8.
Hewla erhob sich aus dem Korbstuhl und zuckte zusammen, als der Schmerz in ihrer arthritischen Hüfte aufflammte. Das Feuer erlosch allmählich, und sie bückte sich langsam, um ein Scheit auf die glühenden Kohlen zu legen. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da ihr Feuer keinen Brennstoff brauchte. Damals war sie noch nicht gezwungen, durch den Wald zu streifen, um Zweige und Fallholz zu sammeln.
»Ich verfluche dich, Zhu Chao«, flüsterte sie. Doch die Worte machten sie nur noch zorniger, denn einst wäre ein solcher Fluch von schlagenden Dämonenschwingen und den heiseren Schreien der Vanshii begleitet gewesen, die auf ihr Opfer niederstießen.
Wie konntest du nur so dumm sein? fragte sie sich.
Ich war einsam.
Ja, aber jetzt bist du immer noch einsam, und die Bücher der Beschwörungen sind fort.
Sie schauderte und legte ein weiteres dickes Scheit auf die Hammen, die es hungrig verschlangen. Es war nur ein kleiner Trost, daß die Zauberbücher für Zhu Chao praktisch nutzlos waren. Denn die darin enthaltenen Zauber hatten Hewla Leben verliehen, lange nachdem ihre Haut sich hätte zu Staub verwandeln sollen, und sie hatten die tödlichen Schmerzen ihrer entzündeten Glieder in Schach gehalten. Die sechs Bücher von Moray Sen. Unbezahlbar. Sie erinnerte sich an den Tag, als sie ihm die Bücher gezeigt und das Geheimfach hinter dem Kamin geöffnet hatte. Sie hatte ihm damals geglaubt, dem jungen Kiatze. Ihn geliebt. Sie schauderte. Alte Närrin.
Er hatte die Bücher der Beschwörungen gestohlen, für die sie betrogen, getötet, ihre Seele verkauft hatte.
Und jetzt rief die Leere.
Waylander wird ihn töten, dachte sie mit grimmiger Freude.
Im Zimmer wurde es wärmer, und Hewla verspürte endlich ein wenig Wohlbehagen. Dann aber spürte sie einen eisigen Hauch im Kücken. Die alte Frau drehte sich um. Die Wand hinter ihr schimmerte, und ein eiskalter Wind fuhr hindurch und ließ Schriftrollen und Papiere durcheinanderwirbeln. Ein irdener Becher auf dem Tisch wackelte, fiel um und rollte auf den Boden, wo er zerbrach. Der Wind wurde stärker. Hewlas Schal flatterte und fiel vors Feuer, und die alte Frau taumelte vor der Macht des dämonischen Windes.
Eine dunkle Gestalt erschien an der Wand, als Umriß vor den eisigen Flammen.
Hewlas Hand zuckte hoch, und ein strahlendes Licht entströmte ihren Fingern, das den Dämonen umschloß. Der Wind erstarb, aber sie spürte, wie die elementare Macht des Wesens gegen das Licht andrückte. Ein klauenbewehrte Hand drang hindurch. Flammen zuckten um sie herum, und sie wurde zurückgezogen.
Eine flackernde Gestalt erschien zu ihrer Linken, und sie sah, wie sich das Abbild Zhu Chaos formte.
»Ich habe dir einen alten Freund mitgebracht, Hewla«, sagte er.
»Fahr zur Hölle«, zischte sie.
Er lachte sie aus. »Wie ich sehe, hast du einen kümmerlichen Rest deiner Macht behalten. Sag mir, alte Hexe, wie lange kannst du ihn von dir fernhalten? Was glaubst du?«
»Was willst du von mir?«
»Ich kann den ersten der Fünf Zauber nicht beherrschen. Etwas fehlt in den Büchern. Sag es mir, und du sollst leben.«
Wieder fetzte die Klauenhand durch das Licht. Die Hammen versengten sie, aber nicht mehr so kraftvoll wie zuvor. Angst stieg in Hewlas Herz, und wenn sie Zhu Chaos Versprechen geglaubt hätte, hätte sie es ihm vielleicht gesagt. Aber sie glaubte ihm nicht.
»Was fehlt, wirst du niemals erfahren - Mut!« sagte sie. »Du wirst älter werden, deine Kraft wird nachlassen. Und wenn du stirbst, wird deine Seele schreiend in die Leere geschleppt.«
»Du dummes altes Weib«, flüsterte er. »Alle Bücher sprechen von den Mondbergen. Dort liegen die Antworten. Ich werde sie finden.«
Klauen zerrten an dem Licht, und es teilte sich wie ein zerrissener Vorhang. Die dunkle Gestalt ragte drohend im Zimmer auf. So schnell sie konnte, zog Hewla den kleinen Krummdolch aus ihrem Ärmel.
»Ich warte in der Leere auf dich«, versprach sie.
Sie hielt die Klinge unter ihre linke Brust und stieß zu.
Senta saß ruhig auf dem Brunnenrand und beobachtete Waylander und Miriel, die ein Stück entfernt waren. Der Mann hatte seine Hand auf die Schulter des Mädchens gelegt. Sie hielt den Kopf gesenkt. Senta mußte nicht raten, worüber sie sprachen. Er hatte gehört, wie Waylander Angel vom Tod der Schwester Miriels erzählte.
Senta wandte den Blick ab. Seine gebrochene Nase sandte Wellen von Schmerz hinter seinen Augen, und ihm war übel. In den vier jähren in der Arena hatte er nicht solche Schmerzen erlebt. Kleinere Schnittwunden, einmal einen verstauchten Knöchel - mehr hatte der Schwertkämpfer nicht erlitten. Aber diese Kämpfe waren auch durch Regeln bestimmt. Bei einem Mann wie Waylander gab es keine Regeln. Nur das Überleben oder den Tod.
Trotz seiner Schmerzen fühlte sich Senta erleichtert. Er hatte keinen Zweifel, daß er den älteren Mann im Duell getötet hätte, obwohl er es dann immer noch mit Angel zu tun gehabt hätte. Und es hätte ihm leid getan, den alten Gladiator zu töten. Aber, mehr noch, es hätte ihm jede Chance bei Miriel zunichte gemacht.
Miriel...
Ihr erster Blick hatte ihm einen Schock versetzt, und er wußte noch immer nicht, weshalb. Die Adelige, Gilaray, hatte ein schöneres Gesicht. Nexiar hatte eine viel bessere Figur. Suris goldenes Haar und ihre blitzenden Augen waren viel aufreizender. Doch dieses Mädchen aus den Bergen hatte irgend etwas an sich, das seine Sinne betörte. Aber was?
Und warum heiraten? Er konnte kaum glauben, daß er dieses Angebot gemacht hatte. Wie würde sie mit dem Leben in der Stadt zurechtkommen? Er wandte ihr wieder seine Aufmerksamkeit zu, stellte sie sich in einem Gewand aus silbernem Satin vor, das dunkle Haar mit Perlen durchflochten. Er lachte in sich hinein.
»Was macht dir denn so großen Spaß?« fragte Angel, der zu ihm herüberschlenderte.
»Ich habe mir Miriel auf dem Ball des Reichsverwesers vorgestellt, in einem fließenden Gewand, die Messer an die Unterarme geschnallt.«
»Sie ist zu gut für einen wie dich, Senta. Viel zu gut.«
»Das ist Ansichtssache. Möchtest du sie lieber hinter einem Pflug sehen, vor der Zeit gealtert, die Brüste flach wie zwei Gehenkte?«
»Nein«, gab Angel zu, »aber ich möchte sie mit einem Mann sehen, der sie liebt. Sie ist nicht wie Nexiar oder eine von den anderen. Sie ist wie ein Fohlen - flink, geschmeidig, ungezähmt.«
Senta nickte. »Ich glaube, du hast recht.« Er blickte zu dem Gladiator auf. »Wie einfühlsam von dir, mein Freund. Du erstaunst mich.«
»Manchmal staune ich über mich selbst. Zum Beispiel, als ich Waylander bat, dich nicht zu töten. Ich bedauere es fast schon.«
»Nein, tust du nicht«, sagte Senta mit einem leichten Lächeln.
Angel gab eine schroffe, knappe Erwiderung und setzte sich neben den Schwertkämpfer. »Warum mußtest du von Heirat sprechen?«
»Meinst du, ich hätte lieber vorschlagen sollen, mit ihr im Gebüsch zu vögeln?«
»Es wäre ehrlicher gewesen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Senta leise. Ihm wurde bewußt, daß Angel ihn anstarrte, und wurde rot.
»So, so«, sagte Angel. »Daß ich das noch erlebe! Der große Senta - bis über beide Ohren verliebt. Was würde man in Drenan dazu sagen?«
Senta grinste. »Gar nichts. Die ganze Stadt würde in einem Meer von Tränen ertrinken.«
»Ich dachte, du wolltest Nexiar heiraten. Oder war es Suri?«
»Schöne Mädchen«, gab Senta zu.
»Nexiar hätte dich umgebracht. Bei mir hätte sie es fast getan.«
»Ich habe gehört, daß ihr euch einmal nahegestanden habt. Stimmt es, daß sie von deiner Häßlichkeit so abgestoßen war, daß du im Bett deinen Helm tragen mußtest?«
Angel lachte. »Fast. Sie hat eine Samtmaske für mich machen lassen.«
»Ah, ich mag dich, Angel. Ich habe dich immer schon gemocht. Warum hast du Waylander gebeten, mich zu verschonen?«
»Warum hast du ihn nicht getötet, als er sich dir näherte?« entgegnete Angel.
Senta zuckte die Achseln. »Mein Urgroßvater war ein geborener Idiot. Mein Vater war überzeugt, daß ich nach ihm gerate. Ich glaube, er hatte recht.«
»Beantworte meine Frage, verdammt noch mal!«
»Er hatte keine Waffe in der Hand. Ich habe noch nie einen unbewaffneten Mann getötet. Das ist nicht mein Stil. Zufrieden?«
»Ja«, gab Angel zu. Sein Kopf fuhr hoch, die Nasenflügel bebten. Ohne ein Wort marschierte er zurück in die Hütte, um kurz darauf wieder aufzutauchen, das Schwert um die Hüfte geschnallt. Senta hörte Pferdegetrappel, und er löste die Säbel in ihren Scheiden, blieb aber, wo er war, am Brunnen. Belash kam in Sicht. Er trat aus der Tür
der Hütte, das Messer in der rechten Hand, den Wetzstein in der linken. Waylander sagte etwas zu Miriel, und sie verschwand in der Hütte. Dann nahm der schwarzgekleidete Krieger die Doppelarmbrust von dem Haken an seinem Gürtel, spannte rasch die Sehnen und legte zwei Bolzen ein.
Der erste Reiter kam in Sicht. Er trug einen geschlossenen Helm aus schimmerndem schwarzem Metall, eine schwarze Brustplatte und einen blutroten Umhang. Hinter ihm kamen sieben gleich aussehende Krieger, jeder auf einem schwarzen Wallach, von denen keiner weniger als sechzehn Hand hoch war. Senta stand auf und schlenderte zu Waylander und den anderen hinüber.
Die Reiter zügelten ihre Pferde vor der Hütte, so daß sie einen Halbkreis um die wartenden Männer bildeten. Niemand sagte etwas, und Senta spürte, wie er eine Gänsehaut bekam, als er die schwarzen Ritter betrachtete. Man konnte nur ihre Augen sehen, durch schmale rechteckige Schlitze in den schwarzen Helmen. Alle zeigten den gleichen Ausdruck - kalt, abwartend, zuversichtlich.
Schließlich sprach einer von ihnen. Senta konnte nicht sagen, welcher, denn die Stimme wurde vom Helm gedämpft.
»Wer von euch ist der Wolfsschädel Dakeyras?«
»Ich«, antwortete Waylander und sprach den Reiter an, der unmittelbar vor ihm stand.
»Der Meister hat dich zum Tode verurteilt. Es gibt keine Berufung.«
Der Ritter griff mit einer schwarz behandschuhten Hand an sein Schwert und zog es langsam. Waylander wollte die Armbrust heben ~ doch seine Hand erstarrte, die Waffe zeigte immer noch zu Boden. Senta blickte ihn überrascht an und sah, wie sich seine Kiefernmuskeln spannten und das Gesicht rot vor Anstrengung wurde.
Senta zog einen seiner Säbel und bereitete sich darauf vor, die Reiter anzugreifen. Doch als die Klinge aus der Scheide glitt, sah er, wie einer der Reiter ihn anschaute. Er fühlte den kalten Blick des Mannes wie eisiges Wasser. Sentas Glieder erstarrten, ein schrecklicher Druck legte sich auf ihn. Der Säbel hing kraftlos in seiner Hand.
Die schwarzen Ritter stiegen ab, und Senta hörte das leise Klirren von Stahl, als sie ihre Schwerter zogen. Etwas polterte vor seine Füße und rollte davon. Es war der Wetzstein, den Belash in der Hand gehalten hatte.
Er versuchte, sich zu bewegen, doch seine Arme fühlten sich an, als wären sie aus Stein.
Und er sah, wie sich ein schwarzes Schwert auf seine Kehle zubewegte.
In der Hütte nahm Miriel Kreegs Armbrust von der Wand, klappte die Arme auf und drehte sie rasch, um die Sehne zu spannen. Sie wählte einen Bolzen aus, legte ihn ein und eilte wieder zur Tür.
Ein hochgewachsener Ritter trat in die Tür und sperrte das Sonnenlicht aus. Für einen Augenblick erstarrte Miriel. Dann hob sie die Waffe.
»Nein«, flüsterte eine zischende Stimme in ihrem Geist.
Eine schreckliche bleierne Schwere durchströmte ihre Glieder, und sie hatte das Gefühl, als würde ein Strom aus warmem, dunklem Wasser durch die Gänge ihres Verstandes sickern, ihre Seele herauszerren, ihre Erinnerungen auslöschen. Es war ihr beinahe willkommen - ein Ende der Angst und der Sorge, eine Sehnsucht nach der Leere des Todes. Dann flackerte ein helles Licht tief in ihren Gedanken auf und hielt die schwarze Flutwelle warmer Verzweiflung auf. Und sie sah, als Umriß vor dem Licht, den silbernen Krieger, der sie als Kind gerettet hatte.
»Kämpfe gegen sie!« befahl er. »Kämpfe, Miriel. Ich habe die Türen zu deiner Gabe geöffnet. Suche sie! Und lebe!«
Sie blinzelte und versuchte, mit der Armbrust zu zielen, aber sie war so schwer, so schrecklich schwer.
Der schwarze Ritter kam weiter ins Zimmer. »Gib mir die Waffe«, sagte er, die Stimme gedämpft durch den Helm. »Und ich schenke dir Freuden, von denen du noch nicht einmal geträumt hast.« Als er näher kam, sah Miriel Waylander auf den Knien im Staub der Lichtung, ein schwarzes Schwert hoch über seinem Kopf.
»Nein!« schrie sie. Die Armbrust zuckte nach rechts. Sie drückte den bronzenen Auslöser. Der Bolzen sauste durch die Luft, drang in den schwarzen Helm und verschwand darin. Der schwarze Ritter taumelte nach vorn.
Draußen warf sich Waylander, plötzlich von dem Zauber befreit, nach links, als das Schwert herabsauste. Er landete auf der Schulter, rollte sich ab und schoß den ersten Bolzen ab. Das Geschoß traf den Ritter unter der rechten Achselhöhle und drang ihm in die Lunge.
Ein dunkler Schatten fiel über ihn. Waylander warf sich wieder herum - aber nicht schnell genug. Ein schwarzes Schwert zielte auf sein Gesicht. Der Hund sprang über den gefallenen Ritter. Die großen Zähne schlössen sich um das Handgelenk des Schwertkämpfers. Belash machte einen Riesenschritt; dann sprang er den Ritter mit den Füßen voraus an und warf sich auf den Angreifer, stieß ihm sein Messer unter dem Kinnriemen des Helms hindurch ins Gehirn.
Das wütende Knurren des Hundes ließ die Pferde in Panik geraten. Sie stiegen und preschten davon - bis auf einen Wallach.
Erlöst von dem Zauber zog Senta seinen Säbel und wehrte gerade noch den Stich der Klinge ab, die auf seine Kehle zielte. Er parierte einen zweiten Hieb, und mit einer raschen Drehung des Handgelenks landete er einen Gegenhieb auf den gepanzerten Nackenschutz des Mannes. Senta stieß dem Gegner seine Schulter vor die Brust, so daß er taumelnd stürzte. Ein zweiter Mann griff an; aber diesmal wich Senta der zustoßenden Klinge seitlich aus und rammte dem Angreifer seinen Säbel unter dem Helm. Die Spitze glitt durch die weiche Haut unter dem Kinn und in den Mund des Mannes. Der Ritter fiel zurück. Senta verlor den Säbel und zog die zweite Klinge.
Angel stand mit dem Rücken zur Hütte und kämpfte gegen zwei Ritter. Der ehemalige Gladiator wehrte verzweifelt Hieb um Hieb ab. Waylander schoß dem ersten Angreifer einen Bolzen in den Schenkel. Der Mann stöhnte vor Schmerz laut auf und wandte sich halb um. Angels Schwert hämmerte gegen den Helm des Ritters und durchtrennte den Kinnriemen. Der Helm fiel herab, und Waylanders Schwert spaltete dem Mann den Schädel. Angel wich einem Stoß des zweiten Ritters aus, packte den Mann am Arm und schleuderte ihn mit dem Kopf voran gegen die Wand. Dann ließ er sich auf den Rücken des Mannes fallen, packte den Helm und riß ihn heftig nach hinten und zur Seite. Das Genick des Ritters brach mit einem ekelhaften Knacken.
»Paß auf!« rief Senta. Waylander ließ sich auf ein Knie fallen. Eine Schwertklinge zerschnitt die Luft über ihm. Waylander warf sich nach hinten, so daß er gegen seinen Angreifer prallte und den Mann von den Füßen riß. Senta sprang auf den Gestürzten zu. Sein Gegner erhob sich, hieb mit dem Schwert nach ihm. Senta wich aus und rammte dem Mann den Ellbogen gegen den Helm. Der Ritter taumelte. Senta lehnte sich zurück und trat aus. Sein gestiefelter Fuß traf das Knie des Mannes. Das Gelenk gab nach. Der Ritter schrie vor Schmerzen, als er stürzte. Belash warf sich auf den Mann, zerrte den Halsschutz ab und stieß ihm das Messer tief in den Hals.
Miriel, die die Armbrust wieder geladen hatte, trat aus der Hütte. Der letzte Ritter rannte zu dem einen Pferd, das nicht davongejagt war, und packte den Sattelknauf, um sich in den Sattel zu ziehen. Das Pferd stieg und schleifte den Ritter mit sich. Der Hund jagte hinterher. Miriel hob die Armbrust an die Schulter und zielte. Der Bolzen sirrte über die Lichtung und traf den Helm des Mannes. Er klammerte sich noch einige Sekunden am Sattelknauf fest, doch als das Pferd den Hügel erreichte, lösten sich seine Finger, und er fiel zu Boden. Sofort war der Hund bei ihm. Die Zähne zerrten an der Kehle des Toten, waren aber nicht in der Lage, die Kettenpanzerung zu durchdringen. Waylander rief den Hund zu sich, und das Tier sprang über die Lichtung zurück, drängte sich an ihn und rieb sich an seinen Beinen. Langsam legte sich der aufgewirbelte Staub auf der Lich-tung.
Ein Ritter stöhnte, doch Belash sprang hinzu, riß dem Mann den Helm ab und schnitt ihm die Kehle durch. Ein weiterer - derjenige, der zuerst Senta angegriffen hatte - stand auf und rannte zum Wald. Der Hund setzte zu seiner Verfolgung an, doch Waylander rief ihn zurück, und das Tier blieb stehen und starrte seinen Herrn
Miriel drehte langsam die Spannarme der Armbrust. Als die Waffe schußbereit war, ging sie zurück in die Hütte, um einen Bolzen zu holen.
»Er entkommt!« rief Senta.
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Waylander leise.
Miriel erschien wieder und bot Waylander die Armbrust an. Er schüttelte den Kopf. Der Ritter hatte den Hügel erreicht und kletterte den Hang hinauf.
»Denk daran, daß du bergauf schießt«, sagte Waylander.
Miriel nickte. Die Armbrust zuckte hoch, und scheinbar ohne zu zielen, schoß sie den Bolzen ab. Er traf den Ritter tief im Rücken. Er krümmte sich; dann rollte er den Hang hinab. Mit dem blutigen Messer in der Hand rannte Belash zu dem Mann und zerrte ihm den Helm herunter, um ihm den Todesstoß zu versetzen.
»Tot!« rief er den anderen zu.
»Gut geschossen«, sagte Waylander.
»Wer waren diese Männer?« fragte Angel.
»Die Bruderschaft«, erklärte Waylander. »Sie haben mich früher schon gejagt. Zauberer-Ritter.«
Belash kam zu den anderen zurück. Er warf einen Blick auf Miriel. »Verdammt gute Schützin«, sagte er. »Für eine kol-isha«, fügte er nach einer Pause hinzu. »Ich hole die Pferde.« Er steckte sein Messer weg und trabte nach Süden.
Miriel ließ die Armbrust fallen und rieb sich die Augen. Sie konnte das zornige Summen von Insekten ringsum hören, doch sie konnte nichts sehen. Sie versuchte, sich auf die Geräusche zu konzentrieren, sie voneinander zu trennen.
»... tu das ... Hexe ... Mächte ... Bruderschaft ... Kai... Schmerz ... Entkommen ... Durmast... Danyal ...« Und sie erkannte, daß sie die bruchstückhaften Gedanken der Männer um sie herum vernahm. Belash hielt sie für besessen; Waylander erlebte noch einmal seinen letzten Kampf mit der Bruderschaft, bei dem der Riese Durmast gestorben war, um ihn zu retten. Senta starrte sie an; seine Leidenschaft war erregt. Sie spürte Angel hinter sich, und eine Woge von Gefühlen überschwemmte sie, warm, beschützend und stark. Angels Hand berührte ihre Schulter.
»Mach dir keine Sorgen. Ich bin nicht verletzt«, sagte sie. Sie spürte seine Verwirrung und drehte sich zu ihm um. »Erinnerst du dich an meine Gabe, Angel?«
»Ja.«
»Sie ist wieder da!«
>Du hast sehr mächtige Feinde«, sagte Senta, während Waylander seine Bolzen von den beiden toten Rittern zurückholte.
»Ich lebe noch«, erklärte Waylander mit Nachdruck und ging an ihm vorbei zur Hütte, wo er in dem tiefen Ledersessel niedersank. Sein Kopf dröhnte. Er rieb sich die Augen, doch es brachte keine Erleichterung. Miriel kam zu ihm.
»Laß mich dir helfen«, sagte sie leise. Ihre Hand berührte seinen Nacken. Sofort verschwand aller Schmerz. Er seufzte., und seine dunklen Augen begegneten ihrem Blick.
»Du hast uns gerettet. Du hast ihren Zauber gebrochen.«
»Ich brach ihre Konzentration, als ich den Anführer tötete«, sagte
Miriel. Sie kniete vor ihm nieder; ihre Hände ruhten auf seinen Knien.
»Warum hast du mich angelogen?« fragte sie.
»Wieso angelogen?« erwiderte er, ohne sie anzusehen.
»Du sagtest, wir gingen nach Norden, um den Kopfgeldjägern zu entkommen.«
»Das tun wir auch.«
»Nein. Du suchst Bodalen. Hewla hat dir gesagt, wo du ihn finden kannst.«
»Was weißt du noch?« fragte er mißtrauisch.
»Zu viel«, antwortete sie.
Er seufzte. »Du hast deine Gabe wiedererlangt. Ich dachte, sie wäre für immer fort.«
»Der Mann, der sie gestohlen hatte, hat sie mir zurückgegeben. Erinnerst du dich, als Mutter starb und du anfingst, dich mit starkem Wein zu betrinken? Und wie du eines Morgens aufgewacht bist, und es waren Blutflecken auf der Lichtung und ein flaches Grab mit zwei Leichnamen? Du dachtest, du hättest die beiden getötet, als du betrunken warst. Du konntest dich nicht erinnern. Du hast Krylla und mich nach ihnen ausgefragt. Wir sagten, wir wüßten nichts. Und wir wußten auch nichts. Es war dein Freund, Dardalion. Die Männer waren gekommen, um uns zu fangen, vielleicht sogar zu töten, weil wir die Gabe hatten. Dardalion hielt sie auf - er tötete sie mit deiner Armbrust.«
»Er hatte geschworen, nie wieder zu töten«, flüsterte Waylander.
»Er hatte keine Wahl. Du warst betrunken und bewußtlos, und die Waffe trägt soviel Tod und Gewalt in sich, daß es ihn mitgerissen hat.«
Waylander ließ den Kopf hängen. Er wollte nichts mehr hören, konnte sie aber auch nicht bitten, aufzuhören.
»Er verschloß unsere Gabe. Und er nahm uns die Erinnerungen an die Dämonen und den Mann, der versuchte, unsere Seelen zu fangen. Er tat es, um uns zu schützen.«
»Aber jetzt erinnerst du dich wieder an alles?«
»Ja.«
»Ich habe mein Bestes getan, Miriel... lies meine Gedanken ... mein Leben nicht.«
»Es ist zu spät.«
Er nickte und stand auf. »Dann verachte mich nicht zu sehr.«
»Oh, Vater!« Sie trat vor und umarmte ihn. »Wie könnte ich dich verachten? Ich liebe dich. Immer schon.«
Erleichterung spülte über ihn hinweg, und er schloß die Augen, während er sie festhielt. »Ich wollte, daß du glücklich wirst - wie Krylla. Ich wollte ein schönes Leben für dich.«
»Ich hatte ein schönes Leben. Und ich war glücklich«, sagte Miriel. Sie zog sich zurück und lächelte und strich ihm über die Wange. »Die Rucksäcke sind gepackt. Wir sollten aufbrechen.«
Sie schloß die Augen. »Belash hat die Pferde gefunden und wird bald hiersein.«
Er nahm sie bei den Schultern und zog sie noch einmal an sich. »Du könntest mit Angel nach Süden reiten«, sagte er. »Ich habe Geld in Drenan.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du brauchst mich.«
»Ich möchte nicht, daß du ... verletzt wirst.«
»Alle Menschen sterben, Vater«, sagte sie. »Aber das ist kein privater Krieg zwischen dir und Karnak mehr. Ich frage mich, ob er das je war.«
»Was ist es dann?«
»Ich weiß es noch nicht, aber Karnak hat die Bruderschaft nicht geschickt. Als ich den letzten Krieger tötete, hatte er ein Bild vor Augen. Er dachte an einen großen Mann mit schwarzem Haar, das mit Öl an den Kopf geklebt ist. Schräge Augen, lange Purpurgewänder. Er war es, der sie geschickt hat. Und er ist derselbe Mann, der versucht hat, Krylla und mich zu töten - der Mann, der die Dämonen herbeigerufen hatte.«
»Woher kamen die Dunklen Ritter?«
»Aus Dros Delnoch, und vorher aus Gulgothir.«
»Dann liegen dort die Antworten«, sagte Waylander.
»Ja«, stimmte sie ihm traurig zu.
Angel beobachtete, wie der Nadir die fünf Pferde über die Lichtung führte. Abscheulicher kleiner Wilder, dachte er. Alles an Belash verursachte ihm Übelkeit: die schrägstehenden, seelenlosen Augen, der grausame Mund, seine barbarische Art zu töten. Es verursachte Angel eine Gänsehaut. Er warf einen Blick nach Norden zu den fernen Bergen. Dahinter vermehrten sich die Nadir wie Läuse, lebten ihr kurzes, gewalttätiges Leben in einem blutigen Krieg nach dem
anderen. Es hatte noch nie einen Dichter unter den Nadir gegeben, oder einen Maler oder einen Bildhauer. Und den würde es auch nie geben. Was für ein elendes Volk! dachte Angel.
»Er ist gut mit dem Messer«, stellte Senta fest.
»Er ist ein Nadirbastard«, knurrte Angel.
»Ich dachte, deine erste Frau wäre eine halbe Nadir gewesen?«
»War sie nicht!« fuhr Angel auf. »Sie war eine ... Kiatze. Sie sind anders. Die Nadir sind nicht menschlich. Sie sind Teufel, alle miteinander.«
»Aber geschickte Kämpfer.«
»Rede von etwas anderem!« verlangte Angel.
Senta kicherte. »Woher wußtest du, daß sie kamen? Du gingst, um dein Schwert zu holen.«
Angel runzelte die Stirn. Dann lächelte er; seine Stimmung besserte sich. »Ich roch Pferdemist - der Wind kam aus Süden. Ich dachte mir, es könnten noch mehr Kopfgeldjäger kommen. Ich wünschte, sie wären es gewesen. Bei allen Göttern, hatte ich eine Angst, als der Zauberer auf mich fiel. Ich habe es noch immer nicht verwunden. Einfach dazustehen, unfähig, mich zu rühren, während ein Kerl mit gezogenem Schwert auf mich zukommt...« Er schauderte. »Es war wie in meinen schlimmsten Alpträumen.«
»Ich möchte das auch nicht gern noch einmal erleben«, gestand Senta. »Waylander sagte, es war die Bruderschaft. Ich dachte, sie wäre in den Vagrischen Kämpfen ausgemerzt worden.«
Angels helle Augen schweiften prüfend über die Toten hinweg. »Nun, offensichtlich war das nicht der Fall.«
»Was weißt du über sie?«
»Herzlich wenig. Es gibt Legenden über einen Zauberer, der den Orden gegründet hat, aber mir fällt weder sein Name ein, noch wo der Orden entstand. In Ventria, glaube ich. Oder weiter im Osten? Sie hießen mal die Blut-Ritter, wegen der Opferungen. Oder waren es die Roten Ritter?«
»Vergiß es, Angel. >Herzlich wenig, war wohl zutreffend.«
»Ich war nie gut in Geschichte.«
Belash kam zu ihnen. »Sie heißen die Ritter des Blutes«, sagte er. »Der erste ihrer Tempel wurde vor dreihundert Jahren in Kiatze errichtet, gegründet von einem Zauberer namens Zhi Zhen. Sie wu -den sehr mächtig und versuchten, den Kaiser zu stürzen. Nach vielen Schlachten wurde Zhi Zhen gefangengenommen und auf einem goldenen Pfahl gepfählt. Aber der Orden starb nicht aus. Er breitete sich nach Westen aus. Der vagrische General Kaem setzte bei der Belagerung von Dros Purdol Priester der Bruderschaft ein. Jetzt haben sie sich in Gothir neu formiert, unter einem Zauberer namens Zhu Chao.«
»Du bist gut informiert«, sagte Senta.
»Einer von ihnen hat meinen Vater getötet.«
»Na, sie können ja nicht alle schlecht sein«, meinte Angel. Belash verharrte einen Moment reglos, das flache Gesicht ausdruckslos, die dunklen Augen starr auf Angels Gesicht gerichtet. Dann nickte er langsam lind ging davon.
»Das hättest du nicht sagen dürfen«, tadelte Senta ihn.
»Ich mag ihn nicht.«
»Das ist keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen, Angel. Beleidige die Lebenden, nicht die Toten.«
»Ich sage, was ich denke«, brummte Angel. Doch er wußte, daß Senta recht hatte, und die Beleidigung hinterließ einen bitteren Geschmack in seinem Mund.
»Warum haßt du sie so?«
»Ich habe einmal ein Massaker mit angesehen. Neunzig Kilometer nördlich vom Delnochpaß. Mein Vater und ich waren auf der Rückreise von Namib. Wir waren in den Bergen, und wir sahen, wie die Nadir einen Wagenkonvoi angriffen. Ich werde es nie vergessen. Die Folterungen zogen sich bis tief in die Nacht hinein. Wir stahlen uns davon, aber die Schreie verfolgten uns. Sie verfolgen mich noch heute.«
»Ich habe eine Zeitlang in Gulgothir gelebt«, sagte Senta. »Ich habe Verwandte dort, und wir sind oft auf die Jagd gegangen. Eines Tages, im Hochsommer, entdeckten die Jäger drei Nadirjungen, die an einem Bach entlanggingen. Der Jagdmeister rief etwas, und die Reiter fielen in Galopp und spießten zwei der Jungen auf, die einfach nur dastanden. Der dritte lief davon. Er wurde gejagt und oft getroffen. Nicht genug, um ihn zu Fall zu bringen, aber genug, um ihn weiterlaufen zu lassen. Schließlich stürzte er zu Boden, erschöpft und - wie ich vermute - sterbend. Die Jäger, allesamt adelige Gothir, sprangen von ihren Pferden und hackten ihn in Stücke. Dann schnitten sie ihm die Ohren als Trophäen ab.«
»Und was ist die Moral von der Geschichte?« fragte Angel.
»Barbarei gebiert Barbarei«, antwortete Senta.
»Das ist die Predigt des Tages, was?«
»Himmel, bist du in schlechter Verfassung, Angel. Ich lasse dich allein, damit du sie für dich genießen kannst.«
Angel schwieg, als Senta zurück in die Hütte ging. Bald würden sie nach Norden reiten. Ins Land der Nadir. Angels Mund war trocken, und die Flammen der Angst loderten in seinem Innern auf.