18.
Die Last der Jahre und das Nachlassen seiner Kräfte war eine Quelle ausgesprochenen Ärgers für Kesa Khan. Als junger Mann - auf der Höhe seiner körperlichen Leistungsfähigkeit - hatte er versucht, die geheimen Künste zu meistern, Dämonen zu rufen, die Pfade des Nebels zu erwandern, die Vergangenheit zu erkunden, die Zukunft zu erforschen. Aber als er noch jung war und stark, waren seine Fähigkeiten noch nicht bis zu der Vollkommenheit geschliffen, die für solche Missionen des Geistes notwendig waren. Jetzt, da sein Geist vor Macht brannte, war sein gealterter Körper bei der Erfüllung seiner Wünsche keine Unterstützung mehr.
Und während er noch über die Ungerechtigkeit des Lebens nachsann, mußte er über die Absurdität des Seins lachen.
Er belegte sein Feuer, nicht im Kamin, sondern in einem uralten Becken, das er mitten auf den Steinboden in dem kleinen Zimmer hoch oben im Turm des Bergfrieds aufgestellt hatte. Seine kostbaren Tontöpfe hatte er darum herum aufgestellt, und aus einem nahm er jetzt eine Handvoll grünen Pulvers, das er in die tanzenden Flammen streute. Sofort formte sich ein Abbild von Waylander, wie er durch die großen Tore Gulgothirs schritt. Er war als Sathulihändler verkleidet und trug ein fließendes Gewand aus grauer Wolle und einen mit schwarzem Roßhaar zusammengebundenen Burnus. Sein Rücken war unter einer schweren Last gebeugt, und er schlurfte wie ein alter Mann, dem das Rheuma zu schaffen macht. Kesa Khan lächelte.
»Zhu Chao wirst du nicht täuschen können, aber niemand sonst wird dich erkennen«, sagte er. Das Bild verschwand, noch ehe er den Satz beendet hatte. Kesa Khan fluchte leise und dachte an den Kristall, der auf dem goldenen Fußboden unter der Festung lag. Damit könntest du wieder jung sein, sagte er sich. Du könntest die Jahrhunderte überdauern und dem, der die Stämme eint, zur Seite stehen.
»Pah«, sagte er laut, »wenn das der Fall wäre, hätte ich mich dann nicht selbst in einer der möglichen Zukünfte gesehen? Mach dir nichts vor, alter Mann. Der Tod steht vor der Tür. Du hast alles für dein Volk getan, was in deiner Macht stand. Du hast keinen Grund, etwas zu bedauern. Gar keinen.«
»Das können nicht viele Menschen behaupten«, erklang Darda-lions Stimme.
»Nicht viele haben auch so zielbewußt gelebt wie ich«, antwortete Kesa Khan. Er blickte zur Tür, in der der Abt stand. »Komm herein, Priester. Es zieht, und meine Knochen sind nicht mehr so jung, wie sie mal waren.«
In dem Raum standen keine Möbel, und so setzte sich Dardalion mit verschränkten Beinen auf den Teppich. »Welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen deiner Gesellschaft?« fragte der alte Schamane.
»Du bist verschlagen, Kesa Khan, und mir fehlt deine Arglist. Aber mir fehlen keineswegs eigene Kräfte. Auch ich bin die Pfade des Nebels gewandelt, seit wir uns zuletzt unterhalten haben. Auch ich habe den, der die Stämme eint, gesehen, von dem du träumst.«
Die Augen des Schamanen glitzerten vor Bosheit. »Du hast nur einen gesehen? Es gibt Hunderte.«
»Nein«, widersprach Dardalion. »Es gibt Tausende. Ein riesiges Spinnennetz möglicher Zukünfte. Aber die meisten interessierten mich nicht. Ich folgte dem Pfad, der von Kar-Barzac ausgeht, und dem Kind, das hier empfangen wird. Ein Mädchen. Ein schönes Mädchen, das einen jungen Kriegsherrn heiraten wird. Ihr Sohn wird mächtig sein, ihr Enkel noch mächtiger.«
Kesa Khan schauderte. »Du hast das alles an einem einzigen Tag gesehen? Ich habe fünfzig Jahre dafür gebraucht.«
»Ich mußte auch fünfzig Jahre weniger reisen.«
»Was hast du noch gesehen?«
»Was willst du wissen?« entgegnete der Drenai.
Kesa Khan biß sich auf die Lippe und sagte einen Moment lang nichts. »Ich weiß alles«, log er mit einem Achselzucken. »Es gibt nichts Neues mehr. Hast du Waylander aufgespürt?«
»Ja. Er ist in Verkleidung nach Gulgothir gegangen. Zwei meiner Priester beobachten ihn, um alle Suchzauber abzulenken.«
Kesa Khan nickte. »Es ist fast an der Zeit, den Kristall zurückzugewinnen«, sagte er und starrte in die Flammen.
»Er sollte zerstört werden«, riet Dardalion.
»Wie du willst. Du mußt einen deiner Männer schicken - einen Priester, der aller Wahrscheinlichkeit nach von seiner Macht nicht verdorben wird. Hast du einen solchen Mann?«
»Verdorben?«
»Ja. Selbst in seinem ruhenden Zustand übt er großen Einfluß aus und feuert die Sinne an wie ein starkes Getränk, das die Hemmungen nimmt. Der Mann, den du schickst, muß große Kontrolle über seine ... sagen wir ... Leidenschaften haben. Jede Schwäche wird hundertfach verstärkt. Ich werde keinem Nadir eine solche Aufgabe anvertrauen.«
»Wie du sehr wohl weißt, gibt es einen unter meinen Priestern, der die Stärke besitzt, dieses Böse zu bewältigen«, sagte Dardalion. Er beugte sich dicht zu dem greisen Schamanen vor. »Aber sag mir, Kesa Khan, was ist noch da unten?«
»Hast du deine große Macht nicht benutzt, um das herauszufinden?« entgegnete der alte Nadir und konnte ein verächtliches Grinsen nicht unterdrücken.
»Kein Geist kann die unteren Ebenen durchdringen. Dort ist eine Kraft, die um vieles stärker ist, als ich je erlebt habe. Aber du weißt das alles, alter Mann, und noch mehr. Ich bitte nicht um deine Dankbarkeit - die ist mir gleichgültig. Wir sind nicht deinetwegen hier. Aber ich möchte um ein wenig Aufrichtigkeit bitten.«
»Bitte, um was du willst, Drenai. Ich schulde dir nichts! Du willst den Kristall - dann such ihn.«
Dardalion seufzte. »Also gut. Genau das werde ich tun. Aber ich werde nicht Ekodas in die Tiefe schicken. Ich gehe selbst.«
»Der Kristall wird dich vernichten!«
»Vielleicht.«
»Du bist ein Narr, Dardalion. Ekodas ist um vieles stärker als du. Das weißt du.«
Der Abt lächelte. »Ja, ich weiß.« Das Lächeln verblaßte, und sein Blick wurde hart. »Und jetzt ist die Zeit für Vortäuschungen vorbei. Du brauchst Ekodas. Ohne ihn sind deine Träume nur Staub. Ich habe die Zukunft gesehen, Kesa Khan. Ich habe mehr gesehen, als du ahnst. Alles hier ist in einem sehr empfindlichen Gleichgewicht. Eine falsche Strategie, und deine Hoffnungen sind zunichte.«
Der Schamane entspannte sich und legte Holz auf die Flammen in dem Becken nach. »Wir sind gar nicht so verschieden, du und ich. Also gut, ich werde dir alles sagen, was du wissen willst. Aber es muß Ekodas sein, der das Böse vernichtet. Einverstanden?«
»Laß uns reden, dann entscheide ich.«
»Einverstanden, Drenai.« Kesa Khan holte tief Luft. »Stell deine Fragen.«
»Welche Gefahren drohen in den unteren Ebenen?«
Der Schamane zuckte die Achseln. »Woher soll ich das wissen? Wie du schon sagtest, keine geistige Macht kann dorthin vordringen.«
»Wen würdest du mit Ekodas schicken?« fragte Dardalion leise.
»Die Drenaifrau und ihren Liebhaber.«
Dardalion sah das Funkeln in den Augen des Schamanen. »Dein Haß ist durchsichtig, Kesa Khan. Du brauchst uns zwar jetzt, aber am Ende möchtest du uns alle tot sehen. Vor allem die Frau. Warum?«
»Pah, sie ist ohne Bedeutung!«
»Und du lügst weiter«, fauchte Dardalion. »Aber wir werden uns wieder unterhalten, Kesa Khan.«
»Du wirst Ekodas schicken?«
Dardalion schwieg einen Augenblick. Dann nickte er. »Aber nicht aus den Gründen, die du meinst«, sagte er.
Der Abt stand auf und verließ den Raum. Der Schamane kämpfte seinen Ärger nieder und blieb mit verschränkten Beinen vor dem Feuer sitzen. Was wußte der Drenai noch? Was hatte er über den, der die Stämme eint, gesagt? Kesa Khan rief sich die Worte ins Gedächtnis: >Ein riesiges Spinnennetz möglicher Zukünfte. Aber die meisten interessierten mich nicht. Ich folgte dem Pfad, der von Kar-Barzac ausgeht, und dem Kind, das hier empfangen wird. Ein Mädchen. Ein schönes Mädchen, das einen jungen Kriegsherrn heiraten wird. Ihr Sohn wird mächtig sein, ihr Enkel noch mächtiger.<
Kannte er die Identität des jungen Kriegsherrn? Wo man ihn finden konnte? Kesa Khan fluchte leise und wünschte, er hätte die Kraft, noch einmal über die Pfade des Nebels zu wandern. Aber er spürte sein Herz unter den Rippen schlagen, schwach flatternd wie ein sterbender Spatz. Seine dunklen Augen verengten sich. Er hatte keine Wahl. Er mußte seine Pläne fortführen. Sollte der Drenai doch den Kristall vernichten - für die Zukunft der Nadir war er nicht von Bedeutung. Aber es war lebenswichtig, daß Ekodas in die Kammer ging, und mit ihm die Frau, Miriel.
Ein Hauch des Bedauerns überkam ihn. Sie war eine starke Frau, stolz und liebevoll.
Es ist eine Schande, daß sie sterben muß, gestand er sich ein.
Angel blickte auf die vollständig verheilte Haut seiner zerschunde-nen Handflächen hinunter; dann schaute er in das Gesicht des jungen Priesters. »Man sieht gar nichts«, sagte er. »Keinen Schorf, keine Narbe.«
Der junge Mann lächelte erschöpft. »Ich habe nur deinen eigenen Heilungsprozeß beschleunigt. Ich habe auch eine kleine Geschwulst aus einer Lunge entfernt.«
»Krebs?« flüsterte Angel angsterfüllt.
»Ja, aber er ist weg.«
»Er hat mir gar keine Schmerzen bereitet.«
»Das wäre erst viel später gekommen.«
»Dann hast du mir also das Leben gerettet? Bei allen Göttern, Priester, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich heiße Angel.« Er streckte seine frisch geheilte Hand aus.
Der Priester nahm sie. »Ekodas. Wie steht es auf der Mauer?«
»Wir halten den Feind hin. Er wird nicht noch einmal versuchen, die Mauer mit Leitern zu erstürmen. Das nächste Mal werden sie es beim Fallgitter versuchen.«
Ekodas nickte. »Du hast recht. Aber es wird nicht vor morgen geschehen. Ruhe dich etwas aus, Angel. Du bist kein junger Mann mehr, und dein Körper ist sehr müde.« Der Priester warf einen Blick über Angels Schulter. »Der Junge gehört zu dir?« fragte er.
Angel sah sich um. Das taube Kind stand dicht hinter ihm, Angels grünen Umhang um die Schultern geschlungen. »Ja. Dein großer Freund - Merlon? - schlug vor, dich zu bitten, ihn dir einmal anzusehen. Er ist taub.«
»Ich bin sehr müde. Meine Kräfte sind nicht unerschöpflich.«
»Dann ein andermal«, sagte Angel und stand auf.
»Nein«, widersprach Ekodas. »Ich kann ihn wenigstens untersuchen.«
Angel winkte den Jungen heran, aber er wich zurück, als der Priester die Hand nach ihm ausstreckte. Ekodas schloß die Augen. Sofort versank der Junge in Angels Armen in tiefen Schlaf. »Was hast du getan?«
»Ihm geschieht kein Leid, Angel. Er wird lediglich schlafen, bis ich ihn wecke.« Ekodas legte seine Handflächen über die Ohren des Kindes und blieb reglos ein paar Minuten so stehen. Schließlich trat er zurück und setzte sich dem Gladiator gegenüber. »Er hatte eine schwere Infektion, als er noch sehr klein war. Sie wurde nicht behandelt und breitete sich in den Knochen um die Ohren herum aus. Das hat das Trommelfell zerstört, so daß es nicht mehr in der Lage ist, Schwingungen an das Gehirn weiterzuleiten. Verstehst du?«
»Kein Wort«, gestand Angel. »Aber kannst du ihn heilen?«
»Das habe ich bereits«, sagte Ekodas. »Aber du mußt eine Weile bei ihm bleiben. Er wird verängstigt sein. Jedes Geräusch ist neu für ihn.«
Angel sah dem jungen Priester nach, als er durch die Halle davonging. Der Junge regte sich in seinen Armen. Er schlug die Augen auf.
»Fühlst du dich besser?« fragte Angel. Der Junge versteifte sich, die Augen im Schock weit aufgerissen. Angel grinste und tippte sich ans Ohr. »Du kannst jetzt hören.« Eine Frau ging hinter ihnen vorbei. Das Kind fuhr herum und starrte ihre Füße an, die über den Steinboden tappten. Angel berührte den Jungen am Arm, um seine Aufmerksamkeit zu erregen; dann begann er rhythmisch mit den Fingern auf den Tisch zu klopfen. Das Kind krabbelte von seinem Schoß und rannte aus dem Saal.
»Was bist du doch für ein großartiger Lehrer«, murmelte Angel. Erschöpfung übermannte ihn, und er stand auf und durchquerte die Halle. Ein kleines, unbenutztes Zimmer ging von dem dahinter-liegenden Flur ab. Es war nicht möbliert, doch Angel legte sich auf den steinernen Fußboden und bettete den Kopf auf die Arme.
Und er schlief traumlos.
Miriel weckte ihn, und er setzte sich auf. Sie hatte ihm eine Schale dünner Brühe und ein Stück Brot gebracht. »Wie geht es deinen Händen?« fragte sie.
»Sind geheilt«, antwortete er und drehte die Handflächen nach oben. »Von einem der Priester - Ekodas. Er hat eine seltene Gabe.«
Sie nickte. »Ich habe ihn eben getroffen.« Er nahm die Suppe und begann zu essen. Miriel saß schweigend neben ihm. Sie schien in Gedanken versunken und zog ständig an einer Haarsträhne an ihrer Schläfe.
»Was ist los?«
»Nichts.«
»Lügen paßt nicht zu dir, Miriel. Sind wir denn keine Freunde?«
Sie nickte, sah ihm aber nicht in die Augen. »Ich schäme mich«, sagte sie so leise, daß ihre Stimme kaum zu hören war. »Hier sterben Menschen. Jeden Tag. Und trotzdem war ich nie glücklicher. Selbst auf der Mauer, wenn die Gothir vorrücken, fühlte ich mich auf eine
Art lebendig, wie ich sie nie gekannt habe. Ich konnte die Luft riechen - so süß und kalt. Und mit Senta ...« Sie wurde rot und wandte sich ab.
»Ich weiß«, sagte er. »Ich war auch schon verliebt.«
»Ich weiß, es ist verrückt, aber ein Teil von mir wünscht, daß dies hier nie zu Ende geht. Weißt du, was ich meine?«
»Alles endet«, sagte er mit einem Seufzer. »Auf eine seltsame Art wird gerade dadurch das Leben so schön. Ich kannte einmal einen Künstler, der Blumen aus Glas machte - wunderbare Dinge. Doch eines Nachts, als wir in einer kleinen Kneipe tranken, sagte er mir, er hätte noch nie etwas geschaffen, was so schön sei wie eine echte Rose. Und er wußte, daß er es auch nie schaffen würde. Denn das Geheimnis ihrer Schönheit liegt darin, daß sie sterben muß.«
»Ich will nicht sterben. Niemals.«
Er lachte. »Das Gefühl kenne ich, Mädchen. Aber, bei Shemak, du bist jung - noch nicht einmal zwanzig! Nimm jedes Gramm Freude, die das Leben bietet, koste sie, schmecke sie. Aber verschwende deine Zeit nicht mit Gedanken an den Verlust. Meine erste Frau war ein Drachen. Ich betete sie an, und wir kämpften wie die Tiger. Als sie starb, fühlte ich mich beraubt. Doch wenn ich die Gelegenheit hätte, noch einmal anzufangen, ich würde nicht anders leben. Die Jahre mit ihr waren golden.«
Miriel lachte ihn ein wenig einfältig an. »Ich will nicht den Schmerz erdulden, den mein Vater erlitten hat. Ich weiß, das klingt pathetisch.«
»Daran ist nichts Pathetisches. Wo steckt der Mann eigentlich?«
»Sammelt Fackeln.«
»Wozu?«
»Kesa Khan hat mich gebeten, Ekodas durch die unteren Ebenen zu führen. Wir sollen einen Kristall suchen.«
»Ich komme mit euch.«
»Nein«, sagte sie entschieden, als er aufstehen wollte. »Ekodas sagt, daß du erschöpfter bist, als du zugeben willst. Du brauchst nicht auch noch einen Marsch im Dunkeln.«
»Es könnte gefährlich sein«, wandte er ein.
»Kesa Khan sagt nein. Und jetzt ruh dich aus. Wir sind in ein paar Stunden zurück.«
Für den Kaufmann Matze Chai war der Schlaf eine Freude, die man hüten mußte. Jede Nacht - gleich, unter welchem Druck er durch seine Unternehmen stand - schlief er ungestört genau vier Stunden lang. Matze Chai glaubte fest, daß es diese selige Ruhe war, die seinen Verstand scharf erhielt, während er mit den verräterischen Gothirhändlern und gerissenen Adeligen verhandelte.
Deshalb war er nicht wenig erstaunt, als sein Diener, Luo, ihn weckte, und er feststellte, daß es noch einige Zeit bis zum Morgengrauen war; denn die Sterne waren noch durch das Balkonfenster zu sehen.
»Es tut mir leid, Herr«, flüsterte Luo, der sich im Mondschein tief verbeugte. »Aber da ist ein Mann, der dich sehen will.«
Matze Chai runzelte die Stirn. Kein gewöhnlicher Mann hätte Luo dazu gebracht, die Ruhe seines Herrn zu stören. Und von Matzes Bekannten hätte niemand den Diener in einen Zustand solcher Angst versetzt.
Matze Chai setzte sich auf und nahm das seidene Netz ab, das sein geöltes, schimmerndes Haar hielt. »Zünde ein oder zwei Laternen an, Luo«, sagte er.
»Ja, Herr. Es tut mir leid, Herr. Aber der Mann bestand darauf, daß ich dich wecke.«
»Schon gut. Denk nicht mehr daran. Du hast richtig gehandelt. Hol mir einen Kamm.« Luo zündete zwei Laternen an und stellte sie auf den Tisch neben dem Bett. Dann holte er einen Bronzespiegel und einen Elfenbeinkamm. Matze Chai neigte den Kopf zurück, und Luo kämmte sorgfältig den langen Bart seines Herrn, teilte ihn in der Mitte und flocht ihn mit kundigen Fingern. »Wo hast du den Mann gelassen?« fragte er.
»In der Bibliothek, Herr. Er bat um etwas Wasser.«
»Ah, Wasser!« Matze Chai lächelte. »Ich ziehe mich selbst an. Sei so gut und geh in mein Arbeitszimmer. Im dritten Schrank vom Gartenfenster aus gesehen findest du einige Pergamente, ich glaube, in rotes Papier eingewickelt und mit blauem Band zusammengebunden. Bring sie so rasch wie möglich in die Bibliothek.«
»Soll ich die Wache rufen, Herr?«
»Warum?« fragte Matze Chai. »Sind wir in Gefahr?«
»Er ist ein rauher, gewalttätiger Mann. Ich kenne mich mit solchen Dingen aus.«
»Die Welt ist voll von rauhen, gewalttätigen Männern. Und trotzdem bin ich noch immer reich und in Sicherheit. Mach dir keine Sorgen, Luo. Tu einfach, um was ich dich gebeten habe.«
»Ja, Herr. Rotes Papier. Dritter Schrank vom Fenster.«
»Mit blauem Band umwickelt«, erinnerte Matze Chai ihn. Luo verbeugte sich und verließ rückwärts das Zimmer. Matze Chai streckte sich, stand auf, ging zu seinem Kleiderschrank und wählte ein vorn offenes Gewand aus schimmerndem Purpur, das er in der Taille mit einer goldenen Schärpe gürtelte. In Pantoffeln aus feinstem Samt stieg er die Wendeltreppe hinunter in die langgestreckte, mit kostbaren Teppichen ausgelegte Eingangshalle und von dort in die Bibliothek.
Sein Gast saß auf einem seidenbezogenen Sofa. Er hatte ein schmutziges Sathuligewand und einen Burnus abgelegt; seine Kleider aus schwarzem Leder trugen deutliche Spuren der Reise und waren staubig. Neben ihm lag eine kleine schwarze Armbrust.
»Willkommen in meinem Heim, Dakeyras«, sagte Matze Chai mit einem breiten Lächeln.
Der Mann lächelte zurück. »Ich würde sagen, du hast mein Geld gut angelegt - wenn ich mir die Antiquitäten hier anschaue.«
»Dein Vermögen ist sicher und wächst zusehends«, erklärte Matze. Er setzte sich auf das Sofa gegenüber seinem Gast, nachdem er zuvor das übelriechende Sathuligewand mit spitzen Fingern aufgehoben und zu Boden hatte fallen lassen. »Ich sehe, du reist in Verkleidung.«
»Manchmal ist das ratsam«, erwiderte sein Gast.
Luo erschien mit den Schriftrollen und Kontobüchern. »Leg sie auf den Tisch«, bat Matze. »Oh ... und nimm das hier mit«, fügte er hinzu und berührte die Gewänder mit der Spitze seines Samtpantoffels. »Bereite ein heißes Duftbad im unteren Gästezimmer vor. Schicke nach Ru Lai und sag ihr, daß wir einen Gast haben, der eine Massage mit warmen Ol braucht.«
»Ja, Herr«, antwortete Luo, nahm die Sathulikleider und zog sich zurück.
»Und nun, Dakeyras, möchtest du deine Konten prüfen?«
Der Mann lächelte. »Immer einen Schritt voraus, Matze. Woher wußtest du, daß ich es war?«
»Ein mitternächtlicher Gast, der Luo Angst einjagt und um ein Glas Wasser bittet? Wer sollte das sonst sein? Wie ich hörte, ist wieder mal ein Preis auf deinen Kopf ausgesetzt. Wen hast du jetzt beleidigt?«
»Praktisch jedermann. Aber Karnak hat den Preis ausgesetzt.«
»Dann dürfte es dich freuen zu hören, daß er zur Zeit in den Verliesen in Gulgothir schmachtet.«
»Ich habe davon gehört. Was gibt es hier sonst Neues?«
»Der Preis für Seide ist gestiegen. Und für Gewürze. Du hast Geld in beidem angelegt.«
»Ich habe nicht die Märkte gemeint, Matze. Was gibt es Neues aus Drenai?«
»Die Ventrier hatten einigen Erfolg. Sie haben Skeln gestürmt, wurden aber in Erekban zurückgeschlagen. Doch ohne Karnak werden sie den Krieg mit Sicherheit verlieren. Zur Zeit sind die Feindseligkeiten eingestellt. Die Ventrier halten das Terrain, das sie erobert haben, und eine Gothirarmee lagert in den Delnochbergen. Die Kampfhandlungen sind unterbrochen. Niemand weiß, warum.«
»Ich könnte raten«, sagte der Gast. »In allen drei Lagern befinden sich Ritter der Bruderschaft. Ich glaube, es wird noch ein ganz anderes Spiel gespielt.«
Matze nickte. »Du könntest recht haben, Dakeyras. Zhu Chao hat in den letzten Monaten viel Macht gewonnen. Erst gestern wurde ein Dekret des Kaisers bekanntgegeben, das zwar das kaiserliche Siegel, aber Zhu Chaos Unterschrift trug. Unruhige Zeiten. Aber das sollte das Geschäft nicht beeinträchtigen. Wie kann ich dir helfen?«
»Ich habe einen Feind in Gulgothir, der meinen Tod wünscht.«
»Dann töte ihn.«
»Das habe ich vor. Aber ich brauche Informationen.«
»In Gulgothir ist alles zu haben, mein Freund. Das weißt du. Wer ist... dieser unkluge Mensch?«
»Ein Landsmann von dir, Matze Chai. Wir haben bereits von ihm gesprochen. Er hat hier einen Palast und steht dem Kaiser nahe.«
Matze Chai fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Ich hoffe, das ist nur ein schlechter Scherz.«
Sein Gast schüttelte den Kopf.
»Du weißt, daß sein Heim von Männern und Dämonen bewacht wird und daß er sehr große Macht hat. Er könnte uns selbst jetzt beobachten.«
»Ja, das könnte er. Aber dagegen kann ich nichts machen.«
»Was brauchst du?« fragte Matze Chai.
»Ich brauche einen Grundriß des Palastes und eine ungefähre Angabe über die Zahl der Wachen und ihre Positionen.«
Matze seufzte. »Du verlangst viel, mein Freund. Wenn ich dir helfe und du wirst gefaßt - und gestehst -, dann ist mein Leben verwirkt.«
»Allerdings.«
»Fünfundzwanzigtausend Raq«, sagte Matze Chai.
»Drenai oder Gothir?« erwiderte der Gast.
»Gothir. Der Drenairaq ist in den vergangenen Monaten gefallen.«
»Das ist fast die Summe, die ich bei dir angelegt habe.«
»Nein, mein Freund, das ist genau die Summe, die du bei mir angelegt hast.«
»Deine Freundschaft hat einen hohen Preis, Matze Chai.«
»Ich kenne einen Mann, der mal Mitglied der Bruderschaft war. Aber er wurde allzu süchtig nach Lorassium. Er war einst Hauptmann von Zhu Chaos Wache. Und es gibt noch zwei weitere Männer, die früher dem Herrn dienten, über den wir sprechen, und die Informationen über seine Gewohnheiten geben können.«
»Schicke morgen früh nach ihnen«, sagte Waylander und stand auf. »Jetzt nehme ich das Bad - und die Massage. Oh, noch eine Kleinigkeit. Ehe ich dich aufsuchte, ging ich zu einem anderen Kaufmann, der ebenfalls Geld für mich anlegt. Ich habe einen versiegelten Umschlag mit Anweisungen bei ihm hinterlassen. Wenn ich ihn nicht bis morgen mittag abgeholt habe, wird er ihn öffnen und entsprechend den Anweisungen handeln.«
»Ich verstehe«, sagte Matze mit einem gepreßten Lächeln. »Wir sprechen über den Auftrag, mich zu töten?«
»Ich habe dich immer gemocht, Matze. Du hast einen scharfen Verstand.«
»Deine Maßnahme läßt auf einen gewissen Mangel an Vertrauen schließen«, sagte Matze Chai betrübt.
»Ich traue dir in Gelddingen, mein Freund. Das soll genügen.«
Die Gothir griffen in der Nacht dreimal an. Zweimal versuchten sie, die Mauer zu erstürmen, doch beim drittenmal konzentrierten sie sich auf das Fallgitter. Die Nadir schickten wahre Hagelschauer von Pfeilen in die Reihen der Angreifer, jedoch ohne große Wirkung. Hunderte von Soldaten scharten sich um das Fallgitter und bildeten mit ihren Schilden eine Mauer vor dem verrosteten Eisen, während andere auf die Eisenstangen einhieben und daran sägten.
Orsa Khan, das Halbblut, ließ Lampenöl über die Barrikade aus Karren und Wagen gießen und setzte sie in Brand. Dicker schwarzer Rauch wirbelte um das Tor, so daß die Angreifer zurückgetrieben wurden. Auf den Mauern kämpften Dardalion und die letzten Überlebenden der Dreißig mit den Nadir und wehrten die Angriffe des Feindes ab.
Bei Morgengrauen war der letzte Angriff vorüber, und Dardalion ging zurück durch die Halle, während Vishna und die anderen auf den Wehrgängen blieben. Dardalion versuchte, mit Ekodas Verbindung aufzunehmen, konnte die Mauer der Macht jedoch nicht durchbrechen, die unter der Festung ausstrahlte. Er fand Kesa Khan allein in seinem Zimmer. Der alte Schamane stand an dem schiefen Fenster und starrte über das Tal hinaus.
»Wir haben nur noch drei Tage«, sagte Dardalion.
Kesa Khan zuckte die Achseln. »In drei Tagen kann viel geschehen, Drenai.«
Dardalion schnallte die silberne Brustplatte ab. Dann nahm er seinen Helm ab und setzte sich vor das glühende Kohlebecken auf den Teppich.
Kesa Khan setzte sich zu ihm. »Du bist müde, Priester.«
»Ja«, gab Dardalion zu. »Die Pfade der Zukunft haben mich ausgelaugt.«
»Wie auch mich bei vielen Gelegenheiten. Aber es war die Sache wert, die Zeiten Ulrics zu sehen.«
»Ulric?«
»Der die Stämme eint«, sagte Kesa Khan.
»Ach ja. Der erste, der die Stämme eint. Ich fürchte, ich habe nur wenig Zeit damit verbracht, ihn zu beobachten. Ich war mehr an dem zweiten Mann interessiert. Ein ungewöhnlicher Mann, findest du nicht? Trotz seines gemischten Blutes und seiner gespaltenen Loyalitäten hat er die Nadir zusammengezogen und alles erreicht, was Ulric nicht vollbracht hat.«
Kesa Khan schwieg einen Augenblick. »Kannst du mir diesen Mann zeigen?«
Dardalions Augen wurden schmal. »Aber du hast ihn doch bestimmt gesehen? Er ist der, der die Stämme eint. Der Mann, von dem du sprichst.«
»Nein, das ist er nicht.«
Dardalion seufzte. »Nimm meine Hand, Kesa Khan, und teile meine Erinnerungen.« Der Schamane schloß seine Hand fest um Dardalions. Er schauderte, und seine Gedanken verschwammen. Dardalion konzentrierte sich, und gemeinsam wurden sie Zeuge des Aufstiegs von Ulric Khan, dem Verschmelzen der Stämme; sie sahen die gewaltigen Horden die Steppe überfluten, die Plünderung Gul-gothirs und die erste Belagerung von Dros Delnoch.
Sie sahen, wie der Bronzegraf die Nadir zurückschlug, die Unterzeichnung des Friedensvertrages, die Einhaltung der Bedingungen, die Hochzeit zwischen dem Sohn des Grafen und einer von Ulrics Töchtern, und die Geburl des Kindes Tenaka Khan, der Schattenprinz, der König Jenseits des Tores.
Dardalion spürte, wie Kesa Khans Stolz anschwoll, unmittelbar gefolgt von Verzweiflung. Die Trennung erfolgte abrupt und ließ den Drenai aufstöhnen. Er schlug die Augen auf und sah die Angst in Kesa Khans Gesicht. »Was ist los? Was stimmt nicht?«
»Diese Frau ... Miriel. Von ihr kommt die Linie der Männer, die zu dem Bronzegrafen führt?«
»Ja - ich dachte, das hättest du begriffen? Du wußtest, daß hier ein Kind empfangen würde.«
»Aber doch nicht von ihr, Drenai! Ich wußte nichts von ihr! Die Linie Ulrics beginnt auch hier.«
»Und?«
Kesa Khan atmete flach; sein Gesicht war verzerrt. »Ich ... ich glaubte, Ulric wäre der, der die Stämme eint. Und daß Miriels Nachkommen versuchen würden, ihn in Schach zu halten. Ich ... sie ...«
»Heraus damit, Mann!«
»Da sind Ungeheuer, die den Kristall bewachen. Es waren drei, aber ihr Hunger war groß, und so wandten sie sich gegeneinander. Jetzt gibt es nur noch eins. Zhu Chao schickte Männer her, um mich zu töten. Karnaks Sohn, Bodalen, war einer von ihnen. Der Kristall verschmolz sie.«
»Du konntest die Mauer die ganze Zeit durchbrechen! Was ist das für ein Verrat?« tobte Dardalion.
»Das Mädchen wird dort unten sterben. Es steht geschrieben!« Das Gesicht des Schamanen war bleich; er war schwer getroffen. »Ich habe die Blutlinie dessen, der die Stämme eint, zerstört.«
»Noch nicht«, sagte Dardalion und sprang auf.
Kesa Khan packte den Priester am Arm. »Du verstehst nicht! Ich habe einen Pakt mit Shemak getroffen. Sie wird sterben. Nichts kann das jetzt noch ändern.«
Dardalion riß sich los. »Nichts ist unveränderlich. Und kein Dämon wird mich beherrschen!«
»Wenn ich es ändern könnte, würde ich es tun«, jammerte Kesa Khan. »Der die Stämme eint - er bedeutet mir alles! Aber es muß einen Tod geben. Du kannst ihn nicht aufhalten!«
Dardalion stürmte aus dem Raum, die gewundene Treppe zur Halle hinunter und weiter zu dem Treppenabgang, der zu den unterirdischen Kammern führte. Gerade als er die Dunkelheit betrat, pulsierte Vishna ihn von den Wehrgängen her an: »Die Bruderschaft greift an! Wir brauchen dich, Dardalion!«
»Ich kann nicht!«
»Ohne dich sind wir verloren! Die Festung wird fallen!«
Dardalion schrak vor dem Türdurchgang zurück; seine Gedanken rasten. Hunderte von Frauen und Kindern würden erschlagen, wenn er seinen Posten verließ. Doch wenn er es nicht tat, war Miriel verloren. Er fiel in der Tür auf die Knie, suchte verzweifelt den Weg des Gebets, doch sein Geist war verloren in Gedanken an das kommende Chaos. Eine Hand berührte seine Schulter. Er sah auf. Es war der narbenbedeckte, häßliche Gladiator.
»Bist du krank?« fragte der Mann. Dardalion stand auf und holte tief Luft. Dann erzählte er Angel alles. Das Gesicht des Mannes war grimmig, als er zuhörte. »Ein Tod, sagst du? Aber es muß nicht gerade Miriels Tod sein?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich werde auf der Mauer gebraucht. Ich kann nicht zu ihr gehen.«
»Aber ich«, sagte Angel und zog sein Schwert.