Kapitel 10

Sam hatte ein paar Kleidungsstücke in seinem Pick-up, und ohne großes Aufheben zog er sie an. Claudine sagte: »Ich muss wieder ins Bett«, als wäre sie bloß aufgestanden, um die Katze hinauszulassen oder auf die Toilette zu gehen, und pop!, schon war sie weg.

»Ich fahre«, bot ich an, da Sam verwundet war.

Er gab mir die Schlüssel.

Schweigend fuhren wir los. Nur mit Mühe konnte ich mich an den Weg auf die Autobahn zurück nach Bon Temps erinnern. Ich war noch immer tief schockiert.

»Das ist eine normale Reaktion auf die Kämpfe«, sagte Sam. »Diese aufwallende Lust.«

Ich blickte lieber nicht in Sams Schoß, um nachzusehen, ob seine Lust auch aufwallte. »Ja, ich weiß. Einige Kämpfe habe ich inzwischen ja schon mitgemacht. Einige zu viel.«

»Und außerdem ist Alcide zum Leitwolf aufgestiegen.«

Na prima, noch so ein Grund, um »glücklich« zu sein.

»Aber diese ganze Kriegssache hat er doch begonnen, weil Maria-Star ermordet wurde.« Womit ich sagen wollte, dass Alcide eigentlich viel zu deprimiert sein müsste, um den Sieg über seine Feinde zu feiern.

»Diese ganze Kriegssache hat er begonnen, weil er bedroht wurde«, entgegnete Sam. »Es war ziemlich dumm von Alcide und Furnan, keine Gespräche miteinander zu führen und es so weit kommen zu lassen. Sie hätten viel früher herausfinden können, was los ist. Hättest du die beiden nicht zu diesem Treffen überredet, würden immer noch Leute abgeknallt, und ein richtig großer Krieg wäre angezettelt worden. Mit ihrem Zögern haben sie Priscilla Hebert die meiste Arbeit ja schon abgenommen.«

Ich hatte die Schnauze echt voll von Werwölfen, ihrer Aggressivität, ihrer Sturheit. »Sam, du hast das alles nur meinetwegen mitgemacht. Ich fühle mich ganz schrecklich deshalb. Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich gestorben. Ich schulde dir was, und zwar richtig. Es tut mir alles so furchtbar leid.«

»Mir ist eben wichtig«, sagte Sam, »dass du am Leben bleibst.« Und dann schloss er die Augen und schlief den Rest der Fahrt bis zurück zu seinem Wohnwagen. Er hinkte die Stufen hinauf und machte die Tür hinter sich zu. Ein wenig verloren und mehr als nur ein wenig deprimiert stieg ich in mein eigenes Auto und fragte mich auf der Fahrt nach Hause, was die Geschehnisse dieser Nacht eigentlich für mein weiteres Leben bedeuteten.

Amelia und Pam saßen am Küchentisch. Amelia hatte Tee gekocht, und Pam arbeitete an einer Stickarbeit. Ihre Hände flogen geradezu hin und her, während die Nadel durch den Stoff fuhr. Ich wusste nicht, worüber ich mich mehr wundern sollte: über ihr handwerkliches Geschick oder über die Wahl ihres Hobbys.

»Was habt ihr beide denn getrieben, Sam und du?«, fragte Amelia mit einem breiten Grinsen. »Du siehst ja aus, als wärst du ganz schön rangenommen worden.«

Doch dann musterte sie mich aufmerksamer. »Sookie, was ist passiert?«, fragte sie erschrocken.

Sogar Pam legte ihre Stickarbeit zur Seite und sah mich mit unglaublich ernster Miene an. »Du riechst«, sagte sie. »Du riechst nach Blut und Kampf.«

Ich blickte an mir herab, und da sah ich erst, in was für einem Zustand ich mich befand. Meine Sachen waren blutverschmiert, zerrissen und schmutzig, und mein Bein schmerzte. Ich brauchte Erste Hilfe und hätte nicht besser versorgt werden können als von den beiden Krankenschwestern Amelia und Pam. Pam war etwas aufgeregt wegen der blutenden Wunde, riss sich aber wie eine brave Vampirin zusammen. Mir war klar, dass sie Eric in allen Einzelheiten davon berichten würde, doch ich hatte nicht mehr die Kraft, mir auch darüber noch Gedanken zu machen. Amelia sprach einen Heilzauber über mein Bein. Heilung sei allerdings nicht ihr Spezialgebiet, warnte sie bescheiden. Doch die Zauberkräfte begannen bereits ein wenig zu wirken, denn die Wunde an meinem Bein pochte nicht mehr so stark.

»Hast du keine Angst?«, fragte Amelia. »Das ist von einem Werwolf. Was, wenn es dich erwischt hat?«

»Da erwischt mich jede andere ansteckende Krankheit eher.« Ich hatte fast jedes Wergeschöpf, das ich kannte, schon mal gefragt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass man durch Biss zu einem der Ihren wurde. Schließlich gab es auch unter ihnen Ärzte. Und Forscher. »Die meisten Leute müssen viele Male gebissen werden, überall am Körper, und selbst dann ist es nicht sicher«, hatte ich zur Antwort bekommen. Es ist nicht wie bei der Grippe oder einer normalen Erkältung. Und außerdem, wenn man die Wunden bald säuberte, sank die Wahrscheinlichkeit noch mal rapide. Ich hatte mir eine Flasche Wasser über das Bein gegossen, bevor ich mich ins Auto setzte. »Ich habe keine Angst, sondern Schmerzen, und ich kann bloß hoffen, dass es keine Narbe gibt.«

»Eric wird nicht allzu erfreut sein«, sagte Pam mit einem wissenden Lächeln. »Du hast dich wegen der Werwölfe in Gefahr begeben. Und du weißt ja, was für eine geringe Meinung er von ihnen hat.«

»Ja, ja, ja«, erwiderte ich, denn es war mir völlig egal. »Eric soll Drachen steigen lassen.«

Pam strahlte. »Oh ja, das werde ich ihm vorschlagen.«

»Warum triezt du ihn eigentlich so gern?«, fragte ich und merkte, dass ich vor Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten konnte.

»Hach, ich hatte vorher noch nie so viele Ideen, wie ich ihn triezen könnte«, schwärmte Pam. Und dann verließen die beiden Krankenschwestern mein Schlafzimmer, und ich war zum Glück allein und lag in meinem eigenen Bett und war noch am Leben und schlief endlich ein.

Die Dusche am nächsten Morgen war ein geradezu erhabenes Erlebnis. In der Liste »Meine besten Duschen aller Zeiten« rangierte sie mindestens auf Platz vier. (Die beste Dusche war natürlich die mit Eric gewesen, an die ich nicht mal denken konnte, ohne dass mich ein Schauer durchlief.) Ich schäumte und seifte und rieb, bis ich richtig sauber war. Mein Bein sah gut aus. Wenn ich auch einen höllischen Muskelkater in all den Muskeln hatte, die ich sonst kaum benutzte, beseligte mich doch das Gefühl, dass eine Katastrophe abgewendet und das Böse ausgelöscht worden war - irgendwie zumindest.

Als ich mir unter dem rauschenden heißen Wasser das Haar ausspülte, musste ich an Priscilla Hebert denken. Mein kurzer Blick in ihre Welt hatte offenbart, dass sie ihrem heimatlosen Rudel immerhin einen Zufluchtsort verschaffen wollte. Sie hatte gehofft, ihre Leute könnten hier, in einer von Streitereien geschwächten Gegend, Fuß fassen. Wäre Priscilla als Bittstellerin zu Furnan gekommen, hätte er ihr Rudel sicher aufgenommen. Aber sein Amt als Leitwolf hätte er natürlich nie aufgegeben. Furnan hatte für seinen Aufstieg Jackson Herveaux getötet, und diese hart errungene Macht hätte er sicher nicht mit Priscilla geteilt - selbst wenn so was in der Werwolfgemeinde von Shreveport zulässig gewesen wäre, was fraglich ist, zumal wegen ihres äußerst seltenen Status als Leitwölfin.

Den sie nun nicht mehr besaß.

Theoretisch hätte ich ihren Versuch, für ihre Werwölfe ein neues Revier zu erobern, bewundert. Da ich Priscilla jedoch auch in der ganz praktischen Realität erlebt hatte, war ich froh, dass sie keinen Erfolg gehabt hatte.

Erfrischt von der Dusche föhnte ich mir das Haar und legte ein wenig Make-up auf. Ich hatte heute die Tagesschicht, musste also schon um elf im Merlotte's sein. Ich schlüpfte in meine übliche Kellnerinnenuniform aus schwarzer Hose und weißem T-Shirt mit Merlotte's-Logo, ließ mein Haar heute ausnahmsweise mal offen und schnürte mir die schwarzen Reeboks zu.

Eigentlich ging's mir doch ziemlich gut, fand ich, so alles in allem.

Viele Leute waren tot, und die Ereignisse der letzten Nacht hatten großen Kummer verursacht. Aber immerhin war das eindringende Werwolfrudel zurückgeschlagen worden, in der Gegend um Shreveport sollte also erst mal eine Weile lang Frieden herrschen. Der Krieg war sehr schnell zu Ende gegangen. Und die Wergestalten waren einmal mehr dem Rest der Welt verborgen geblieben, obwohl sie den Schritt an die Öffentlichkeit bald machen mussten. Je länger die Vampire offen in der Gesellschaft lebten, desto wahrscheinlicher wurde es, dass irgendwer die Wergestalten verriet.

Aber das konnte ich getrost in der großen Kiste von Dingen versenken, die nicht meine Sorge waren.

Der Kratzer an meinem Bein war, ob dank Natur oder dank Amelias Hexenkünsten, schon verschorft. An Armen und Beinen hatte ich blaue Flecken, doch die wurden von der Kleidung verdeckt. Es war nicht ungewöhnlich, zu dieser Jahreszeit bereits langärmlige Sachen zu tragen, zumal das Wetter langsam kühler wurde. Ich hätte sogar schon eine Jacke gebrauchen können und bedauerte, keine mitgenommen zu haben, als ich zur Arbeit fuhr. Amelia hatte sich noch nicht gerührt, als ich aufbrach, und ich wusste nicht, ob Pam im Gästezimmer in meinem Geheimversteck für Vampire ruhte. Aber hey, das ging mich doch auch gar nichts an!

Auf der Fahrt fiel mir noch so einiges ein, das in die große Kiste voller Dinge gehörte, die nicht meine Sorge waren. Doch damit war Schluss, sobald ich in der Arbeit ankam. Als ich meinen Boss sah, überfielen mich Gedanken, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Nein, Sam sah nicht aus wie nach einer Prügelei. Er sah eigentlich aus wie immer, als ich in seinem Büro wie üblich meine Handtasche in der Kommode verstaute. Die Kämpfe schienen ihn sogar eher belebt zu haben. Vielleicht hatte es ihm richtig gutgetan, sich mal in ein gefährlicheres Tier als einen Collie zu verwandeln. Vielleicht hatte es ihm richtig Spaß gemacht, einigen Werwölfen mal ordentlich eins zu verpassen... ihnen den Bauch aufzureißen... das Rückgrat zu brechen ...

Moment! Wem war noch mal das Leben gerettet worden mit all dem Aufreißen und Rückgratbrechen? Umgehend lösten sich meine Gedanken in Luft auf. Und spontan drückte ich Sam einen Kuss auf die Wange. Ich sog seinen ganz eigenen Geruch ein: ein Geruch von Aftershave und Wald, in dem etwas Wildes, aber dennoch Vertrautes lag.

»Wie geht's dir?«, fragte er, als würde ich ihn immer mit einem Kuss begrüßen.

»Besser, als ich dachte«, sagte ich. »Und dir?«

»Hier und da tut's etwas weh, aber es geht schon.«

Holly streckte den Kopf zur Tür rein. »Hey, Sookie, Sam«, sagte sie, ehe sie zur Kommode ging und ihre Handtasche verstaute.

»Holly, ich habe gehört, dass du mit Hoyt zusammen bist«, sagte ich mit einem fröhlichen Lächeln, das hoffentlich Freude genug ausstrahlte.

»Ja, wir verstehen uns ganz gut.« Sie bemühte sich, möglichst locker zu wirken. »Er kommt prima mit Cody klar, und seine Familie ist richtig nett.« Trotz ihres schwarz gefärbten, wie Igelstacheln vom Kopf abstehenden Haars und der dicken Schicht Make-up hatte Hollys Gesicht etwas Sehnsüchtiges und Verletzliches.

Es fiel mir nicht schwer zu sagen: »Hoffentlich klappt's mit euch beiden.« Holly freute sich sichtlich. Sie wusste so gut wie ich, dass sie praktisch meine Schwägerin werden würde, wenn sie Hoyt heiratete, weil mein Bruder Jason und Hoyt so dicke Freunde waren.

Sam erzählte uns noch von seinem Problem mit einem der Bierlieferanten, während Holly und ich uns unsere Schürzen umbanden, und dann begann unser Arbeitstag. Ich streckte den Kopf in die Durchreiche und winkte den Leuten in der Küche. Der derzeitige Koch des Merlotte's war ein Exsoldat namens Carson. Schnellimbissköche kommen und gehen, aber Carson war einer der besseren. Den Hamburger Lafayette (Hamburger in der Spezialsoße eines früheren Kochs) hatte er sofort hinbekommen, Hühnchenstreifen und Pommes frites gelangen ihm perfekt, und er bekam keine Wutanfälle und versuchte auch nicht, den Küchenjungen zu erstechen. Er erschien pünktlich zur Arbeit, und am Ende seiner Schicht hinterließ er die Küche blitzblank, was so großartig war, dass Sam Carson eine Menge Seltsamkeiten verziehen hätte.

Wir hatten nur wenige Gäste, daher kümmerten Holly und ich uns auch um die Getränke, und Sam telefonierte im Büro, als Tanya Grissom ins Merlotte's kam. Die kleine Frau mit den weiblichen Kurven sah so hübsch und gesund aus wie ein Milchmädchen. Tanya setzte nur wenig Make-up ein, dafür aber immer sehr viel Selbstsicherheit.

»Wo ist Sam?«, fragte sie, und ihr kleiner Mund verzog sich zu einem Lächeln. Ich lächelte zurück, ebenso unecht. Miststück.

»Im Büro«, sagte ich, als wüsste ich stets genau, wo Sam sich gerade aufhielt.

Als Tanya sich abwandte und Sam suchen ging, blieb Holly auf dem Weg zur Durchreiche stehen und sagte leise: »Die Frau dort, die ist ein tiefes Wasser.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Sie wohnt draußen in Hotshot, ist mit ein paar Frauen von dort zusammengezogen«, erzählte Holly. Unter all den »normalen« Einwohnern von Bon Temps war Holly eine der wenigen, die wusste, dass es Geschöpfe wie Werwölfe und Gestaltwandler gab. Ich hatte keine Ahnung, ob sie erkannt hatte, dass die Bewohner von Hotshot Werpanther waren. Doch Holly wusste, dass dort Inzucht herrschte und die Leute alle etwas seltsam waren. Hotshot, das war geradezu gleichbedeutend mit seltsam im Landkreis Renard. Und sie hielt Tanya (eine Werfüchsin) allein schon deshalb für gefährlich oder zumindest verdächtig, weil sie in Hotshot Anschluss suchte.

Ich verspürte einen Stich echter Angst. Tanya und Sam könnten sich zusammen verwandeln, schoss es mir durch den Kopf. Sam würde das sicher gefallen. Er könnte sich sogar selbst in einen Fuchs verwandeln, wenn er wollte.

Es kostete mich enorme Anstrengung, nach diesen Gedanken meine Gäste weiter anzulächeln. Und ich schämte mich. Ich sollte mich doch eigentlich freuen für Sam, dachte ich. Ganz offensichtlich interessierte sich eine Frau für ihn, und sogar eine Frau, die seine wahre Natur zu schätzen wüsste. Tja, es sprach nicht gerade für mich, dass ich mich ganz und gar nicht freute. Diese Tanya war einfach nicht gut genug für ihn. Aber ich hatte ihn ja bereits vor ihr gewarnt.

Als Tanya aus Sams Büro kam und das Merlotte's durch den Vordereingang verließ, wirkte sie längst nicht mehr so selbstsicher wie zuvor. Ich grinste hinter ihr her. Ha! Dann kam Sam an den Tresen und übernahm wieder das Bierzapfen. Auch er schien nicht mehr annähernd so gut gelaunt wie vorhin.

Sofort war mein Grinsen wieder verschwunden. Was war denn da los? Ich servierte Sheriff Bud Dearborn und Alcee Beck den Lunch (wobei Alcee mich die ganze Zeit finster anstarrte), doch die Frage ließ mich nicht los. Schließlich entschied ich mich, einen Blick in Sams Gedanken zu werfen. Seit einiger Zeit konnte ich nämlich mein telepathisches Talent viel gezielter einsetzen. Es fiel mir sogar viel leichter, mich mit meinen Schutzbarrieren gegen das ständige Getöse um mich herum abzuschotten, jetzt, da ich diese Blutsbande mit Eric hatte - auch wenn ich's nicht gern zugab. Okay, nett ist es nicht, in den Gedanken anderer herumzustöbern. Aber ich konnte das schon immer, und es war mir quasi zur zweiten Natur geworden.

Ich weiß, das ist eine lahme Ausrede. Herrje, ich war es eben gewohnt, Bescheid zu wissen. Dieses Rätselraten nervte mich. Die Gedanken von Gestaltwandlern sind schwieriger zu lesen als die normaler Leute, und Sam war sogar unter den Gestaltwandlern noch ein besonders schwieriger Fall. Aber ich bekam immerhin mit, dass Sam frustriert, unsicher und nachdenklich war.

Und dann erschrak ich doch über meine Unverfrorenheit und meine fehlenden Manieren. Letzte Nacht hatte Sam sein Leben für mich riskiert. Er hatte mir das Leben gerettet. Und was tat ich? Stöberte in seinem Kopf herum wie ein Kleinkind in der Spielzeugkiste. Ich wurde ganz rot vor Scham und verlor den Faden, als die junge Frau an dem Tisch vor mir in einem endlos scheinenden Wortschwall ihren Lunch bestellte und mich schließlich freundlich fragte, ob ich mich auch wohlfühle. Ich riss mich zusammen, konzentrierte mich und schrieb ihre Bestellung auf: Chili, Cracker, Tee mit Zucker. Ihre Freundin, eine Frau Mitte fünfzig, wollte einen Hamburger Lafayette, einen kleinen Salat und dazu ein Bier. Ich notierte noch Dressing und Biermarke, und schon flitzte ich zur Küchendurchreiche und gab meine Bestellung weiter. Als ich neben Sam stand, nickte ich bloß zu einem der Bierhähne hinüber, und schon einen Moment später hielt ich das richtige Bier in Händen. Ich war zu durcheinander, um mit Sam zu reden. Er warf mir einen neugierigen Blick zu.

Ich war froh, als meine Schicht zu Ende war und ich aus dem Merlotte's rauskam. Holly und ich machten die Übergabe an Arlene und Danielle und holten unsere Handtaschen. Draußen wurde es langsam dunkel, die Außenbeleuchtung war bereits eingeschaltet. Es würde Regen geben, Wolken verdeckten die Sterne. Die Klänge aus der Jukebox wurden schwächer, als die Tür hinter uns zufiel; Carrie Underwood sang Jesus Take the Wheel. Nicht die schlechteste Idee, dachte ich, Jesus das Steuer zu überlassen.

Auf dem Parkplatz blieben wir eine Weile neben unseren Autos stehen. Der Wind wehte, und es war recht kühl.

»Ich weiß schon, Jason ist Hoyts bester Freund«, sagte Holly plötzlich. Ihre Stimme klang unsicher, und ihre Miene war schwer zu entziffern. Doch mir war natürlich klar, dass sie nicht wusste, ob ich hören wollte, was sie mir zu sagen hatte. »Ich habe Hoyt schon immer gemocht. Er war schon in der Schule ein netter Typ. Und ich war nur deshalb nicht früher mit ihm zusammen, weil er - hoffentlich nimmst du mir das jetzt nicht übel - weil er so dick mit Jason befreundet ist.«

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. »Du magst Jason nicht«, sagte ich schließlich.

»Oh, doch, ich mag Jason. Wer mag Jason nicht? Aber tut er Hoyt auch gut? Kann Hoyt glücklich sein, wenn er das feste Band zwischen ihnen lockert? Ich kann eben nur mit Hoyt zusammen sein, wenn er auch mit mir so eng befreundet ist wie mit Jason. Du verstehst schon, was ich meine.«

»Ja«, sagte ich. »Ich liebe meinen Bruder. Aber ich weiß, dass Jason nicht gerade berühmt dafür ist, an das Wohl der anderen zu denken.« Und das war noch milde ausgedrückt.

»Ich mag dich«, sagte Holly. »Ich wollte deine Gefühle nicht verletzen. Aber ich dachte mir schon, dass du es sowieso weißt.«

»Ja, irgendwie schon«, erwiderte ich. »Ich mag dich auch, Holly. Du bist eine gute Mutter und arbeitest hart, um für deinen Sohn zu sorgen. Und du hast ein gutes Verhältnis zu deinem Ex. Aber was ist mit Danielle? Ich dachte immer, ihr wärt so gut befreundet wie Hoyt und Jason.« Danielle war ebenfalls eine geschiedene Mutter, Holly und sie waren seit der Grundschule die dicksten Freundinnen gewesen. Danielle bekam allerdings etwas mehr Unterstützung als Holly, denn ihre Eltern waren noch rüstig und freuten sich, bei der Betreuung der beiden Kinder helfen zu können. Und Danielle ging schon eine ganze Weile mit einem neuen Mann aus.

»Ich hätte nie gedacht, dass sich zwischen Danielle und mich mal was schieben könnte, Sookie.« Holly zog ihre Jacke an und fischte in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln. »Aber irgendwie haben sich unsere Wege getrennt. Manchmal gehen wir noch zusammen zum Lunch, und unsere Kinder spielen noch miteinander.« Holly seufzte schwer. »Ich weiß auch nicht. Als ich anfing, mich für was anderes zu interessieren als die Welt hier in Bon Temps, in der wir aufgewachsen sind, fand Danielle das irgendwie falsch. Sie hat meine Neugier nicht verstanden. Und als ich eine Wicca wurde, hat sie das total abgelehnt, sie lehnt es immer noch ab. Wenn sie das mit den Werwölfen wüsste, wenn sie wüsste, was mir passiert ist...« Eine Hexe, die ihre Gestalt wandeln konnte, hatte Eric zwingen wollen, ihr einen Großteil seiner Geschäfte und damit seines Geldes abzutreten. Und zu diesem Zweck hatte sie alle Hexen und Wiccas der Umgebung gezwungen, ihr zu helfen, samt der widerwilligen Holly. »Diese ganze Sache hat mich verändert«, fügte Holly noch hinzu.

»Ja, der Umgang mit den Supras verändert einen, was?«

»Schon. Aber sie sind Teil unserer Welt. Eines Tages wird das jeder wissen. Eines Tages wird... die ganze Welt anders sein.«

Ich blinzelte. Damit hatte ich nicht gerechnet. »Was meinst du damit?«

»Na, wenn sie alle an die Öffentlichkeit treten«, sagte Holly, überrascht von meinem Mangel an Weitsicht. »Wenn sie alle an die Öffentlichkeit treten und zu ihrer Existenz stehen. Jeder auf der Welt wird sich damit abfinden müssen. Sicher, manche werden es nicht wollen. Vielleicht gibt es dann Gegenbewegungen oder sogar Kriege. Vielleicht bekämpfen die Werwölfe all die anderen Gestaltwandler, oder die Menschen greifen die Werwölfe und die Vampire an. Oder vielleicht warten die Vampire - du weißt ja, dass sie die Werwölfe im Grunde verachten -, bis sie eines schönen Nachts alle Wergeschöpfe töten können, damit die Menschen ihnen dankbar sind.«

Hatte Holly nicht etwas Poetisches? Sie war eine richtige Visionärin, wenn auch eine der schicksalsschweren. Ich hatte nicht mal geahnt, dass sie sich so tief greifende Gedanken machte. Und wieder war ich beschämt. Gedankenleser sollten sich nicht so kalt erwischen lassen. Ich hatte mich in letzter Zeit anscheinend so gut abgeschottet, dass mir schon Entscheidendes entging.

»Möglich ist alles, wer weiß«, sagte ich. »Vielleicht akzeptieren die Leute es aber auch einfach. Okay, nicht in jedem Land. Ich meine, wenn man bedenkt, was den Vampiren in Osteuropa widerfahren ist und auch in manchen Teilen Südamerikas...«

»Und der Papst hat sich dazu nie klar geäußert«, empörte sich Holly.

Ich nickte. »Ist wohl nicht so leicht, wenn man nicht weiß, was man sagen soll.« Die meisten Kirchen hatten (mit Verlaub) einen Heidenspaß beim Abfassen theologischer Auslegungen gegen die Untoten gehabt. Und die Existenz der Wergeschöpfe würde solchen Schriften sicher noch mehr Munition geben - obwohl die Wergeschöpfe definitiv lebendig waren, daran gab's keinen Zweifel... Aber im Vergleich zu den bereits einmal Gestorbenen hatten sie wahrscheinlich einfach zu viel Leben in sich.

Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Eigentlich hatte ich nicht vor, noch länger hier draußen auf dem Parkplatz zu stehen und die Probleme der Welt zu lösen oder über die Zukunft zu spekulieren. Ich war immer noch erschöpft von der letzten Nacht. »Wir sehen uns, Holly. Wir könnten ja auch mal zusammen mit Amelia nach Clarice ins Kino fahren, wie wär's?«

»Gern«, sagte Holly, ein wenig überrascht. »Amelia hält zwar nicht viel von meinen Wiccakünsten, aber wir könnten zumindest ein bisschen plaudern.«

Zu spät fiel mir ein, dass dieses Dreiergespann wohl kaum funktionieren würde. Ach, zum Teufel. Wieso sollten wir es nicht mal ausprobieren?

Auf dem Heimweg fragte ich mich, ob zu Hause wohl jemand auf mich warten würde. Die Frage beantwortete sich, als ich Pams Auto hinter meinem Haus stehen sah. Pam fuhr natürlich einen stinkkonservativen Wagen, einen Toyota mit Fangtasia-Sticker. Ich staunte nur, dass es kein Minivan war.

Pam und Amelia sahen im Wohnzimmer eine DVD an. Sie saßen auf dem Sofa, wenn auch nicht gerade eng umschlungen. Bob hatte sich in den Lehnsessel verkrümelt. Amelia balancierte eine Schale mit Popcorn auf dem Schoß, Pam hielt eine Flasche TrueBlood in der Hand. Ich ging weiter ins Wohnzimmer hinein. Welchen Film sahen sie denn da? Underworld. Hmmm.

»Kate Beckinsale ist heiß«, sagte Amelia. »Hey, Sookie, wie war's in der Arbeit?«

»Ganz gut«, erwiderte ich. »Pam, wie kommt's, dass du zwei Abende nacheinander freihast?«

»Das habe ich mir verdient«, sagte Pam. »Ich hatte seit zwei Jahren keinen Urlaub. Eric fand auch, dass es mal an der Zeit sei. Was meinst du, wie würde mir dieses schwarze Outfit da stehen?«

»Oh, genauso gut wie Kate Beckinsale«, schwärmte Amelia, blickte Pam in die Augen und lächelte. Die beiden waren in der Turteltaubenphase. Wenn ich an mein eigenes Pech in Sachen Turteltaube dachte, wäre ich am liebsten gleich aus dem Wohnzimmer gerannt.

»Hat Eric eigentlich noch was über diesen Jonathan herausgefunden?«, fragte ich.

»Weiß nicht. Warum rufst du ihn nicht an?«, sagte Pam völlig desinteressiert.

»Richtig, du hast ja frei«, murmelte ich und stapfte in mein eigenes Zimmer, verärgert und ein wenig beschämt über mich selbst. Ich wählte die Nummer des Fangtasia, ohne sie nachschlagen zu müssen. So weit, so schlecht. Und sie war obendrein auf einer Kurzwahltaste meines Handys eingespeichert. Herrje. Darüber wollte ich in diesem Moment lieber nicht nachdenken.

Das Telefon klingelte, und ich schob meine düstere Grübelei beiseite. Man musste ganz bei der Sache sein, wenn man mit Eric Northman sprach.

»Fangtasia, die Bar mit Biss. Hier ist Lizbet.« Eine der Vampirsüchtigen. Ich durchforstete mein Gedächtnis, um mit dem Namen eine Person in Verbindung zu bringen. Ach ja, sehr groß, sehr rundlich (und stolz darauf), Mondgesicht, herrliches braunes Haar.

»Lizbet, hier ist Sookie Stackhouse.«

»Oh, hi«, sagte sie leicht erschrocken, aber beeindruckt.

»Hm ... hi. Könnte ich wohl Eric sprechen?«

»Ich erkundige mich, ob der Meister Zeit hat«, hauchte Lizbet, bemüht, ehrfürchtig und geheimnisvoll zugleich zu klingen.

»Meister«? Heilige Scheiße.

Vampirsüchtige waren Männer und Frauen, die Vampire so sehr liebten, dass sie am liebsten jede Minute, die die Vampire wach waren, um sie sein wollten. Jobs in Bars wie dem Fangtasia waren das Paradies auf Erden für diese Leute, und die Chance, gebissen zu werden, galt ihnen gleichsam als heilig. Der Kodex der Vampirsüchtigen verlangte, dass sie sich »geehrt« fühlten, wenn ein Untoter ihnen das Blut aussaugen wollte. Und falls sie dabei starben - tja, das war dann wohl auch so was wie eine Ehre. Hinter all dem falschen Pathos und der verquasten Sexualität des typischen Vampirsüchtigen stand die unausgesprochene Hoffnung, dass irgendwann ein Vampir den Vampirsüchtigen für »würdig« befinden würde, zu den Vampiren herübergeholt zu werden. Als müsste man dafür erst einen Persönlichkeitstest ablegen.

»Danke, Lizbet«, sagte ich.

Lizbet legte den Telefonhörer mit einem dumpfen Knall hin und machte sich auf die Suche nach Eric. Ich hätte ihr keine größere Freude bereiten können.

»Ja«, sagte Eric nach ungefähr fünf Minuten.

»Ganz schön beschäftigt, wie?«

»Oh, ich war... beim Abendessen.«

Ich zog die Nase kraus. »Na, hoffentlich bist du satt geworden«, erwiderte ich, ohne auch nur ein Wort davon ernst zu meinen. »Sag mal, hast du eigentlich irgendwas über Jonathan herausgefunden?«

»Hast du ihn wiedergesehen?«, fragte Eric scharf.

»Oh, nein. Ich wollte nur mal fragen.«

»Wenn du ihn siehst, muss ich es umgehend wissen.«

»Okay, verstanden. Was hast du also erfahren?«

»Er ist schon an verschiedenen Orten gesehen worden«, sagte Eric. »Und als ich nicht hier war, kam er sogar mal ins Fangtasia. Pam ist bei dir zu Hause, richtig?«

Ein äußerst ungutes Gefühl beschlich mich. Ging Pam vielleicht gar nicht aus reinem Vergnügen mit Amelia ins Bett? Tarnte sie vielleicht etwas rein Geschäftliches mit einer heißen Geschichte und war bloß mit Amelia zusammen, um auf mich aufzupassen? Verdammte Vampire, dachte ich wütend. Dieses Szenario ähnelte viel zu sehr einem aus meiner jüngsten Vergangenheit, das mich stark verletzt hatte.

Aber ich würde keine Fragen stellen. Hier wäre Wissen viel schlimmer als der bloße Verdacht.

»Ja«, sagte ich steif. »Sie ist hier.«

»Gut. Falls dieser Jonathan auftaucht, kann Pam sich um ihn kümmern.« Eric klang einigermaßen zufrieden. »Da sie ja sowieso schon bei dir ist«, schob er wenig überzeugend nach. Es war ein allzu durchsichtiger Versuch, meine - wie Eric wusste - verletzten Gefühle zu beschwichtigen. Einem Schuldbewusstsein entsprang seine letzte Bemerkung garantiert nicht.

Finster starrte ich die Tür meines eingebauten Schranks an. »Verrätst du mir mal, wieso du so nervös bist? Das liegt doch wohl nicht an diesem Typen.«

»Du hast die Königin seit Rhodes nicht gesehen«, erwiderte Eric.

Dieses Gespräch würde keinen guten Verlauf nehmen. »Nein. Was ist denn los mit ihren Beinen?«

»Sie wachsen wieder«, sagte Eric.

Wie hatte ich mir das vorzustellen? Wuchsen die Füße geradewegs aus den Stümpfen heraus, oder kamen zuerst die Beine und die Füße ganz zum Schluss? »Das ist doch gut, oder?«, fragte ich. Beine zu haben war auf jeden Fall eine gute Sache.

»Es verursacht starke Schmerzen«, erklärte Eric, »wenn man große Körperteile verliert und diese nachwachsen. Es wird eine ganze Weile dauern. Sie ist sehr ... Sie ist behindert.« Das letzte Wort sprach er so langsam aus, als kenne er es zwar, hätte es aber noch nie benutzt.

Ich fragte mich, was Eric mir da eigentlich erzählen wollte, ausgesprochen und unausgesprochen. Gespräche mit Eric waren meistens höchst mehrdeutig.

»Es geht ihr also noch nicht gut genug, um die Geschäfte wieder aufzunehmen«, stellte ich schließlich fest. »Und wer vertritt sie solange?«

»Die Sheriffs kümmern sich um die laufenden Dinge«, sagte Eric. »Gervaise ist ja bei dem Bombenattentat umgekommen, bleiben also ich, Cleo und Arla Yvonne. Vieles wäre einfacher, wenn Andre überlebt hätte.« Ein Schuldgefühl durchfuhr mich, aber auch Angst. Ich hätte Andre retten können. Aber weil ich Andre fürchtete und verabscheute, hatte ich es nicht getan. Ich hatte zugelassen, dass er ermordet wurde.

Eric schwieg einen Augenblick, und ich fragte mich schon, ob er meine Schuldgefühle und Ängste bemerkte. Es wäre eine Katastrophe, wenn er erfahren würde, dass Quinn Andre mir zuliebe umgebracht hatte. Doch Eric sprach weiter. »Andre hätte die Fäden zusammengehalten, er war die rechte Hand der Königin. Wenn schon einer ihrer Gefolgsleute sterben musste, hätte es lieber diesen hirnlosen Muskelprotz Sigebert treffen sollen. Gut, Sigebert kann die Königin bewachen. Aber Andre hätte nicht nur sie schützen können, sondern auch ihr Territorium.«

Noch nie hatte ich Eric so offen über Angelegenheiten der Vampire reden hören. Langsam beschlich mich das Gefühl, dass ich wusste, worauf er hinauswollte.

»Du rechnest mit einer feindlichen Übernahme«, sagte ich und spürte, wie mir das Herz in die Hose rutschte. Nicht schon wieder. »Du glaubst, Jonathan war als Spion hier.«

»Vorsicht, sonst fange ich noch an zu glauben, dass du meine Gedanken lesen kannst.« Erics Worte kamen leicht wie Marshmallows daher, doch es lag etwas schneidend Scharfes darin.

»Das ist nicht möglich«, sagte ich, und falls er es für eine Lüge hielt, sprach er es nicht aus. Eric schien bereits zu bedauern, mir so viel erzählt zu haben. Der Rest unseres Telefonats war kurz. Er forderte mich noch einmal auf, ihn umgehend anzurufen, falls Jonathan auftauchen würde, und ich versicherte ihm, dass ich das liebend gern täte.

Nachdem ich aufgelegt hatte, fühlte ich mich nicht mehr ganz so erschöpft. Zu Ehren des kalten Abends zog ich meine weiße Flanellschlafanzughose mit den rosa Schäfchen an und ein weißes T-Shirt. Ich holte meine Landkarte von Louisiana heraus, nahm einen Bleistift und zeichnete die Gebiete ein, die ich kannte. Stück für Stück trug ich zusammen, was ich in verschiedenen Gesprächen an Wissen aufgeschnappt hatte. Eric gehörte Bezirk Fünf. Die Königin hatte Bezirk Eins besessen, also New Orleans samt Umgebung. So viel stand fest. Doch alles andere war verwirrend. Der verstorbene Gervaise war Sheriff in dem Gebiet gewesen, zu dem auch Baton Rouge gehörte, die Stadt, in der die Königin wohnte, seit ihre Besitzungen in New Orleans von Katrina so schwer beschädigt worden waren. Das hätte also, schon wegen der Lage, Bezirk Zwei sein müssen. Es war aber Bezirk Vier. Vorsichtig zog ich eine Linie, die ich wieder wegradieren konnte - und würde wenn ich sie mir eine Weile angesehen hatte.

Woran erinnerte ich mich noch? Bezirk Fünf, im oberen Teil des Bundesstaates, erstreckte sich fast über die gesamte Breite. Eric war reicher und mächtiger, als ich angenommen hatte. Darunter lagen, beide unverhältnismäßig viel kleiner, Cleo Babbitts Bezirk Drei und Arla Yvonnes Bezirk Zwei. Und von der südwestlichsten Ecke Mississippis bis hinunter zum Golf von Mexiko zogen sich die großen Bezirke hin, die früher Gervaise und der Königin gehört hatten, Vier und Eins. Welche Verwerfungen in der Vampirpolitik mochten wohl zu dieser Zählung und Aufteilung der Territorien geführt haben?

Ich betrachtete die eingezeichneten Linien eine Weile, ehe ich sie alle wieder wegradierte, und sah auf die Uhr. Fast eine Stunde war schon vergangen seit meinem Telefonat mit Eric. Leicht melancholischer Stimmung putzte ich mir die Zähne und wusch mir das Gesicht. Dann ging ich ins Bett, sprach mein Gebet und lag ziemlich lange wach. Es war eine unbestreitbare Tatsache, dachte ich, dass zum jetzigen Zeitpunkt der mächtigste Vampir in Louisiana Eric Northman war, mein durch Blutsbande mit mir verbundener Exliebhaber. Ich selbst hatte Eric sagen hören, dass er weder König werden noch neues Territorium erobern wolle. Und wenn ich die Größe bedachte, die sein Territorium jetzt schon hatte, erschien mir diese Aussage auch gleich viel glaubwürdiger.

Ich meinte, Eric ein wenig zu kennen. So gut wie ein Mensch einen Vampir eben kennen kann. Was nicht heißen soll, dass meine Kenntnisse fundiert waren. Dass Eric ganz Louisiana übernehmen wollte, glaubte ich nicht, das hätte er sonst längst getan. Viel wahrscheinlicher fand ich, dass er selbst aufgrund seiner Macht zur Zielscheibe werden konnte. Herrje, ich musste dringend schlafen.

Wieder sah ich auf die Uhr. Anderthalb Stunden, seit ich mit Eric telefoniert hatte.

Da glitt mit einem Mal völlig lautlos Bill ins Zimmer.

»Was ist los?«, fragte ich sehr leise und sehr ruhig, wie ich hoffte, obwohl mir der Schreck in alle Glieder gefahren war.

»Peinlich, nicht?«, sagte Bill mit seiner kühlen Stimme, so dass ich fast zu lachen anfing. »Pam musste ins Fangtasia. Sie hat mich gebeten, ihren Platz hier einzunehmen.«

»Warum?«

Bill setzte sich auf den Stuhl in der Ecke. Es war recht dunkel in meinem Schlafzimmer, aber die Vorhänge waren nicht ganz zugezogen, und so fiel etwas Licht von der Außenbeleuchtung herein. Im Badezimmer brannte ebenfalls ein kleines Nachtlicht. Ich konnte die Konturen seines Körpers erkennen und etwas verschwommen auch sein Gesicht. Bills Haut schimmerte leicht, wie die aller Vampire, wenn man mich fragt.

»Pam konnte Cleo telefonisch nicht erreichen«, sagte Bill. »Eric ist nicht im Club, weil er irgendetwas zu erledigen hat. Ihn konnte Pam auch nicht auftreiben. Aber ich habe ihm eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen, er ruft sicher zurück. Cleo geht nicht ans Telefon, das ist das Problem.«

»Ist Pam mit Cleo befreundet?«

»Nein, gar nicht«, sagte er emotionslos. »Aber Pam sollte sie in ihrem Lebensmittelgeschäft telefonisch erreichen können, das ist die ganze Nacht geöffnet. Und Cleo geht sonst immer an den Apparat.«

»Warum will Pam sie denn erreichen?«, fragte ich verwirrt.

»Sie telefonieren jede Nacht«, sagte Bill. »Und danach ruft Cleo Arla Yvonne an. Eine Art Telefonkette, und die sollte nicht abreißen, nicht in Zeiten wie diesen.«

Bill stand so rasend schnell auf, dass ich die Bewegung nicht wahrnahm. »Da!«, flüsterte er. Seine Stimme streifte mein Ohr so sachte wie ein Mottenflügel. »Hörst du?«

Ich hörte absolut gar nichts. Reglos lag ich unter der Bettdecke und hoffte inständig, dass diese ganze Sache sich einfach in Luft auflösen möge. Werwölfe, Vampire, Unfriede, Schwierigkeiten ... Aber das Glück blieb mir versagt. »Was hörst du?«, fragte ich und bemühte mich, so leise zu flüstern wie Bill. Ein von vornherein zum Scheitern verdammtes Bemühen.

»Es kommt jemand«, sagte Bill.

Und dann hörte ich ein Klopfen an der Haustür. Ein sehr leises Klopfen.

Ich schlug die Bettdecke zurück und sprang auf. Und weil ich vor lauter Schreck meine Hausschuhe nicht fand, lief ich auf nackten Füßen aus dem Schlafzimmer. Die Nacht war kalt, und weil ich die Heizung noch nicht eingeschaltet hatte, fühlte sich der blanke Holzboden unter den Fußsohlen eisig an.

»Ich mache auf«, sagte Bill, und schon war er vor mir, ohne dass ich seine Bewegung wahrgenommen hatte.

»Jesus Christus, Hirte von Judäa«, murmelte ich vor mich hin und folgte ihm. Wo war eigentlich Amelia? Schlief sie oben oder saß sie noch im Wohnzimmer auf dem Sofa? Hoffentlich schlief sie bloß. Inzwischen war ich schon so verängstigt, dass ich fürchtete, sie könnte tot in ihrem Bett liegen.

Lautlos glitt Bill durch das dunkle Haus, die Diele entlang, ins Wohnzimmer (wo es noch immer nach Popcorn roch) und zur Haustür. Er spähte durch den Türspion, was ich aus irgendeinem Grund so komisch fand, dass ich mir die Hand vor den Mund halten musste, um nicht zu kichern.

Niemand erschoss Bill durch den Spion. Niemand versuchte, die Haustür einzutreten. Niemand schrie.

Die lastende Stille bescherte mir eine Gänsehaut. Herrje, nicht eine einzige Bewegung von Bill bekam ich mit. Jetzt drang seine kühle Stimme plötzlich an mein rechtes Ohr. »Eine junge Frau. Ihr Haar ist weiß oder blond gefärbt, sehr kurz und am Ansatz dunkel. Ein Mensch, sehr schlank, sehr verängstigt.«

Da war sie nicht die Einzige.

Angestrengt versuchte ich mir vorzustellen, wer meine mitternächtliche Besucherin sein könnte. Und auf einmal kam mir ein Gedanke. »Vielleicht ist es Frannie«, flüsterte ich. »Quinns Schwester.«

»Lass mich rein!«, rief da eine Stimme. »Oh, bitte, lass mich rein.«

Es war wie in einer Gespenstergeschichte, die ich mal gelesen hatte. Mir stellte sich jedes Härchen einzeln auf.

»Ich muss dir erzählen, was mit Quinn geschehen ist«, fuhr Frannie fort, und damit war meine Entscheidung getroffen.

»Mach die Tür auf«, sagte ich in normaler Lautstärke zu Bill. »Wir müssen sie hereinlassen.«

»Sie ist ja ein Mensch«, stellte Bill fest, als wollte er sagen: Welchen Ärger kann sie schon machen? Und so schloss er die Haustür auf.

Ich will nicht sagen, dass Frannie wie eine Verrückte hereinstürzte, aber sie verlor auf jeden Fall keine Zeit, ins Wohnzimmer zu kommen und die Tür hinter sich zuzuschlagen. In Rhodes war mein erster Eindruck von Frannie nicht gerade positiv gewesen, da sie sich wenig charmant, ja geradezu aggressiv gegeben hatte. Doch als sie nach dem Bombenanschlag am Krankenhausbett ihres Bruders saß, lernte ich sie etwas besser kennen. Sie hatte ein hartes Leben gehabt, und sie liebte ihren Bruder.

»Was ist passiert?«, rief ich sofort. Frannie stolperte zum nächstbesten Stuhl und ließ sich darauf fallen.

»War ja klar, dass du einen Vampir hier hast«, sagte sie. »Kann ich ein Glas Wasser haben? Dann tue ich auch, was Quinn von mir verlangt.«

Ich eilte in die Küche und holte ihr etwas zu trinken. In der Küche hatte ich kurz Licht gemacht, doch als ich ins Wohnzimmer zurückkam, ließen wir es dort dunkel.

»Wo ist Ihr Auto?«, fragte Bill.

»Ungefähr eine Meile entfernt von hier, es ist stehen geblieben«, sagte Frannie. »Aber ich konnte nicht warten. Ich habe einen Abschleppdienst angerufen und einfach den Schlüssel im Schloss stecken lassen. Herrgott, hoffentlich holen sie es bald von der Straße, damit es keiner sieht.«

»Erzähl mir sofort, was passiert ist«, forderte ich.

»Die kurze Version oder die lange?«

»Die kurze.«

»Vampire aus Las Vegas wollen Louisiana übernehmen.«

Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe.