magen gut bekommen. Man schläft besser und wacht erfrischter auf. Und trink viel Wasser.«

»Sonst noch was?«

»Wenn mir noch etwas einfällt, sage ich es dir. Und jetzt laß uns zu Ende essen, damit wir mit der Arbeit beginnen können.«

Nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte, fegte Angel die Asche des alten Feuers beiseite, legte frisches Anmachholz zurecht und hielt einen Funken an den Zunder. Miriel hatte in der Küche gegessen und war dann durch die Hütte und hinaus in die Nacht gegangen. Angel war wütend auf sich. Du bist kein Lehrer, dachte er. Und das Mädchen hatte recht - er wollte, daß sie aufgab. Aber nicht aus den Gründen, die sie vermutete. Er seufzte, lehnte sich zurück und beobachtete, wie die winzigen Flammen das Anmachholz verzehrten. Bald spürte er die ersten wärmenden Strahlen des Feuers.

Er hatte versucht, den Jungen Ranuld zu unterweisen, ihm die Bewegungen und Deckung zu zeigen, die er in seinem neuen Beruf brauchen würde, doch Ranuld war in seinem ersten Kampf durch einen Hieb gestorben, der ihm die Eingeweide herausriß. Dann war da Sorrin gewesen, groß und athletisch, furchtlos und schnell. Er hatte sieben Kämpfe durchgestanden - war sogar ein Liebling der Massen geworden. Senta hatte ihn getötet - blitzschnelle Drehung und ein Rückhandhieb gegen die Kehle, wunderbar ausgeführt. Sorrin war tot, ehe er es wußte.

Das war der Tag gewesen, an dem Angel seinen Abschied genommen hatte. Er hatte gegen einen langweiligen Vagrier gekämpft, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte. Der Mann war zäh, aber eine noch frische Wunde machte ihn langsam. Trotzdem hatte er Angel beinahe besiegt, ihn zweimal getroffen. Nach dem Kampf hatte Angel im Lazarett der Arena gesessen. Der Arzt nähte seine Wunden, während auf dem Tisch daneben Sorrins blutiger Leichnam lag. Daneben saß Senta, einen in Honig und Wein getränkten Verband um eine leichte Heischwunde in der Schulter gewickelt.

»Du hast ihn gut ausgebildet«, sagte Senta. »Er hätte mich fast geschafft.«

»Ja. Fast«, antwortete Angel.

»Ich freue mich darauf, gegen den Meister anzutreten.«

Angel hatte in die eifrigen Augen des jungen Mannes geblickt, den spöttischen Ausdruck des schönen Gesichts gesehen, das Lächeln, das fast eine höhnische Grimasse war. »Das wird nicht geschehen, Junge«, hatte Angel erwidert, und die Worte hatten ihm wie Säure im Mund gebrannt. »Ich bin zu alt und zu langsam. Es ist dein Tag. Genieße ihn.«

»Du verläßt die Arnea?« flüsterte Senta erstaunt.

»Ja. Das war mein letzter Kampf.«

Der junge Mann nickte; dann fluchte er, als der Pfleger den Verband um seine Schulter verknotete. »Du Tölpel!« fuhr er ihn an.

»Es tut mir leid, Herr!« sagte der Mann zurückweichend, das Gesicht vor Angst verzerrt.

Senta blickte wieder zu Angel hinüber. »Ich glaube, du bist klug, alter Mann. Aber ich bin enttäuscht. Du bist ein Liebling der Massen. Ich hätte ein Vermögen machen können, indem ich dich besiegte.«

Angel legte Holz aufs Feuer und stand auf. Senta hatte nur noch ein Jahr weitergekämpft; dann hatte er sich der Gilde angeschlossen, bei der er als Kopfgeldjäger weit mehr verdiente als zu seiner Zeit als Gladiator. Die Tür hinter Angel ging auf, und er spürte einen kalten Hauch. Als er sich umdrehte, sah er Miriel in ihr Zimmer gehen. Sie war nackt und trug ihre Kleider über dem Arm. Ihr Körper war naß von einem Bad im Fluß. Sein Blick nahm den schmalen Rücken und ihre Taille auf, die langen, muskulösen Beine und das feste, runde Hinterteil. Erregung durchflutete ihn, und er drehte sich abrupt wieder zum Feuer um.

Nach ein paar Minuten gesellte sich Miriel zu ihm, ihr Körper jetzt verhüllt von einem losen Gewand aus grauer Wolle. »An was für eine Arbeit dachtest du?« wollte sie wissen und setzte sich in einen Sessel ihm gegenüber.

»Weißt du, warum ich dich geschlagen habe?«

»Du wolltest mich beherrschen.«

»Nein. Ich wollte dich wütend sehen. Ich mußte wissen, wie du reagierst, wenn dein Blut in Wallung gerät.« Müßig stocherte er mit einem eisernen Schürhaken im Feuer. »Hör mir zu, Mädchen. Ich bin kein Lehrer. Ich habe nur zwei Menschen ausgebildet - junge Männer, die ich gern hatte. Beide starben. Ich bin ... war ... ein guter Kämpfer. Aber nur, weil ich eine Fähigkeit besitze, heißt das nicht, daß ich sie auch weitergeben kann. Verstehst du das?« Sie schweig, und ihre großen Augen starrten ihn ausdruckslos an. »Ich war ein bißchen in Danyal verliebt, glaube ich, und ich habe Achtung vor deinem Vater. Ich kam hierher, um ihn zu warnen, damit er die Gegend verläßt, nach Ventria oder Gothir geht. Und ich gebe zu, ich könnte das Gold gut gebrauchen. Aber deswegen bin ich weder hergekommen noch geblieben. Wenn du mir nicht glauben willst, dann gehe ich morgen früh - und ich werde keinen Anspruch auf das Gold erheben.« Miriel sagte noch immer nichts.

»Ich weiß nicht, was ich dir sonst noch sagen soll.« Er zuckte die Achseln und lehnte sich zurück.

»Du hast gesagt, wir wollten arbeiten«, erwiderte sie leise. »An meinem Geist. Was hast du damit gemeint?«

Er breitete die Hände aus und starrte ins Feuer. »Hat dein Vater dir jemals von der Probe erzählt, auf die er Danyal gestellt hat?«

»Nein. Aber ich hörte, wie du gesagt hast, ich würde sie nicht bestehen.«

»Doch, du würdest.« Und Angel erzählte ihr von dem Kieselstein im Mondlicht. Er sprach von dem Herzen eines Kriegers und der Bereitschaft, alles zu riskieren, aber dem Vertrauen auf den Glauben, daß das Risiko berechenbar blieb.

»Wie erreicht man das?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht«, gestand Angel.

»Die beiden Männer, die du ausgebildet hast - hatten sie diese Fähigkeiten?«

»Ranuld glaubte es. Aber in seinem ersten Kampf verkrampfte er sich. Seine Muskeln waren angespannt, seine Bewegungen stockend. Sorrin hatte die Gabe, glaube ich, aber er traf auf einen besseren Mann. Die Gabe entspringt der Fähigkeit, jenen Teil der Vorstellungskraft abzuschirmen, der seine Nahrung aus Angst gewinnt. Du weißt schon, den Teil des Verstandes, der sich schreckliche Verletzungen und Wundbrand ausmalt, Blutströme und die Finsternis des Todes. Aber gleichzeitig muß der Verstand weiterfunktionieren, die Schwächen des Gegners erkennen, Wege durch seine Deckung finden. Ich bin oft verwundet worden, aber ich habe immer gesiegt. Und ich habe bessere Männer geschlagen, schnellere, stärkere Männer. Ich schlug sie, weil ich zu störrisch war aufzugeben. Und dann begann ihr Selbstvertrauen zu bröckeln, und die Fenster in ihrem Geist öffneten sich allmählich. Ihre Phantasie kroch hervor, und sie begannen zu zweifeln, sich zu fürchten. Und von diesem Moment an spielte es keine Rolle mehr, ob sie besser, stärker oder schneller waren. Denn ich wuchs in ihren Augen, und in meinen Augen schrumpften sie.«

»Ich werde es lernen«, versprach sie.

»Ich bezweifle, daß man so etwas lernen kann. Dein Vater wurde Waylander, weil seine erste Familie von Räubern niedergemetzelt wurde, aber ich glaube nicht, daß diese Tat Waylander erschuf. Er war immer da, unter der Oberfläche von Dakeyras. Die wahre Frage ist - was liegt unter der Oberfläche von Miriel?«

»Wir werden sehen«, meinte sie.

»Dann möchtest du, daß ich bleibe?«

»ja. Ich möchte, daß du bleibst. Aber beantworte mir eine Frage.«

»Und wie lautet sie?«

»Wovor hast du Angst?«

»Warum glaubst du, daß ich vor irgend etwas Angst habe?« wich er aus.

»Ich weiß, daß du nicht bleiben wolltest, und ich spüre, daß du hin und her gerissen bist zwischen deinem Wunsch, mir zu helfen und dem Bedürfnis zu gehen. Also, was ist es?«

Angel blickte sie an. »Belassen wir es dabei, daß du recht hast. Es gibt etwas, das ich fürchte, aber ich will nicht darüber sprechen. So, wie du nicht über den Verlust deiner Gabe sprechen willst.«

Sie nickte. »Unter den Attentätern ist einer - oder mehrere - dem du nicht begegnen willst. Bin ich nahe dran?«

»Wir müssen den Griff deines Schwertes dicker machen«, sagte Angel. »Schneide ein paar Lederstreifen zurecht - dünn, nicht mehr als fingerbreit. Habt ihr Leim?«

»Ja. Vater macht ihn aus Fischgräten und Tierhaut.«

»Umwickle zuerst den Griff, bis er bequem für dich ist. Wenn du ihn umfaßt, sollte dein längster Finger die Hand unter dem Daumen nur eben berühren. Wenn du zufrieden bist, leime die Streifen fest.«

»Du hast mir nicht geantwortet«, sagte sie.

»Nein«, erwiderte er. »Schneide und binde die Streifen heute abend. Dann hat der Leim Zeit zu trocknen. Ich sehe dich morgen früh.« Er stand auf und durchquerte den Raum.

»Angel!«

Seine Hand ruhte auf dem Türriegel. »Ja?«

»Schlaf gut.«