Kapifel 9

Es war mitten in der Nacht, und ich war dabei, mich in Gefahr zu begeben. Und daran hatte ich auch noch selbst Schuld, verdammt. In einigen rasch aufeinanderfolgenden Telefonaten hatten Alcide und Furnan noch für dieselbe Nacht ein Treffen vereinbart. Ich hatte mir ausgemalt, wie sie sich, ihre Leutnants direkt hinter sich postiert, an einem Tisch gegenübersitzen und die ganze Situation klären würden. Mrs Furnan würde wieder auftauchen, das Ehepaar wäre vereint, und alle könnten zufrieden sein oder wenigstens nicht mehr ganz so feindselig. Und ich wäre bald wieder meilenweit weg von alledem.

Aber hier stand ich nun, in demselben verlassen daliegenden Industriepark in Shreveport, in dem der Leitwolf-Wettkampf stattgefunden hatte. Zum Glück war wenigstens Sam bei mir. Es war dunkel und kalt, und der Wind wehte mir das Haar von den Schultern. Ich trat von einem Fuß auf den anderen und hoffte bang, das alles schnell hinter mich bringen zu können. Auch wenn Sam nicht so unruhig wirkte wie ich, spürte ich, dass er genauso nervös war.

Es war meine Schuld, dass er hier war. Aber Sam hatte mich so neugierig nach den unter den Werwölfen brodelnden Streitereien ausgefragt, dass ich ihm alles erzählen musste. Schließlich hatte er ein Recht darauf, zu wissen, wieso seine Bar durchsiebt wurde, falls plötzlich mal einer ins Merlotte's stürmte und mich zu erschießen versuchte. Ich hatte mich heftig mit ihm gestritten, als er sagte, dass er mich begleiten würde. Doch hier standen wir nun beide.

Vielleicht lüge ich mir selbst etwas in die Tasche. Vielleicht wollte ich einfach einen Freund an meiner Seite haben, einen, der auf jeden Fall zu mir hielt. Vielleicht hatte ich aber auch bloß Angst - okay, dieses »Vielleicht« kann man definitiv streichen.

Die Nacht war frisch, und wir trugen beide winddichte Jacken mit Kapuzen. Nicht, dass wir die Kapuzen brauchten, aber wenn es noch kälter werden sollte, wären wir sicher froh darüber. Der verlassene Industriepark dehnte sich in nächtlicher Stille um uns herum aus. Wir standen an der Verladerampe einer Firma, die anscheinend irgendwelche großen Frachten annahm. Die riesigen metallenen Rolltore, an denen die Lastwagen zum Entladen vorfuhren, wirkten im grellen Schein der Beleuchtungsanlage wie große funkelnde Augen.

Tatsächlich funkelten hier heute Nacht jede Menge große Augen. Die Sharks und die Jets traten in Verhandlungen ein. Oh, 'tschuldigung, das ist hier ja nicht die West Side Story, sondern ein Werwolfkrieg. Also, die Furnan-Anhänger und die Herveaux-Leute. Vielleicht würden die beiden gegnerischen Gruppen des Shreveport-Rudels zu einer Einigung kommen, vielleicht aber auch nicht. Und genau zwischen den Fronten standen der Gestaltwandler Sam und die Telepathin Sookie.

Als ich spürte, wie sich von Norden und Süden die stark pulsierenden Gedankenströme der Werwölfe näherten, sah ich Sam an und sagte aus tiefster Überzeugung: »Ich hätte nie und nimmer zulassen dürfen, dass du mich begleitest. Hätte ich dir nur nie ein Wort davon erzählt.«

»Du hast dir angewöhnt, mir Dinge zu verheimlichen, Sookie. Das gefällt mir nicht, ich will wissen, was los ist. Vor allem, wenn dir Gefahr droht.« Sams rotgoldene Locken wehten hoch auf in der Brise, die scharf zwischen den Geschäftsgebäuden hindurchfuhr. Seine Andersartigkeit kam mir stärker zu Bewusstsein als je zuvor. So etwas wie ihn gibt es nicht oft: Sam ist ein echter Gestaltwandler, der sich in jedes beliebige Tier verwandeln kann. Am liebsten sind ihm Hunde, weil Menschen Hunde mögen, sie ihnen vertraut sind und daher nicht allzu oft auf sie geschossen wird. In seinen blauen Augen sah ich Wildheit. »Sie sind da«, sagte er und hob die Nase in den Wind.

Und plötzlich standen die zwei Gruppen keine drei Meter entfernt zu beiden Seiten von uns. Höchste Zeit, sich zu konzentrieren.

Unter den Furnan-Werwölfen, die zahlreicher erschienen waren als die Herveaux-Anhänger, erkannte ich einige Gesichter. Sogar der Detective Cal Myers von der Polizei in Shreveport war dabei. Patrick Furnan bewies ja einigen Mut, wenn er Cal Myers mitbrachte. Wollte er etwa dessen Unschuld verkünden? Und auch die Teenagerin, mit der Furnan zur Feier seines Sieges über Jackson Herveaux Sex hatte, war in seinem Gefolge. Heute Abend sah sie allerdings eine Million Jahre älter aus.

Von Alcides Leuten kannte ich die rothaarige Amanda, die mir mit ernster Miene zunickte, und einige Werwölfe, die ich mal im Hair of the Dog gesehen hatte, als ich mit Quinn dort war. Die schlanke, junge Frau, die an jenem Abend ein rotes Lederbustier getragen hatte, stand direkt hinter Alcide und wirkte nicht nur extrem aufgeregt, sondern auch zutiefst verängstigt. Zu meiner Überraschung war auch Dawson da. Er schien nicht so ganz der einsame Wolf zu sein, als der er sich gab.

Alcide und Furnan traten aus ihren Gruppen hervor.

Für die Unterredung, Verhandlung oder wie immer man es auch nennen wollte, war eine bestimmte Form vereinbart worden: Ich sollte mich zwischen Furnan und Alcide stellen, und jeder der beiden Werwolfanführer würde mir eine Hand reichen. So konnte ich als Lügendetektor fungieren, während die beiden miteinander sprachen. Ich hatte geschworen, es jedem der beiden zu sagen, wenn der andere log, zumindest meinem besten telepathischen Wissen nach. Ich kann Gedanken lesen, doch auch Gedanken sind manchmal trügerisch, verzwickt oder einfach nur dumm. Etwas wie dies hatte ich noch nie gemacht. Ich hoffte inständig, dass meine Fähigkeiten heute Nacht besonders präzise waren und ich sie klug einsetzen würde, damit dem Morden mit meiner Hilfe endlich ein Ende bereitet werden konnte.

Alcide trat steif auf mich zu, sein Gesicht wirkte hart im grellen Schein der Industrieparkbeleuchtung. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass er schmaler und älter wirkte. In seinem schwarzen Haar zeigten sich erste graue Strähnen, die er nicht gehabt hatte, als sein Vater noch lebte. Patrick Furnan sah auch nicht allzu gut aus. Er hatte immer zur Fettleibigkeit geneigt, und es schien, als hätte er inzwischen fünfzehn, ja zwanzig Pfund zugenommen. Der Posten des Leitwolfs war ihm nicht bekommen. Und das Entsetzen über die Entführung seiner Ehefrau hatte deutliche Spuren in seinem Gesicht hinterlassen.

Und so tat ich etwas, das ich nie für möglich gehalten hätte: Ich reichte Furnan meine rechte Hand. Er ergriff sie, und sofort durchströmte mich die Flut seiner Gedanken. Sein verwickeltes Werwolfhirn war nicht schwer zu entziffern, da er sich stark konzentrierte. Ich streckte Alcide meine Linke hin, und auch er nahm sie. Einen Augenblick lang fühlte ich mich wie überschwemmt. Dann gelang es mir, mit einer enormen Anstrengung die Flut der Gedanken in einen Strom zu lenken, so dass ich nicht darin unterging. Es war einfach, Lügen laut auszusprechen, aber nicht so einfach, in Gedanken zu lügen.

Oder zumindest nicht, diese Lügen auf Dauer aufrechtzuerhalten. Ich schloss die Augen. Eine Münze wurde geworfen, und Alcide war als Erster mit Fragen dran.

»Warum haben Sie meine Freundin ermorden lassen, Patrick?« Alcides Worte klangen schneidend scharf. »Sie war eine vollblütige Werwölfin und so sanft, wie eine Werwölfin nur sein kann.«

»Ich habe nie einem meiner Leute befohlen, jemanden aus Ihren Reihen zu ermorden«, sagte Patrick Furnan mit so müder Stimme, als könne er sich kaum noch auf den Beinen halten. Seine Gedankenströme flössen ähnlich dahin: langsam, träge, auf breit ausgetretenen Bahnen seines Hirns. Seine Gedanken konnte ich besser lesen als Alcides, und er meinte, was er sagte.

Alcide hörte mit großer Aufmerksamkeit zu. »Haben Sie irgendwem, der nicht dem Rudel angehört, befohlen, Maria-Star, Sookie und Mrs Larrabee zu ermorden?«, fuhr Alcide fort.

»Ich habe nie irgendwem befohlen, jemanden aus Ihren Reihen zu ermorden«, bekräftigte Furnan.

»Er spricht aus, was er denkt«, sagte ich.

Leider konnte Furnan nicht den Mund halten. »Ich hasse Sie«, fuhr er fort, obwohl er immer noch so erschöpft klang wie vorher. »Ich wäre froh, wenn Sie vom Laster überfahren würden. Aber ich habe niemanden getötet.«

»Auch jetzt spricht er aus, was er denkt«, sagte ich, vielleicht ein wenig zu trocken.

»Wie können Sie Ihre Unschuld beteuern«, fragte Alcide, »wenn Cal Myers dort unter Ihren Leuten steht? Er hat Maria-Star erstochen.«

Furnan war verwirrt. »Cal war nicht dort.«

»Er spricht aus, was er denkt«, sagte ich zu Alcide. Dann wandte ich mich an Furnan. »Cal war dort, und er hat Maria-Star ermordet.« Obwohl ich nicht wagte, in meiner Konzentration nachzulassen, hörte ich das beginnende Wispern um Cal Myers herum und sah die ersten Furnan-Werwölfe einen Schritt von ihm wegtreten.

Jetzt war Furnan dran, Fragen zu stellen.

»Meine Frau ...«, begann er, doch ihm brach die Stimme. »Warum sie?«

»Ich habe Libby nicht«, erwiderte Alcide. »Ich würde nie eine Frau entführen, und schon gar keine Werwölfin, die Kinder hat. Und ich würde auch nie jemandem befehlen, so etwas zu tun.«

Diese Worte entsprachen seinen Gedanken. »Alcide hat es nicht getan«, sagte ich, »und er hat auch keinen solchen Befehl erteilt.« Doch Alcide hasste Patrick Furnan wie die Pest. Furnan hätte Jackson Herveaux nicht töten müssen, als der Leitwolf-Wettkampf in die entscheidende Phase ging, aber Furnan hatte es getan. Seine Amtsperiode sollte mit der Auslöschung seines Gegners beginnen, denn Jackson hätte sich seinen Befehlen niemals untergeordnet und wäre über Jahre hinweg ein Stachel in seinem Fleisch geblieben. Ich fing Gedanken von beiden Seiten auf, ganze Schwaden von Vorstellungen, die so intensiv waren, dass ich brennenden Schmerz im Kopf verspürte. »Beruhigen Sie sich, beide«, bat ich und bemerkte plötzlich Sam hinter mir, seine Wärme, seine sich nähernden Gedanken. »Sam, komm mir bitte nicht so nahe, okay?«

Er verstand und trat einige Schritte zurück.

»Keiner von beiden hat einen von denen ermordet, die gestorben sind, und auch keinen Befehl dazu erteilt. Soweit ich es beurteilen kann.«

»Warum befragen wir nicht Cal Myers?«, fragte Alcide.

»Und wo ist dann meine Frau?«, knurrte Furnan.

»Tot und begraben«, rief da eine klare Stimme. »Und ich werde ihren Platz einnehmen. Cal gehört zu mir.«

Wir alle sahen auf, denn die Stimme kam von dem flachen Dach des Gebäudes. Dort oben standen vier Werwölfe, und die brünette Werwölfin, die gesprochen hatte, stand direkt am Rand. Sinn für Dramatik hatte sie, das musste man ihr lassen. Werwölfinnen besaßen Macht und Status, führten aber keine Rudel... oder nur äußerst selten. Diese Frau aber besaß offenbar nicht nur Macht, sondern trug auch Verantwortung, auch wenn sie kaum größer als 1,60 Meter war. Und sie stand kurz vor der Verwandlung, denn sie war splitternackt. Aber vielleicht wollte sie nur, dass Alcide und Furnan sahen, was sie da bekommen konnten. Und das war eine ganze Menge, sowohl in Quantität als auch in Qualität.

»Priscilla«, sagte Furnan.

Der Name erschien mir so unpassend für eine Werwölfin, dass ich unwillkürlich lächelte - unter diesen Umständen natürlich keine besonders gute Idee.

»Sie kennen sie, Furnan?«, fragte Alcide. »Ist sie Teil Ihres Plans?«

»Nein«, erwiderte ich für ihn. Ich durchforstete all die Gedankenströme, die mich umgaben und die ich klar lesen konnte, und klinkte mich dann in einen ganz bestimmten ein. »Furnan, Cal ist Priscillas Geschöpf«, sagte ich schließlich. »Er hat Sie betrogen.«

»Ich dachte, ich lasse mal ein paar eurer wichtigsten Miststücke ermorden, dann bringt ihr zwei euch schon gegenseitig um«, warf Priscilla ein. »Zu schade, dass es nicht geklappt hat.«

»Wer ist das?«, fragte Alcide Furnan.

»Die Ehefrau von Arthur Hebert, einem Leitwolf aus dem Landkreis St. Catherine.« St. Catherine lag weiter südlich, in der Nähe von New Orleans, und war von Katrina schwer verwüstet worden.

»Arthur ist tot. Wir haben kein Revier mehr«, erklärte Priscilla Hebert. »Deshalb wollen wir eures.«

Okay, das war doch wenigstens deutlich.

»Cal, warum hast du das getan?«, fragte Furnan seinen Leutnant. Cal Myers hätte sich auf das Flachdach flüchten sollen, solange er dazu noch Gelegenheit hatte. Die Furnan-Werwölfe und die Herveaux-Werwölfe zingelten ihn bereits ein.

»Cal ist mein Bruder!«, rief Priscilla. »Ihr krümmt ihm besser kein Haar.« In ihrer Stimme schwang jetzt eine Verzweiflung mit, die vorher nicht darin gelegen hatte. Unglücklich sah Cal zu seiner Schwester hinauf. Er hatte erkannt, in welcher Klemme er steckte, und wollte, dass sie den Mund hielt. Es war sein letzter Gedanke.

Furnans Arm stieß plötzlich aus seinem Ärmel, über und über bedeckt von Haar. Mit enormer Kraft stürzte er sich in das Rudel hinein, das bereits über den Werwolf herfiel. Alcide riss Cal mit seiner Klaue den Schädel auf, als der Verräter zu Boden ging. In hohem Bogen spritzte Cals Blut auf mich hernieder. Hinter mir vibrierte Sam vor Energie der sich ankündigenden Verwandlung, ausgelöst von der Anspannung, dem Geruch von Blut und meinem unwillkürlichen Aufschrei.

Priscilla Hebert stimmte aus Wut und Qual ein lautstarkes Geheul an, und mit einer Anmut, wie nur Tiere sie besitzen, sprang sie von dem Flachdach des Gebäudes hinunter, mitsamt ihrem Gefolge.

Der Krieg hatte begonnen.

Sam und ich flüchteten uns mitten unter die Shreveport-Werwölfe. Als Priscillas Rudel uns einzukesseln begann und schließlich von allen Seiten angriff, sagte Sam: »Ich verwandle mich auch, Sookie.«

Keine Ahnung, wie uns jetzt ausgerechnet ein Collie helfen soll, dachte ich, erwiderte aber: »Okay, Boss.« Sam lächelte leicht verschämt, zog sich aus und begann, sich zu winden. Alle Werwölfe um uns herum taten dasselbe. Und plötzlich war die kühle Nachtluft von einem vielfachen Geräusch erfüllt, das irgendwie zäh klang, und klebrig, so als würde jemand einen Löffel durch eine feste Flüssigkeit ziehen, in der kleine harte Teile schwammen. Es war das Geräusch der Verwandlung von Mensch in Tier. Große Wölfe streckten und schüttelten sich überall um mich herum. Ich erkannte Alcide in seiner Wolfsgestalt, ebenso Furnan, und versuchte, die Werwölfe in dem plötzlich wieder geeinten Rudel zu zählen. Doch sie liefen alle unruhig von hier nach dort und suchten ihren Platz im bevorstehenden Kampf. Es war unmöglich, sie einzeln im Blick zu behalten.

Ich drehte mich nach Sam um, um ihm einen aufmunternden Klaps zu geben, und sah erst jetzt, dass ich neben einem Löwen stand.

»Sam«, flüsterte ich, und er stieß ein Gebrüll aus.

Alle erstarrten einen langen Augenblick lang. Anfangs hatten die Werwölfe aus Shreveport genauso viel Angst wie die aus St. Catherine. Erst als sie begriffen, dass Sam auf ihrer Seite stand, hallte von den verlassenen Gebäuden ringsum ein vielstimmiges, aufgeregtes Geheul wider.

Und dann begannen die Kämpfe.

Sam versuchte, gleichzeitig zu kämpfen und mich zu beschützen, was eine galante Idee war, aber leider unmöglich. Als unbewaffneter Mensch war ich völlig hilflos in solchen Gefechten, und ich war definitiv das schwächste Lebewesen am Ort des Geschehens. Ein äußerst unangenehmes, ja Furcht einflößendes Gefühl.

Sam schlug sich hervorragend. Er musste nur die großen Pranken heben, und waren sie auf einen Wolf niedergesaust, so ging dieser schon zu Boden. Ich hüpfte herum wie eine wild gewordene Elfe, um bloß nicht in die Nähe eines solchen Hiebes zu geraten. Allmählich verlor ich den Überblick über das Gesamtgeschehen. Immer wieder stürmten Kohorten von St.-Catherine-Werwölfen vereint auf Furnan, Alcide und Sam los, während um uns herum Einzelkämpfe ausgefochten wurden. Diese Werwolfkohorten hatten die Aufgabe, die Anführer des Gegners zu erledigen, erkannte ich, und es wurde eine Menge Energie in diese Strategie gesteckt. Priscilla Hebert hatte nicht mal erlaubt, ihren Bruder aus den Fängen der Shreveport-Werwölfe zu befreien. Und ihre Kämpfer ließen nicht ab von den Gegnern.

Um mich schien sich keiner groß zu kümmern, da von mir keine Gefahr ausging. Aber ich selbst lief ständig Gefahr, zwischen die knurrenden Kämpfer zu geraten, zu Boden zu gehen oder genauso schwer verletzt zu werden, als wäre ich ein ernst zu nehmender Gegner. Priscilla, jetzt eine graue Werwölfin, hatte es auf Sam abgesehen. Vermutlich wollte sie ihren herausragenden Mut beweisen, indem sie sich allein an das größte und gefährlichste Tier heranwagte. Doch Amanda biss Priscilla in einen der Hinterläufe, als diese versuchte, sich durch das Kampfgetümmel einen Weg zu dem Löwen zu bahnen. Priscilla warf sich herum und drohte der kleineren Wölfin mit gebleckten Zähnen. Amanda tänzelte zurück. Doch als Priscilla sich wieder abwandte, um ihren Weg fortzusetzen, schoss Amanda erneut hervor und biss sie noch einmal in denselben Lauf. Amandas Biss war kräftig genug, um Knochen zu brechen, und daher mehr als nur ein lästiges Ärgernis. Also drehte sich Priscilla ganz zu ihr herum, und noch ehe ich Oh, nein! denken konnte, packte sie Amanda mit eisernem Kiefer und brach ihr das Genick.

Entsetzt stand ich da und sah zu, wie Priscilla Amandas Leiche auf den Boden fallen ließ, sich herumwarf und Sam auf den Rücken sprang. Er schüttelte sich wieder und wieder, doch sie hatte sich mit ihren Reißzähnen in seinem Nacken verbissen und ließ sich nicht abschütteln.

Und da machte irgendetwas knack in meinem Inneren, genauso wie Amandas Genick. Ich verlor allen Verstand, den ich vielleicht mal besessen hatte, sprang auf, als wäre auch ich eine Werwölfin, und stürzte mich auf Priscilla. Damit ich in der wogenden Masse kämpfender Tiere nicht den Halt verlor, schlang ich meine Arme um ihren Nacken und meine Beine um ihren Rumpf und drückte mit den Armen immer fester zu, bis ich schon meinte, ich würde mich selbst umarmen. Aber Priscilla wollte nicht ablassen von Sam, und so schwang sie sich selbst hin und her, um mich abzuschütteln. Doch ich klammerte mich an sie wie ein mörderisches Äffchen.

Schließlich musste sie von Sams Nacken ablassen, um sich um mich zu kümmern. Ich drückte fester und immer fester zu, und sie versuchte, mich zu beißen. Doch sie kam nicht richtig an mich heran, denn ich klammerte mich immer noch an ihren Rumpf. Einmal konnte sie sich so weit herumdrehen, dass ihre Reißzähne an meinem Bein entlangschrammten, zu fassen bekam sie es jedoch nicht. Die Schmerzen spürte ich kaum. Ich verstärkte meinen Griff noch einmal, obwohl mir die Arme inzwischen höllisch wehtaten. Wenn ich auch nur ein winziges bisschen nachließ, würde ich Amandas Schicksal teilen.

Das alles geschah so unwahrscheinlich rasant, dass es kaum zu glauben war, und doch fühlte ich mich, als würde ich schon seit einer Ewigkeit versuchen, diese Werwölfin zu töten. Mir schoss nicht ständig »Stirb, stirb« durch den Kopf. Ich wollte bloß, dass sie aufhörte mit dem, was sie da tat. Aber das wollte sie partout nicht tun, verdammt. Und wieder dröhnte ein ohrenbetäubendes Gebrüll durch die Nacht. Riesige Zähne blitzten nur einen Zentimeter von meinen Armen entfernt auf. Okay, okay, schon verstanden. Ich sollte loslassen. Und noch im selben Augenblick, als ich die Arme löste, kippte ich von der Werwölfin herunter, schlug hart auf den Boden auf und rollte einige Meter weit bis zu etwas, das wie ein Fellhaufen aussah.

Und dann machte es pop!, und Claudine stand über mir, in ärmellosem Shirt, gestreiften Pyjamahosen und mit völlig verwuscheltem Haar. Durch ihre gegrätschten Beine hindurch sah ich den Löwen der Werwölfin den Kopf abbeißen und ihn angewidert wieder ausspucken, er war wohl edlere Speisen gewöhnt. Dann drehte er sich um, verschaffte sich einen Überblick und fasste den nächsten Gegner ins Auge.

Einer der Werwölfe griff Claudine an, und jetzt bewies sie, dass sie vollkommen wach war. Das Tier war noch im Sprung, da hatte sie es auch schon bei den Ohren gepackt und mit seinem eigenen Schwung von sich weggeschleudert. Claudine warf den großen Wolf mit derselben Leichtigkeit von sich wie ein Rowdy eine Bierdose, und der Wolf donnerte mit einem Knall an die Verladerampe, der ziemlich endgültig klang. Unglaublich, in welchem Tempo dieser Angriff erfolgte und abgewehrt wurde.

Claudine stand noch immer mit gegrätschten Beinen über mir, und ich blieb liegen, wo ich gelandet war. Ich war total erschöpft, verängstigt und voller Blut, auch wenn nur die roten Spritzer an einem meiner Beine von einer eigenen Verletzung herrührten. Kämpfe waren stets im Nu vorüber, verbrauchten aber in dieser kurzen Zeit fast die gesamten Kraftreserven des Körpers. Bei den Menschen jedenfalls. Claudine dagegen wirkte noch ziemlich munter.

»Na los, du haariger Feigling!«, rief sie und winkte mit beiden Händen einen Werwolf heran, der sich von hinten an sie heranzuschleichen versuchte. Sie hatte sich umgedreht, ohne die Beine zu bewegen, ein Manöver, das einem normalen menschlichen Körper gar nicht möglich ist. Der Werwolf sprang auf sie los und bekam genau denselben Freiflug wie sein Rudelkollege. Soweit ich es beurteilen konnte, atmete Claudine nicht mal schwerer. Nur ihre Augen war größer und aufmerksamer als üblich, und sie stand leicht vornübergebeugt da, jederzeit bereit zur nächsten Aktion.

Es war ein solches Gebrüll und Gebell und Geheul um mich herum, dazu all die Schmerzensschreie und herzzerreißenden Laute - ich wollte gar nicht genau wissen, was da im Einzelnen vor sich ging. Zum Glück wurde der Lärm nach weiteren fünf Minuten Kampfgetöse endlich schwächer.

Claudine hatte mich in all der Zeit nicht eines Blickes gewürdigt, aber sie wachte ja auch über mich. Als sie mich schließlich ansah, zuckte sie zusammen. Oje, ich sah wohl ziemlich schlimm aus.

»Ich war spät dran«, sagte sie und stieg mit einem Bein über mich hinweg, so dass sie neben mir stand. Dann reichte sie mir die Hand, und kaum hatte ich sie ergriffen, stand auch ich schon auf den Beinen. Ich umarmte sie, und das nicht nur, weil ich es wollte, sondern weil ich es einfach tun musste. Claudine roch immer so wundervoll, und ihre Haut fühlte sich irgendwie fester an als die von Menschen. Auch sie schien sich zu freuen, mich zu sehen, und so hielten wir uns eine ganze Weile umarmt, bis ich mein inneres Gleichgewicht wiedergefunden hatte.

Schließlich sah ich mich um, auch wenn ich mich vor dem, was ich zu sehen bekommen würde, fürchtete. Die Gefallenen lagen wie Fellhaufen um uns herum. Die dunklen Flecken auf dem Boden waren ganz sicher keine Ölflecken. Hier und dort schnüffelte ein blutverkrusteter Werwolf an den Leichen, als suche er nach jemand Bestimmtem. Der Löwe lag einige Meter entfernt zusammengekauert da. Blutspuren durchzogen sein Fell. An seinem Nacken blutete die offene Wunde, die Priscilla ihm zugefügt hatte. Und am Rücken hatte ihn noch ein Biss verletzt. Was sollte ich nur zuerst tun?

»Danke, Claudine«, sagte ich und küsste sie auf die Wange.

»Ich schaff's nicht immer«, ermahnte sie mich. »Verlass dich also nicht automatisch auf Rettung.«

»Habe ich irgendeinen Button, der bei Lebensgefahr blinkt? Oder woher weißt du, dass du gebraucht wirst?« Darauf würde sie nicht antworten, das wusste ich schon. »Egal, von dir lasse ich mich immer gern retten. Hey, weißt du schon, dass ich meinen Urgroßvater getroffen habe?« Ich war so glücklich, noch am Leben zu sein, dass ich einfach drauflosplapperte.

Claudine verneigte sich. »Der Prinz ist mein Großvater«, sagte sie.

»Oh, dann sind wir wohl so was wie Cousinen?«

Claudine blickte mich mit ihren klaren, dunklen Augen ruhig an. Sie wirkte so gar nicht wie eine Frau, die eben noch zwei Werwölfe getötet hatte, und das schneller, als ich mit den Fingern schnippen konnte. »Ja, ich glaube schon«, sagte sie.

»Und wie nennst du ihn? Großpapa? Opa?«

»Ich nenne ihn Herr

»Oh.«

Claudine ging nach den Werwölfen sehen, die sie von sich geschleudert hatte (die waren immer noch tot, da war ich mir sicher), und so lief ich zu dem Löwen hinüber. Ich hockte mich neben ihn und legte ihm den Arm um den Nacken. Er brummelte. Ganz automatisch kraulte ich ihn am Kopf und hinter den Ohren, genau wie bei Bob. Das Brummeln wurde intensiver.

»Sam«, sagte ich. »Ich bin dir so ungeheuer dankbar. Ich verdanke dir mein Leben. Wie schlimm sind deine Wunden? Was kann ich dagegen tun?«

Sam seufzte und legte seinen Kopf auf den Boden.

»Bist du erschöpft?«

Weil die Luft um ihn herum plötzlich zu wirbeln begann, zog ich mich zurück. Ich wusste, was nun geschah. Schon einen Augenblick später lag statt des Löwen ein menschlicher Körper neben mir. Besorgt betrachtete ich Sam, weil er die Wunden immer noch hatte. Aber sie waren kleiner als bei dem Löwen. Und Gestaltwandler besaßen ja alle große Selbstheilungskräfte. Es sagt übrigens eine Menge darüber aus, wie sehr sich meine Denkweise geändert hatte, dass ich an Sams Nacktheit überhaupt keinen Anstoß mehr nahm - zum Glück, schließlich lagen überall um mich herum nackte Körper. Denn die Werwolfleichen verwandelten sich ebenso zurück wie die Verwundeten.

Der Anblick der Leichen in ihrer Wolfsgestalt war allerdings leichter zu ertragen gewesen.

Cal Myers und seine Schwester Priscilla waren natürlich beide tot, und die Werwölfe, die Claudine weggeschleudert hatte, auch. Amanda war tot. Die schlanke junge Frau, die ich aus dem Hair of the Dog kannte, lebte noch, war jedoch am Oberschenkel schwer verwundet. Und ich sah auch Amandas Barkeeper, er schien nicht einen Kratzer abbekommen zu haben. Tray Dawson hielt sich einen Arm, anscheinend war er gebrochen.

Patrick Furnan lag inmitten eines Kreises von Leichen und Verwundeten, die alle zu Priscillas Werwölfen gehörten. Nur mit Mühe konnte ich mir einen Weg durch die verstümmelten, blutverschmierten Leichen bahnen. Ich spürte die Blicke aller, Werwölfe und Menschen, auf mir ruhen, als ich mich neben Furnan hockte und ihm den Finger an den Hals legte - nichts. Ich prüfte seinen Puls. Ich legte ihm sogar die Hand auf die Brust. Kein Herzschlag.

»Tot«, sagte ich, und alle Überlebenden in Wolfsgestalt stimmten ein Heulen an. Viel verstörender jedoch war das Geheul, das aus den Kehlen der Werwölfe in Menschengestalt drang.

Alcide wankte auf mich zu. Er schien mehr oder weniger unversehrt, auch wenn an seiner Brust und in seinem Haar Blut klebte. Als er an der im Kampf gefallenen Priscilla vorbeikam, versetzte er ihr einen Tritt. Neben Patrick Furnan kniete er einen Moment lang nieder und beugte den Kopf, als wolle er sich vor der Leiche verneigen. Dann erhob er sich, dunkel, wild, entschlossen.

»Der Leitwolf dieses Rudels bin ich!«, rief er in einem Ton absoluter Gewissheit. Eine unheimliche Stille breitete sich aus, während die überlebenden Werwölfe diese Worte auf sich wirken ließen.

»Du musst jetzt gehen«, flüsterte Claudine mir von hinten zu. Ich schrak auf wie ein Hase, weil ich wie hypnotisiert gewesen war von Alcides Schönheit und der ursprünglichen Wildheit, die er ausstrahlte.

»Was? Warum?«

»Sie feiern gleich ihren Sieg und Alcides Aufstieg zum Leitwolf«, erwiderte Claudine.

Die schlanke junge Frau verschränkte ihre Hände und ließ sie als Faust auf den Schädel eines gefallenen - aber immer noch zuckenden - Feindes niedersausen. Die Knochen barsten mit einem furchtbar knirschenden Geräusch. Überall um mich herum wurden die besiegten Werwölfe hingerichtet, zumindest die schwer verwundeten. Ein kleines Trio aus dem feindlichen Lager kniete vor Alcide nieder, alle warfen den Kopf zurück. Zwei waren Frauen, der dritte ein erwachsener Mann; in einer Unterwerfungsgeste boten sie Alcide die Kehle dar. Alcide war äußerst erregt. Am ganzen Körper. Mir fiel wieder ein, wie Patrick Furnan seinen Sieg mit jener Teenagerin gefeiert hatte, als er zum Leitwolf aufstieg. Ich hatte keine Ahnung, ob Alcide die Geiseln vögeln oder töten wollte, und holte tief Luft, um ihm etwas zuzurufen. Wer weiß, was genau ich gerufen hätte, wenn Sam mir nicht in diesem Moment mit fester Hand den Mund zugehalten hätte. Wütend und aufgebracht verdrehte ich die Augen und funkelte ihn an. Aber er schüttelte nur vehement den Kopf. Eine ganze Weile hielt er meinen Blick, bis er sicher war, dass ich schweigen würde. Erst dann ließ er die Hand sinken, legte mir einen Arm um die Taille und führte mich weg vom Ort des Geschehens. Claudine bildete die Nachhut, während Sam rasch mit mir davoneilte. Ich hielt meinen Blick geradeaus gerichtet.

Die Geräusche hinter mir versuchte ich zu ignorieren.