10.
Sie lagerten in einer geschützten Senke im Wald. Ein kleines Feuer flackerte in einem Kreis aus Steinen. Senta, Angel und Belash schliefen, Waylander hatte die dritte Wache. Er saß auf dem Hügel, den Rücken an einen Baum gelehnt. Seine schwarze Kleidung ließ ihn mit den Schatten der Nacht verschmelzen. Neben ihm lag der Hund, den er Scar getauft hatte.
Miriel lag in ihren Umhang gewickelt und mit dem Rücken zum Feuer. Ihre Schultern waren warm, ihre Füße kalt. Der Herbst verging rasch, und die Luft roch nach Schnee. Sie konnte nicht schlafen. Der Ritt von der Hütte hierher war fast schweigend verlaufen, doch Miriel hatte sich in die Gedanken der Reiter eingeschaltet. Belash dachte an zu Hause und an Rache, und jedesmal wenn seine Gedanken sich Waylander zuwandten, stellte er sich ein schimmerndes Messer vor. Angel war verwirrt. Er wollte nicht nach Norden reisen, aber er wollte sie auch nicht verlassen. Seine Gedanken an Miriel waren ebenso widersprüchlich. Er hatte sie gern, mal väterlich und mal erregt. Senta litt nicht unter Verwirrung. Seine Gedanken waren voller erotischer Bilder, die das junge Mädchen aus den Bergen zugleich erregten und ängstigten.
Waylander ließ sie in Ruhe, aus Angst vor der neuen Dunkelheit in seinem Innern.
Miriel setzte sich auf, legte noch Holz aufs Feuer und drehte sich dann so, daß ihre Beine und Füße die Wärme spüren konnten. Eine Stimme wisperte in ihren Gedanken, so schwach, daß sie zuerst glaubte, sie hätte sich diese Stimme nur eingebildet. Sie erklang wieder, doch Miriel konnte den Worten keinen Sinn entnehmen. Sie konzentrierte sich auf ihre Gabe und lauschte mit aller Kraft dem Wispern. Noch immer nichts. Es war ärgerlich. Sie legte sich nieder, schloß die Augen, und ihr Geist entschwebte ihrem Körper. Jetzt war das Wispern klarer, schien aber noch immer aus einer unglaublichen Entfernung zu kommen.
»Wer bist du?« rief sie.
»Vertrau mir!«
»Nein.«
»Viele Leben hängen von deinem Vertrauen ab. Frauen, Kinder, Alte.«
»Zeig dich!« befahl sie.
»Ich kann nicht - die Entfernung ist zu groß, meine Macht begrenzt.«
»Was willst du dann von mir?«
»Kehre in deinen Körper zurück und wecke Belash. Sag ihm, er soll seine linke Hand über das Feuer halten und sich in die Handfläche schneiden. Das Blut muß in die Flammen tröpfeln. Sag ihm, Kesa Khan befiehlt es ihm.«
»Und was dann?«
»Dann werde ich zu dir kommen, und wir werden reden.«
»Wessen Leben hängt davon ab?« fragte sie. Sofort spürte sie seine Verärgerung.
»Ich kann nicht mehr reden. Mach schnell, sonst bricht die Verbindung ab. Ich bin nahezu erschöpft.«
Miriel*kehrte in ihren Körper zurück, stand auf und ging zu Belash hinüber. Als sie näher kam, rollte sich der Nadirkrieger auf die Füße, das Messer in der Hand, die Augen mißtrauisch. Miriel überbrachte ihm die Botschaft, die sie von Kesa Khan erhalten hatte, in der Erwartung, daß Belash ihr Fragen stellen oder zumindest Zweifel anmelden würde. Doch unverzüglich ging der Nadir zum Feuer und ritzte sich mit der Klinge die Handfläche auf. Blut quoll aus der Wunde und tropfte in die Flammen.
Die Stimme Kesa Khans dröhnte in Miriels Geist, so daß sie zurückwich. »Jetzt kannst du zu mir kommen«, sagte er.
»Kann ich diesem Kesa Khan vertrauen?« fragte sie Belash.
»Sagt er, daß du es kannst?«
»Ja.
»Dann gehorche ihm«, riet der Nadir. Miriel erwiderte nichts, sondern las die Bilder, die hinter seinen Worten steckten. Belash fürchtete Kesa Khan, doch es bestand kein Zweifel, daß er ihn auch bewunderte und ihm sein Leben anvertrauen würde.
Miriel legte sich hin und ließ ihren Geist frei. Sofort wurde sie in ein verwirrendes Labyrinth aus Licht und Farben gezogen. Ihre Sinne schwanden, und sie verlor die Kontrolle über ihren Flug, wirbelte wild durch tausend strahlende Regenbogen und in eine Dunkelheit, tiefer als der Tod. Aber ehe ihre Angst sich in Panik verwandeln konnte, hob sich die Dunkelheit, und sie fand sich in einem Dorf an einem Seeufer wieder. Hier gab es Häuser. Sie waren zwar roh gezimmert, boten aber Schutz vor dem Winterwind und dem Schnee. Kinder spielten am Ufer, und Miriel erkannte sich selbst und Krylla wieder. Neben ihnen, auf einem umgedrehten Boot, saß ein hochgewachsener schlanker Mann mit großen Augen und dicht gelocktem Haar.
Miriels Herz tat einen Sprung, und zum erstenmal seit zwölf Jahren erinnerte sie sich an das Gesicht ihres echten Vaters. Dies war der Winter, kurz bevor die Vagrier eingefallen waren, kurz bevor ihre Eltern und alle ihre Freunde niedergemetzelt wurden. Es war eine friedliche Zeit, voller stiller Freude.
»Ist diese Illusion angenehm für dich?« fragte der verwitterte alte Mann, der neben ihr saß.
»Ja«, sagte sie. »Sehr sogar.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem alten Mann zu. Er war nicht mehr als einen Meter fünfzig groß; zarte Vogelknochen malten sich unter der straff gespannten Haut seiner Brust ab. Sein Kopf war zu groß für seinen Körper, und sein schütteres Haar hing ihm schlaff bis auf die Schultern. Beide Vorderzähne fehlten, was ihm eine zischende Aussprache verlieh. Er trug zerschlissene Beinkleider und knielange Mokassins, die mit schwarzen Lederstreifen zusammengebunden waren.
»Ich bin Kesa Khan.«
»Das sagt mir nichts.«
»Wird es noch«, versicherte er ihr. »Wir haben denselben Feind. Zhu Chao.« Er spie den Namen beinahe aus.
»Ich kenne diesen Mann nicht.«
»Er schickte die Dunklen Ritter aus, um deinen Vater zu töten -so, wie er die Gothirarmee ausschickt, um mein Volk auszulöschen. Und du kennst ihn, Miriel. Sieh.« Die Szene flackerte; das Dorf verschwand. Jetzt saßen sie auf einer hohen Mauer, hinter der ein Blumengarten lag. Dort saß ein Mann in dunklen Gewändern, das schwarze Haar eng an den Kopf geklebt. Die langen Koteletten waren geflochten und hingen ihm bis zum Kinn. Miriels Muskeln spannten sich. Das war der geschuppte Jäger, der vor fünf Jahren versucht hatte, sie und Krylla zu fangen, bis der silberne Ritter sie rettete. Aber hier hatte er keine Schuppen. Er war nur ein Mann, der in einem Garten saß.
»Laß dich nicht irreführen«, warnte Kesa Khan. »Du siehst das Böse.«
»Warum will er meinen ... Vater töten?« Sie zögerte beim Sprechen, da das Bild ihres echten Vaters noch deutlich in ihrem Kopf war.
»Bodalen dient ihm. Er dachte, er wäre einfach, Waylander aufzuspüren und zu töten. Dann hätte er Bodalen zu den Drenai zurückkehren lassen können, um auf den Augenblick zu warten, da der Sohn den Vater verrät.« Der alte Mann lachte in sich hinein; es klang trocken und häßlich. »Er hätte Waylander kennen sollen, wie ich ihn kenne. Ha! Ich habe einmal versucht, ihn zu jagen, und schickte sechs Werungeheuer aus, um ihn zu vernichten, und zwanzig ausgesuchte Jäger. Keiner überlebte. Er hat eine Gabe, den Tod zu bringen.«
»Du bist ein Feind meines Vaters?«
»Jetzt nicht!« beruhigte er sie. »Jetzt wünsche ich ihn mir zum Freund.«
»Warum?«
»Weil mein Volk in Gefahr ist. Du hast keine Vorstellung davon, was es heißt, unter dem Joch von Gothir zu leben. Wir haben nach ihren Gesetzen keinerlei Rechte. Man kann uns zerquetschen, wie Ungeziefer. Niemand wird eine Hand heben, um Einhalt zu gebieten - das ist schlimm genug. Aber jetzt hat Zhu Chao den Kaiser davon überzeugt, daß mein Stamm - der älteste des Zeltvolkes - vernichtet werden muß. Ausgelöscht! Bald werden die Soldaten gegen uns marschieren.«
»Wie kann mein Vater euch helfen? Er ist nur einzelner Mann.«
»Er ist der Drachenschatten, die Hoffnung meines Volkes. Und bei ihm ist der Weiße Tiger in der Nacht und der alte Nicht-Umzubrin-gen. Und Senta ist auch da. Und, was vielleicht noch wichtiger ist, du bist da.«
»Das ist immer noch nur fünf. Wir sind keine Armee.«
»Wir werden sehen. Bitte Waylander, zu den Mondbergen zu kommen. Bitte ihn, uns zu helfen.«
»Warum sollte er? Du bist der Mann, der einmal versucht hat, ihn zu töten.«
»Sag ihm, sie sind uns zehn zu eins überlegen. Sag ihm, wir sind dem Untergang geweiht. Sag ihm, wir haben mehr als zweihundert Kinder, die abgeschlachtet werden sollen.«
»Du verstehst nicht... das sind nicht seine Kinder. Du bittest ihn, sein Leben für Menschen aufs Spiel zu setzen, die er nicht einmal kennt. Warum sollte er so etwas überhaupt in Erwägung ziehen?«
»Das kann ich dir nicht beantworten, Miriel. Sag ihm einfach, was ich dir erzählt habe.«
Wieder wirbelten die Farben, und Miriel spürte einen schwindelerregenden Satz, als sie mit ihrem Körper vereint wurde. Waylander war an ihrer Seite, und die Sonne stand hoch am Himmel.
Eine Woge der Erleichterung schwappte über Waylander, als Miriel die Augen aufschlug. Er strich ihr übers Herz. »Was ist passiert?« fragte er.
Sie zog sich an seinem Arm in eine sitzende Stellung hoch. Ihr Kopf dröhnte in dumpfem Schmerz, ihr Mund war trocken. »Wasser«, krächzte sie. Angel zog den Stöpsel aus einer ledernen Feldflasche und reichte sie ihr. Sie trank gierig. »Wir müssen miteinander reden«, sagte sie zu Waylander. »Allein.«
Angel, Belash und Senta zogen sich zurück, und Miriel berichtete von ihrer Begegnung mit Kesa Khan. Waylander lauschte schweigend, bis sie geendet hatte.
»Hast du ihm geglaubt?«
»Ja. Er hat mir nicht alles erzählt, was er wußte, aber was er gesagt hat, entsprach der Wahrheit. Oder zumindest glaubte er, daß es die Wahrheit war. Sein Volk steht vor der Vernichtung.«
»Was meinte er damit, als er mich den Drachenschatten nannte?«
»Ich weiß nicht. Wirst du gehen?«
Er lächelte. »Glaubst du, ich sollte?«
Sie wandte den Blick ab. »Als wir jung waren, haben Krylla und ich die Geschichte geliebt, die Mutter ... Danyal ... uns erzählte. Du weißt schon, von Helden, die Feuermeere überquerten, um Prinzessinnen zu retten.« Sie lächelte. »Wir fühlten uns wie Prinzessinen, weil du uns gerettet hattest. Du warst der Mann, der half, die Drenai zu retten. Dafür haben wir dich geliebt.«
»Es war nicht für die Drenai«, sagte er. »Es war für mich.«
»Jetzt weiß ich es«, erwiderte sie. »Und ich möchte dich nicht überreden. Ich weiß, du würdest für mich sterben, so, wie du alles für Mutter oder Krylla riskiert hättest. Und ich weiß, warum du nach Norden willst. Du willst Rache.«
»Ich bin, was ich bin, Miriel.«
»Du warst immer besser, als du dich selbst eingeschätzt hast«, sagte sie und streichelte sein hageres Gesicht. »Und wie du dich auch entscheidest, ich werde dich nicht verurteilen.«
Er nickte. »Wohin willst du gehen?«
»Wohin du gehst«, antwortete sie schlicht.
»Erzähl mir noch einmal, was er gesagt hat.«
Sie wiederholte die Worte Kesa Khans.
»Ein schlauer alter Mann«, meinte Waylander.
»Da gebe ich dir recht. Aber wie kommst du darauf?«
»Die Kinder. Er wollte, daß ich über die Kinder Bescheid wußte. Er kennt mich zu gut. Himmel, ich hasse Zauberer!« Waylander tat einen tiefen Atemzug. Und sah wieder die blühenden Blumen, die das Gesicht seines toten Sohnes umrahmten. Wie alt wäre er jetzt gewesen? Etwas älter als Senta vielleicht?
Er dachte an Bodalen. Und Karnak.
Senta, Belah und Angel standen bei den angepflockten Pferden. Waylander rief sie herbei und bat Miriel, ihre Geschichte zum drittenmal zu erzählen.
»Er muß uns für verrückt halten«, sagte Angel, als Miriel geendet hatte.
»Nein«, widersprach Senta leise, »dafür kennt er uns zu gut.«
»Was meinst du damit?«
»Ach, komm schon, Angel, du liebst doch den Gedanken an aussichtslose Situationen, oder?« fragte Senta grinsend.
»Nein. Diese Art von Idiotie überlasse ich gern jungen Männern wie dir. Bring ihn zur Vernunft, Dakeyras.«
»Es steht dir frei, zu reiten, wohin du willst«, sagte Waylander. »Niemand hält dich zurück.«
»Aber du wirst doch nicht in die Berge gehen?«
»Doch, das werde ich«, antwortete Waylander.
»Wie willst du dem Töten Einhalt gebieten? Willst du auf einem großen Pferd hinreiten und dich der gesamten Armee von Gothir entgegenstellen? Ihnen erzählen, daß du Waylander der Schlächter bist und daß du nicht zuläßt, daß sie ein paar Nadir abschlachten?«
»Wie gesagt, du kannst gehen, wohin du willst«, wiederholte Waylander.
»Was ist mit Miriel?« fragte Angel.
»Sie kann für sich selbst sprechen«, antwortete Miriel. »Und ich werde zu den Mondbergen reiten.«
»Sag mir nur, warum«, flehte Angel. »Warum tut ihr alle das?«
Waylander schwieg einen Augenblick. Dann zuckte er die Achseln. »Ich hasse Massaker.«
Vishnas Stimme war ruhig, doch Dardalion spürte die Spannung des Priesters, als er sprach. »Ich verstehe nicht, wie wir sicher sein können, daß diese Frau uns von der QUELLE geschickt wurde. Wir sind alle übereingekommen, unser Leben im Kampf gegen das Böse aufs Spiel zu setzen. Ich habe keinerlei Zweifel an dieser Entscheidung. Auf den Mauern von Purdol gegen die Vagrier zu kämpfen würde Karnak bei der Verteidigung Drenans helfen, ebenso wie unser Beistand dem General in Delnoch helfen würde. Aber in die Steppe zu reiten und unser Leben für einen kleinen Nadirstamm zu riskieren ... ?« Er schüttelte den Kopf. »Was hätte das für einen Sinn, Vater?«
Dardalion antwortete nicht, sondern wandte sich den anderen zu, dem blonden Magnic, dem schlanken Palista und dem stillen, zurückhaltenden Ekodas. »Wie siehst du die Sache, Bruder?« fragte er Magnic.
»Ich stimme Vishna zu. Was haben die Nadir der Welt zu bieten? Nichts. Sie haben keine Kultur, keine Philosophie außer der des Krieges. Für sie zu sterben wäre bedeutungslos.« Der junge Priester zuckte die Achseln. »Aber ich werde deinen Befehlen folgen, Vater Abt.« Dardalion nickt Palista zu. »Und du, mein Junge?«
»Eine schwierige Frage«, antwortete Palista. Seine tiefe, volltönende Stimme schien nicht zu seiner kleinen, schlanken Gestalt zu passen. »Mir scheint, die Antwort hängt davon ab, wie wir die Ankunft der Frau werten. Wenn die QUELLE sie hierhergeführt hat, ist unser Weg klar. Wenn nicht ...«Er breitete die Hände aus.
Ekodas sagte: »Ich pflichte Palista bei. Die Ankunft der Frau ist der entscheidende Punkt. Denn so sehr ich Vishna und Magnic respektiere - ich glaube, ihr Argument ist nicht schlüssig. Wer gibt uns das Recht, über Wort oder Unwert der Nadir zu urteilen? Wenn unsere Taten auch nur ein einziges Leben retten, weiß nur die QUELLE, was dieses Leben wert ist. Der Gerettete kann ein künftiger Nadirprophet sein oder sein Sohn oder sein Enkel. Wie sollen wir das wissen? Aber ist die Frau von der QUELLE geleitet? Sie hat uns um nichts gebeten. Das ist doch sicher der Schlüssel?«
»Ich verstehe«, sagte Dardalion. »Du glaubst, daß sie vielleicht in einem Traum die Weisheit gefunden hat, uns direkt um Hilfe zu bitten?«
»Es gibt viele Beispiele für so etwas«, meinte Ekodas.
»Falls dies hier der Fall wäre, wo würde der Glaube beginnen?« erwiderte der Abt.
»Ich verstehe nicht, Vater ...«
»Mein lieber Ekodas, wir sprechen über den Glauben. Wo braucht es einen Glauben, wenn wir Beweise haben?«
»Das ist doch auch ein unstimmiges Argument«, warf Palista ein. »Danach dürfte man niemandem glauben, der kommt und sagt, die QUELLE hätte ihn geschickt.«
Dardalion lachte laut. »Ausgezeichnet, mein lieber Palista! Aber das bringt uns von einem Extrem zum anderen. Was ich sagen will ... es muß immer ein Element des Glaubens geben. Keine Beweise, sondern Glauben. Wenn die Frau gekommen wäre und hätte behauptet, von der QUELLE gesandt zu sein, hätten wir ihre Gedanken gelesen und die Wahrheit erfahren. Dann hätte es keinen Glauben gegeben. Statt dessen haben wir um ein Zeichen gebetet. Wohin sollen die Dreißig reiten? Und was erhielten wir zur Antwort? Ekodas rettete eine Nadirfrau. Warum ist sie hier? Um ihren Bruder zu finden und ihn nach Hause zu bringen, um sich einem furchtbaren Feind zu stellen. Sagen euch diese Fakten denn nichts? Spürt ihr nicht die Schicksalsfäden, die sich hier zusammenziehen?«
»Das ist schwierig für mich«, sagte Vishna seufzend. »Ich bin der einzige Gothir unter den Dreißig. Meine Familie und meine Freunde sitzen in hohen Positionen im Rat des Kaisers. Wahrscheinlich werden alte Freunde von mir gegen dieselben Nadir ausziehen. Es ist kein schönes Gefühl für mich zu wissen, daß ich vielleicht mein Schwert gegen diese Männer ziehen muß.«
»Das verstehe ich«, sagte Dardalion. »Aber ich glaube, daß Shia uns geschickt wurde und daß die Mondberge rufen. Was kann ich sonst sagen?«
»Ich glaube, wir alle müssen mehr beten - um Führung«, meinte Ekodas. Die anderen nickten zustimmend.
»Der Glaube ist wichtig«, fügte Vishna hinzu. »Aber es muß noch ein anderes Zeichen geben.«
»Es ist unwahrscheinlich, daß es mit feurigen Lettern an den Himmel geschrieben wird«, sagte Dardalion leise.
»Trotzdem«, warf Ekodas ein, »wenn es unsere Bestimmung ist, im Lande der Nadir zu sterben, wird die QUELLE uns hinführen.«
Dardalion betrachtete jeden der drei jungen Männer, die vor ihm standen; dann erhob er sich. »Also gut, meine Brüder, warten wir ab. Und laßt uns beten.«
Ekodas schlief unruhig. Shias Worte verfolgten ihn wie ein Fluch. Er träumte von ihr, wachte oft auf, und sein Körper war verkrampft vor unterdrückter Leidenschaft. Er versuchte zu beten, und als das nichts nützte, wiederholte er die längsten, kompliziertesten Medita-tions-Mantras. Eine Zeitlang hielt seine Konzentration an. Doch dann stellte er sich ihre Elfenbeinhaut vor, golden übertönt, und ihre dunklen, mandelförmigen Augen ...
Eine Stunde vor Morgengrauen stand er lautlos auf und bewegte sich vorsichtig, um die fünf Brüder nicht zu wecken, mit denen er den kleinen Schlafsaal teilte. Er nahm ein frisches weißes Gewand aus der Lade unter seinem Bett, zog sich rasch an und ging hinunter in die Küche.
Der dicke Merlon war schon dort und zog die groben Leintücher von einigen großen runden Käselaiben. In der anderen Ecke überwachte Glendrin das Backen, und der Duft nach frischem Brot erfüllte den Raum.
»Du bist früh auf«, sagte Merlon, als Ekodas eintrat.
»Ich konnte nicht schlafen«, gestand er.
»Ich würde liebend gern noch eine Stunde schlafen, Bruder«, sagte Merlon seufzend.
»Dann tu's«, antwortete Ekodas. »Ich übernehme deine Arbeit.«
»Ich werde zehn Fürbitten für dich sprechen, Ekodas«, strahlte Merlon, umarmte den kleineren Mann und schlug ihm auf den Rücken. Merlon war groß, wurde mit seinen sechsundzwanzig Jahren bereits kahl, und seine Kraft war ungeheuer. Die anderen Priester spotteten liebevoll über seinen gewaltigen Appetit, aber tatsächlich war nur wenig Fett an ihm, außer seinem Bauch, und Ekodas hatte fast das Gefühl, zerquetscht zu werden.
»Genug, Merlon!« japste er.
»Ich sehe dich beim Frühstück.« Merlon gähnte und ging davon zu den Schlafräumen.
Glendrin warf einen Blick nach hinten. »Hol mir das Tablett und die Stange, Ekodas!« rief er und entriegelte die riesige Ofenklappe. I )ie zweizinkige Stange hing an einem Haken an der anderen Wand, likodas hob sie herunter, befestigte die Zinken an einer geriffelten Metallplatte und reichte Glendrin das Werkzeug. Mit einem Tuch, um seine Hände zu schützen, riß er die Ofenklappe auf; dann stieß er die Stange hinein, so daß die Platte unter die drei goldbraun gebackenen Laibe glitt. Er zog sie heraus, und Ekodas, der weiße
Wollhandschuhe übergezogen hatte, nahm das Brot und legte es auf den langen Küchentisch. Insgesamt waren es zwölf Laibe, und ihr Duft ließ Ekodas glauben, er hätte seit einer Woche nichts mehr gegessen.
»Merlon hat die Butter gestoßen«, sagte Glendrin und setzte sich an den Tisch. »Aber ich wette, er hat die Hälfte davon gegessen.«
»Du hat Mehl im Bart«, sagte Ekodas. »Das macht dich älter, als du bist.«
Glendrin grinste und rieb sich den roten, dreifach gegabelten Bart. »Glaubst du, die Frau wurde uns geschickt?« fragte er.
Ekodas zuckte die Achseln. »Wenn ja, dann nur, um mich im Traum zu verfolgen«, antwortete er.
Glendrin kicherte. »Du brauchst die zehn Fürbitten, die Merlon die versprochen hat«, sagte er und drohte seinem Freund mit dem Zeigefinger. »Fleischliche Gedanken sind eine Sünde.«
»Wie gehst du damit um?« fragte Ekodas.
Glendrins Lächeln schwand. »Gar nicht«, gestand er. »Laß uns weitermachen.«
Gemeinsam bereiteten sie den Käse vor, holten frisches Wasser vom Brunnen und trugen die Mahlzeit in den Speisesaal, wo sie den Tisch mit Tellern und Besteck, Bechern und Krügen deckten.
Dann stellte Ekodas ein Tablett mit Brot und Käse für Shia zusammen und spürte seine Aufregung bei der Aussicht, sie wiederzusehen. »Ich kann den Apfelsaft nicht finden«, sagte er zu Glendrin.
»Wir haben ihn gestern ausgetrunken.«
»Aber ich habe ihr einen Krug versprochen.«
Glendrin schüttelte den Kopf. »Dann wird sie dich wohl für den Rest deines Lebens hassen«, sagte der rothaarige Priester.
»Dummkopf!« schalt Ekodas und stellte einen Krug mit Wasser sowie einen Becher auf das Tablett.
»Bleib nicht zu lange bei ihr«, riet Glendrin.
Ekodas antwortete nicht. Er verließ die Wärme der Küche und stieg durch das kalte steinerne Stiegenhaus nach oben zu Shias Zimmer. Er balancierte das Tablett auf dem linken Arm und öffnete die Tür. Die Nadirfrau schlief auf dem Fußboden vor dem erloschenen Feuer. Der Kopf ruhte auf ihren Ellbogen, die Beine hatte sie angezogen. Sie war in die letzten Strahlen des Mondscheins getaucht.
»Guten Morgen«, sagte Ekodas. Sie stöhnte leise, reckte sich und setzte sich auf. Ihr Haar war jetzt offen und hing dunkel und glänzend bis auf die Schultern. »Ich habe dein Frühstück gebracht.«
»Hast du von mir geträumt?« fragte sie, die Stimme noch belegt vom Schlaf.
»Wir haben keinen Apfelsaft mehr«, sagte er. »Aber das Wasser ist frisch und kalt.«
»Waren es schöne Träume, Betbruder?«
»So sollst du nicht mit einem Priester sprechen«, tadelte er sie.
Sie lachte ihn aus, und er wurde rot. »Ihr kol-isha seid seltsame Leute.« Sie stand geschmeidig auf, ging zum Bett und setzte sich mit gekreuzten Beinen darauf. Sie nahm das Brot, brach ein Stück ab und probierte. »Zu wenig Salz«, sagte sie. Er goß ihr einen Becher Wasser ein und reichte ihn ihr. Als sie danach griff, strichen ihre Finger über seine Haut. »Weiche Hände«, flüsterte sie. »Weiche Haut. Wie ein Kind.« Dann nahm sie den Becher und trank einen Schluck.
»Warum bist du hergekommen?« fragte er.
»Du hast mich hergebracht«, antwortete sie, tauchte ihren Finger in die Butterschale und leckte ihn ab.
»Wurdest du geschickt?«
»Ja. Von meinem Schamanen, Kesa Khan. Um meinen Bruder nach Hause zu holen. Aber das weiß du ja.«
»Ja. Ich hatte nur überlegt...«
»Was überlegt?«
»Ach, ist egal. Laß dir dein Frühstück schmecken. Der Abt will dich noch sehen, ehe du gehst. Er wird dir sagen, wo du Belash findest.«
»Wir haben noch Zeit, Betbruder«, flüsterte sie und griff nach seiner Hand. Er riß sie zurück.
»Bitte sprich nicht so«, bat er. »Ich finde dich ... sehr beunruhigend.«
»Du begehrst mich.« Es war eine Feststellung, begleitet von einem Lächeln.
Ekodas schloß für einen Moment die Augen im Bemühen, seine Gedanken zu sammeln. »Ja. Aber das an sich ist noch keine Sünde, glaube ich.«
»Sünde?«
»Wenn man etwas Falsches tut... wie ein Verbrechen.«
»Wie wenn man das Pony seines Bruders stiehlt?« fragte sie.
»Ja, genau. Das wäre eine Sünde. Genaugenommen ist jeder Diebstahl oder jede Lüge oder boshafte Tat eine Sünde.«
Sie nickte langsam. »Warum ist dann Liebemachen eine Sünde? Wo ist da der Diebstahl? Die Lüge? Oder die Bosheit?«
»Es sind ja nicht nur diese Taten«, sagte er stockend. »Dazu gehört auch, wenn man Regeln bricht oder Schwüre. Jeder von uns hier hat der QUELLE ein Versprechen gegeben. Es würde bedeuten, das Versprechen zu brechen.«
»Hat dein Gott dich gebeten, dieses Versprechen zu machen?«
»Nein, aber ...«
»Wer dann?«
Ekodas breitete die Hände aus. »Es gehört zu unserer Tradition. Verstehst du? Regeln, die von heiligen Männern vor Jahrhunderten aufgestellt wurden.«
»Aha, dann steht es also in den Schriften.«
»Genau.«
»Wir haben keine Schriften«, sagte sie strahlend. »Also leben und lachen wir, lieben und kämpfen wir. Keine Bauchschmerzen, keine Kopfschmerzen, keine bösen Träume. Unser Gott spricht aus dem Land zu uns, nicht in Schriften.«
»Es ist derselbe Gott«, versicherte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Betbruder, das glaube ich nicht. Unser Gott ist stark.«
»Wird er dein Volk vor den Gothir retten?« fauchte Ekodas, ehe er sich bremsen konnte. »Tut mir leid! Das war eine gedankenlose Frage. Bitte, verzeih mir.«
»Es gibt nichts zu verzeihen, denn du verstehst nicht, Ekodas. Unser Gott ist das Land, und das Land macht uns stark. Wir werden kämpfen. Und wir werden entweder siegen oder sterben. Für das Land spielt es keine Rolle, ob wir siegen oder verlieren, denn lebend oder tot sind wir eins mit ihm. Die Nadir sind das Land.«
»Könnt ihr gewinnen?« fragte er leise.
»Wirst du traurig sein, wenn ich tot bin?« erwiderte sie.
»Ja«, antwortete er, ohne zu zögern.
Geschmeidig erhob sie sich, kam ganz nah zu ihm heran und schlang ihm den Arm um den Hals. Ihre Lippen streiften seine Wange. »Dummer Ekodas«, flüsterte sie. Dann ließ sie ihn los.
»Warum bin ich dumm?« wollte er wissen.
»Bring mich zum Abt. Ich möchte jetzt gehen.«
Waylander zügelte den schwarzen Wallach und stieg ab. Dann ging er die letzten Schritte zur Hügelkuppe, wo er sich flach auf den Bauch legte und die Bergkette musterte, die sich von Westen nach Osten über die große Sentranische Ebene zog. Der Hund Scar trottete den Hügel hinauf und streckte sich neben ihm aus.
Es führten drei Wege nach Norden, aber welchen sollten sie nehmen? Im Nordosten lag der Delnochpaß mit seiner neuen, von sechs Mauern umgebenen Festung. Das war der direkte Weg nach Gulgo-thir und zu den Mondbergen. Aber war der befehlshabende Offizier gewarnt worden, nach Waylander Ausschau zu halten?
Er seufzte und lenkte seinen Blick weiter nach Norden zu den hohen, einsamen Pässen, die von den Sathulistämmen bewohnt wurden, den langjährigen Feinden der Drenai. Durch ihr Land zogen keine Wagen, keine Konvois, keine Reisenden. Als wilde Kämpfer lebten die Sathuli ihr Leben isoliert von den Zivilisationen der Gothir und der Drenai.
Schließlich gab es noch Dros Purdol, die Hafenfestung, weit im Osten. Aber dahinter lag die große Wüste Namib. Waylander hatte sie schon früher durchquert. Zweimal. Er hatte nicht den Wunsch, sie noch einmal zu sehen.
Nein. Er würde den Weg über Delnoch riskieren müssen.
Gerade als er sich von der Hügelkuppe zurückziehen wollte, erhaschte er einen Lichtschimmer im Osten. Er blieb, wo er war, und wartete, die Augen auf den fernen Waldrand gerichtet. Eine Kolonne von Reitern erschien mit aufgepflanzten Lanzen. Die Sonne glitzerte auf ihren polierten Eisenhelmen und Waffen. Es waren etwas dreißig Lanzenreiter, die langsam ritten, um die Kräfte ihrer Tiere zu schonen.
Waylander schob sich hinter die Kuppe zurück; dann stand er auf und ging zu den anderen, die auf ihn warteten. Scar folgte ihm, hielt, sich dicht neben Waylander. »Wir warten noch eine Stunde hier«, sagte er, »dann brechen wir nach Delnoch auf.«
»Hast du was gesehen?« fragte Angel.
»Lanzenreiter. Sie reiten zur Festung.«
»Glaubst du, sie suchen nach uns?« schaltete sich Senta ein.
Waylander zuckte die Achseln. »Wer weiß? Karnak will unbedingt meinen Tod. Inzwischen dürfte meine Beschreibung bei jeder Armee-Einheit im Umkreis von achtzig Kilometern eingetroffen sein.«
Miriel stand auf und schlenderte zur Hügelkuppe, wo sie sich hinter ein Ginstergebüsch kauerte, um zu den Lanzenreitern hinunterzuschauen. Einige Minuten lang verharrte sie regungslos, dann kehrte sie zu der Gruppe zurück. »Der Offizier ist Dun Egan«, berichtete sie Waylander. »Er ist müde und hungrig und denkt an eine Frau, die er in einer Kneipe an Mauer Zwei kennt. Und du hast recht, er hat deine Beschreibung. Zwanzig seiner Männer sind hinter uns, im Südwesten. Sie haben Befehl, dich zu fassen.«
»Was jetzt?« fragte Angel.
Waylanders Miene war finster. »Durch die Berge«, sagte er schließlich.
»Die Sathuli sind gute Kämpfer, und sie mögen keine Fremden«, betonte Senta.
»Ich bin schon früher durchgekommen. Um mich zu töten, müssen sie mich erst schnappen.«
»Du willst allein gehen?« fragte Miriel leise.
»Das ist das beste«, antwortete er. »Du und die anderen, ihr geht nach Delnoch. Hinter den Bergen stoße ich wieder zu euch.«
»Nein. Wir wollten zusammenbleiben. Meine Gabe kann uns sicher leiten.«
»Das stimmt«, meinte Angel.
»Vielleicht«, gab Waylander zu, »andererseits wirbeln fünf Reiter mehr Staub auf als einer. Fünf Pferde machen mehr Lärm als eins. Die hohen Pässe verstärken jedes Geräusch. Einen fallenden Stein kann man manchmal fast einen Kilometer weit hören. Nein. Ich gehe allein.« Miriel wollte etwas sagen, doch er legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Keine weitere Diskussion, Miriel«, sagte er lächelnd. »Ich habe mehr als mein halbes Leben lang allein gejagt. Allein bin ich am stärksten. Geht nach Delnoch, und wenn ihr die Festung hinter euch habt, wendet euch nach Norden. Ich werde euch finden.«
»Ich werde bei dir sein«, flüsterte sie, lehnte sich an ihn und küßte ihn auf die Wange.
»Immer«, erwiderte er.
Waylander ging zu seinem Pferd, schwang sich in den Sattel und stieß dem Wallach die Fersen in die Flanken. Der Hund rannte neben ihnen her, als sie die Hügelkuppe erreichten. Die Lanzenreiter waren jetzt winzige Punkte in der Ferne, und Waylander dachte keine Augenblick an sie, als er sich den hohen Gipfeln von Delnoch zuwandte.
Allein.
Seine Lebensgeister hoben sich. So sehr er Miriel liebte, empfand er doch eine große Erleichterung, ein Gefühl der Freiheit von der Last, Gefährten zu haben. Er warf einen Blick auf den Hund hinunter und lachte leise. »Nicht ganz allein, was, Scar?« Der Hund legte den Kopf auf eine Seite und rannte weiter, schnüffelte am Boden, auf der Suche nach Kaninchenspuren. Waylander holte tief Atem. Die Luft war frisch und kalt und wehte von den schneebedeckten Gipfeln herab. Die Sathuli würden jetzt ihre Winterlager aufschlagen; ihre Gedanken waren weit weg von Uberfällen und Krieg. Mit Geschick und etwas Glück müßte er die Hochpässe und die widerhallenden Schluchten durchqueren können, ohne daß sie davon erführen.
Etwas Glück? Er dachte an die vor ihm liegende Route - die schmalen, eisbedeckten Pfade, die trügerischen Hänge, die gefrorenen Wasserläufe, das Reich von Wolf, Bär und Berglöwe.
Angst regte sich in ihm - und er lachte laut auf. Denn wenn die Angst einsetzte, fühlte er sein Herz schlagen, das Blut in Adern und Muskeln kreisen, die Kraft in seinen Armen und seiner Brust. Ob es richtig oder falsch war, er wußte, dies war es, wofür er geboren war, der einsame Ritt in die Gefahr, umgeben von Feinden. Denn was war Angst, wenn nicht der Wein des Lebens? Und der Geschmack berauschte Waylander erneut.
In den vergangenen fünf Jahren war ich tot, dachte er. Ein wandernder Leichnam, wenn ich es auch nicht wußte. Er dachte an Danyal und merkte, daß er sich nun an die Freuden ihres Lebens erinnern konnte, ohne die scharfe, rauhe Bitterkeit über ihren Tod zu spüren. Die Berge ragten grau und drohend vor ihm auf.
Und der Mann ritt weiter.
Miriel saß schweigend im Garten des Wirtshauses und starrte auf die kolossalen Mauern von Dros Delnoch. Die Reise zur Festung war ohne Zwischenfall verlaufen, abgesehen von den Zankereien zwischen Angel und Belash. Zuerst hatte Miriel Mühe, den Haß zu begreifen, der in dem Gladiator schwelte; dann hatte sie ihre Gabe eingesetzt. Sie schauderte bei der Erinnerung und dachte an etwas anderes. Ihr Vater durchquerte jetzt bereits das Land der Sathuli. Ein wildes, unabhängiges Volk, das vor mehr als dreihundert Jahren über das Meer aus den Wüsten Ventrias gekommen war, um sich in den Delnochbergen anzusiedeln. Sie wußte wenig über ihre Geschichte, nur daß sie an die Worte eines alten Propheten glaubten und ihres Glaubens wegen in ihrem Heimatland verfolgt worden war. Sie waren ein einzelgängerisches Volk, hart und zäh im Kampf, und lagen in ständigem Krieg mit den Drenai.
Sie seufzte. Waylander würde ihr Land nicht kampflos durchqueren, wie sie wußte, und sie betete, daß er es unbeschadet überstehen würde.
Hinter den drei Gebäuden des Wirtshauses erhob sich der alte Bergfried in der Enge des Delnoch-Passes. Eindrucksvoll und stark wurde der Bergfried jetzt durch die neue Festung in den Schatten gestellt, die das ganze Tal ausfüllte. Miriel ließ ihren Blick über das ungeheure Bauwerk schweifen, mit seinen zinnenbewehrten Wehrgängen aus Granit, den massiven Tor- und Wachtürmen.
»Sie nennen es Egels Wahn«, sagte Angel, der an ihre Seite trat und ihr einen Becher mit Wasser verdünnten Wein reichte. Senta und Belash folgten ihm aus dem Wirtshaus und setzten sich zu Miriel ins Gras. »Jede der Mauern ist über zwanzig Meter hoch, und die Truppenunterkünfte können dreißigtausend Mann aufnehmen. Einige sind noch nie benutzt worden. Und werden es auch nie.«
»Ich habe noch nie so etwas gesehen«, flüsterte Miriel. »Von hier aus sehen die Wächter auf der ersten Mauer wie winzige Insekten aus.«
»Eine großartige Geldverschwendung«, sagte Senta. »Zwanzigtausend Arbeiter, tausend Steinmetze, fünfzig Architekten, Hunderte von Zimmerleuten. Und alles gebaut für einen Traum.«
»Einen Traum?« fragte Miriel.
Senta lachte leise und wandte sich an Belash. »Ja. Egel sagte, er hatte eine Vision von Belash und einigen seiner Brüder - ein wahrer Ozean von Kriegern, die sich gegen die Drenai zusammenscharten. Daher diese Monstrosität.«
»Sie wurde gebaut, um die Nadir fernzuhalten?« fragte Miriel ungläubig.
»Allerdings, Miriel«, antwortete Senta. »Sechs Mauern und ein Bergfried. Die größte Festung der Welt, um den kleinsten Feind in Schach zu halten. Denn kein einziger Nadirstamm zählt mehr als tausend Krieger.«
»Aber es gibt mehr als tausend Stämme«, betonte Belash. »Und der Mann, der die Stämme eint, wird sie zusammenführen. Ein Volk. Ein König.«
»Das sind die Träume aller armen Völker«, sagte Senta. »Die Nadir werden sich nie einen. Sie hassen einander ebenso, wie sie uns hassen, wenn nicht mehr. Sie liegen immer im Krieg miteinander. Und sie machen keine Gefangenen.«
»Das stimmt nicht«, zischte Angel. »Sie machen Gefangene - und dann foltern sie sie zu Tode. Männer, Frauen und Kinder. Sie sind verabscheuungswürdig.«
»Kein wahrer Nadir würde Kinder foltern«, widersprach Belash, dessen dunkle Augen zornig funkelten. »Sie werden rasch getötet.«
»Ich weiß, was ich gesehen habe!« fuhr Angel auf. »Und komme nicht auf den Gedanken, mich einen Lügner zu nennen!«
Belashs Hand fuhr zu seinem Messer. Angels Finger schlössen sich um den Griff seines Schwertes. Miriel trat zwischen sie. »Wir werden nicht untereinander kämpfen«, sagte sie und legte die Hand auf Angels Arm. »In allen Völkern steckt Böses, aber nur ein törichter Mann verdammt ein ganzes Volk.«
»Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe!« begehrte Angel auf.
»Doch, das habe ich«, sagte sie leise. »Die umgestürzten Wagen, die Plünderung und den Tod. Und ich kann deinen Vater sehen, der den Arm dich geschlungen hat und dir seinen Mantel vor die Augen hält. Es war ein schlimmer Tag, Angel, aber du mußt dich davon lösen. Die Erinnerung vergiftet dich.«
»Halt dich aus meinem Kopf raus!« brüllte er plötzlich, riß sich von ihr los und marschierte zum Wirtshaus.
»Er trägt Dämonen in seiner Seele«, sagte Belash.
»Das tun wir alle«, fügte Senta hinzu.
Miriel seufzte. »Er war erst neun Jahre alt, als er den Angriff miterlebte, und seit damals verfolgen ihn die Schreie. Aber er sieht nicht mehr die Wahrheit - vielleicht hat er es nie getan. Der Umhang seines Vaters hat ihm die schlimmsten Anblicke erspart, und er weiß nicht mehr, daß bei dem Überfall auch Männer beteiligt waren, die nicht zu den Nadir gehörten. Sie trugen dunkle Umhänge, und ihre Waffen waren aus geschwärztem Stahl.«
»Ritter des Blutes«, sagte Belash.
Miriel nickte. »Ich glaube auch.«
Belash stand auf. »Ich werde mir diese Festung einmal ansehen.«
Er ging davon, und Senta setzte sich neben Miriel. »Es ist schön, allein zu sein«, meinte er.
»Du stellst dir vor, wie ich auf Seidenlaken auf einem Bett liege. Das gefällt mir nicht.«
Er grinste. »Es ist unhöflich, die Gedanken anderer Leute zu lesen.«
»Macht es dir nichts aus, daß ich weiß, was du denkst?«
»Überhaupt nicht. Es gibt nichts, wofür ich mich schämen müßte. Du bist eine schöne Frau. Kein Mann könnte länger neben dir sitzen, ohne an Seidenlaken oder weiches Gras oder Sommerheu zu denken.«
»Das Leben besteht nicht nur aus vögeln!« sagte sie und spürte, wie sie rot wurde.
»Woher willst du das wissen, meine Schöne? Du hast keine Erfahrung in solchen Dingen.«
»Ich werde dich nie heiraten.«
»Du urteilst zu schnell über mich, meine Schöne. Wie kannst du ein Urteil fällen? Du kennst mich noch gar nicht.«
»Ich kenne dich gut genug.«
»Unsinn. Nimm einen Augenblick meine Hand.« Er umfaßte sanft ihr Handgelenk; seine Finger schlössen sich über ihren. »Vergiß meine Gedanken. Fühle einfach meine Berührung. Ist sie nicht sanft? Ist das nicht schön?«
Sie entriß ihm ihre Hand. »Nein, ist es nicht!«
»Aha! Jetzt lügst du, meine Schöne. Ich habe vielleicht nicht deine Gabe, aber ich weiß, was du gefühlt hast. Und das war keineswegs unangenehm.«
»Deine Arroganz ist ebenso gewaltig wie diese Mauern«, tobte sie.
»Ja, das ist sie«, gab er zu. »Und aus gutem Grund. Ich bin ein sehr begabter Knabe.«
»Du bist eingebildet und siehst nicht weiter als deine eigenen Wünsche. Dann sag mir, Senta, was kannst du mir bieten? Und bitte, keine Prahlerei über das Schlafzimmer.«
»Du sprichst meine Namen so schön aus.«
»Beantworte meine Frage! Und denk daran, daß ich weiß, ob du lügst.«
Er lächelte sie an. »Du bist für mich geschaffen«, sagte er leise, »so wie ich für dich. Was ich dir biete? Alles, was ich habe, meine Schöne«, flüsterte er. Seine Augen hielten ihren Blick fest. »Und alles, was ich je haben werde.«
Für einen Augenblick schwieg sie. »Ich weiß, daß du glaubst, was du sagst«, erwiderte sie schließlich. »Aber ich glaube nicht, daß du die Stärke besitzt, danach zu leben.«
»Das mag stimmen«, gab er zu.
»Und du wolltest Angel und meinen Vater töten. Glaubst du, ich könnte dir das verzeihen?«
»Das hoffe ich«, antwortete er. Und in diesem Moment sah sie in seinen Gedanken ein Bild aufflackern, eine Erinnerung, die er zu verbergen versuchte. Es versetzte ihr einen Schock.
»Du wolltest Angel gar nicht töten! Du warst bereit zu sterben.«
Sein Lächeln schwand, und er zuckte die Achseln. »Du hast mich gebeten ihn zu verschonen, meine Schöne. Ich dachte, du liebst ihn vielleicht.«
»Du hast mich doch gar nicht gekannt! Du kennst mich noch immer nicht. Wie konntest du da bereit sein, dein Leben zu geben?«
»Laß dich davon nicht allzusehr beeindrucken. Ich mag den alten Mann. Und ich hätte versucht, ihn zu entwaffnen, vielleicht zu verwunden.«
»Er hätte dich getötet.«
»Hätte dir das leid getan?«
»Nein - damals nicht.«
»Aber jetzt?«
»Ich weiß nicht ... ja. Aber nicht, weil ich dich liebe. Du hattest viele Frauen - und du hast allen gesagt, daß du sie liebst. Wärst du für sie gestorben?«
»Vielleicht. Ich war immer schon ein Romantiker. Aber mit dir ist es anders. Das weiß ich.«
»Ich glaube nicht, daß Liebe so schnell entstehen kann«, sagte sie.
»Die Liebe ist ein seltsames Wesen, Miriel. Manchmal springt es aus seinem Versteck und trifft plötzlich wie ein Speer. Zu anderen Zeiten kommt es langsam und heimlich angekrochen.«
»Wie ein Attentäter?«
»Genau so«, stimmte er mit einem strahlenden Lächeln zu.