Kapitel 18

Nach einem ruhigen, friedlichen freien Montag ging ich am Dienstag zur Lunchschicht ins Merlotte's. Als ich zur Arbeit aufbrach, strich Amelia gerade eine Kommode an, die sie im Trödelladen von Bon Temps gefunden hatte. Octavia knipste die welken Blütenköpfe von den Rosen. Sie meinte, die Büsche müssten für den Winter zurückgeschnitten werden, und die Arbeit hatte ich ihr gern überlassen. Für die Rosen war in unserem Haushalt stets meine Großmutter zuständig gewesen, und ich durfte sie nicht anrühren, höchstens mal, wenn sie gegen Blattläuse gespritzt werden mussten.

Zum Lunch kam Jason mit einigen Arbeitskollegen ins Merlotte's. Sie stellten zwei Tische zusammen, es war eine nette Runde gut gelaunter Männer. Kühleres Wetter und keine großen Stürme, das sorgte immer für gute Laune bei den Straßenbautrupps. Jason schien schon fast zu gut aufgelegt, in seinem Kopf herrschte ein wildes Durcheinander, in dem ein Gedanke den nächsten ablöste. Vielleicht war ja bereits etwas in Bewegung geraten dadurch, dass Tanya ihren schlechten Einfluss nicht mehr ausübte. Doch ich gab mir große Mühe, mich aus seinen Gedanken herauszuhalten, schließlich war er mein Bruder.

Als ich ein Tablett voll Coke und Tee an den Tisch brachte, sagte Jason: »Crystal lässt dich grüßen.«

»Wie geht's ihr denn heute?«, fragte ich, um mich angemessen besorgt zu zeigen, und Jason formte mit Zeigefinger und Daumen einen Kreis: bestens also. Ich servierte den letzten Becher Tee, stellte ihn vorsichtig ab, damit nichts überschwappte, und fragte Dove Beck, einen Cousin von Alcee, ob er noch etwas Zitrone wolle.

»Nein, danke«, sagte er höflich. Dove, der schon einen Tag nach dem Schulabschluss geheiratet hatte, war ein ganz anderer Typ als Alcee. Er war jünger, circa dreißig, und in ihm schwelte, soweit ich das beurteilen konnte - und ich konnte es ziemlich gut beurteilen -, nicht diese innere Wut von Detective Beck. Mit einer von Doves Schwestern war ich zur Schule gegangen.

»Wie geht's Angela?«, fragte ich ihn, und er lächelte.

»Sie hat Maurice Kershaw geheiratet«, erzählte er, »und einen Jungen gekriegt, der süßeste Fratz der Welt. Angela ist eine ganz andere Frau geworden - sie raucht und trinkt nicht mehr, und sie geht zur Kirche.«

»Freut mich, das zu hören. Grüß sie von mir«, sagte ich und begann, die Essensbestellungen aufzunehmen. Ich hörte, dass Jason seinen Kumpels noch irgendetwas von einem Zaun erzählte, den er bauen wolle, bekam das aber nicht mehr richtig mit.

Nach dem Essen, als die anderen Männer schon hinaus zu ihren Autos gingen, kam Jason noch mal zu mir. »Sook, würdest du nachher mal bei Crystal vorbeifahren und sehen, wie's ihr geht?«

»Klar, aber bist du dann nicht auch schon mit der Arbeit fertig?«

»Ich muss noch nach Clarice rüber und Maschendraht kaufen. Crystal will, dass wir einen Teil des Hinterhofs für das Kind einzäunen. Damit es einen sicheren Platz zum Spielen hat.«

Es überraschte mich, dass Crystal so viel Voraussicht und mütterlichen Instinkt bewies. Angela Kershaw und ihr kleiner Junge fielen mir ein. Vielleicht würde das Kind auch Crystal verändern?

Ich wollte gar nicht nachzählen, wie viele Frauen, die jünger waren als ich, bereits seit Jahren verheiratet waren und Kinder hatten - oder auch nur Kinder hatten. Neid war eine der sieben Todsünden, sagte ich mir und strengte mich doppelt an, jedem lächelnd zuzunicken. Zum Glück war heute viel zu tun. Als das Geschäft am Nachmittag etwas abflaute, bat Sam mich, ihm bei der Inventur im Lagerraum zu helfen. Es waren nur noch die beiden stadtbekannten Trinker da, und die konnte Holly problemlos allein bedienen. Da ich ein wenig Angst hatte, mit Sams Blackberry irgendetwas falsch zu machen, gab er die Summen ein und ich zählte. So an die fünfzig Mal kletterte ich die Leiter rauf und runter, zählte, wirbelte Staub auf und zählte weiter. Unsere Reinigungsmittel kauften wir en gros, und auch die zählte ich. Irgendwann bestand alles nur noch aus Zahlen.

Im Lagerraum gab es kein Fenster, daher wurde es ziemlich warm, während wir darin arbeiteten. Ich war froh, aus dem vollgestopften, beengten Raum rauszukommen, als Sam endlich zufrieden war. Ich zupfte ihm eine Spinnwebe aus dem Haar, bevor ich zur Toilette ging, wo ich mir die Hände schrubbte, vorsichtig das Gesicht abwischte und nachsah, ob sich in meinem Pferdeschwanz auch Spinnweben verfangen hatten.

Auf dem Heimweg freute ich mich so sehr auf eine Dusche, dass ich beinahe links abgebogen und nach Hause gefahren wäre. Gerade noch rechtzeitig erinnerte ich mich, dass ich versprochen hatte, bei Crystal vorbeizuschauen. Also bog ich rechts ab.

Jason wohnte im Haus meiner Eltern, das er sehr schön hergerichtet hatte. Auf sein Haus war mein Bruder mächtig stolz. Seine Freizeit verbrachte er gern mit Streichen, Rasenmähen oder einfacheren Reparaturen, eine Seite an ihm, die mich bis heute erstaunte. Kürzlich erst hatte er die Fassade in einem Gelbbraunton gestrichen und Türen- und Fensterrahmen in einem strahlenden Weiß, und das kleine Haus sah richtig schmuck aus. Ich bog in die u-förmige Auffahrt ein. Jason hatte auch eine Abzweigung angelegt, die an die Rückseite des Hauses führte, doch ich fuhr zum Vordereingang, stopfte die Autoschlüssel in meine Tasche und ging die Stufen zur Veranda hinauf. Ich drehte den Türknauf, weil ich den Kopf ins Haus hineinstrecken und nach Crystal rufen wollte, immerhin gehörte ich zur Familie. Die Haustür war nicht abgeschlossen, wie die meisten Haustüren tagsüber. Das Wohnzimmer war leer.

»Hey, Crystal, ich bin's, Sookie!«, rief ich, wenn auch nicht zu laut, damit sie nicht gleich erschrak, falls sie sich hingelegt hatte.

Ich hörte einen dumpfen Laut, ein Stöhnen. Es kam aus dem großen Schlafzimmer, das schon meine Eltern benutzt hatten und das rechter Hand hinter dem Wohnzimmer lag.

Oh, Mist, sie hat schon wieder eine Fehlgeburt, schoss es mir durch den Kopf. Ich rannte auf die geschlossene Tür zu und stieß sie so heftig auf, dass sie gegen die Wand bumste, was mir aber egal war angesichts der Bumserei von Crystal und Dove Beck auf dem Ehebett.

Ich war so schockiert, so wütend und so bestürzt, dass ich, als sie in ihrem Tun innehielten und mich anstarrten, die schlimmste Bemerkung von allen losließ: »Kein Wunder, dass du all deine Babys verlierst.« Dann drehte ich mich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Haus. Ich war derart aufgebracht, dass ich nicht mal ins Auto steigen konnte. Und um das Unglück perfekt zu machen, fuhr in diesem Moment auch noch Calvin Norris vor und sprang aus seinem Pick-up, kaum dass er stand.

»Mein Gott, was ist passiert?«, fragte er. »Alles in Ordnung mit Crystal?«

»Warum fragen Sie sie das nicht selbst?«, rief ich empört und stieg ins Auto, nur um zitternd dazusitzen. Calvin rannte ins Haus, als müsste er ein Feuer löschen, und damit lag er gar nicht mal so sehr daneben.

»Jason, verdammt!«, schrie ich und schlug mit der Faust aufs Lenkrad. Ich hätte mir die Zeit nehmen und aufmerksam Jasons Gedanken lesen sollen. Er hatte haargenau gewusst, dass Dove und Crystal die Zeit, die er zum Einkaufen in Clarice brauchte, für ein Schäferstündchen nutzen würden. Er hatte darauf gesetzt, dass ich pflichtschuldig bei ihm zu Hause vorbeifahren würde. Es war einfach ein zu großer Zufall, dass auch noch Calvin aufgetaucht war. Jason musste auch ihn gebeten haben, nach Crystal zu sehen. So gab's keine Möglichkeit mehr, das Ganze zu leugnen oder zu vertuschen - wenn sowohl ich als auch Calvin Bescheid wussten. Ich hatte ja so recht gehabt mit meiner Vermutung, dass diese Ehe ein einziges Problem werden würde - und jetzt hatte ich selbst ein gänzlich neues Problem.

Außerdem schämte ich mich. Ich schämte mich für das Verhalten aller Beteiligten. Meinen Moralvorstellungen nach, die mich nicht gerade zu einer sehr guten Christin machten, ist es ganz allein ihre Sache, wie Singles sich in Beziehungen verhalten. Sogar in etwas festeren Beziehungen - okay, solange die Leute sich gegenseitig achten. Aber ein Ehepaar, das sich Treue geschworen hat, und das sogar vor Zeugen, untersteht einem ganz anderen Regelwerk, jedenfalls in meiner Welt.

In Crystals oder Doves Welt anscheinend nicht.

Calvin kam die Verandastufen herunter und sah um Jahre gealtert aus. Bei meinem Auto blieb er stehen. In seiner Miene spiegelte sich das Gleiche wie in meiner - Ernüchterung, Enttäuschung, Ekel. Jede Menge Negatives jedenfalls.

»Ich melde mich bei Ihnen«, sagte er. »Wir müssen die Zeremonie so bald wie möglich abhalten.«

In einen Bademantel mit Leopardenmuster gehüllt, trat Crystal auf die Veranda, und weil ich es nicht ertragen hätte, wenn sie mich jetzt auch noch angesprochen hätte, ließ ich den Motor an und fuhr so schnell wie möglich davon. Benommen kehrte ich nach Hause zurück. Als ich durch die Hintertür in die Küche trat, schnitt Amelia gerade irgendwas auf dem alten Holzbrett, das bei dem Brand nur einige Rußflecken davongetragen hatte. Sie drehte sich um und wollte schon etwas sagen, da sah sie mein Gesicht. Warnend schüttelte ich den Kopf, damit sie mich nicht ansprach, und verschwand direkt in mein Zimmer.

Das war einer jener Tage, an denen ich sehr gern wieder allein gewohnt hätte.

Ich setzte mich auf den kleinen Stuhl in der Ecke meines Schlafzimmers, auf dem in letzter Zeit so viele Besucher Platz genommen hatten. Bob lag zusammengerollt auf meinem Bett, was ihm ausdrücklich verboten war. Irgendwer musste im Laufe des Tages meine Zimmertür geöffnet haben. Ich fragte mich, ob ich Amelia sofort herunterputzen sollte, verwarf den Gedanken aber, als ich einen Stapel frisch gewaschener Unterwäsche auf meiner Kommode sah.

»Bob«, sagte ich, und in einer einzigen fließenden Bewegung streckte sich der Kater und sprang auf die Beine. Mit weit aufgerissenen goldenen Augen stand er da und starrte mich an. »Mach, dass du rauskommst«, sagte ich. Und mit einer ungeheuren Würde sprang Bob vom Bett und stolzierte auf die Tür zu. Ich öffnete sie einen Spalt weit, und er schlüpfte hinaus, nicht ohne den Eindruck zu hinterlassen, er täte das aus freien Stücken. Dann schloss ich die Tür.

Ich liebe Katzen, aber ich wollte einfach allein sein.

Als das Telefon klingelte, hob ich sofort ab.

»Morgen Abend«, sagte Calvin. »Um sieben Uhr. Ziehen Sie etwas Bequemes an.« Er klang traurig und verdrossen.

»Okay«, erwiderte ich, und wir legten beide auf. Und dann saß ich noch eine ganze Weile auf dem kleinen Stuhl in meinem Zimmer. Was immer diese Zeremonie auch beinhalten mochte, musste ich daran teilnehmen? Ja, das musste ich. Im Gegensatz zu Crystal hielt ich meine Versprechen. Als seine nächste Verwandte hatte ich bei Jasons Heirat für ihn bürgen und geloben müssen, seine Strafe auf mich zu nehmen, falls er seiner Ehefrau Crystal untreu würde. Als ihr Onkel hatte Calvin für Crystal gebürgt. Tja, und jetzt hatten wir die Bescherung.

Ich wusste nicht, was passieren würde, nur, dass es schrecklich werden würde. Obwohl jeder vollblütige Werpanther die Pflicht hatte, mit jeder beliebigen vollblütigen Werpantherin Kinder zu zeugen (denn nur auf diese Weise gab es vollblütige Nachkommen), verlangte der Moralkodex der Werpanther, dass die Partnerschaften, die sie nach Erfüllung dieser Fortpflanzungspflicht eingingen, monogam waren. Wollte man dieses Versprechen nicht geben, so durfte man keine feste Partnerschaft oder Ehe eingehen. Das waren die Regeln, nach denen die Werpanthergemeinde lebte. Crystal kannte diese Regeln von Kindesbeinen an, und Jason war vor der Heirat von Calvin darüber aufgeklärt worden.

Jason rief nicht an, aber darüber war ich nur froh. Was jetzt wohl bei ihm zu Hause los war, dachte ich düster. Wann hatte Crystal Dove Beck kennengelernt? Wusste Doves Ehefrau von der Sache? Es wunderte mich nicht, dass Crystal Jason betrogen hatte, nur ihre Wahl wunderte mich etwas.

Vermutlich hatte Crystal Jason so schlimm wie nur möglich verletzen wollen. Mit ihrem Verhalten wollte sie sagen: »Ich habe Sex mit einem anderen, während ich schwanger von dir bin! Und er ist älter als du! Und nicht so ein Halbsupra wie du! Und er arbeitet sogar für dich!« Und mit jedem Mal hatte sie das Messer tiefer in die Wunde gestochen. Wenn dies die Rache für den verdammten Cheeseburger war, so hatte sie die Ausmaße eines T-Bone-Steaks gehabt.

Damit die beiden Hexen nicht meinten, ich sei sauer auf sie, kam ich zum Abendessen raus. Es gab einen Thunfisch-Nudel-Auflauf mit Erbsen und Zwiebeln, der lecker war und mir guttat. Nachdem wir das Geschirr, das Octavia abwaschen wollte, abgeräumt hatten, zog ich mich wieder in mein Zimmer zurück. Die beiden schlichen geradezu auf Zehenspitzen die Diele auf und ab, um mich bloß nicht zu stören. Obwohl sie mich natürlich brennend gern gefragt hätten, was eigentlich los war.

Aber das taten sie nicht, Gott sei Dank. Ich hätte es auch wirklich nicht erklären können. Es war mir alles viel zu peinlich.

Ich sprach sicher Hunderte von Gebeten, ehe ich an diesem Abend einschlief. Doch nach keinem ging es mir auch nur ein klein wenig besser.

Am nächsten Tag ging ich nur deshalb zur Arbeit, weil ich musste. Aber zu Hause hätte ich mich auch nicht wohler gefühlt. Ich war ungeheuer froh, dass Jason nicht ins Merlotte's kam. Dem hätte ich glatt einen Bierkrug an den Kopf geworfen.

Sam musterte mich einige Male aufmerksam, bevor er mich schließlich zu sich hinter den Tresen zog. »Erzähl mir, was los ist«, bat er.

Tränen traten mir in die Augen, und um ein Haar hätte ich losgeheult. Hastig bückte ich mich, als wäre mir irgendwas heruntergefallen. »Sam, frag bitte nicht. Ich kann nicht darüber reden«, sagte ich, obwohl ich urplötzlich dachte, wie gut es täte, Sam davon zu erzählen.

Doch ich konnte einfach nicht, nicht hier im überfüllten Merlotte's.

»Du weißt, dass ich immer für dich da bin, wenn du mich brauchst.« Mit ernster Miene klopfte er mir auf die Schulter.

Ich hatte wirklich Glück, einen Boss wie Sam zu haben.

Sams Verhalten erinnerte mich daran, dass ich viele Freunde hatte, die nicht so ehrlos handeln würden wie Crystal. Auch Jason hatte ehrlos gehandelt, als er Calvin und mich zu unfreiwilligen Zeugen von Crystals billigem Betrug gemacht hatte. Ich hatte so viele Freunde, die niemals so handeln würden! Und dass ausgerechnet mein eigener Bruder so gehandelt hatte, war eben Schicksal.

Nach diesem Gedanken fühlte ich mich schon etwas stärker.

Als ich schließlich nach Hause kam, war niemand da. Ich zögerte. Sollte ich Tara anrufen oder Sam bitten, sich eine Stunde freizunehmen, oder sogar Bill fragen, ob er mich nach Hotshot begleiten würde ... aber da sprach die reine Schwäche aus mir. Das war ganz allein meine Angelegenheit. Calvin hatte mir geraten, mich bequem anzuziehen und nicht zu schick. Das traf beides auf meine Merlotte's-Kluft zu. Aber es erschien mir falsch, zu einem Ereignis wie diesem in Arbeitskleidung zu erscheinen. Vielleicht würde es blutig zugehen, keine Ahnung. Ich wusste ja nicht, was mich erwartete. Und so zog ich eine Yogahose und ein altes graues Sweatshirt an und sorgte dafür, dass mein Haar fest zurückgebunden war. Ich sah aus, als wollte ich zum Hausputz antreten.

Auf der Fahrt nach Hotshot schaltete ich das Radio ein und sang aus voller Kehle mit, um nicht nachdenken zu müssen. Ich traf die richtigen Töne bei Evanescence und stimmte den Dixie Girls zu, dass man auf keinen Fall klein beigeben durfte ... Not Ready to Make Nice, ein Song, der einem richtig den Rücken stärkte.

Lange vor sieben kam ich in Hotshot an. Zum letzten Mal war ich zu Jasons Hochzeit hier draußen gewesen, auf der ich mit Quinn getanzt hatte. Dieser Besuch von Quinn bei mir war der einzige gewesen, bei dem wir Sex gehabt hatten. Im Nachhinein tat es mir leid, dass ich diesen Schritt getan hatte. Es war ein Fehler gewesen. Ich hatte auf eine Zukunft gesetzt, die es nie geben würde. Überstürzt gehandelt. Hoffentlich machte ich diesen Fehler nicht noch einmal.

Ich parkte, wie am Abend von Jasons Hochzeitsfeier, am Straßenrand. Es waren nicht annähernd so viele Autos da wie damals, als auch viele Reguläre unter den Gästen gewesen waren. Aber ein paar von auswärts waren da. Ich sah Jasons Pick-up; und die anderen gehörten wohl den wenigen Werpanthern, die nicht in Hotshot wohnten.

Hinter Calvins Haus hatte sich bereits eine kleine Menge eingefunden. Die Leute machten mir den Weg frei, bis ich in die Mitte der Versammlung vorgedrungen war und auf Crystal, Jason und Calvin traf. Einige andere der Anwesenden kannte ich. Eine Werpantherin mittleren Alters namens Maryelizabeth nickte mir zu. Ihre Tochter stand neben ihr. Das Mädchen, an dessen Namen ich mich nicht erinnerte, war nicht der einzige Teenager unter den Zuschauern. Wie jedes Mal, wenn ich mir das tägliche Leben hier draußen in Hotshot vorstellte, beschlich mich dieses unheimliche Gefühl, bei dem sich mir jedes Haar einzeln aufstellte.

Calvin starrte zu Boden, und er sah auch nicht auf, als ich zu ihnen trat. Jason wich meinem Blick ebenfalls aus. Nur Crystal stand aufrecht und trotzig da, und ihre dunklen Augen suchten meine, als wollte sie testen, ob ich es wagen würde, ihren Blick niederzuzwingen. Ich wagte es, und einen Augenblick später schweifte ihr Blick irgendwo ins Unbestimmte ab.

Maryelizabeth hielt ein zerfleddertes schwarzes Buch in der Hand und öffnete es an einer Stelle, die sie mit einem herausgerissenen Stück Zeitungspapier gekennzeichnet hatte. Stille breitete sich aus, und die Werpanther lauschten. Nun ging es um den Anlass dieser Versammlung.

»Wir vom Stamm derer mit Reißzahn und Kralle sind hier zusammengekommen, da eine von uns ihr Gelöbnis gebrochen hat«, las Maryelizabeth vor. »Bei ihrer Heirat haben Crystal und Jason, beide Werpanther dieser Gemeinde, versprochen, ihre Ehegelöbnisse einzuhalten, nach Katzenart und Menschenart. Für Crystal hat ihr Onkel Calvin gebürgt und für Jason seine Schwester Sookie.«

Ich bemerkte, wie die Blicke der versammelten Gemeinde von Calvin zu mir wanderten. Sehr viele dieser Augen waren goldgelb. Die Inzucht hatte in Hotshot wirklich zu einigen erschreckenden Resultaten geführt.

»Da Crystal ihr Gelöbnis gebrochen hat - eine Tatsache, die von beiden Bürgen bezeugt wird -, aber schwanger ist, hat ihr Onkel sich freiwillig bereit erklärt, ihre Strafe auf sich zu nehmen.«

Das schien ja alles noch viel schlimmer zu werden, als ich befürchtet hatte.

»Calvin nimmt Crystals Platz ein. Sookie, sind auch Sie freiwillig bereit, Jasons Platz einzunehmen?«

Oh, Scheiße. Ich sah Calvin an und wusste sehr gut, dass in meinem Gesicht nur eine einzige Frage stand: Kann ich hier irgendwie rauskommen? Und sein Gesicht gab nur eine einzige Antwort: Nein. Ich schien ihm sogar leidzutun.

Das würde ich meinem Bruder - und Crystal - niemals verzeihen.

»Sookie?«, hakte Maryelizabeth nach.

»Was muss ich denn tun?«, fragte ich. Und falls ich sauer, widerwillig und wütend geklungen haben sollte, hatte ich immerhin einen guten Grund dafür.

Maryelizabeth öffnete noch einmal das Buch und las die Antwort vor. »Wir existieren dank unseres Verstandes und unserer Krallen, und wenn die Treue gebrochen wird, wird eine Kralle gebrochen.«

Ich starrte sie an und versuchte, in ihren Worten irgendeinen Sinn zu erkennen.

»Sie oder Jason müssen Calvin einen Finger brechen«, sagte Maryelizabeth in leichter verständlichen Worten. »Da Crystal die Treue vollständig gebrochen hat, müssen es aber mindestens zwei sein. Mehr wären besser. Wenn Sie nicht freiwillig bereit sind, Sookie, liegt die Entscheidung bei Jason.«

Mehr wären besser. Jesus Christus, Hirte von Judäa. Ich versuchte, die Sache leidenschaftslos zu betrachten. Wer könnte Calvin größeren Schaden zufügen? Mein Bruder, kein Zweifel. Wenn ich ein guter Mensch wäre, würde ich es selbst tun. Konnte ich mich dazu überwinden? Doch ich musste mich gar nicht überwinden, denn Jason machte von seinem Entscheidungsrecht Gebrauch.

»Mit so was habe ich nicht gerechnet, Sookie.« Jason klang wütend, verwirrt und schuldbewusst zugleich. »Wenn Calvin Crystals Platz einnimmt, soll Sookie meinen einnehmen«, sagte er zu Maryelizabeth. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich meinen eigenen Bruder mal hassen würde, doch in diesem Moment wurde ich eines Besseren belehrt.

»So sei es«, sagte Maryelizabeth.

Ich versuchte, mir Mut zu machen. Im Grunde war's doch gar nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Was hatte ich mir nicht alles ausgemalt: dass Calvin ausgepeitscht werden würde, dass er Crystal auspeitschen müsste oder dass irgendetwas ganz Furchtbares geschehen würde, bei dem wir mit Messern hantierten. Das wäre doch alles viel schrecklicher gewesen, nicht?

Angestrengt hielt ich an meinem Glauben fest, dass es doch gar nicht so schlimm sei - bis zwei der Männer einen großen Betonklotz heranschafften und auf den Gartentisch legten.

Und dann holte Maryelizabeth einen Ziegelstein hervor und hielt ihn mir hin.

Unwillkürlich begann ich, den Kopf zu schütteln. Mir drehte sich der Magen um, er revoltierte, Übelkeit stieg in mir auf. Denn als ich den gewöhnlichen roten Ziegelstein sah, bekam ich eine Ahnung davon, was diese Sache hier mir abverlangen würde.

Calvin trat auf mich zu und nahm meine Hand. Er beugte sich vor, so dass er mir fast ins Ohr sprach. »Sookie, Sie müssen es tun. Ich habe es akzeptiert, als ich bei der Heirat für Crystal gebürgt habe. Und ich kannte sie. Und Sie kennen Jason. Es hätte leicht auch andersherum kommen können. Dann müsste ich dies jetzt Ihnen antun. Und Ihre Wunden heilen längst nicht so schnell. Unsere Leute fordern es.« Er richtete sich auf und sah mich direkt an. Seine Augen waren von einem ganz sonderbaren Goldgrün, und sein Blick war fest.

Ich presste die Lippen zusammen und zwang mich zu nicken. Calvin warf mir noch einen aufmunternden Blick zu und nahm seinen Platz am Tisch ein. Er legte seine Hand auf den Betonklotz. Ohne großes Aufhebens reichte Maryelizabeth mir den Ziegelstein. Die anderen Werpanther warteten geduldig, dass ich die Strafe vollziehen würde. Die Vampire hätten eine große Show daraus gemacht mit historischer Garderobe und vermutlich noch einem antiken Ziegelstein aus einem alten Tempel oder so was. Aber nicht die Werpanther. Es war einfach bloß ein verdammter Ziegelstein. Mit beiden Händen packte ich ihn an einer Längsseite.

Einen langen Augenblick betrachtete ich den Stein, dann sagte ich zu Jason: »Ich werde nie wieder mit dir reden. Niemals.« Und zu Crystal: »Ich hoffe, du hast deinen Spaß gehabt, du Hure.« Und dann drehte ich mich, so schnell ich konnte, herum und ließ den Ziegelstein auf Calvins Hand niedersausen.