Kapitel 6

Eine Stunde, bevor ich hatte aufstehen wollen, klopfte es am nächsten Morgen an der Haustür. Ich hörte es nur, weil Bob in mein Zimmer gerannt kam, auf mein Bett sprang - wo er nicht hingehörte - und sich in meine Kniekehlen kuschelte, da ich auf der Seite lag. Er schnurrte laut, und ich kraulte ihm die Ohren. Ich liebte Katzen. Was nicht hieß, dass ich Hunde weniger mochte. Ich hatte nur deshalb keinen eigenen Hund, weil ich die meiste Zeit des Tages nicht zu Hause war. Terry Bellefleur hatte mir vor einiger Zeit einen Welpen angeboten, doch ich hatte so lange gezögert, bis schließlich alle vergeben waren. Ob Bob wohl etwas gegen eine kleine Katzendame hätte? Oder würde Amelia eifersüchtig werden, wenn ich ein Weibchen nähme? Ich musste kichern, obwohl ich fast schon wieder schlief.

Aber ich schlief eben nicht richtig, und deshalb hörte ich das Klopfen.

Vor mich hin schimpfend, wie man nur so früh am Morgen fremde Leute stören könne, schlüpfte ich in die Hausschuhe und warf mir meinen dünnen blauen Bademantel über. In der Morgenluft lag ein eisiger Hauch, der mich daran erinnerte, dass wir trotz der milden und sonnigen Tage bereits Oktober hatten. Manchmal war noch an Halloween ein Pullover zu warm gewesen, manchmal hatte man aber auch schon einen leichten Mantel gebraucht, wenn man »Süßes oder Saures« rufend von Tür zu Tür ging-

Durch den Türspion sah ich eine ältere Schwarze mit einem Heiligenschein aus weißem Haar um den Kopf. Sie war vergleichsweise hellhäutig, und ihre Gesichtszüge zeigten schmale, scharfe Konturen: Nase, Lippen, Augen. Sie trug einen tiefroten Lippenstift und einen gelben Hosenanzug. Doch sie schien nicht bewaffnet zu sein oder irgendwie gefährlich. Da sieht man mal, wie falsch erste Eindrücke sein können. Ich öffnete die Tür.

»Junge Lady, ich bin hier, um Amelia Broadway zu besuchen«, informierte die Frau mich in äußerst korrekt gesprochenem Englisch.

»Kommen Sie bitte herein«, sagte ich, da sie schon eine ältere Dame war und man mich dazu erzogen hatte, das Alter zu ehren. »Nehmen Sie bitte Platz.« Ich deutete auf das Sofa. »Ich gehe nach oben und hole Amelia.«

Mir fiel auf, dass sie sich weder dafür entschuldigt hatte, mich so früh aus dem Bett geholt zu haben, noch dafür, hier so unangemeldet aufzukreuzen. Ich stieg die Treppe in der dunklen Vorahnung hinauf, dass Amelia über meine Nachricht gar nicht begeistert sein würde.

Ich ging so selten in den ersten Stock hinauf, dass ich überrascht war, wie schön Amelia alles hergerichtet hatte. Die Zimmer oben waren nur mit dem Nötigsten möbliert gewesen, und Amelia hatte aus dem auf der rechten Seite, dem größeren, ihr Schlafzimmer gemacht und aus dem links ein Wohnzimmer. Darin standen ihr Fernseher, ein Sessel und eine Ottomane, ein kleiner Computertisch mit ihrem Notebook und zwei, drei Pflanzen. Das Schlafzimmer, laut Familienchronik von einer Generation Stackhouses gebaut, die in schneller Folge drei Söhne gezeugt hatte, war nur mit einem kleinen eingebauten Schrank ausgestattet. Doch Amelia hatte irgendwo im Internet Kleiderständer auf Rollen gekauft und diese geschickt verdeckt von einem dreiteiligen Wandschirm aufgestellt, den sie bei einer Versteigerung ergattert und neu angepinselt hatte. Der leuchtende Bettüberwurf und das alte, ebenfalls gestrichene Tischchen, das sie als Schminktisch benutzte, boten einen farbenfrohen Kontrast zu der weiß getünchten Wand. Und inmitten all dieser Fröhlichkeit befand sich eine missmutige Hexe.

Amelia saß aufrecht im Bett, das kurze Haar stand ihr wild vom Kopf ab. »Wer ist denn das da unten?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme.

»Eine ältere schwarze Lady, ziemlich hellhäutig. Hat was Strenges an sich.«

»Oh mein Gott«, hauchte Amelia und fiel in ihre Dutzend oder mehr Kissen zurück. »Octavia.«

»Du musst herunterkommen und mit ihr sprechen. Ich kann sie nicht allein unterhalten.«

Amelia grummelte vor sich hin, fügte sich aber in das Unvermeidliche. Sie stand auf, zog das Nachthemd aus, BH und Slip an, stieg in die nächstbeste Jeans und holte irgendeinen Pullover aus der Kommode.

Ich lief wieder hinunter, um Octavia Fant mitzuteilen, dass Amelia gleich komme. Um ins Badezimmer zu gelangen, musste Amelia direkt an ihr vorbei, weil es im Haus nur diese eine Treppe gab. Nun, ich könnte zumindest für eine gute Atmosphäre sorgen.

»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte ich die ältere Dame, die ihre hellbraunen Augen interessiert durchs Wohnzimmer schweifen ließ.

»Wenn Sie Tee haben, nehme ich gern eine Tasse«, sagte Octavia Fant.

»Ja, Ma'am, haben wir.« Was für ein Glück, dass Amelia darauf bestanden hatte, Tee einzukaufen. Ich hatte keine Ahnung, welche Sorte es war, und konnte nur hoffen, dass es sich um Teebeutel handelte, denn losen Tee hatte ich noch nie in meinem Leben aufgebrüht.

»Gut«, sagte sie. Das war alles.

»Amelia kommt gleich herunter«, begann ich und überlegte, wie ich auf elegante Weise hinzufügen könnte: »Und sie muss hier durchs Zimmer flitzen, um aufs Klo gehen und sich die Zähne putzen zu können. Achten Sie einfach gar nicht auf sie.« Doch das war von vornherein eine verlorene Sache, und so floh ich in die Küche.

Ich fand Amelias Tee in einem der für sie reservierten Schrankfächer, und während das Wasser langsam heiß wurde, holte ich zwei Tassen und Untertassen heraus und stellte sie auf ein Tablett. Ich tat noch eine Zuckerdose dazu, ein kleines Milchkännchen und zwei Teelöffel. Servietten!, dachte ich und wünschte, ich besäße welche aus Stoff und nicht nur die üblichen aus Papier. (Ja, so eine Wirkung übte Octavia Fant auf mich aus, und das ganz ohne jede Hexerei.) Ich hörte im Badezimmer Wasser rauschen, als ich gerade eine Handvoll Kekse auf einen Teller legte und diesen zu dem übrigen Arrangement dazustellte. Das Einzige, was jetzt vielleicht noch fehlte, dachte ich, waren Blumen in einer kleinen Vase. Aber ich hatte weder das eine noch das andere. Also ergriff ich das Tablett und marschierte langsam den Flur entlang ins Wohnzimmer.

Ich setzte das Tablett auf dem Couchtisch direkt vor Ms Fant ab, die mich mit ihrem bohrenden Blick ansah und mir mit einem knappen Kopfnicken dankte. Erst da fiel mir auf, dass ich ihre Gedanken nicht lesen konnte. Ich hatte mich bisher zurückgehalten, um mich ihr im richtigen Moment mit der einer Hexe ihres Ranges gebührenden Aufmerksamkeit zu nähern. Doch ganz offensichtlich konnte Octavia Fant mich aus ihren Gedanken ausschließen. Noch nie war mir ein Mensch begegnet, dem das gelang. Einen Augenblick lang war ich fast verärgert, aber dann erinnerte ich mich daran, wer und was sie war, und ging in mein Schlafzimmer, um mein Bett zu machen und mein eigenes kleines Bad aufzusuchen. Auf dem Flur traf ich Amelia, die mich verängstigt anblickte.

Tut mir leid, Amelia, dachte ich, als ich die Tür meines Zimmers hinter mir schloss. Da musst du allein durch.

Meine Schicht im Merlotte's begann heute erst am späten Nachmittag, und so zog ich eine alte Jeans an und ein Fangtasia-Shirt (»Die Bar mit Biss«). Das hatte Pam mir geschenkt, als die Bar begann, aus Marketinggründen solche T-Shirts zu verkaufen. Ich schlüpfte in ein Paar Crocs, dann lief ich in die Küche, um endlich zu meinem eigenen Getränk zu kommen, das ich morgens so dringend benötigte: Kaffee. Ich machte mir ein paar Toasts und griff nach der Lokalzeitung, die ich mit hereingebracht hatte, als ich Octavia Fant die Tür aufgemacht hatte. Ich überflog die Schlagzeilen auf der ersten Seite. Der Schulaufsichtsrat hatte getagt, der hiesige Wal-Mart hatte dem Boys & Girls Club für sein Jugendfreizeitprogramm eine großzügige Spende zukommen lassen, und Louisiana hatte das Gesetz zur rechtlichen Anerkennung von Ehen zwischen Vampiren und Menschen verabschiedet. Sehr gut. Niemand hatte damit gerechnet, dass dieses Gesetz jemals in Kraft treten würde.

Ich schlug die Zeitung auf und las die Todesanzeigen. Zuerst die der im Ort Verstorbenen - keiner darunter, den ich kannte, gut. Dann die der Toten aus dem Landkreis - oh nein.

MARIA-STAR COOPER, lautete die Überschrift, und im Text hieß es lediglich: »Maria-Star Cooper, 25, Einwohnerin von Shreveport, verstarb gestern unerwartet in ihrem Apartment. Cooper, eine Fotografin, hinterlässt ihre Eltern, Matthew und Stella Cooper aus Minden, Louisiana, sowie drei Brüder. Angaben zur Beerdigung folgen.«

Mir stockte der Atem. Ungläubig sank ich in den harten Küchenstuhl zurück. Ich war nicht richtig mit Maria-Star befreundet gewesen, aber ich hatte sie gemocht. Außerdem war sie bereits seit einiger Zeit mit Alcide Herveaux, einem wichtigen Mitglied des Werwolfrudels von Shreveport, zusammen gewesen. Der arme Alcide! Schon seine erste Freundin war eines gewaltsamen Todes gestorben, und jetzt das.

Als das Telefon klingelte, sprang ich sofort auf. Mit dem schrecklichen Gefühl einer drohenden Katastrophe griff ich nach dem Hörer. »Hallo?«, sagte ich vorsichtig, als könnte das Telefon explodieren.

»Sookie«, sagte Alcide mit seiner tiefen Stimme, die ganz heiser war vom Weinen.

»Es tut mir so leid«, erwiderte ich. »Ich habe es gerade in der Zeitung gelesen.« Es gab nichts zu beschönigen. Nun wusste ich, warum er gestern Abend angerufen hatte.

»Sie wurde ermordet«, sagte Alcide.

»Oh mein Gott.«

»Sookie, das war erst der Anfang. Es besteht die Möglichkeit, dass Furnan auch hinter dir her ist. Du musst auf der Hut sein.«

»Die Warnung kommt zu spät«, sagte ich nach kurzem Schweigen. Ich hatte einen Moment gebraucht, um die entsetzliche Neuigkeit richtig einzuordnen. »Gestern Abend hat bereits jemand versucht, mich zu ermorden.«

Alcide hielt das Telefon von sich weg und stieß ein Wolfsgeheul aus. Es war heller Tag, und ich hörte es nur übers Telefon... trotzdem war es furchterregend.

Im Werwolfrudel von Shreveport brodelte es schon seit geraumer Zeit. Das wusste sogar ich, die mit Werwolfpolitik sonst nichts zu tun hatte. Patrick Furnan, der Leitwolf des Reißzahnrudels, war in das höchste Amt aufgestiegen, indem er Alcides Vater bei einem Kampf getötet hatte. Der Sieg war rechtlich unanfechtbar - okay, nach Werwolfrecht unanfechtbar -, aber auf dem Weg dorthin hatte es ein paar nicht ganz so unanfechtbare Dinge gegeben. Und Alcide - ein starker, reicher junger Mann voll innerem Groll - war stets eine Bedrohung für Furnan geblieben, zumindest sah Furnan selbst das so.

Es war ein heikles Thema, da die Werwölfe noch im Verborgenen lebten und nicht wie die Vampire offen unter den Menschen. Der Tag rückte näher, und würde sicher bald kommen, an dem auch die Gestaltwandler den entscheidenden Schritt vollzogen. Ich hatte sie wieder und wieder darüber reden hören. Aber noch war es nicht so weit, und es wäre auch nicht gut, wenn das Erste, was die Menschen über die Werwölfe erfuhren, mit einem Haufen Leichen zu tun hatte.

»Ich schicke sofort jemanden zu dir«, sagte Alcide.

»Auf keinen Fall. Ich muss heute Abend arbeiten, und außerdem bin ich doch nur eine Randfigur. Da versuchen sie es sicher nicht noch einmal. Aber ich muss herausfinden, woher der Kerl wusste, wo und wann er mich finden konnte.«

»Erzähl bitte auch Amanda, was passiert ist«, sagte Alcide mit Zorn in der Stimme. Und dann war Amanda dran. Kaum zu glauben, dass wir bei unserem letzten Treffen auf der Hochzeit beide noch so fröhlich gewesen waren.

»Was ist passiert?«, fragte sie forsch und machte damit gleich klar, dass sie keine Ausflüchte dulden würde. Also erzählte ich ihr die Geschichte so knapp wie möglich (ich nannte weder Nialls Namen noch Erics und ließ auch sonst die meisten Details weg). Als ich fertig war, schwieg Amanda einen Augenblick.

»Da er ausgeschaltet wurde, haben wir schon mal eine Sorge weniger«, sagte sie schließlich und klang richtig erleichtert. »Schade, dass Sie uns nicht sagen können, wer es war.«

»Ja, schade«, erwiderte ich etwas bissig. »Ich musste dauernd an seinen Revolver denken, da habe ich seinen Personalausweis glatt vergessen. Wie kann es sein, dass innerhalb des Rudels ein Krieg ausbricht? So viele Leute sind das doch gar nicht.« Das Werwolfrudel von Shreveport zählte kaum noch dreißig Mitglieder.

»Mit Verstärkungstruppen aus anderen Regionen.«

»Warum sollte jemand so etwas tun?« Warum sich an einem Krieg beteiligen, der nicht der eigene war? Welchen Sinn hatte es, das Leben seiner Leute aufs Spiel zu setzen, wenn es um den Konflikt innerhalb eines anderen Rudels ging?

»Es hat immer Vorteile, aufseiten des Siegers zu stehen«, erwiderte Amanda. »Sagen Sie, wohnt eigentlich diese Hexe noch bei Ihnen?«

»Ja.«

»Dann könnten Sie uns helfen.«

»Okay«, sagte ich, auch wenn ich mich nicht erinnerte, meine Hilfe angeboten zu haben. »Und wie?«

»Bitten Sie Ihre Freundin, in Maria-Stars Apartment zu gehen und nach irgendwelchen Anzeichen zu suchen, was dort passiert ist. Würden Sie das tun? Wir wollen wissen, welche Werwölfe an dem Mord beteiligt waren.«

»Das kann ich tun. Aber ich weiß nicht, ob sie es machen wird.«

»Fragen Sie sie bitte, jetzt gleich.«

»Äh ... ich rufe später zurück. Sie hat gerade Besuch.«

Ehe ich ins Wohnzimmer ging, machte ich noch einen Anruf. Weil das Fangtasia noch nicht geöffnet hatte und ich diese Nachricht dort nicht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen wollte, rief ich Pam auf ihrem Handy an - etwas, das ich noch nie getan hatte. Als es klingelte, fragte ich mich, ob sie ihr Handy wohl bei sich im Sarg liegen hatte. Eine gruselige Vorstellung. Dabei wusste ich nicht mal, ob Pam tatsächlich in einem Sarg schlief, aber falls ... ich schauderte. Natürlich, die Mailbox sprang an. Trotzdem sagte ich: »Pam, ich weiß jetzt, warum Eric und ich letzte Nacht überfallen wurden, oder zumindest glaube ich es. Es braut sich ein Werwolfkrieg zusammen, und sie hatten es vermutlich auf mich abgesehen. Irgendwer hat uns an Patrick Furnan verraten. Dabei hatte ich niemandem gesagt, wohin ich fahre.« Das war eine der Merkwürdigkeiten, die Eric und ich gestern vor lauter Entsetzen gar nicht richtig besprochen hatten. Wie konnte jemand, wer auch immer, herausfinden, wo wir den Abend verbringen und dass wir von Shreveport nach Bon Temps zurückfahren würden?

Amelia und Octavia waren mitten im Gespräch, doch keine von beiden wirkte so verärgert oder unglücklich, wie ich befürchtet hatte.

»Ich muss leider kurz stören«, sagte ich, als beide mich ansahen. Octavias Augen waren braun und Amelias leuchtend blau, doch in diesem Augenblick stand ein auf unheimliche Weise ähnlicher Ausdruck in ihrem Blick.

»Ja?« Octavia beherrschte eindeutig die Situation.

Natürlich wusste jede Hexe, die ihren Zauberstab wert war, über Werwölfe Bescheid. Ich fasste die Gründe für den Werwolfkrieg in ein paar Sätzen zusammen, erzählte ihnen von dem Angriff auf der Autobahn letzte Nacht und erklärte ihnen Amandas Bitte.

»Sind das Angelegenheiten, in die du dich einmischen solltest, Amelia?«, fragte Octavia in einem Ton, der ziemlich deutlich machte, dass es auf diese Frage nur eine Antwort geben konnte.

»Oh, ich finde schon«, sagte Amelia lächelnd. »Ich kann doch nicht zulassen, dass jemand auf meine Mitbewohnerin schießt. Natürlich helfe ich Amanda.«

Octavia hätte nicht entsetzter sein können, wenn Amelia ihr Wassermelonenkerne auf den gelben Hosenanzug gespuckt hätte. »Amelia! Du versuchst dich immer wieder an Dingen, die über deine Fähigkeiten gehen! Du wirst in furchtbare Schwierigkeiten geraten! Sieh dir nur an, was du dem armen Bob Jessup angetan hast.«

Oh Mann. Ich kannte Amelia noch nicht lange, aber dass man mit dieser Methode bei ihr nie etwas erreichen würde, wusste sogar ich. Wenn Amelia auf irgendetwas stolz war, dann auf ihre Hexenkünste. Ihre Fähigkeiten in Frage zu stellen hieß, sie herauszufordern. Okay, bei Bob hatte sie allerdings richtig Mist gebaut.

»Können Sie ihn zurückverwandeln?«, fragte ich die ältere Hexe.

Octavia sah mich streng an. »Natürlich.«

»Warum tun Sie's dann nicht, und danach sehen wir weiter«, entgegnete ich.

Octavia wirkte völlig entsetzt. Ich weiß, ich hätte es ihr nicht so auf den Kopf zusagen dürfen. Andererseits, wenn sie Amelia beweisen wollte, wie viel machtvoller ihre Hexenkünste waren - jetzt hatte sie Gelegenheit dazu. Kater Bob saß auf Amelias Schoß und machte einen völlig unbekümmerten Eindruck. Octavia zog aus ihrer Handtasche eine Pillendose hervor, die mit Marihuana gefüllt zu sein schien. Okay, vermutlich sehen getrocknete Kräuter alle irgendwie gleich aus, und ich hatte auch noch nie mit Marihuana zu tun, so dass ich es eigentlich gar nicht beurteilen kann. Egal, Octavia nahm ein wenig von diesem getrockneten grünen Zeug, streckte den Arm aus und ließ es auf das Katzenfell herabrieseln. Bob schien es nicht zu stören.

Amelias Gesicht war ein Bild für die Götter, als sie Octavia einen Hexenzauber vollführen sah, der aus einigen Worten Latein, ein paar Gesten und den eben erwähnten Kräutern bestand. Schließlich murmelte Octavia etwas, das klang wie die esoterische Version von »Abrakadabra!« und zeigte auf den Kater.

Nichts passierte.

Octavia wiederholte ihre Worte noch einmal mit Nachdruck. Wieder zeigte sie mit dem Finger auf Bob.

Und wieder passierte absolut nichts.

»Wissen Sie, was ich glaube?«, sagte ich. Keiner schien es wissen zu wollen, aber es war schließlich mein Haus. »Vielleicht war Bob ja schon immer ein Kater, der aus irgendwelchen Gründen vorübergehend in einen Menschen verhext war. Und deshalb können Sie ihn nicht zurückverwandeln. Vielleicht ist er jetzt einfach in seiner richtigen Existenzform.«

»So ein Unsinn!«, schimpfte die ältere Hexe. Ihr Versagen machte ihr offenbar ganz schön schwer zu schaffen. Amelia musste sich sehr zusammenreißen, um nicht zu grinsen.

»Wenn Sie auch jetzt noch überzeugt sind, dass Amelia unfähig ist - und zufällig weiß ich, dass sie es nicht ist -, sollten Sie uns in Maria-Stars Apartment begleiten«, sagte ich. »Nur um aufzupassen, dass Amelia nicht in Schwierigkeiten gerät, natürlich.«

Amelia sah mich einen Augenblick lang entrüstet an, doch dann schien sie meinen Plan zu verstehen und stimmte in meine Bitte ein.

»Nun gut. Ich komme mit«, willigte Octavia großmütig ein.

Ich konnte zwar nicht die Gedanken der alten Hexe lesen, aber ich hatte lange genug in einer Bar gearbeitet, um einen einsamen Menschen zu erkennen, wenn ich einen sah.

Als ich Amanda zurückrief, gab sie mir die Adresse und sagte, dass Dawson das Apartment bewachen werde, bis wir kämen. Ich kannte ihn und mochte ihn, er hatte mir schon einmal geholfen. Ihm gehörte die kleine Reparaturwerkstatt für Motorräder ein paar Meilen außerhalb von Bon Temps, und manchmal vertrat er Sam hinter dem Tresen im Merlotte's. Dawson gehörte keinem Werwolfrudel an; dass er sich jetzt auf die Seite der Rebellen um Alcide schlug, war bemerkenswert.

Ich kann nicht behaupten, dass die Fahrt an den Stadtrand von Shreveport uns drei furchtbar zusammenschweißte, aber ich klärte Octavia unterwegs über die Hintergründe des Konflikts im Werwolfrudel auf. Und ich erklärte ihr, was ich damit zu tun hatte. »Alcide wollte mich beim Wettkampf um das Amt des Leitwolfs als menschlichen Lügendetektor dabeihaben«, erzählte ich. »Und ich habe den Gegner seines Vaters tatsächlich auch einmal beim Betrug erwischt, was gut war. Aber danach wurde es ein Kampf auf Leben und Tod, und Patrick Furnan erwies sich als der Stärkere. Er hat Jackson Herveaux getötet.«

»Und die Todesursache wurde vermutlich verschleiert?« Die alte Hexe wirkte weder schockiert noch überrascht.

»Ja, sie haben die Leiche auf einen abgelegenen alten Bauernhof der Familie gebracht, wo erst mal eine Zeit lang niemand nach ihm suchen würde. Die Wunden der Leiche waren unkenntlich, als sie schließlich gefunden wurde.«

»Ist Patrick Furnan ein guter Leitwolf?«

»Darüber weiß ich wirklich nicht Bescheid«, gab ich zu. »Alcide hat eigentlich schon immer eine Gruppe Unzufriedener um sich geschart. Und weil ich diese Leute aus dem Rudel am besten kenne, gehöre ich wohl auf Alcides Seite.«

»Haben Sie nie in Erwägung gezogen, sich herauszuhalten? Den besten Werwolf gewinnen zu lassen?«

»Nein«, sagte ich ehrlich. »Ich wäre froh gewesen, wenn Alcide mich nicht angerufen und mir von den Schwierigkeiten im Rudel erzählt hätte. Doch jetzt, da ich davon weiß, werde ich ihm helfen, wenn ich kann. Nicht, dass ich ein Engel wäre oder so was. Aber Patrick Furnan hasst mich, und da ist es das Klügste, Furnans Feind zu helfen, Punkt eins. Und ich mochte Maria-Star, Punkt zwei. Und gestern Nacht hat jemand versucht, mich zu ermorden, jemand, den Patrick Furnan angeheuert haben könnte, Punkt drei.«

Octavia nickte. Eine zartbesaitete alte Lady war sie jedenfalls nicht.

Maria-Star hatte in einer ziemlich alten Wohnanlage am Highway 3 zwischen Benton und Shreveport gewohnt. Es war ein kleiner Komplex, im Grunde nur zwei Gebäude nebeneinander, mit einem Parkplatz davor und direkt am Highway. Dahinter erstreckte sich ein Feld, und in den benachbarten Gebäuden waren Arztpraxen und Büros untergebracht.

Jedes der beiden roten Backsteingebäude war in vier Apartments unterteilt. Vor dem rechten Gebäude entdeckte ich einen mir vertrauten, schäbigen Pick-up und parkte daneben. Die Apartments waren nur über das Innere des Gebäudes zugänglich. Man trat in eine Eingangshalle, und zu beiden Seiten der Treppe, die ins zweite Stockwerk hinaufführte, befand sich jeweils eine Tür. Maria-Star hatte im Erdgeschoss links gewohnt. Was unschwer daran zu erkennen war, dass Dawson an der Wand neben der Apartmenttür lehnte.

Ich stellte ihn den beiden Hexen als »Dawson« vor, seinen Vornamen kannte ich gar nicht. Dawson war ein Koloss von einem Mann. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass er mit bloßen Händen Pekannüsse knacken konnte. Sein dunkelbraunes Haar zeigte bereits erste graue Strähnen, doch sein sauber gestutzter Schnauzbart war noch dunkel. Ich kannte ihn schon mein Leben lang, aber nur vom Sehen, richtig kennengelernt hatten wir uns nie. Dawson war etwa sieben oder acht Jahre älter als ich, hatte früh geheiratet und sich auch früh wieder scheiden lassen. Sein Sohn, der bei seiner Mutter lebte, war ein ziemlich guter Footballspieler an der Highschool in Clarice. Dawson wirkte härter als jeder andere Mann, den ich kannte. Ich weiß nicht, lag es an seinen dunklen Augen, an seiner grimmigen Miene oder einfach nur an seiner Körpergröße?

Da dies ein Tatort war, klebte vor der Tür des Apartments ein polizeiliches Absperrband. Tränen stiegen mir in die Augen. Hinter dieser Tür war Maria-Star erst vor wenigen Stunden gewaltsam zu Tode gekommen. Dawson zog einen Schlüssel hervor (Alcides?), schloss die Tür auf, und wir duckten uns unter dem Absperrband hindurch und traten in die Wohnung.

Wie erstarrt standen wir alle schweigend da, erschüttert von dem Anblick, den das Wohnzimmer bot. Der mutwillig umgestoßene Couchtisch, dessen Holz einen tiefen Riss aufwies, versperrte mir den Weg. Mein Blick wanderte unruhig über unregelmäßige dunkle Flecken an den Wänden, bis mein Verstand mir sagte, dass es sich um Blutflecken handelte.

Ein schwacher, aber unangenehmer Geruch lag in der Luft. Ich begann, flacher zu atmen, damit mir nicht übel wurde.

»Also, was sollen wir tun?«, fragte Octavia.

»Ich dachte an eine ektoplasmische Rekonstruktion, das hat Amelia schon mal für mich gemacht«, sagte ich.

»Amelia hat schon mal eine ektoplasmische Rekonstruktion gemacht?« Octavias hochmütiger Ton war verschwunden, jetzt klang sie ehrlich verwundert, ja beinahe ehrfürchtig. »Ich habe noch nie eine gesehen.«

Amelia nickte bescheiden. »Mit Terry, Bob und Patsy«, bestätigte sie. »Es hat wunderbar geklappt. Wir mussten ein ziemlich großes Gebiet abdecken.«

»Dann können wir gewiss auch hier eine machen.« Octavia wirkte interessiert und aufgeregt. Es war, als wäre ihr Gesicht plötzlich erwacht, als hätte sie uns zuvor nur ihr deprimiertes Selbst gezeigt. Und jetzt konnte ich auch einige Gedanken von ihr auffangen (weil sie sich nicht mehr so sehr darauf konzentrierte, mich abzublocken) und erfuhr, dass Octavia sich in den ersten vier Wochen nach Katrina jeden Tag gefragt hatte, woher sie ihre nächste Mahlzeit nehmen und wo sie in der nächsten Nacht schlafen sollte. Zurzeit lebte sie bei Verwandten, aber davon bekam ich kein genaueres Bild.

»Ich habe alles Notwendige dabei«, sagte Amelia, deren Gedanken vor allem Stolz und Erleichterung ausstrahlten. Vielleicht würde sie für den Unglücksfall mit Bob doch keinen so hohen Preis zahlen müssen.

Dawson lehnte an der Wand und hörte uns interessiert zu. Da er ein Werwolf war, konnte ich seine Gedanken nur mit Mühe lesen, doch er schien auf jeden Fall entspannt.

Er war wirklich zu beneiden. Ich selbst konnte mich unmöglich in diesem schrecklichen kleinen Apartment entspannen, in dem die Gewalt noch von allen Wänden widerhallte. Ich hatte ja schon Hemmungen, mich nur auf das Sofa oder in den Sessel zu setzen, die beide mit blau-weiß kariertem Stoff bezogen waren. Der Teppich war dunkelblau und der Anstrich der Wände weiß. Alles passte zusammen. Etwas zu langweilig für meinen Geschmack. Doch es war ein hübsches Apartment gewesen, ordentlich und gepflegt, und vor weniger als vierundzwanzig Stunden war es noch ein Zuhause gewesen.

Ich konnte bis ins Schlafzimmer hinübersehen, wo die Bettdecke zurückgeschlagen war. Das einzige Anzeichen von Unordnung in Schlafzimmer und Küche. Das Wohnzimmer war das Zentrum der Gewalt gewesen.

Weil ich nicht wusste, wohin mit mir, lehnte ich mich schließlich neben Dawson an die Wand.

Ich glaube, der Motorradmechaniker und ich hatten noch nie ein längeres Gespräch geführt, obwohl er vor einigen Monaten angeschossen worden war, als er mir zu Hilfe eilte. Ich hatte gehört, dass die Gesetzeshüter (in diesem Fall Andy Bellefleur und sein Kollege Detective Alcee Beck) Dawson verdächtigten, in seiner Reparaturwerkstatt noch anderes zu tun, als nur Motorräder zu reparieren. Aber sie hatten Dawson nie irgendetwas Illegales nachweisen können. Manchmal ließ Dawson sich auch als Bodyguard anheuern, oder vielleicht bot er seine Dienste auch von sich aus an. Für den Job war er auf jeden Fall bestens geeignet.

»Waren Sie mit ihr befreundet?«, brummte Dawson und nickte zu der blutigsten Stelle auf dem Fußboden hinüber, zu jener Stelle, an der Maria-Star gestorben war.

»Wir waren eher Bekannte«, sagte ich, weil ich nicht mehr Mitgefühl erregen wollte, als mir zustand. »Ich hab sie erst vorgestern auf einer Hochzeit getroffen.« Ich wollte gerade hinzufügen, dass es ihr dort noch sehr gut ging, aber das wäre zu dämlich gewesen. Man wird ja nicht krank, ehe man einem Mord zum Opfer fällt.

»Wann hat Maria-Star zuletzt mit jemandem gesprochen?«, fragte Amelia Dawson. »Ich muss die Zeit etwas eingrenzen.«

»Gestern Abend um elf«, sagte er. »Ein Anruf von Alcide. Er war nicht in der Stadt, dafür gibt's Zeugen. Ungefähr 'ne halbe Stunde später hat eine Nachbarin hier drin 'nen Höllenlärm gehört und die Polizei angerufen.« Wow, eine ganz schön lange Rede für Dawson. Amelia kehrte zu ihren Vorbereitungen zurück, und Octavia las in einem schmalen Buch, das Amelia aus ihrem kleinen Rucksack gefischt hatte.

»Haben Sie so was schon mal gesehen?«, fragte Dawson mich.

»Ja, in New Orleans. Ich glaube, das wird ziemlich selten gemacht und ist auch schwierig auszuführen. Aber Amelia ist richtig gut darin.«

»Sie wohnen mir ihr zusammen, oder?«

Ich nickte.

»Hab so was gehört«, sagte Dawson. Dann schwiegen wir erst mal wieder. Dawson war eben nicht nur ein nützliches Muskelpaket, sondern auch ein völlig entspannter Kumpel.

Erst gab es einiges Gestikuliere, dann folgte eine Art Singsang, wobei Octavia sich an ihrer einstigen Schülerin orientierte. Octavia mochte ja noch nie eine ektoplasmische Rekonstruktion gemacht haben, aber je länger das Ritual dauerte, desto mehr magische Energie waberte sirrend durch das kleine Zimmer, bis sie schließlich auf allem, sogar auf meinen Fingernägeln, summte. Dawson wirkte nicht wirklich erschrocken, war aber ganz klar auf der Hut, als der Druck der sich aufbauenden Magie immer stärker zunahm. Er löste seine verschränkten Arme und stellte sich kerzengerade hin, genau wie ich auch.

Obwohl ich wusste, was mich erwartete, war ich doch einen Augenblick lang entsetzt, als Maria-Star im Zimmer erschien. Dawson machte vor Schreck einen Satz. Maria-Star lackierte sich die Fußnägel. Ihr langes dunkles Haar hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie saß auf dem Teppich vor dem Fernseher, unter den Füßen sorgfältig ein Blatt Zeitungspapier ausgebreitet. Das magisch heraufbeschworene Scheinbild war von demselben fließenden Charakter, den ich schon bei der letzten Rekonstruktion gesehen hatte (als ich meine Cousine Hadley in ihren letzten Stunden hier auf Erden beobachtet hatte). Dabei wurden keinerlei Gegenstände sichtbar, sondern ausschließlich Lebewesen. Maria-Star bestand aus nichts als flüchtigen Farben. Sie war wie eine durchsichtige Hülle, die mit einem glitzernden flüssigen Stoff gefüllt war. Und weil ihr Apartment jetzt nicht mehr so aufgeräumt war wie am Abend zuvor, ergab sich ein höchst seltsamer Effekt. Denn sie saß inmitten des umgestoßenen Couchtisches.

Wir mussten nicht lange warten. Maria-Star war bald fertig mit Nägellackieren und sah fern (der Fernseher war für uns natürlich dunkel). Während sie wartete, dass der Nagellack trocknete, machte sie noch ein paar gymnastische Übungen für die Beine. Doch schließlich griff sie nach dem Lackfläschchen, nahm die Zehenspreizer heraus, faltete das Zeitungspapier zusammen und ging ins Bad. Weil die Badezimmertür jetzt im Gegensatz zu gestern halb angelehnt war, ging die fließende Maria-Star durch sie hindurch. Von unserer Ecke aus konnten Dawson und ich sie dort drinnen nicht mehr sehen. Amelia zuckte bloß die Achseln, als wolle sie sagen, Maria-Star tue sowieso nichts Wichtiges. Was meinte sie? Ektoplasmisches Pinkeln, vielleicht.

Nach einigen Minuten erschien die junge Frau wieder, diesmal in ihrem Nachthemd. Sie ging ins Schlafzimmer und schlug die Bettdecke zurück. Und plötzlich drehte sie sich nach der Wohnungstür um.

Es war, als würde man einer Pantomime zusehen. Offenbar hatte Maria-Star ein Geräusch an der Wohnungstür gehört, ein unerwartetes Geräusch. Keine Ahnung, ob es ein Türklingeln, ein Klopfen oder ein verdächtiges Hantieren am Schloss gewesen war.

Ihre Aufmerksamkeit wuchs sich zur Angst aus, ja sogar zur Panik. Sie lief ins Wohnzimmer, griff nach ihrem Handy - das wir erst sehen konnten, als sie es berührte - und drückte zwei Tasten. Sie rief irgendwen per Kurzwahl an. Doch noch ehe es am anderen Ende der Leitung geklingelt haben konnte, wurde die Wohnungstür aufgebrochen, und ein Mann, halb Wolf, halb Mensch, stürzte sich auf sie. Da er ein Lebewesen war, war auch er zu sehen, und sein Bild wurde umso deutlicher, je näher er Maria-Star, dem Zentrum der Magie, kam. Er warf sie zu Boden und biss sie brutal in die Schulter. Ihr Mund öffnete sich weit, und ich hätte schwören können, dass sie schrie und kämpfte wie eine Werwölfin. Doch ihr Angreifer hatte sie völlig überrascht und hielt ihre Arme mit eiserner Kraft am Boden. Glänzende Spuren auf ihrer Haut verrieten, dass die Bisswunde stark blutete.

Dawson packte meine Schulter und stieß ein tiefes Knurren aus. Ich wusste nicht, ob er wütend war wegen des Angriffs auf Maria-Star oder erregt von der wilden Aktion und dem fließenden Blut oder alles auf einmal.

Ein zweiter Werwolf war dem ersten unmittelbar gefolgt. Er war in seiner menschlichen Gestalt und hielt ein Messer in der rechten Hand. Und dieses Messer stieß er Maria-Star jetzt in den Leib, zog es heraus, stieß erneut zu, immer und immer wieder. Bei jeder seiner ruckartigen Bewegungen spritzte Blut durchs Zimmer und sprenkelte die weißen Wände. Wir konnten die Blutspritzer sehr deutlich sehen, also musste wohl auch im Blut Ektoplasma sein (oder wie immer das Zeug wirklich hieß).

Den ersten Mann kannte ich nicht. Doch an diesen Kerl hier erinnerte ich mich. Es war Cal Myers, ein Gefolgsmann von Furnan und Detective bei der Polizei von Shreveport.

Die Blitzattacke hatte nur Sekunden gedauert. In dem Moment, als Maria-Star endgültig tödlich verwundet war, stoben sie auch schon wieder aus dem Apartment heraus. Die jähe und entsetzliche Grausamkeit des Mordes hatte mich derart schockiert, dass ich wie panisch zu atmen begann. Einen Augenblick lang lag Maria-Star dort vor uns, glitzernd und fast durchsichtig, inmitten all der Trümmer, feuchtglänzende Blutflecken auf dem Nachthemd und überall um sie herum. Und dann erlosch plötzlich ihre Erscheinung, denn in diesem Moment war sie gestorben.

Wir alle standen in entsetztem Schweigen da. Auch die Hexen sagten kein Wort und ließen kraftlos die Arme sinken, wie Marionetten, deren Fäden abgeschnitten worden waren. Octavia weinte, Tränen rannen ihr über die faltigen Wangen. Amelia sah aus, als müsste sie sich gleich übergeben. Ich zitterte am ganzen Körper, und sogar Dawson schien übel zu sein.

»Den ersten Kerl habe ich nicht erkannt, weil der noch halb verwandelt war«, sagte Dawson. »Aber der andere, den kenne ich. Das ist doch 'n Cop, oder? Aus Shreveport.«

»Cal Myers. Rufen Sie am besten gleich Alcide an«, sagte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte. »Und Alcide soll diesen Ladys hier etwas für ihre schwierige Arbeit zukommen lassen, wenn er seine eigenen Probleme gelöst hat.« Ich fürchtete, Alcide könnte das vielleicht vergessen, weil er um Maria-Star trauerte. Doch die Hexen hatten die Aufgabe selbstlos und ohne Forderung übernommen und für ihre Mühen wirklich eine Belohnung verdient. Es hatte sie an den Rand ihrer Kräfte gebracht; geschwächt waren beide auf das Sofa gesunken.

»Wenn die Ladys wieder einigermaßen auf dem Damm sind«, sagte Dawson, »bewegen wir besser unsern Arsch hier raus. Wer weiß, wann die Cops wieder auftauchen. Die von der Spurensicherung waren erst fünf Minuten weg, ehe Sie gekommen sind.«

Während die Hexen ihre Kräfte sammelten und ihre Utensilien wieder einpackten, unterhielt ich mich mit Dawson.

»Sie haben gesagt, Alcide hat ein Alibi?«

Dawson nickte. »Er hat 'nen Anruf von Maria-Stars Nachbarin gekriegt. Die hat bei dem Höllenlärm zuerst die Polizei angerufen und dann ihn. Okay, sie hat ihn auf dem Handy angerufen, aber er ist sofort drangegangen, sagt sie, und sie konnte auch so Geräusche von 'ner Hotelbar im Hintergrund hören. Außerdem war er nicht allein in der Bar, er hatte gerade ein paar Leute kennengelernt und mit denen geredet. Als klar war, dass Maria-Star ermordet wurde, haben die alle geschworen, dass er in der Hotelbar war. Und die wirken zuverlässig.«

»Ich schätze, die Polizei sucht nach dem Mordmotiv.« Das taten sie in den Fernsehkrimis jedenfalls immer.

»Sie hatte keine Feinde«, sagte Dawson.

»Was jetzt?«, mischte sich Amelia ein. Octavia und sie waren wieder auf den Beinen, auch wenn sie noch sehr erschöpft wirkten. Dawson führte uns aus dem Apartment und schloss die Tür hinter uns ab.

»Danke fürs Kommen, Ladys«, sagte Dawson zu Amelia und Octavia. Dann wandte er sich an mich. »Sookie, könnten Sie mit mir zu Alcide fahren und ihm erklären, was wir gerade gesehen haben? Kann Amelia Miss Fant zurückfahren?«

»Oh, sicher. Wenn sie nicht zu müde ist.«

Amelia versicherte mir, dass sie klarkomme. Wir waren mit meinem Auto hierhergefahren, also warf ich ihr die Schlüssel zu. »Ist das wirklich okay?«, fragte ich noch mal, nur um sicherzugehen.

Amelia nickte. »Ich fahre langsam.«

Erst als ich in Dawsons Pick-up kletterte, erkannte ich, dass mich all das noch tiefer in den Werwolfkrieg hineinziehen würde. Mein einziger Trost: Patrick Furnan hatte bereits versucht, mich ermorden zu lassen. Schlimmer konnte es also nicht mehr kommen.