Kapitel 21

Am nächsten Tag fuhr ich mit Bob zu Wal-Mart, um ihm etwas zum Anziehen zu kaufen. Amelia hatte ihm Geld in die Hand gedrückt, und der junge Zauberer hatte es angenommen, weil ihm überhaupt nichts anderes übrig blieb. Er konnte es gar nicht erwarten, von Amelia wegzukommen. Was ihm wahrhaft nicht zu verdenken war.

Auf dem Weg in die Stadt blinzelte Bob ganz benommen in die Umgebung. Wir hatten den Laden kaum betreten, da lief er schon zum nächstbesten Gang und rieb seinen Kopf an der Wand. Ich lächelte munter, als ich Marcia Albanese sah, eine wohlhabende ältere Dame, die im Schulvorstand war. Wir hatten uns seit Halleighs Junggesellinnenabschied nicht mehr getroffen.

»Haben Sie einen neuen Freund?«, fragte Marcia, die nicht nur sehr gesellig, sondern auch sehr neugierig war. Sie fragte nicht nach dem Kopfreiben, wofür sie bei mir auf ewig einen Stein im Brett haben würde.

»Marcia, das ist Bob Jessup, ein Besuch von auswärts«, sagte ich und wünschte, ich hätte irgendeine Geschichte vorbereitet. Bob nickte Marcia mit weit aufgerissenen Augen an und streckte die Hand aus. Wenigstens stupste er sie nicht mit dem Kopf, um von ihr hinter den Ohren gekrault zu werden. Marcia schüttelte ihm die Hand und sagte Bob, dass sie sich freue, ihn kennenzulernen.

»Danke, ganz meinerseits«, erwiderte Bob. Oh, ein Glück, er klang richtig normal.

»Bleiben Sie länger in Bon Temps, Bob?«, fragte Marcia.

»Oh Gott, nein«, sagte er. »Entschuldigen Sie mich, ich muss mir ein Paar Schuhe kaufen.« Und dann ging er (weich und geschmeidig) zur Herrenabteilung, in den hellgrünen Flip-Flops, die Amelia ihm gegeben hatte und die ihm viel zu klein waren.

Marcia staunte nicht schlecht, aber mir fiel leider keine einzige gute Erklärung ein. »Bis bald mal«, sagte ich und folgte Bob, der sich Sneakers, Socken, zwei Hosen, zwei T-Shirts und eine Jacke sowie Unterwäsche kaufte. Ich fragte ihn, was er gern essen würde, und er wollte wissen, ob ich Lachskroketten machen könne.

»Aber sicher.« Ich war froh, dass er sich für ein so einfaches Gericht entschieden hatte, und den Lachs kaufte er gleich selbst. Außerdem wollte er Schokoladenpudding, was auch kein Problem für mich war. Alle anderen Entscheidungen überließ er mir.

Wir aßen früh zu Abend an diesem Tag, weil ich noch in die Arbeit musste, und Bob schienen die Kroketten und der Pudding richtig gut zu schmecken. Jetzt sah er schon viel besser aus, nach einer Dusche und in den neuen Sachen. Er sprach sogar mit Amelia. Dem Gespräch entnahm ich, dass sie mit ihm auf die Webseiten über Katrina und die Überlebenden des Hurrikans gegangen war und er Kontakt zum Roten Kreuz aufgenommen hatte. Bob war in der Familie seiner Tante aufgewachsen, die im Süden von Mississippi in Bay Saint Louis gewohnt hatte, das völlig zerstört worden war, als der heranziehende Sturm dort als Hurrikan auf Land traf.

»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte ich ihn. Mittlerweile hatte er ja schon eine Weile Zeit zum Nachdenken gehabt.

»Ich muss hinfahren«, sagte er. »Ich will wissen, was aus meinem Apartment in New Orleans geworden ist, aber meine Familie ist natürlich erst mal am wichtigsten.

Und ich muss mir eine Erklärung ausdenken, wo ich war und warum ich mich nicht gemeldet habe.«

Wir alle schwiegen. Das war eine schwierige Sache.

»Du könntest ihnen erzählen, dass eine böse Hexe dich verzaubert hat«, sagte Amelia bedrückt.

Bob schnaubte. »Das würden sie vielleicht sogar glauben«, sagte er. »Sie wissen, dass ich irgendwie anders bin. Aber sie werden sich trotzdem wundern, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Vielleicht erzähle ich ihnen, dass ich mein Gedächtnis verloren hatte. Oder dass ich in Las Vegas war und geheiratet habe.«

»Hatten Sie vor Katrina denn regelmäßig Kontakt zu Ihrer Familie?«, fragte ich.

Er zuckte die Achseln. »Alle paar Wochen mal. So nahe stehen wir uns nicht. Aber nach Katrina hätte ich mich auf jeden Fall gemeldet. Ich liebe sie.« Er wandte den Blick ab.

Eine Weile spielten wir mit Ideen herum, doch es gab einfach keinen glaubwürdigen Grund dafür, warum er sich so lange nicht hätte melden sollen. Amelia sagte, sie würde Bob das Busticket nach Hattiesburg bezahlen, damit er von dort in das am schlimmsten betroffene Gebiet weiterfahren und nach seiner Familie suchen konnte.

Amelia versuchte, ihr schlechtes Gewissen Bob gegenüber mit Geld zu beruhigen. Ich hatte kein Problem damit. Das sollte sie ruhig tun. Dann hatte Bob zumindest eine Chance, seine Verwandten zu finden oder zu erfahren, was aus ihnen geworden war und wo sie jetzt lebten.

Als ich schließlich aufbrach, stand ich noch ein, zwei Minuten in der Küchentür und betrachtete die drei. Was hatte Amelia eigentlich in Bob gesehen, fragte ich mich, das sie mit solcher Macht zu ihm hinzog. Bob war dünn und nicht besonders groß, und sein rabenschwarzes Haar lag glatt am Kopf an. Amelia hatte seine Brille ausgegraben, eine mit dicken Gläsern und hässlichem schwarzem Gestell. Ich hatte Bob splitterfasernackt gesehen und natürlich bemerkt, dass Mutter Natur ihn in gewisser Hinsicht sehr gut bestückt hatte. Aber das allein konnte Amelias wilde Sexeskapaden mit diesem langweiligen Strebertyp doch wohl nicht erklären.

Und dann lachte Bob zum ersten Mal, seit er wieder ein Mensch war, und da sah ich es. Bob hatte weiße, ebenmäßige Zähne und volle Lippen, und wenn er lächelte, umspielte ein wissender, leicht süffisanter Zug seinen Mund, der ihn sehr sexy und intellektuell erscheinen ließ.

Wieder ein Geheimnis gelüftet.

Da Bob schon weg sein würde, wenn ich aus der Arbeit kam, verabschiedete ich mich von ihm. Ich würde ihn sicher nie wiedersehen, sofern er nicht beschloss, eines Tages nach Bon Temps zurückzukehren und sich doch noch an Amelia zu rächen.

Auf dem Weg in die Stadt überlegte ich, ob wir uns nicht eine richtige Katze anschaffen sollten. Schließlich hatten wir bereits ein Katzenklo und auch genug Katzenfutter. In ein paar Tagen würde ich Amelia und Octavia mal darauf ansprechen. Bis dahin hatten sie sich hoffentlich wieder über Bobs Katzenschicksal beruhigt.

Alcide Herveaux saß am Tresen und unterhielt sich mit Sam, als ich zur Arbeit ins Merlotte's kam. Seltsam, er schon wieder. Eine Sekunde lang blieb ich stehen, ging dann aber weiter und nickte ihm nur kurz zu. Ich winkte Holly und gab ihr zu verstehen, dass ich jetzt übernehmen würde, und sie hielt einen Finger hoch. Holly musste sich also noch um die Rechnung eines Gastes kümmern, dann war sie fertig. Eine Frau begrüßte mich, ein Mann rief mir ein Hallo zu, und ich fühlte mich gleich richtig wohl. Das hier war mein Platz, mein zweites Zuhause.

Jasper Voss orderte noch eine Cola-Rum, Catfish ein paar Biere für sich, seine Frau und ein anderes Ehepaar, und Jane Bodehouse, eine unserer Alkoholikerinnen, wollte Essen bestellen. Ihr sei egal was, sagte Jane, also schrieb ich frittierte Hühnchenstreifen im Korb für sie auf. Es kam selten vor, dass sie überhaupt etwas aß, und ich hoffte, sie würde wenigstens die Hälfte schaffen. Jane saß am einen Ende des Tresens, und Sam gab mir vom anderen mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass ich zu ihm und Alcide kommen solle. Ich gab erst noch Janes Essensbestellung an die Küche weiter, dann ging ich zögernd zu ihnen.

»Sookie«, sagte Alcide und grüßte mich mit einem Nicken. »Ich bin hier, um mich bei Sam zu bedanken.«

»Gut so«, sagte ich ganz offen.

Alcide nickte, ohne mir in die Augen zu blicken.

Nach einem Augenblick sagte der neue Leitwolf: »Jetzt wird es keiner mehr wagen, in unser Revier einzudringen. Wären wir durch Priscillas plötzlichen Angriff nicht alle gemeinsam als Rudel in Gefahr geraten, hätte sie uns sicher weiter spalten und gegeneinander aufhetzen können, bis wir uns gegenseitig umgebracht hätten.«

»Sie ist eben durchgedreht, und ihr hattet Glück«, sagte ich.

»Wir waren wegen dir zusammengekommen, wegen deines Talents«, erwiderte Alcide. »Du wirst immer eine Freundin des Rudels sein, Sookie. Und Sam auch. Wendet euch an uns, wenn ihr Hilfe braucht, jederzeit, überall, wir werden immer für euch da sein.« Er nickte Sam zu, legte etwas Geld auf den Tresen und verließ das Merlotte's.

»Gar nicht schlecht, wenn man so was in der Hinterhand hat, was?«, meinte Sam lächelnd.

Jetzt musste auch ich lächeln. »Ja, ein gutes Gefühl.« Mich durchflutete auf einmal richtig gute Laune. Ein Blick zur Tür verriet mir den Grund. Eric kam herein, mit Pam an seiner Seite. Sie setzten sich an einen meiner Tische, und ich ging zu ihnen. Ich war neugierig, aber irgendwie auch entnervt. Konnten sie nicht einfach mal wegbleiben? Mich in Ruhe lassen?

Sie bestellten beide TrueBlood, und nachdem ich Jane ihre Hühnchenstreifen serviert hatte und Sam die Flaschen in der Mikrowelle angewärmt hatte, ging ich wieder an ihren Tisch. Ihre Anwesenheit hätte keinen Wirbel verursacht, wenn an diesem Abend nicht Arlene und ihre beiden Freunde in der Bar gewesen wären.

Sie höhnten auf unmissverständliche Weise, als ich Pam und Eric die Flaschen auf den Tisch stellte. Und es fiel mir schwer, meine Kellnerruhe zu bewahren, während ich die beiden Vampire fragte, ob sie Gläser für ihre Getränke wollten.

»Ich trinke aus der Flasche«, sagte Eric. »Könnte sein, dass ich sie brauche, um noch jemandem den Schädel einzuschlagen.«

So, wie ich Erics gute Laune spürte, empfand Eric meine Beunruhigung.

»Nein, nein, nein«, flüsterte ich, damit mich die anderen nicht hören konnten. »Seid bitte friedlich. Wir haben schon genug Krieg und Tote gehabt.«

»Ja«, stimmte Pam zu. »Heben wir uns das Töten für später auf.«

»Ich freue mich ja, dass ihr hier seid, aber ich habe viel zu tun heute Abend«, sagte ich. »Wollt ihr nur mal andere Bars besuchen, um neue Ideen fürs Fangtasia zu kriegen, oder kann ich etwas für euch tun?«

»Wir können etwas für dich tun.« Pam lächelte die beiden Kerle mit den T-Shirts der Bruderschaft der Sonne an, und da sie ein klein wenig wütend war, sah man ihre Fangzähne. Ich hoffte, dass dieser Anblick die beiden einschüchtern würde, doch weil sie Arschlöcher ohne einen Funken Verstand waren, stachelte es ihren Eifer nur an. Pam trank ihr Blut aus und leckte sich genüsslich über die Lippen.

»Pam«, presste ich zwischen den Zähnen hervor. »Herrgott, mach's doch nicht noch schlimmer.«

Pam lächelte mich flirtend an, nur um noch eins draufzusetzen.

Eric sagte: »Pam«, und sofort schwand alle Provokation, auch wenn Pam ein wenig enttäuscht wirkte. Sie setzte sich aufrechter hin, faltete die Hände im Schoß und kreuzte die Beine an den Knöcheln. Keiner hätte unschuldiger oder sittsamer aussehen können.

»Danke«, sagte Eric. »Liebes - ich meine dich, Sookie -, Felipe de Castro ist so beeindruckt von dir, dass er uns angewiesen hat, dir offiziell unseren Schutz anzubieten. Das ist eine Anweisung, die nur der König erteilen kann, und es ist ein bindender Pakt. Du hast ihm einen solchen Dienst erwiesen, dass er darin die einzige Möglichkeit sieht, seine Schuld zu begleichen.«

»Dann ist das also eine große Sache?«

»Ja, Liebes, eine sehr große Sache. Es bedeutet, dass wir verpflichtet sind, dir unter Einsatz unseres eigenen Lebens zu helfen, wenn du uns um Hilfe bittest. So ein Versprechen geben Vampire nicht oft, da uns unser Leben immer lieber wird, je länger wir leben. Auch wenn man annehmen könnte, dass es gerade andersherum wäre.«

»Ab und zu gibt es auch mal einen, der nach einem langen Leben in die Sonne treten will«, sagte Pam, als wollte sie die Dinge ein wenig zurechtrücken.

»Ja«, meinte Eric stirnrunzelnd. »Ab und zu. Aber der König erweist dir damit eine große Ehre, Sookie.«

»Wirklich sehr nett von euch, dass ihr diese Nachricht persönlich überbracht habt, Eric, Pam.«

»Natürlich hatte ich auch gehofft, die schöne Amelia hier anzutreffen.« Pam lächelte leicht anzüglich. Vielleicht war ihre Affäre mit Amelia doch nicht allein Erics Idee gewesen.

Ich lachte laut auf. »Oh, die hat heute Abend über eine ganze Menge nachzudenken.«

Da meine Gedanken um das Schutzangebot der Vampire kreisten, hatte ich nicht bemerkt, dass der kleinere der beiden Sonnenbrüder sich uns näherte. Jetzt lief er so dicht an mir vorbei, dass er mich an der Schulter anrempelte und absichtlich zur Seite stieß. Ich taumelte, ehe ich mein Gleichgewicht wiedergewann. Nicht jeder in der Bar hatte es mitbekommen, doch ein paar der Stammgäste schon. Sam kam hinter dem Tresen hervor, und Eric war bereits aufgestanden, als ich mich umdrehte und dem Arschloch mit aller Kraft mein Tablett auf den Kopf donnerte.

Jetzt taumelte er selbst ein bisschen.

Wer den Vorfall mitbekommen hatte, applaudierte. »Richtig so, Sookie!«, rief Catfish. »Hey, du Wichser, lass die Kellnerin in Ruhe!«

Arlene war vor Wut rot angelaufen und explodierte fast. Sam ging zu ihr und murmelte ihr etwas ins Ohr. Jetzt wurde sie sogar knallrot und starrte ihn finster an, hielt aber den Mund. Der größere Sonnenbruder trat zu seinem Kumpel und verließ mit ihm zusammen die Bar. Keiner der beiden sagte ein Wort (keine Ahnung, ob der Kleine überhaupt sprechen konnte), aber sie hätten genauso gut »Ihr werdet noch von uns hören« auf die Stirn tätowiert haben können.

Okay, der Schutz der Vampire und mein Status als Freundin des Rudels könnten vielleicht nützlich sein.

Eric und Pam tranken noch eine Flasche TrueBlood und blieben noch eine Weile, um zu zeigen, dass sie sich hier willkommen fühlten und sich nicht von diesen Sonnenbrüdern vertreiben ließen. Eric gab mir einen Zwanziger Trinkgeld und warf mir eine Kusshand zu, als er und Pam schließlich gingen, was mir einen extrafinsteren Blick meiner einstigen Freundin Arlene einbrachte.

Den restlichen Abend hatte ich zu viel zu tun, um auch nur über eines der interessanten Ereignisse dieses Tages nachzudenken. Als auch die letzten Gäste gegangen waren, sogar Jane Bodehouse (ihr Sohn kam sie holen), packten wir die Halloween-Dekoration aus. Sam hatte für jeden Tisch einen kleinen Kürbis gekauft und ein Gesicht darauf gemalt. Ich bewunderte sie, denn die Gesichter waren wirklich toll, und einige ähnelten manchen Stammgästen. Eines glich sogar dem meines lieben Bruders.

»Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so was kannst«, sagte ich, und Sam freute sich.

»Hat Spaß gemacht«, erwiderte er und hängte eine lange Girlande aus Herbstlaub (die Blätter waren natürlich aus Stoff) um den Barspiegel und drapierte sie auch um einige der Flaschen. Ich stellte ein lebensgroßes Pappskelett auf, das man mithilfe kleiner Nieten an den Gelenken bewegen konnte. Und so machte ich aus dem klapprigen Pappkameraden einen, der tanzte. Wir konnten hier im Merlotte's keine traurigen Skelette gebrauchen, nur glückliche.

Sogar Arlene packte ein paar Sachen aus, denn das war mal etwas anderes und machte richtig Spaß. Auch wenn wir dafür ein bisschen länger bleiben mussten.

Ich war wirklich reif fürs Bett, als ich schließlich Sam und Arlene gute Nacht sagte. Arlene antwortete zwar nicht, warf mir aber auch keinen ihrer angewiderten Blicke zu, mit denen sie mich gewöhnlich bedachte.

Doch mein Tag war natürlich noch nicht vorüber.

Mein Urgroßvater saß auf der vorderen Veranda, als ich nach Hause kam. Es wirkte sehr befremdlich, wie er da in dem seltsamen Zwielicht der Nacht, das die Außenbeleuchtung in der Dunkelheit schuf, im Schaukelstuhl wippte. Einen Augenblick lang wünschte ich, ich wäre genauso schön wie er. Dann musste ich über mich selbst lächeln.

Ich parkte das Auto vor dem Haus, stieg aus und bemühte mich, die Stufen zur Veranda leise hinaufzusteigen, damit Amelia nicht aufwachte. Ihr Schlafzimmer ging nach vorne raus. Im Haus war alles dunkel, die beiden Hexen lagen also bereits im Bett, falls sie nicht am Busbahnhof aufgehalten worden waren, als sie Bob dort absetzten.

»Urgroßvater, wie schön dich zu sehen.«

»Du siehst müde aus, Sookie.«

»Na ja, ich komme gerade von der Arbeit.« Ob er wohl selbst je müde wurde, fragte ich mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Elfenprinz Holz hackte oder das Leck in einer Wasserleitung suchte.

»Ich wollte dich sehen«, sagte Niall. »Ist dir etwas eingefallen, das ich für dich tun kann?« Er klang äußerst erwartungsvoll.

Was für ein Abend, dauernd wollten mir die Leute etwas Gutes tun. Warum gab es solche Abende nicht öfter?

Ich dachte einen Augenblick nach. Die Werwölfe hatten auf ihre eigene Weise Frieden geschlossen. Quinn war wieder aufgetaucht. Die Vampire hatten sich mit einem neuen König arrangiert. Die Fanatiker der Bruderschaft waren ohne größere Schwierigkeiten aus dem Merlotte's abgezogen. Bob war wieder ein Mensch. Und Niall hatte vermutlich nicht vor, Octavia ein Zimmer in seinem Haus anzubieten, wo immer das auch sein mochte. Wohl in einem rauschenden Bach oder unter einer alten Eiche irgendwo tief im Wald.

»Ja, es gibt da etwas«, sagte ich, überrascht, dass es mir nicht früher eingefallen war.

»Was denn?«, fragte er sogleich erfreut.

»Ich würde gern wissen, wo ein gewisser Remy Savoy zu finden ist. Er hat New Orleans wahrscheinlich während Katrina verlassen. Und er hat ein kleines Kind bei sich.« Ich gab meinem Urgroßvater Savoys letzte bekannte Adresse.

Niall wirkte zuversichtlich. »Ich finde ihn für dich, Sookie.«

»Wie schön.«

»Und sonst? Nichts weiter?«

»Ich... auch wenn das sehr undankbar klingen mag... ich verstehe einfach nicht, warum du so unbedingt etwas für mich tun willst.«

»Warum nicht? Du bist meine einzige lebende Verwandte.«

»Aber du scheinst doch auch die ersten siebenundzwanzig Jahre meines Lebens ohne mich sehr zufrieden gewesen zu sein.«

»Mein Sohn hat mir den Kontakt mit dir verboten.«

»Das hast du mir schon erzählt, aber ich verstehe es nicht. Warum? Er hat sich mir nie gezeigt, mich nie wissen lassen, dass er sich um mich sorgt. Nie hat er ...« Mit mir Scrabble gespielt, mir Geburtstagsgeschenke gemacht, mir zum Schulabschlussball eine Limousine gemietet, mir ein hübsches Kleid geschenkt, mich in die Arme genommen, wenn ich wieder einmal geweint habe (es ist nicht leicht, mit telepathischem Talent aufzuwachsen). Er hatte mich nicht vor dem Missbrauch durch meinen Großonkel geschützt oder meine Eltern aus der Überflutung gerettet, in der sie ertranken (dabei war mein Vater sein Sohn), oder den Vampir davon abgehalten, mein Haus in Brand zu setzen, während ich darin schlief. All dies angebliche Wachen und Beobachten meines angeblichen Großvaters Fintan hatte sich für mich nicht auf konkrete Weise ausgezahlt; und falls es sich auf unkonkrete Weise ausgezahlt haben sollte, so wusste ich nichts davon.

Wären sonst etwa noch schlimmere Dinge passiert? Das konnte ich mir kaum vorstellen.

Mein Großvater hätte vermutlich jede Nacht ganze Horden geifernder Dämonen von meinem Schlafzimmerfenster vertreiben können. Aber wie sollte ich Dankbarkeit dafür empfinden, wenn ich nichts davon wusste?

Niall wirkte unglücklich, ein Gefühl, das ich noch nie zuvor an ihm bemerkt hatte. »Es gibt Dinge, die ich dir nicht erzählen kann«, sagte er schließlich. »Wenn ich darüber reden kann, werde ich es tun.«

»Okay«, erwiderte ich trocken. »Aber ich muss sagen, das ist nicht gerade das Geben und Nehmen, wie ich es mir mit meinem Urgroßvater gewünscht habe. Es läuft darauf hinaus, dass ich dir alles erzähle und du mir nichts.«

»Es mag nicht das sein, was du dir gewünscht hast, aber es ist das, was ich geben kann«, sagte Niall etwas steif. »Ich liebe dich, und ich hatte gehofft, allein darauf käme es an.«

»Es freut mich zu hören, dass du mich liebst«, sagte ich sehr langsam, denn ich wollte nicht riskieren, dass er die fordernde Sookie einfach stehen ließ. »Aber es wäre besser, wenn du dich auch so verhalten würdest.«

»Ich verhalte mich nicht so, als würde ich dich lieben?«

»Du verschwindest und erscheinst, wie es dir passt. All die Hilfe, die du anbietest, ist keine praktische Hilfe wie die anderer Großväter - oder Urgroßväter. Sie reparieren das Auto ihrer Enkelin, helfen bei den Studiengebühren fürs College oder mähen ihren Rasen, damit sie es nicht selbst tun muss. Oder sie nehmen sie mit auf die Jagd. All das tust du nicht.«

»Nein«, sagte Niall, »das tue ich nicht.« Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Du würdest auch nicht mit mir auf die Jagd gehen wollen.«

Okay, das würde ich erst gar nicht genauer durchdenken. »Wie wollen wir also je richtig etwas miteinander zu tun haben? Du stehst völlig außerhalb meines Lebenskreises.«

»Verstehe«, sagte Niall ernst. »Alle Urgroßväter, die du kennst, sind Menschen, und das bin ich nicht. Aber du bist auch nicht das, was ich erwartet habe.«

»Ja, ist mir schon klar.« Kannte ich überhaupt andere Urgroßväter? Freunde meines Alters hatten größtenteils nicht mal mehr Großväter, noch viel weniger Urgroßväter. Aber alle, die ich kennengelernt hatte, waren zu hundert Prozent Menschen gewesen. »Hoffentlich bin ich keine allzu große Enttäuschung für dich.«

»Nein«, erwiderte er bedächtig. »Ich bin überrascht, nicht enttäuscht. Deine Handlungen und Reaktionen sind für mich genauso unvorhersehbar wie meine für dich. Wir müssen uns einander langsam annähern.« Wieder fragte ich mich, warum er sich nicht stärker für Jason interessierte. Der Gedanke an meinen Bruder versetzte mir einen schmerzlichen Stich. Eines nicht so fernen Tages würde ich mit ihm reden müssen, aber das wollte ich mir jetzt lieber noch nicht vorstellen. Fast hätte ich Niall gebeten, doch mal nach Jason zu sehen, überlegte es mir aber anders und sagte nichts. Niall musterte mein Gesicht.

»Du verschweigst mir irgendetwas, Sookie. Ich mache mir immer Sorgen, wenn du das tust. Aber meine Liebe zu dir ist aufrichtig und tief, und ich werde für dich nach Remy Savoy suchen.« Er küsste mich auf die Wange. »Du riechst wie eine aus meinem Volk«, sagte er liebevoll.

Und löste sich in Luft auf.

So war auch dies wieder eines der rätselhaften Gespräche mit meinem rätselhaften Urgroßvater, das er nach eigenem Gutdünken beendete. Schon wieder. Ich seufzte, fischte den Schlüsselbund aus der Handtasche und schloss die Haustür auf. Im Haus war es dunkel und still, und so leise wie möglich ging ich durchs Wohnzimmer und die Diele entlang. Ich schaltete meine Nachttischlampe an und machte mich bettfertig, bei geschlossenen Vorhängen, denn schon in wenigen Stunden würde die Morgensonne versuchen, mich zu wecken.

War ich meinem Urgroßvater gegenüber undankbar gewesen? Als ich meine Worte noch einmal Revue passieren ließ, fragte ich mich, ob ich nicht zu fordernd und jammernd geklungen hatte. Aber man konnte es doch auch positiv sehen, dachte ich. Ich war eben aufgetreten wie eine Frau, die sich nicht unterkriegen lässt, mit der man sich besser nicht anlegt, wie eine Frau, die frei heraus ihre Meinung sagt.

Bevor ich ins Bett ging, schaltete ich noch die Heizung ein. Octavia und Amelia hatten sich zwar bislang nicht beschwert, aber in den letzten Tagen war es morgens ziemlich kühl gewesen. Der Geruch abgestandener Luft, den die Heizung beim ersten Einschalten immer verströmte, füllte den Raum, und ich zog die Nase kraus, als ich mich unter die Bettdecke kuschelte. Doch dann lullte mich das monotone Heizkörpergeräusch in den Schlaf.

Ich hatte die Stimmen schon einige Zeit wahrgenommen, ehe mir klar wurde, dass sie vom Flur kamen. Ich blinzelte, sah, dass es Tag war, schloss die Augen aber wieder. Noch ein bisschen schlafen. Die Stimmen verstummten nicht, jetzt stritten sie sogar direkt vor meiner Zimmertür. Ich öffnete ein Auge und spähte auf den Digitalwecker auf dem Nachttisch. Halb zehn. Herrje. Die Stimmen gaben einfach keine Ruhe. Widerwillig öffnete ich beide Augen gleichzeitig, registrierte, dass die Sonne nicht schien, setzte mich auf und schlug die Bettdecke zurück. Ich ging ans Fenster links vom Bett und sah hinaus. Draußen war es grau in grau. Und während ich dort stand, schlugen schon erste Regentropfen an die Scheibe. Einer dieser Tage eben.

Ich ging ins Badezimmer, und als ich jetzt mit Geräuschen deutlich kundtat, dass ich aufgestanden war, wurden die Stimmen leiser. Ich stieß die Zimmertür auf und sah die beiden Hexen davor stehen, was keine allzu große Überraschung war.

»Wir wussten nicht, ob wir Sie wecken sollten«, sagte Octavia. Sie wirkte besorgt.

»Ich fand, das müssten wir, denn eine Botschaft aus magischer Quelle ist äußerst wichtig«, meinte Amelia. Das schien sie in den vergangenen Minuten schon mehrfach gesagt zu haben, wenn ich Octavias Miene richtig deutete.

»Was für eine Botschaft?«, fragte ich. Auf den Streit der beiden wollte ich mich gar nicht erst einlassen.

»Diese hier.« Octavia gab mir einen großen gelbbraunen Briefumschlag. Er war aus schwerem Papier wie eine sehr vornehme Hochzeitseinladung. Mein Name stand darauf. Keine Adresse, nur mein Name. Und der Umschlag war mit Wachs versiegelt. Das Siegel zeigte den Kopf eines Einhorns.

»Ah ja.« Das war mal ein wirklich ungewöhnlicher Brief.

Ich ging in die Küche, um mir einen Kaffee und ein Messer zu nehmen, in dieser Reihenfolge, die beiden Hexen im Schlepptau wie einen griechischen Chor. Als ich mir Kaffee eingeschenkt hatte und am Küchentisch saß, fuhr ich mit dem Messer unter dem Siegel entlang und löste es vorsichtig. Dann klappte ich den Falz hoch und zog eine Karte heraus, auf der eine von Hand geschriebene Adresse stand: 1245 Bienville Street, Red Ditch, Louisiana. Das war alles.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Octavia. Amelia und sie standen natürlich direkt hinter mir, damit sie auch alles gut sehen konnten.

»Es ist die Adresse von jemanden, nach dem ich gesucht habe«, sagte ich, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach.

»Wo ist Red Ditch?«, fragte Octavia. »Davon habe ich noch nie gehört.« Amelia zog bereits die Landkarte von Louisiana aus dem Schubfach unter dem Telefon. Mit dem Finger ging sie die lange Liste von Ortsnamen durch, bis sie Red Ditch gefunden hatte.

»Es ist gar nicht weit weg«, sagte sie. »Seht ihr?« Ihr Finger zeigte auf einen kleinen Punkt südöstlich von Bon Temps, der etwa anderthalb Fahrtstunden entfernt lag.

Ich trank so schnell wie möglich meinen Kaffee aus und stieg in irgendwelche Jeans. Noch etwas Make-up und Haare kämmen, und schon lief ich mit der Landkarte in der Hand zu meinem Auto.

Octavia und Amelia folgten mir bis nach draußen, weil sie furchtbar gern gewusst hätten, was ich vorhatte und wie wichtig die Botschaft für mich war. Doch da mussten sie noch eine Weile rätseln, vorerst jedenfalls. Ich fragte mich selbst, wieso ich es so eilig hatte. Remy Savoy würde sich schon nicht gleich in Luft auflösen, es sei denn, er war auch ein Elf. Was ich für höchst unwahrscheinlich hielt.

Bis zur Abendschicht im Merlotte's musste ich zurück sein. Aber ich hatte Zeit genug.

Auf der Fahrt schaltete ich das Radio ein; heute war ich in Country-und-Western-Laune. Travis Tritt und Carrie Underwood begleiteten mich, und als ich Red Ditch erreichte, fühlte ich mich schon selbst fast wie ein Cowboy. Red Ditch war noch unspektakulärer als Bon Temps, und das will schon was heißen.

Wie ich vermutet hatte, war es nicht schwer, die Bienville Street zu finden. Es war die Art Straße, wie es sie überall in Amerika gibt. Die Häuser waren klein, schmuck, quadratisch, mit einer Garage, in der Platz für ein Auto war, und einem kleinen Garten. Bei Haus Nummer 1245 war der hintere Garten umzäunt, und ein schwarzer kleiner Hund flitzte lebhaft darin herum. Eine Hundehütte war nirgends zu sehen, das Tier durfte anscheinend auch ins Haus. Alles war sehr gepflegt, aber nicht übertrieben. Die Sträucher ums Haus herum waren geschnitten und der Garten geharkt. Ich fuhr einige Male daran vorbei. Wie sollte ich vorgehen, fragte ich mich. Wie konnte ich herausfinden, was ich wissen wollte?

In der Garage stand ein Pick-up, Savoy war also vermutlich zu Hause. Ich holte tief Luft, parkte gegenüber dem Haus und versuchte, mit meinem Spezialtalent auf Jagd zu gehen. Doch in einer so dicht besiedelten Gegend mit so vielen lebenden Menschen war das äußerst schwierig. Ich meinte, zwei Gedankenströme herausfiltern zu können, die direkt aus dem Haus mit der Nummer 1245 kamen, sicher war ich allerdings nicht.

»Ach, egal.« Ich stieg aus dem Auto, stopfte mir die Schlüssel in die Jackentasche, ging schnurstracks auf die Haustür zu und klopfte.

»Warte, mein Junge«, sagte ein Mann drinnen, und ich hörte ein Kind rufen: »Daddy, ich! Ich will aufmachen!«

»Nein, Hunter«, erwiderte der Mann und öffnete selbst die Tür. Er schaute durch die Fliegengittertür und machte auch die auf, als er sah, dass ich eine Frau war. »Hi«, grüßte er. »Kann ich Ihnen helfen?«

Ich sah zu dem Jungen hinunter, der hinter ihm hergerannt kam und zu mir hochschaute. Er war ungefähr vier Jahre alt, Haar und Augen waren dunkel, und er war Hadley wie aus dem Gesicht geschnitten. Dann sah ich den Mann wieder an. Etwas in seinem Gesicht hatte sich verändert während meines anhaltenden Schweigens.

»Wer sind Sie?«, fragte er in einem völlig anderen Ton.

»Ich bin Sookie Stackhouse«, sagte ich einfach, da mir nichts anderes einfiel. »Hadleys Cousine. Ich habe gerade erst herausgefunden, wo Sie wohnen.«

»Sie können keine Ansprüche auf ihn haben«, sagte der Mann, und ich hörte seiner Stimme an, wie sehr er sich zusammenriss.

»Natürlich nicht«, erwiderte ich überrascht. »Ich wollte ihn nur mal kennenlernen. Ich habe nicht viel Familie.«

Wieder ein lastendes Schweigen. Er wog meine Worte und mein Auftreten ab und fragte sich, ob er die Tür einfach wieder zuschlagen oder mich einlassen sollte.

»Daddy, sie ist hübsch«, sagte der Junge, und das schien den Ausschlag zu meinen Gunsten zu geben.

»Kommen Sie herein«, sagte Hadleys Exehemann zu mir.

Ich sah mich in dem kleinen Wohnraum um, in dem ein Sofa und ein Lehnsessel standen, ein Fernseher und ein Regal voller DVDs und Kinderbücher. Und überall lag Spielzeug herum.

»Ich habe am Samstag gearbeitet, deshalb habe ich heute frei«, erklärte er, wohl damit ich nicht dachte, er sei arbeitslos. »Oh, ich bin übrigens Remy Savoy. Aber das wissen Sie wohl.«

Ich nickte.

»Und das ist Hunter«, sagte er, doch der Junge fremdelte plötzlich, versteckte sich hinter dem Bein seines Vaters und spähte hervor. »Setzen Sie sich doch«, fügte Remy hinzu.

Ich schob eine Zeitung zur Seite, setzte mich ans eine Ende des Sofas und versuchte, weder den Mann noch das Kind anzustarren. Meine Cousine Hadley war bildhübsch gewesen, und sie hatte einen gut aussehenden Mann geheiratet. Es war schwer zu sagen, wie dieser Eindruck zustande kam. Seine Nase war groß, sein Kinn etwas zu spitz, und seine Augen standen recht weit auseinander. Aber in der Summe war er ein Mann, auf den die meisten Frauen einen zweiten Blick werfen würden. Sein Haar war von einem schönen Mittelblond, das ins Braune tendierte, dick und stufig geschnitten. Er trug ein offenes Flanellhemd über einem weißen T-Shirt. Jeans. Keine Schuhe. Und hatte ein Grübchen im Kinn.

Hunter trug Cordhosen und ein Sweatshirt mit einem großen Fußball vorne drauf. Seine Sachen waren brandneu, wie die seines Vaters.

Remy betrachtete mich immer noch aufmerksam. Er fand, dass ich gar keine Ähnlichkeit mit Hadley hatte, nicht so schlank war wie sie und vom ganzen Typ her viel heller, nicht so hart. Sieht aus, als hätte sie nicht viel Geld, dachte er, aber sie ist hübsch. Da stimmte er seinem Sohn zu. Doch er traute mir nicht.

»Wie lange haben Sie schon nichts mehr von ihr gehört?«, fragte ich.

»Von Hadley habe ich zuletzt ein paar Monate nach seiner Geburt gehört«, sagte Remy. Er hatte sich damit abgefunden, aber es lag auch Traurigkeit in seinen Gedanken.

Hunter saß auf dem Boden und spielte mit Lastwagen. Er belud einen Kipplaster mit Duplo-Steinen und schob ihn dann rückwärts auf einen Feuerwehrwagen zu. Zum großen Erstaunen des Duplo-Männchens in der Fahrerkabine des Feuerwehrwagens entlud der Kipplaster seine ganze Ladung auf ihn. Hunter lachte fröhlich und rief: »Daddy, guck mal!«

»Ich seh's, mein Junge.« Remy sah mich unverwandt an. »Warum sind Sie hier?« Er wollte gleich zum Kern der Sache kommen.

»Ich weiß erst seit zwei Wochen, dass Hadley ein Kind bekommen hat«, sagte ich. »Vorher hatte ich keinen Grund, Sie aufzusuchen.«

»Ich habe ihre Familie nie kennengelernt«, erwiderte er. »Woher wissen Sie, dass Sie verheiratet war? Hat sie es Ihnen erzählt?« Und dann fügte er widerstrebend hinzu: »Alles okay mit ihr?«

»Nein«, flüsterte ich, damit Hunter es nicht hörte. Der Junge lud gerade alle Duplos wieder in den Kipplaster. »Sie ist schon vor Katrina gestorben.«

Ich bekam mit, dass die Nachricht wie eine Bombe in seine Gedanken einschlug. »Sie war doch schon eine Vampirin, habe ich gehört«, sagte er unsicher; seine Stimme zitterte. »Diese Art von Tod?«

»Nein. Ich meine, richtig, endgültig.«

»Was ist passiert?«

»Sie wurde von einem anderen Vampir angegriffen«, erzählte ich. »Er war eifersüchtig auf Hadleys Beziehung zu ihrer... äh, ihrer...«

»Geliebten?« Die Bitterkeit ihres Exehemanns war nicht zu überhören, weder in seiner Stimme noch in seinen Gedanken.

»Ja.«

»Ziemlich schockierend damals«, sagte er, doch in seinen Gedanken war der Schock längst dumpfer Resignation gewichen.

»Ich habe von all dem erst nach ihrem Tod erfahren.«

»Sie sind ihre Cousine? Ich weiß noch, dass sie sagte, sie hätte zwei... Sie haben noch einen Bruder, richtig?«

»Ja«, sagte ich.

»Und Sie wussten, dass sie mit mir verheiratet war?«

»Das habe ich erst herausgefunden, als ich vor einigen Wochen ihren Banksafe leerte. Ich hatte auch keine Ahnung, dass es einen Sohn gibt. Tut mir wirklich leid.« Ich wusste selbst nicht genau, warum ich mich entschuldigte oder woher ich es hätte wissen sollen. Aber es tat mir leid, dass ich nicht mal in Erwägung gezogen hatte, dass Hadley und ihr Mann ein Kind bekommen hatten. Hadley war etwas älter gewesen als ich und Remy vermutlich so Anfang dreißig.

»Sie machen einen ganz vernünftigen Eindruck«, sagte er plötzlich, und ich wurde rot, weil ich ihn sofort verstand.

»Hadley hat Ihnen erzählt, dass ich eine Behinderung habe.« Ich wandte den Blick ab und sah den Jungen an, der aufsprang, heraustrompetete, dass er jetzt auf die Toilette müsse, und aus dem Zimmer rannte. Ich musste lächeln.

»Ja, sie sagte so was ... Sie sagte, Sie hätten es in der Schule deshalb sehr schwer gehabt«, erwiderte er taktvoll. Hadley hatte ihm erzählt, ich wäre völlig verrückt. Doch er entdeckte kein Anzeichen dafür, und fragte sich, warum Hadley ihm so etwas erzählt hatte. Er sah in die Richtung, in die der Junge verschwunden war, und in seinen Gedanken las ich, dass er trotzdem vorsichtig sein und, schon weil Hunter da war, auf jedes Anzeichen von Verrücktheit bei mir achten wollte - auch wenn Hadley sie ihm nie im Detail beschrieben hatte.

»Stimmt«, sagte ich. »In der Schule hatte ich es deshalb schwer. Hadley war mir keine große Hilfe. Aber ihre Mutter, meine Tante Linda, war eine großartige Frau, ehe sie an Krebs starb. Sie war immer sehr lieb zu mir. Wir haben einige schöne Dinge zusammen erlebt.«

»Das war bei mir genauso. Manchmal hatten wir richtig Spaß«, erwiderte Remy. Er hatte die Unterarme auf die Knie gelegt, und die großen, von Schrammen und Narben übersäten Hände baumelten herab. Remy war ein Mann, der wusste, was harte Arbeit war.

Plötzlich war ein Geräusch an der Tür zu hören, und eine Frau kam herein, ohne vorher anzuklopfen. »Hey, Liebling!«, rief sie und lächelte Remy an. Als sie mich bemerkte, hielt sie inne, und ihr Lächeln schwand.

»Kristen, das ist eine Verwandte meiner Exfrau«, sagte Remy ohne Hast oder Rechtfertigung in der Stimme.

Kristen hatte langes braunes Haar und große braune Augen und war vielleicht fünfundzwanzig. Sie trug Khakihosen und ein Poloshirt mit einem Logo auf der Brust, eine lachende Ente mit dem Schriftzug »Jerry's Car Shop« darüber.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Kristen nicht ganz aufrichtig. »Kristen Duchesne, Remys Freundin.«

»Ganz meinerseits«, erwiderte ich, etwas aufrichtiger. »Sookie Stackhouse.«

»Remy, du hast deinem Besuch ja gar nichts zu trinken angeboten! Sookie, möchten Sie eine Coke oder eine Sprite?«

Sie wusste, was im Kühlschrank war. Ob sie wohl hier wohnte, fragte ich mich. Okay, das ging mich nichts an, solange sie gut zu Hadleys Sohn war.

»Nein, danke«, sagte ich. »Ich muss sowieso gleich wieder los.« Etwas zu demonstrativ sah ich auf die Uhr. »Ich muss heute Abend noch arbeiten.«

»Oh, wo denn?«, fragte Kristen. Jetzt wirkte sie schon entspannter.

»Im Merlotte's. Das ist eine Bar in Bon Temps. Ungefähr achtzig Meilen entfernt von hier.«

»Ach ja, dort kam deine Frau her.« Kristen sah Remy an.

»Sookie hat leider eine schlechte Nachricht überbringen müssen«, sagte Remy und knetete die Finger, obwohl seine Stimme gelassen blieb. »Hadley ist tot.«

Kristen atmete deutlich hörbar ein, doch sie musste ihre Äußerung für sich behalten, denn Hunter kam zurück ins Wohnzimmer geflitzt. »Daddy, ich hab Hände gewaschen!«, rief er, und sein Vater lächelte ihn an.

»Sehr gut, mein Junge«, sagte er und wuschelte dem Jungen das dunkle Haar. »Sag hallo zu Kristen.«

»Hey, Kristen«, sagte Hunter ohne viel Begeisterung.

Ich stand auf. Wenn ich nur eine Visitenkarte hierlassen könnte, dachte ich. Es wirkte merkwürdig und auch falsch, einfach so zu gehen. Doch Kristens Anwesenheit war seltsam störend. Sie nahm Hunter auf den Arm und setzte ihn sich auf die Hüfte. Er war schon recht schwer für sie, doch sie wollte es ganz leicht und selbstverständlich erscheinen lassen. Sie mochte den kleinen Jungen, das konnte ich in ihren Gedanken lesen.

»Kristen mag mich«, sagte Hunter, und ich sah ihn aufmerksam an.

»Aber sicher.« Kristen lachte.

Remy sah beunruhigt von Hunter zu mir, mit einer Miene, in der sich Sorge abzuzeichnen begann.

Ich fragte mich, wie wir Hunter unsere Verwandtschaft erklären sollten. Mit Großcousinen konnten Kinder wenig anfangen. Und großzügig betrachtet, war ich im Grunde doch so etwas wie eine Tante für ihn.

»Tante Sookie.« Hunter probierte die Wörter gleich aus. »Bist du meine Tante?«

Ich holte tief Luft. Ja, das bin ich, Hunter, dachte ich.

»Ich hatte noch nie eine Tante.«

»Jetzt hast du eine«, sagte ich zu ihm und sah Remy an. In seinen Augen stand Angst. Er sprach es nicht aus, aber er wusste es.

Irgendetwas musste ich noch zu ihm sagen, trotz Kristens Anwesenheit. Ich konnte ihre Verwirrung spüren. Ihr siebter Sinn sagte ihr, dass hier etwas vor sich ging, von dem sie nichts wusste. Aber um Kristen konnte ich mich jetzt nicht auch noch kümmern. Hier ging es allein um Hunter.

»Sie werden mich brauchen«, sagte ich zu Remy »Wenn er ein bisschen älter ist, werden Sie mit mir reden wollen. Meine Nummer steht im Telefonbuch, und ich ziehe sicher nicht um. Verstehen Sie?«

»Warum seid ihr auf einmal so ernst?«, fragte Kristen. »Was ist los?«

»Keine Sorge, Kris«, sagte Remy sanft. »Familienkram eben.«

Kristen setzte Hunter wieder ab. »Aha«, erwiderte sie im Ton einer Frau, die sehr wohl wusste, dass man ihr etwas verschwieg.

»Stackhouse«, erinnerte ich Remy. »Warten Sie nicht zu lange, sonst fühlt er sich elend.«

»Verstehe«, sagte Remy, der sich selbst ganz elend zu fühlen schien. Das verstand ich nur zu gut.

»Ich muss wirklich los«, sagte ich noch mal, um Kristen zu beruhigen.

»Tante Sookie, gehst du weg?«, fragte Hunter. Er wollte mich noch nicht umarmen, aber er dachte darüber nach. Er mochte mich. »Kommst du wieder?«

»Bald einmal, Hunter«, sagte ich. »Vielleicht kommst du mich auch irgendwann mal mit deinem Daddy besuchen.«

Ich schüttelte Kristen und Remy die Hand, was sie beide sonderbar fanden, und öffnete die Tür. Als ich nach draußen trat, rief Hunter wortlos: Tschüs, Tante Sookie.

Tschüs, Hunter, erwiderte ich auf dieselbe Weise.