Kapitel 7

Dawsons Pick-up, ein Dodge Ram, war von außen zwar schäbig, aber innen absolut tipptopp. Der Wagen war keineswegs neu - vielleicht fünf Jahre alt-, aber sehr gut gepflegt, und das nicht nur in der Fahrerkabine, sondern auch unter der Haube.

»Sie sind nicht Mitglied des Rudels, Dawson, oder?«

»Nennen Sie mich Tray. Ich heiße Tray Dawson.«

»Oh, tut mir leid.«

Dawson zuckte die Achseln, als wollte er sagen Halb so wild. »Ich war nie ein gutes Rudeltier. Bin immer aus der Reihe getanzt. Hab die Befehlskette nicht beachtet.«

»Wieso beteiligen Sie sich dann an diesem Krieg?«, fragte ich.

»Patrick Furnan wollte mich aus dem Geschäft drängen«, sagte Dawson.

»Warum das denn?«

»Hier in der Gegend gibt es nicht mehr viele Reparaturwerkstätten für Motorräder, besonders seit Furnan den Harley-Davidson-Vertragshändler in Shreveport aufgekauft hat«, erklärte Tray Dawson. »Dieser Mister ist gierig. Der will alles für sich selbst. Den interessiert nicht, wer pleitegeht. Als er merkte, dass es meine Werkstatt immer noch gibt, hat er mir zwei seiner Schläger vorbeigeschickt. Die haben mich verprügelt und alles verwüstet.«

»Da müssen die aber richtig gut gewesen sein«, sagte ich. Es war schwer zu glauben, dass irgendwer Tray Dawson überwältigen konnte. »Haben Sie die Polizei verständigt?«

»Nee. Die Cops in Bon Temps sind schwer einzuschätzen, und so furchtbar begeistert von mir sind die sowieso nicht. Aber ich habe mich Alcide angeschlossen.«

Detective Cal Myers dagegen war eindeutig einzuschätzen, er machte für Furnan die Drecksarbeit. Myers war es auch gewesen, der Furnan beim Wettkampf um das Amt des Leitwolfs bei seinem Betrug geholfen hatte. Dennoch war ich schockiert, dass er tatsächlich so weit gegangen war, Maria-Star zu ermorden, deren einziger Fehler es gewesen war, die Freundin von Alcide zu sein. Aber wir hatten es mit eigenen Augen gesehen.

»Was für Probleme haben Sie denn mit der Polizei in Bon Temps?«, fragte ich, weil wir gerade von Strafverfolgung sprachen.

Er lachte. »Ich war selbst mal 'n Cop. Haben Sie das nicht gewusst?«

»Nein«, sagte ich ehrlich überrascht. »Kein Scherz?«

»Kein Scherz«, erwiderte er. »Ich war bei der Polizei in New Orleans. Aber mir gefielen die Mauscheleien nicht. Und mein Vorgesetzter war 'n echtes Arschloch, 'tschuldigung.«

Ich nickte ernsthaft. Es war schon lange her, seit sich zuletzt jemand in meiner Gegenwart für den Gebrauch von Kraftausdrücken entschuldigt hatte. »Es ist also etwas vorgefallen?«

»Ja, irgendwann hat sich's zugespitzt. Da hat dieser fiese Kerl von einem Vorgesetzten behauptet, ich hätte Geld geklaut, das angeblich auf 'nem Tisch bei jemandem zu Hause lag, den wir verhaftet haben.« Tray schüttelte angewidert den Kopf. »Ich musste die Stelle aufgeben. Dabei hat mir der Job gefallen.«

»Was hat Ihnen daran so gut gefallen?«

»Kein Tag war wie der andere. Klar, wir saßen dauernd im Auto und fuhren Streife. Das war immer gleich. Aber sobald wir ausgestiegen sind, ist jedes Mal was anderes passiert.«

Ich nickte. Das verstand ich. Im Merlotte's war auch jeder Tag ein bisschen anders, wenn auch vermutlich nicht so ereignisreich wie zu Trays Zeiten als Streifenpolizist.

Eine Weile fuhren wir schweigend weiter. Tray dachte über Alcides Chancen nach, Furnan die Herrschaft über das Rudel streitig zu machen. Er hielt Alcide für einen Glückspilz, weil er mit Frauen wie Maria-Star ausgegangen war und mit mir. Und ein richtiger Glückspilz war Alcide in Trays Augen, seit dieses Luder Debbie Pelt verschwunden war. Ein Glück, dass die weg ist, dachte er.

»Jetzt will ich Ihnen mal 'ne Frage stellen«, sagte Tray.

»Das ist nur fair.«

»Sie haben doch was mit Debbies Verschwinden zu tun, oder?«

Ich holte tief Luft. »Ja. Aber es war reine Notwehr.«

»Gut für Sie. Einer musste es tun.«

Wieder schwiegen wir, mindestens zehn Minuten lang. Ich will hier nicht zu tief in der Vergangenheit wühlen, aber Alcide hatte bereits einige Zeit, bevor er mit mir ausging, mit Debbie Pelt Schluss gemacht. Trotzdem sah Debbie mich von da an als Feindin und wollte mich umbringen. Doch ich habe sie zuerst erwischt. Schon okay, ich habe meinen Frieden damit gemacht ... soweit das möglich ist. Na, wie auch immer, Alcide hat mich danach jedenfalls mit anderen Augen gesehen, und wer hätte ihm daraus einen Vorwurf machen können? Was soll's, nun hatte er Maria-Star gefunden, und das war eine gute Sache.

War eine gute Sache gewesen.

Mir traten Tränen in die Augen, und ich sah aus dem Fenster. Die Pferderennbahn und die Abfahrt zur Pierre Bossier Mall hatten wir schon passiert, und wir fuhren noch an zwei weiteren Ausfahrten vorbei, ehe Tray sich mit dem Pick-up ganz rechts einordnete.

Eine Weile fuhren wir durch eine anständige, aber recht bescheidene Gegend. Tray sah so oft in den Rückspiegel, bis sogar ich begriff, dass er nach Verfolgern Ausschau hielt. Und plötzlich bog er in eine Auffahrt ein und fuhr bis zur Rückseite eines der etwas größeren Häuser durch, das in sittsamem Weiß gehalten war. Wir parkten unseren Wagen in einem überdachten Carport neben einem anderen Pick-up. Etwas abseits davon stand ein kleiner Nissan, und daneben waren noch zwei Motorräder abgestellt, die Tray mit dem interessierten Blick des Fachmanns musterte.

»Wer wohnt hier?«, fragte ich etwas zögernd, weil ich schon wieder eine Frage stellte. Aber schließlich wollte ich wissen, wo ich war.

»Amanda«, sagte Tray. Er ließ mich vorangehen, und ich stieg die drei Stufen hinauf, die zur Hintertür führten, und klingelte.

»Wer ist da?«, fragte eine gedämpfte Stimme.

»Sookie und Dawson«, sagte ich.

Langsam wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet, so dass wir nur Amanda sehen und keinen Blick an ihr vorbeiwerfen konnten. Ich weiß nicht viel über Schusswaffen, aber sie hielt einen großen Revolver in der Hand, der direkt auf meine Brust gerichtet war. Mir wurde plötzlich sehr kalt und auch ein wenig schwindelig.

»Okay«, sagte Amanda, nachdem sie uns beide scharf gemustert hatte.

Hinter der Tür stand Alcide, mit einer Schrotflinte im Anschlag. Ihn sahen wir erst, als wir eingetreten waren; und erst als er uns mit eigenen Augen wahrgenommen hatte, ließ er die Schrotflinte sinken. Er legte sie auf den Küchentresen und setzte sich an den Küchentisch.

»Es tut mir so leid um Maria-Star, Alcide«, presste ich zwischen steifen Lippen hervor. Es ist eben schlicht und ergreifend furchterregend, wenn mit einer Waffe auf einen gezielt wird, und dann auch noch aus nächster Nähe.

»Ich hab's noch gar nicht begriffen«, erwiderte Alcide mit ausdrucksloser Stimme. Damit meinte er wohl, dass er noch nicht wirklich realisiert hatte, dass Maria-Star tot war. »Wir hatten vor zusammenzuziehen. Das hätte ihr das Leben gerettet.«

Es war völlig sinnlos, darüber nachzugrübeln, was hätte sein können. Auf diese Weise quälte man sich nur selbst. Dabei war das, was geschehen war, doch schon schlimm genug.

»Wir wissen, wer's war«, sagte Dawson, und ein Schauder lief durch den Raum. Es waren noch mehr Werwölfe im Haus - das spürte ich jetzt -, und bei Tray Dawsons Worten hatten alle aufgehorcht.

»Was? Woher?« Auf einmal stand Alcide vor uns, ohne dass ich ihn vom Küchenstuhl hatte aufstehen sehen.

»Ihre Hexenfreundinnen haben so 'ne Rekonstruktion gemacht«, erzählte Tray und nickte in meine Richtung. »Ich hab's mir angesehen. Es waren zwei Kerle. Den einen hab ich noch nie gesehen, Furnan hat also 'n paar Werwölfe von draußen reingebracht. Der andere war Cal Myers.«

Alcide ballte die Hände zu Fäusten. Er schien nicht zu wissen, was er zuerst sagen sollte, so viele verschiedene Gefühle brodelten in ihm. »Furnan hat Helfer angeheuert«, sagte er schließlich. »Also haben wir jetzt das Recht, sie ohne Vorwarnung zu töten. Wir schnappen uns einen der Mistkerle und bringen ihn zum Sprechen. Aber hierher können wir keine Geisel bringen, das würde auffallen. Tray, wo?«

»Hair of the Dog«, schlug Dawson vor.

Amanda war nicht allzu begeistert von der Idee. Die Bar gehörte ihr, und als Folterkammer oder Hinrichtungsort war sie ihr zu schade. Amanda wollte schon protestieren, da starrte Alcide sie mit so wutverzerrten Gesichtszügen an, dass er kaum noch zu erkennen war, und knurrte. Sie duckte sich und nickte zustimmend.

Für seine nächsten Worte erhob Alcide die Stimme fast noch mehr. »Tod ohne Vorwarnung für Cal Myers!«

»Aber er ist Mitglied des Rudels, und Mitglieder haben das Recht auf einen Prozess«, wandte Amanda ein, duckte sich aber gleich wieder, weil sie Alcides wölfisches Wutgeheul schon vorausgesehen hatte.

»Es fragt gar keiner nach dem Mann, der mich ermorden wollte«, warf ich ein, um die Situation ein wenig zu entspannen, wenn das überhaupt möglich war.

Obwohl Alcide vor Wut fast kochte, war er immer noch zu anständig, mir zu sagen, dass ich ja wohl überlebt hatte und Maria-Star nicht und dass er für Maria-Star viel tiefere Gefühle gehegt hatte als für mich. Beide Gedanken schossen ihm allerdings durch den Kopf.

»Es war ein Werwolf«, sagte ich. »Etwa 1,80 Meter groß und Mitte zwanzig. Glatt rasiert, braune Haare, blaue Augen und ein großes Muttermal am Hals.«

»Oh!«, rief Amanda. »Klingt nach diesem Wie-heißt-er-gleich, der brandneue Mechaniker in Furnans Werkstatt. Er wurde erst letzte Woche eingestellt. Lucky Owens. Ha! Wer war bei Ihnen?«

»Eric Northman«, sagte ich.

Schweigen breitete sich aus; hier hörte die Freundschaft definitiv auf. Werwölfe und Vampire waren natürliche Feinde, wenn nicht sogar Erzfeinde.

»Der Kerl ist also tot«, stellte Tray nüchtern fest, und ich nickte.

»Wie hat er sich an euch herangemacht?«, fragte Alcide in einem Ton, der schon wieder vernünftiger klang.

»Eine interessante Frage«, erwiderte ich. »Eric und ich fuhren gerade auf der Autobahn von Shreveport zurück nach Bon Temps. Wir waren in einem Restaurant gewesen.«

»Wer also konnte wissen, wo Sie waren und wer Sie begleitete?«, fragte Amanda, während Alcide stirnrunzelnd und tief in Gedanken versunken zu Boden sah.

»Oder dass Sie noch am selben Abend wieder über die Autobahn nach Hause mussten.« Tray stieg immer mehr in meiner Achtung. Alles, was er sagte, zeugte von praktischem Sachverstand.

»Meiner Mitbewohnerin habe ich nur erzählt, dass ich zum Essen ausgehe, aber nicht wohin«, sagte ich. »Im Restaurant haben wir uns mit jemandem getroffen, aber der fällt weg. Und Eric wusste davon, weil er mich chauffiert hat. Aber weder Eric noch der andere Mann haben irgendwem einen Tipp gegeben, da bin ich sicher.«

»Wie können Sie da so sicher sein?«, fragte Tray.

»Eric wurde angeschossen, als er mich verteidigte«, sagte ich. »Und der Mann, mit dem ich mich getroffen habe, war ein Verwandter.«

Amanda und Tray wussten nicht, wie klein meine Familie war, und verstanden daher die Bedeutung dieser Bemerkung nicht. Nur Alcide, der mich besser kannte, starrte mich funkelnd an. »Das denkst du dir doch aus«, sagte er.

»Nein, tue ich nicht.« Ich starrte zurück. Okay, es war ein furchtbarer Tag für Alcide gewesen, aber das hieß noch lange nicht, dass ich ihm mein Leben in allen Details erläutern musste. Dann fiel mir plötzlich etwas ein. »Moment mal, der Kellner - der war auch ein Werwolf.« Das würde eine Menge erklären.

»Wie heißt das Restaurant?«

»Les Deux Poissons.« Meine französische Aussprache war nicht besonders gut, aber die Werwölfe nickten.

»Kendali arbeitet dort«, sagte Alcide. »Kendali Kent. Langes rotes Haar?« Ich nickte, und er wirkte enttäuscht. »Ich dachte, Kendall würde sich auf unsere Seite schlagen. Wir sind ein paarmal zusammen ein Bier trinken gegangen.«

»Das ist Jack Kents ältester Sohn. Er musste vermutlich nur einen Telefonanruf machen«, sagte Amanda. »Vielleicht wusste er gar nicht...«

»Das ist keine Entschuldigung«, warf Tray ein. Seine tiefe Stimme dröhnte durch die kleine Küche. »Kendall muss wissen, wer Sookie ist, vom Leitwolf-Wettkampf. Sie ist eine Freundin des Rudels. Statt Alcide zu sagen, dass sie sich in unserem Territorium befindet und beschützt werden muss, hat er Furnan angerufen und dem erzählt, wo Sookie ist, vielleicht sogar, wann sie sich auf den Heimweg gemacht hat. War dann ganz einfach für Lucky, der brauchte bloß zu warten.«

Ich wollte einwenden, dass wir nicht mit abschließender Sicherheit wüssten, ob es wirklich so passiert war. Doch bei näherer Betrachtung musste es genau so gewesen sein oder jedenfalls ziemlich ähnlich. Nur um sicherzugehen, dass meine Erinnerung korrekt war, rief ich Amelia an und fragte sie noch mal, ob sie gestern Abend irgendeinem Anrufer erzählt hatte, wo ich war.

»Nein«, sagte sie. »Octavia hat sich gemeldet, doch die kannte dich noch gar nicht. Und ich habe einen Anruf von dem Werpanther bekommen, den ich auf der Hochzeit deines Bruders kennengelernt habe. Glaub mir, in dem Gespräch bist du gar nicht vorgekommen. Alcide hat angerufen, furchtbar traurig. Dann Tanya. Aber der habe ich nichts erzählt.«

»Danke, Amelia. Hast du dich schon etwas erholt?«

»Ja, mir geht's wieder besser, und Octavia ist zurück nach Monroe zu den Verwandten gefahren, bei denen sie wohnt.«

»Okay, wir sehen uns, wenn ich wieder zu Hause bin.«

»Schaffst du's denn dann noch rechtzeitig zur Arbeit?«

»Klar, ich muss es schaffen.« Ich hatte eine ganze Woche in Rhodes verbracht und musste jetzt eine Zeit lang meinen Arbeitsplan penibel einhalten, weil die anderen Kellnerinnen sonst meckern würden, dass Sam mir so oft freigab. Ich legte auf. »Amelia hat keinem was erzählt«, sagte ich.

»Du und Eric - ihr habt also in einem teuren Restaurant in locker-lässiger Atmosphäre zu Abend gespeist, mit noch einem weiteren Mann.«

Ungläubig sah ich Alcide an. Wie konnte er so meilenweit danebenliegen? Ich konzentrierte mich. Noch nie hatte ich einen solchen Aufruhr von Gedanken und Gefühlen gesehen. Alcide empfand Trauer um Maria-Star; Schuld, weil er sie nicht beschützt hatte; Wut, weil ich in den Rudelkrieg hineingezogen wurde; und ein besonders heftiges Verlangen, irgendwem den Schädel einzuschlagen. Und als Sahnehäubchen obendrauf noch Missmut, denn aus irgendeinem - völlig irrationalen - Grund passte es Alcide gar nicht, dass ich mit Eric ausgegangen war.

Aus Respekt vor Alcides Verlust versuchte ich, die Klappe zu halten. Solche gemischten Gefühle waren mir selbst schließlich auch nicht fremd. Doch schlagartig hatte ich die Nase gestrichen voll von ihm. »Okay«, erwiderte ich. »Dann ficht deine Kämpfe in Zukunft selbst aus. Immer wenn du mich darum gebeten hast, bin ich gekommen und habe dir geholfen, beim Leitwolf-Wettkampf und auch heute, auf eigene Kosten und ohne Rücksicht auf meinen eigenen Kummer. Du kannst mich mal, Alcide. Vielleicht ist Furnan doch der bessere Leitwolf.« Und damit drehte ich mich auf dem Absatz um. Ich sah noch den Blick, den Tray Alcide zuwarf, und marschierte zur Küche hinaus, die drei Stufen hinunter und zum Carport.

Und hätte irgendwo eine Bierdose im Weg gelegen, hätte ich die garantiert mit voller Wucht weggekickt.

»Ich fahre Sie nach Hause«, sagte Tray, der plötzlich neben mir stand, und ich ging an die Beifahrerseite seines Pick-up. Dafür war ich ihm echt dankbar, denn ohne ihn wäre ich ziemlich aufgeschmissen gewesen. Ich war einfach aus der Küche gestürmt, ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken, was als Nächstes passieren würde. Und es ruiniert nun mal jeden guten Abgang, wenn man zurückgehen muss, um aus dem Telefonbuch die Nummer eines Taxis herauszusuchen.

Ich hatte gemeint, dass Alcide mich seit dem Debakel mit Debbie wirklich verabscheute. Aber die Abscheu war offenbar nicht ganz so allumfassend.

»Schon ironisch, was?«, sagte ich nach einer angespannten Stille. »Gestern Abend wurde ich fast erschossen, weil Patrick Furnan glaubt, damit Alcide einen Schlag versetzen zu können. Und vor zehn Minuten noch hätte ich geschworen, dass das totaler Blödsinn ist.«

Tray sah mich an, als würde er lieber Zwiebeln schneiden als dieses Gespräch führen. Schließlich sagte er: »Alcide führt sich auf wie 'n Arschgesicht, aber er muss gerade auch mit 'ner Menge klarkommen.«

»Verstehe«, erwiderte ich und schwieg dann lieber, damit mir kein weiteres Wort dazu herausrutschte.

Wie sich herausstellte, war ich tatsächlich früh genug dran, um an diesem Nachmittag noch rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Ich war so aufgewühlt, dass ich beim Umziehen so sehr an meiner schwarzen Hose herumzerrte, bis sie fast zerriss. Und mein Haar bürstete ich mit derart übertriebenem Nachdruck, dass es sich knisternd elektrisch aufzuladen begann.

»Männer können unfassbare Arschlöcher sein«, sagte ich zu Amelia.

»Aber echt«, erwiderte sie. »Als ich heute nach Bob gesucht habe, fand ich im Wald eine Katze mit Jungen. Und rate mal, wie sie aussahen? Alle schwarz-weiß!«

Ich wusste wirklich nicht, was ich dazu sagen sollte.

»Also zum Teufel mit dem Versprechen, das ich ihm gegeben habe, oder? Ich werde mich amüsieren. Er geht hin und hat Sex, da kann ich das ja wohl auch tun. Und wenn er deshalb noch einmal auf mein Bett kotzt, dann jage ich ihn mit dem Besen aus dem Haus.«

Ich vermied es, Amelia direkt anzusehen. »Da hast du ganz recht«, sagte ich und hoffte, dass meine Stimme fest genug klang. Es tat so gut, mal nicht kurz vor einer Prügelei, sondern kurz vor einem Lachanfall zu stehen. Ich griff nach meiner Handtasche, prüfte im Spiegel des großen Badezimmers, ob mein Pferdeschwanz richtig saß, verließ das Haus durch die Hintertür und fuhr ins Merlotte's.

Ich war schon müde, noch ehe ich durch den Eingang für Angestellte trat. Kein guter Start für meine Schicht.

Sam sah ich nirgends, als ich meine Handtasche in der tiefen Kommode verstaute, die wir alle benutzten. Doch als ich durch den langen Flur, der zu den zwei Gästetoiletten, zu Sams Büro, zum Lagerraum und zur Küche führte, in die Bar ging, fand ich Sam hinter dem Tresen. Ich winkte ihm zu und band mir die weiße Schürze um, die ich mir von einem Stapel geschnappt hatte. Kellnerblock und Stift steckte ich in die eine Tasche, und dann sah ich mich nach Arlene um, die ich ablösen sollte, und verschaffte mir einen Überblick über die Tische in unserem Bereich.

Mir sank das Herz. Das würde kein friedlicher Abend werden. An einem meiner Tische saßen zwei Idioten in T-Shirts der Bruderschaft der Sonne. Die Bruderschaft war eine radikale Organisation, die überzeugt war, dass (a) Vampire von Natur aus sündige Wesen, ja fast Dämonen wären und dass sie (b) hingerichtet gehörten. Die »Prediger« der Bruderschaft hätten das zwar niemals öffentlich zugegeben, aber die Bruderschaft trat für die vollständige Ausrottung der Untoten ein. Ich hatte gehört, dass es sogar irgendein kleines Traktat gab, in dem beschrieben wurde, wie das am besten zu bewerkstelligen sei. Seit dem Bombenanschlag in Rhodes stellten sie ihren Hass immer dreister zur Schau.

Und die Bruderschaft gewann ständig neue Mitglieder, weil viele Amerikaner sich nicht mit etwas abfinden wollten, das ihnen fremd war und das sie nicht verstanden - und weil Hunderte von Vampiren in das Land strömten, das sie von allen Ländern auf der Welt am herzlichsten willkommen geheißen hatte. Einige streng katholische und streng islamische Länder hatten Gesetze erlassen, die es erlaubten, Vampire ohne Vorwarnung zu töten, während die Vereinigten Staaten dazu übergegangen waren, Vampire als religiös und politisch Verfolgte aufzunehmen. Doch die Gegner dieser Politik reagierten darauf mit offener Anfeindung. Erst vor Kurzem hatte ich einen Autoaufkleber gesehen mit dem Spruch: »Vampiren ein Leben geben? Nur über meine Leiche!«

In meinen Augen waren diese Sonnenbrüder intolerante Ignoranten, und ich verachtete jeden, der sich ihnen anschloss. Doch ich hatte gelernt, beim Bedienen zu diesem Thema zu schweigen, genauso, wie ich mich auch nicht in Gespräche über Abtreibung, Kontrolle von Waffenbesitz und Schwule beim Militär einmischte.

Ach natürlich, die beiden Sonnenbrüder waren vermutlich Freunde von Arlene. Meine beeinflussbare einstige Freundin hatte sich nämlich mit Haut und Haaren der Pseudoreligion dieser Bruderschaft der Sonne verschrieben.

Arlene gab mir rasch ein paar Infos zu den Tischen, dann war sie auch schon durch die Hintertür verschwunden. Mich sah sie nur noch mit harter Miene an, und ich fragte mich, wie es wohl ihren Kindern ging. Auf die hatte ich früher oft aufgepasst. Wahrscheinlich hassten sie mich inzwischen, wenn sie auf das hörten, was ihre Mutter ihnen erzählte.

Aber Sam bezahlte mich nicht für meine Launen, also versuchte ich, diese melancholischen Anwandlungen abzuschütteln. Es gab Gäste genug zu bedienen: Ich servierte Drinks, versorgte alle ausreichend mit Essen, tauschte einer Frau die heruntergefallene Gabel gegen eine saubere aus, brachte Catfish Hennessy einen Extravorrat Servietten, weil er frittierte Hühnchenstreifen aß, und wechselte ein paar freundliche Worte mit den Männern am Tresen. Die Sonnenbrüder behandelte ich wie alle anderen Gäste auch, und sie beachteten mich nicht weiter, was mir nur recht war. Zuversichtlich hoffte ich, dass sie gehen würden, ohne Schwierigkeiten zu machen ... bis Pam hereinkam.

Pam ist weiß wie ein Blatt Papier und sieht aus wie eine erwachsenere Version von Alice im Wunderland, die in eine Vampirin verwandelt wurde. An diesem Abend hatte sich Pam sogar noch ein blaues Band in ihr glattes blondes Haar gebunden, und statt ihrer üblichen Hosenkombination trug sie ein Kleid. Sie war wunderschön, auch wenn sie heute aussah wie eine Vampirin, die sich in die Sesamstraße verirrt hatte. Ihr Kleid hatte Puffärmelchen mit weißem Besatz, der Halsausschnitt war ebenfalls weiß abgesetzt, und auch die kleinen Knöpfchen vorne am Oberteil waren weiß und passten prima zu dem weiß gepunkteten Rockteil. Keine Strümpfe, registrierte ich. Doch an Pam hätte ohnehin jeder normale Strumpf komisch gewirkt, weil ihre Haut so bleich war.

»Hey, Pam«, sagte ich, als sie schnurstracks auf mich zukam.

»Sookie!«, rief sie herzlich und drückte mir einen Kuss so leicht wie eine Schneeflocke auf die Wange. Ihre Lippen fühlten sich kalt an auf meiner Haut.

»Was machst du hier?«, fragte ich. Gewöhnlich arbeitete Pam jeden Abend im Fangtasia.

»Ich habe eine Verabredung«, sagte sie. »Findest du, dass ich gut aussehe?« Sie drehte sich um sich selbst.

»Aber sicher. Du siehst doch immer gut aus, Pam.« Und das war nichts als die reine Wahrheit. Pam war zwar meistens ultrakonservativ und etwas altmodisch gekleidet, aber das hieß nicht, dass ihr die Sachen nicht standen. Sie hatte so einen gewissen Süß-aber-tödlich-Charme. »Wer ist denn der Glückliche?«

Sie blickte so verschmitzt drein, wie nur eine Vampirin von über zweihundert Jahren es konnte. »Wer sagt, dass es ein Mann ist?«

»Oh, stimmt.« Ich sah mich um. »Aber wer ist es denn nun?«

In diesem Augenblick betrat meine Mitbewohnerin das Merlotte's. Amelia trug eine schöne schwarze Leinenhose zu einem eierschalfarbenen Pullover und ein Paar Ohrringe aus Bernstein und Schildpatt. Ebenfalls konservativ, aber auf eine etwas modernere Weise. Sie kam zu uns, lächelte Pam an und fragte: »Hast du dir schon etwas zu trinken bestellt?«

Pam lächelte auf eine Art, die ich noch nie zuvor an ihr gesehen hatte. Irgendwie ... schüchtern. »Nein, ich habe auf dich gewartet.«

Sie setzten sich an den Tresen, und Sam bediente sie. Schon bald plauderten sie angeregt miteinander, und als sie ihre Drinks geleert hatten, standen sie auf und gingen.

Als sie an mir vorbeikamen, flötete Amelia: »Wir sehen uns dann irgendwann« - ihre Art, mir zu sagen, dass sie heute Nacht vermutlich nicht nach Hause kam.

»Okay, viel Spaß euch beiden«, sagte ich. Ihr Aufbruch wurde von mehr als nur einem Paar Männeraugen verfolgt. Und falls das Auge genauso beschlagen kann wie Glas, dürften in diesem Moment alle Männer in der Bar nur eine benebelte Sicht gehabt haben.

Ich machte erneut die Runde an meinen Tischen, brachte hier ein frisches Bier und dort die Rechnung, bis ich an den Tisch der beiden Idioten in den T-Shirts der Bruderschaft der Sonne kam. Ihr Blick war immer noch auf die Tür geheftet, als würde Pam jeden Augenblick wieder hereinspringen und »Buh!« rufen.

»Habe ich da eben gesehen, was ich glaube gesehen zu haben?«, fragte mich der eine, ein Mittdreißiger, glatt rasiert, braunes Haar, irgend so ein Normalo halt. Den anderen allerdings hätte ich wachsam im Auge behalten, wenn ich mit ihm allein im Aufzug gefahren wäre. Der Kerl war ziemlich dünn, hatte einen Kinnbart und einige Tattoos, die für mich wie selbst gestochen oder im Gefängnis gemacht aussahen, und er trug ein Messer an der Wade, wie ich ziemlich schnell bemerkte, nachdem ich in seinen Gedanken gelesen hatte, dass er bewaffnet war.

»Was glauben Sie denn gesehen zu haben?«, fragte ich zuckersüß. Der Braunhaarige hielt mich für ein bisschen dämlich. Aber das konnte mir als Tarnung nur recht sein, und es bedeutete immerhin, dass Arlene noch nicht so tief gesunken war, allen und jedem von meiner kleinen Besonderheit zu erzählen. Keiner in Bon Temps hätte (bei einer Umfrage am Sonntag nach der Kirche) gesagt, dass es telepathische Fähigkeiten wirklich gab. Wäre die Umfrage am Samstagabend im Merlotte's gemacht worden, hätten vielleicht schon einige zugegeben, dass da irgendwas dran sei.

»Ich glaube, ich habe eine Vampirin hier hereinspazieren sehen, als hätte sie das Recht dazu. Und ich glaube, ich habe eine Frau gesehen, die nur zu gern mit ihr zusammen die Bar verlassen hat. Herrgott, das ist doch nicht zu fassen!« Er sah mich an, als müsste ich seine Empörung teilen. Der mit den Gefängnistattoos nickte energisch.

»Entschuldigung, Sie meinen, es stört Sie, dass zwei Frauen zusammen eine Bar verlassen? Ich verstehe nicht, was Sie damit für ein Problem haben.« Natürlich verstand ich es, aber manchmal muss man eben auf Zeit spielen.

»Sookie!«, rief Sam in diesem Moment.

»Kann ich den Herren noch irgendetwas bringen?«, fragte ich, denn Sam wollte mich zweifellos zur Vernunft rufen.

Die beiden sahen mich jetzt auf seltsame Art und Weise an. Mittlerweile hatten sie wohl begriffen, dass ich nicht so ganz auf ihrer Linie lag.

»Ich schätze, wir gehen dann mal«, sagte der mit den Gefängnistattoos; er hoffte, dass man es mir ankreiden würde, wenn ich zahlende Gäste vergraulte. »Haben Sie unsere Rechnung schon fertig?« Ich hatte ihre Rechnung fertig und hielt sie ihnen unter die Nase. Sie warfen beide einen Blick darauf, legten einen Zehner hin und schoben ihre Stühle zurück.

»Bin gleich wieder da mit dem Wechselgeld.« Und schon hatte ich mich umgedreht.

»Stimmt so«, sagte der Braunhaarige, wenn auch in absolut mürrischem Ton und so, als hätte ihm mein Service überhaupt nicht gefallen.

»Idioten«, murmelte ich vor mich hin, als ich zur Kasse an den Tresen ging.

»Sookie, so was musst du an dir abprallen lassen«, sagte Sam.

Ich war so überrascht, dass ich Sam einfach nur anstarrte. Wir standen hinter dem Tresen, und Sam mixte einen Wodka Collins. Den Blick auf die Hände gerichtet, fuhr er leise fort: »Bediene sie einfach wie jeden anderen Gast auch.«

Es geschah nicht oft, dass Sam mich nicht wie eine gute Freundin, sondern wie eine Angestellte behandelte. Das tat weh, umso mehr, weil er recht hatte. Zwar war ich nach außen hin höflich geblieben - aber wenn sie diese T-Shirts nicht getragen hätten, hätte ich auch ihre letzten blöden Bemerkungen kommentarlos an mir abprallen lassen. Denn das Merlotte's gehörte nicht mir. Es gehörte Sam. Und wenn die Gäste nicht wiederkamen, hatte er die Folgen zu tragen. Ich indirekt natürlich auch, falls er Kellnerinnen entlassen musste.

»'tschuldigung«, sagte ich, obwohl es mir nicht leichtfiel, setzte ein Lächeln auf und ging eine unnötige Runde an meinen Tischen machen, eine, die vermutlich die Grenze von aufmerksam zu nervig bereits überschritt. Doch wenn ich jetzt aufs Angestelltenklo oder die Damentoilette für Gäste verschwunden wäre, hätte ich bloß geheult. Es tat einfach so weh, zurechtgewiesen zu werden, und das auch noch zu Recht. Doch am schlimmsten war, dass ich auf meinen Platz verwiesen worden war.

Als das Merlotte's an diesem Abend schloss, ging ich so rasch und unauffällig wie möglich. Ich musste über meine Gekränktheit hinwegkommen, das wusste ich, aber dann doch lieber allein zu Hause. Ich wollte keine »netten kleinen Gespräche« mit Sam führen - und auch mit keinem anderen, wenn wir schon dabei sind. Meine Kollegin Holly sah mich bereits viel zu neugierig an.

Also schnappte ich mir meine Handtasche und lief, die Schürze noch umgebunden, auf den Parkplatz. An meinem Auto lehnte jemand. Tray. Aber bevor ich ihn erkannte, erschrak ich gewaltig.

»Rennen Sie vor irgendwas davon?«, fragte er.

»Nein, ich renne zu irgendwas hin«, sagte ich. »Was machen Sie denn hier?«

»Ich fahre auf Ihrem Heimweg hinter Ihnen her«, erwiderte er. »Ist Amelia zu Hause?«

»Nein, sie ist ausgegangen.«

»Dann durchsuche ich auf jeden Fall auch Ihr Haus.« Und schon stieg der Riesenkerl in seinen Pick-up und folgte mir auf meinem Weg hinaus zur Hummingbird Road.

Es gab keinen Grund, der dagegen sprach. Ich fand es sogar richtig gut, dass mich jemand begleitete, jemand, dem ich vertraute.

Mein Haus stand noch genauso da, wie ich oder vielmehr wie Amelia es verlassen hatte. Die Außenbeleuchtung war automatisch angesprungen, und Amelia hatte sowohl die Lampe auf der hinteren Veranda als auch die über der Spüle in der Küche angelassen. Mit dem Schlüssel in der Hand ging ich auf die Tür zu.

Tray packte mich mit seiner großen Hand am Arm, als ich gerade den Türknauf drehen wollte.

»Keiner da.« Ich hatte ja meine eigene Methode, das zu überprüfen. »Und Amelia hat das Haus mit Magie versiegelt.«

»Bleiben Sie hier, ich sehe mich mal um«, sagte Tray leise. Ich nickte und ließ ihn gewähren. Nach einem kurzen Moment der Stille öffnete er die Tür von innen und sagte, ich könne in die Küche kommen. Ich wollte ihn schon auf seinem Rundgang durch den Rest des Hauses begleiten, doch Tray sagte: »Ich trinke gern 'ne Coke, wenn Sie eine dahaben.«

Mit diesem Appell an meine Gastfreundschaft lenkte er mich augenblicklich von meinem Vorhaben, ihn zu begleiten, ab. Meine Großmutter hätte mir eins mit der Fliegenklatsche verpasst, wenn ich für Tray nicht sofort eine Coke geholt hätte.

Als er in die Küche zurückkam und erklärte, es seien keine Eindringlinge im Haus, stand auf dem Tisch bereits ein Glas eisgekühlte Coke, und daneben lag ein Sandwich mit einer Scheibe kaltem Hackbraten. Und eine gefaltete Serviette.

Wortlos setzte sich Tray, legte sich die Serviette auf den Schoß, aß das Sandwich, trank die Coke. Ich hatte mir auch was zu trinken eingeschenkt und ihm gegenüber Platz genommen.

»Hab gehört, Ihr Freund ist verschollen«, sagte er, als er sich den Mund mit der Serviette abwischte.

Ich nickte.

»Was ist ihm zugestoßen? Was glauben Sie?«

Ich erklärte ihm die Umstände. »Und seitdem habe ich kein Wort mehr von ihm gehört«, beendete ich die Geschichte, die ich schon fast automatisch abspulen konnte. Vielleicht sollte ich sie mal auf Band aufnehmen?

»Klingt nicht gut«, war alles, was Tray sagte. Irgendwie gefiel mir seine ruhige, undramatische Art, über ein so heikles Thema zu sprechen. Und nach kurzem, nachdenklichem Schweigen fügte Tray hinzu: »Hoffentlich finden Sie ihn bald.«

»Danke. Ich wüsste wirklich gern, wie's ihm geht.« Was die reinste Untertreibung war.

»Also, ich mach mich dann besser mal auf den Weg«, sagte Tray. »Wenn Sie nachts irgendwie nervös werden, rufen Sie mich an. Ich kann innerhalb von zehn Minuten hier sein. Gut ist das nicht - Sie so allein hier draußen, jetzt, wo der Krieg losgeht.«

Vor meinem geistigen Auge sah ich schon Panzer meine Auffahrt entlangrollen.

»Wie schlimm wird's denn werden? Was meinen Sie?«, fragte ich.

»Mein Dad hat mir vom letzten Krieg erzählt. Der fand statt, als sein eigener Dad noch ein kleiner Junge war. Damals kämpften das Rudel aus Shreveport und das aus Monroe gegeneinander. Das Shreveport-Rudel hatte zu der Zeit weit über vierzig Leute, wenn man die Halbgaren mitzählte.« So wurden manchmal etwas spöttisch die genannt, die durch Biss zum Werwolf geworden waren. Sie konnten sich nur in eine Art Wolfsmensch verwandeln und nie in einen echten Wolf, so dass die Werwölfe von Geburt sich ihnen weit überlegen fühlten. »Aber das Monroe-Rudel hatte einen Haufen Collegestudenten in seinen Reihen, so dass es auch auf vierzig, fünfundvierzig Mitglieder kam. Am Ende des Krieges waren beide Rudel nur noch halb so groß.«

Ich dachte an die Werwölfe, die ich kannte. »Hoffentlich hört es bald wieder auf.«

»Wird es nicht«, sagte Tray völlig pragmatisch. »Die haben Blut geleckt, und Alcides Freundin zu töten statt sich an ihn selbst zu halten, war 'ne ganz feige Art der Kriegserklärung. Und dass die auch versucht haben, Sie zu erwischen, macht's noch schlimmer. Sie haben keinen Tropfen Werwolfblut in sich und sind sogar eine Freundin des Rudels. Das sollte Sie zu einer Unberührbaren machen, nicht zu einem Angriffsziel. Und heute Nachmittag hat Alcide auch noch Christine Larrabee tot aufgefunden.«

Wieder war ich schockiert. Christine Larrabee war die Witwe eines der ehemaligen Leitwölfe - oder vielmehr, war es gewesen. Sie hatte hohes Ansehen unter den Werwölfen genossen und war, wenn auch widerwillig, für Jackson Herveaux als Leitwolf eingetreten. Jetzt war sie einem späten Racheakt zum Opfer gefallen.

»Greift er gar keine Männer an?«, fragte ich, als ich endlich meine Stimme wiedergefunden hatte.

In Trays Miene stand tiefe Verachtung. »Nein«, sagte der Werwolf. »Sieht ganz so aus, als ob Furnan Alcides Wut anstacheln will. Furnan selbst bleibt cool, während er alle anderen bis aufs Blut reizt. Und das hat er fast geschafft. Alcide schwankt zwar noch zwischen Trauer und Rachedurst, wird aber wie mit der Schrotflinte drauflosschießen. Dabei wär's besser, wenn er wie ein Scharfschütze aus dem Hinterhalt feuern würde.«

»Ist Furnans Strategie nicht ziemlich... eigenwillig?«

»Ja«, sagte Tray zögernd. »Keine Ahnung, was in ihn gefahren ist. Offenbar will er Alcide nicht in einem Kampf von Mann zu Mann gegenübertreten. Furnan will Alcide nicht einfach bloß schlagen, sondern töten, ihn und all seine Leute, so sehe ich das zumindest. Einige Werwölfe, vor allem die mit kleinen Kindern, haben ihren Treueeid für Furnan schon erneuert. Seit den Angriffen auf die Frauen haben sie große Angst, dass er auch ihren Kindern was antun könnte.« Der Werwolf stand auf. »Danke fürs Essen. Ich muss meine Hunde noch füttern. Und Sie schließen gut hinter mir ab, hören Sie? Wo ist Ihr Handy?«

Ich gab es ihm, und für einen Mann mit so großen Händen speicherte Tray mit erstaunlich geschickten Bewegungen seine Handynummer in mein Telefonbuch ein. Dann winkte er kurz und ging. Er besaß ein hübsches kleines Holzhaus direkt neben seiner Reparaturwerkstatt, und ich war wirklich beruhigt, dass die Fahrt von hier nach dort nur zehn Minuten dauerte. Ich schloss die Tür hinter ihm ab und sah nach, ob die Küchenfenster geschlossen waren. Sieh an, Amelia hatte wohl irgendwann an diesem milden Nachmittag eines der Fenster gekippt. Als ich das entdeckt hatte, überprüfte ich erst mal alle Fenster im Haus, auch die im ersten Stock.

Nachdem das erledigt war und ich mich so sicher fühlte, wie es unter den Umständen möglich war, setzte ich mich vor den Fernseher. Doch ich nahm gar nicht richtig wahr, was auf dem Bildschirm geschah. Ich hatte über viel zu vieles nachzudenken.

Vor einigen Monaten hatte Alcide mich gebeten, zum Wettkampf um das Amt des Leitwolfs zu kommen und dort mit meinem telepathischen Talent Betrugsversuche aufzuspüren. Mein Pech, dass meine Anwesenheit bemerkt wurde und jeder erfuhr, dass ich es war, die Furnans Betrug aufgedeckt hatte. Es wurmte mich. Wieso hatte ich mich in diesen Wettkampf, der mich doch gar nichts anging, überhaupt hineinziehen lassen? Im Endeffekt war's doch so: Meine Freundschaft mit Alcide hatte mir nichts als Ärger eingebracht.

Ich war fast erleichtert, dass diese Ungerechtigkeit endlich eine Art Wut in mir auslöste. Doch da schob mein besseres Ich dem schon wieder einen Riegel vor. Es war nicht Alcides Fehler, dass Debbie Pelt ein mordgieriges Miststück gewesen war, und es war auch nicht Alcides Fehler, dass Patrick Furnan beim Leitwolf-Wettkampf betrogen hatte. Und genauso wenig war Alcide dafür verantwortlich, mit welch eigenwilliger und blutrünstiger Strategie Furnan das Rudel auf sich einzuschwören versuchte. Ich fragte mich, ob dieses Verhalten auch nur ansatzweise typisch für einen Werwolf war, und kam zu dem Schluss: Es war wohl einfach bloß typisch für Patrick Furnan.

Als das Telefon klingelte, sprang ich vor Schreck fast im Dreieck. »Hallo?« Ich war ganz unglücklich darüber, wie ängstlich meine Stimme klang.

»Der Werwolf Herveaux hat mich angerufen«, sagte Eric. »Er hat mir bestätigt, dass er sich mit seinem Leitwolf im Krieg befindet.«

»Und das musstest du dir von Alcide erst bestätigen lassen?«, fragte ich. »Meine Aussage hat dir nicht gereicht?«

»Ich habe nach einer Alternative zu der Theorie gesucht, dass du überfallen wurdest, weil irgendwer Alcide einen Schlag versetzen wollte. Niall hat dir doch sicher gesagt, dass er Feinde hat?«

»Mhm.«

»Ich habe mich gefragt, ob einer dieser Feinde sehr rasch gehandelt hat. Wenn Werwölfe Spione haben, warum dann nicht auch Elfen?«

Ich grübelte einen Moment. »Also hat Niall durch das Treffen beinahe meinen Tod verursacht.«

»Aber er war klug genug, mich zu bitten, dich nach Shreveport und auch wieder nach Hause zu fahren.«

»Also hat er mir das Leben gerettet, nachdem er es zuerst riskiert hat.«

Schweigen.

»Eigentlich«, sagte ich, wieder etwas gefestigter, »hast du mir das Leben gerettet, und dafür bin ich dir dankbar.« Fast erwartete ich schon, dass Eric mich fragen würde, wie dankbar genau ich ihm denn sei, und auf den Kuss zu sprechen käme... doch er sagte immer noch nichts.

Gerade als ich bereit war, irgendeine dumme Bemerkung zu machen, nur um das Schweigen zu brechen, sagte er: »Ich werde mich in diesen Werwolfkrieg nur einmischen, um unsere Interessen zu wahren. Oder um dich zu verteidigen.«

Jetzt fehlten zur Abwechslung mir mal die Worte. »Okay«, hauchte ich.

»Wenn du Ärger kommen siehst, wenn sie dich noch tiefer mit hineinziehen wollen, ruf mich sofort an«, forderte Eric. »Ich glaube, dass der Mörder tatsächlich vom Leitwolf geschickt wurde. Auf jeden Fall war er ein Werwolf.«

»Alcides Leute haben ihn an meiner Beschreibung erkannt. Der Kerl, ein Lucky Sowieso, war erst vor Kurzem von Furnan als Mechaniker angestellt worden.«

»Seltsam, dass er einen solchen Auftrag jemandem erteilt, den er kaum kennt.«

»Und den er auch nie mehr richtig kennenlernen wird.«

Eric lachte kurz auf. »Ich werde mit Niall über diese Sache nicht mehr sprechen. Aber er weiß natürlich, was passiert ist.«

Einen Moment lang spürte ich albernerweise einen kleinen Stich, weil Niall nicht sofort zu mir geeilt war oder mich angerufen und gefragt hatte, ob alles okay sei. Herrje, ich hatte ihn erst einmal gesehen, und schon war ich beleidigt, dass er sich nicht wie ein Kindermädchen um mich kümmerte.

»In Ordnung, Eric, danke.« Nachdem er sich verabschiedet hatte, legte ich auf. Ich hätte ihn noch mal auf mein Geld ansprechen sollen, aber die Energie hatte ich nicht mehr aufgebracht. Und es war ja auch nicht Erics Problem.

Ich war die ganze Zeit furchtbar nervös, während ich mich bettfertig machte, doch es geschah überhaupt nichts, wovor ich hätte Angst haben müssen. Etwa fünfzigmal ermahnte ich mich, dass Amelia das Haus doch mit Magie versiegelt hatte. Das würde wirken, ob sie nun hier war oder nicht.

Und ich hatte ziemlich gute Schlösser an den Türen.

Und ich war todmüde.

Schließlich schlief ich ein. Doch mehr als einmal wachte ich auf und lauschte nach einem Mörder.