Kapitel 15

Am nächsten Tag schlief ich sehr lange. Und ich schlief wie ein Stein. Ich drehte mich nicht ein einziges Mal um. Ich stand nicht auf, um zur Toilette zu gehen. Und als ich endlich aufwachte, war es schon fast Mittag. Wie gut, dass ich erst gegen Abend im Merlotte's sein musste.

Vom Wohnzimmer her hörte ich Stimmen. Das war der Nachteil an Mitbewohnern. Sie waren da, wenn man aufwachte, und manchmal hatten sie auch Besuch. Egal, Amelia kochte immer sehr viel Kaffee, wenn sie früher aufstand als ich. Und diese Aussicht lockte mich schließlich aus dem Bett.

Da Besuch im Haus war, musste ich erst mal was anziehen, zumal die andere Stimme die eines Mannes war. Ich zog mir das Nachthemd über den Kopf, machte mich im Bad rasch ein wenig frisch und schlüpfte in BH, T-Shirt und Baumwollhosen. Das musste reichen. Dann ging ich auf direktem Weg in die Küche. Ah, Amelia hatte wirklich eine große Kanne Kaffee gekocht. Und sie hatte mir sogar schon einen Becher hingestellt. Herrlich. Ich füllte ihn und steckte eine Scheibe Sauerteigbrot in den Toaster. Die Tür der hinteren Veranda schlug zu. Ich drehte mich überrascht um und sah Tyrese Marley mit einem Armvoll Kaminholz hereinkommen.

»Wo lagern Sie Ihr Holz?«, fragte er.

»Neben dem Kamin im Wohnzimmer steht ein Gestell.« Er hatte das Holz gehackt, das Jason im Frühling neben dem Geräteschuppen gestapelt hatte. »Das ist wirklich nett von Ihnen«, sagte ich etwas stockend. »Äh, möchten Sie einen Kaffee oder vielleicht etwas Toast? Oder ...«Ich sah auf die Uhr. »Wie wär's mit einem Schinkensandwich oder einem Hamburger?«

»Was zu essen wär nicht schlecht«, erwiderte Marley und ging die Diele hinunter, als hätte das Holz überhaupt kein Gewicht.

Der Gast im Wohnzimmer war also Copley Carmichael. Ich hatte keinen blassen Schimmer, warum Amelias Vater hier sein mochte. Rasch bereitete ich einige Sandwiches zu, goss Wasser in ein Glas und legte zwei Sorten Chips neben den Teller, damit Marley sich selbst aussuchen konnte, was er mochte. Dann setzte ich mich endlich an den Tisch, trank meinen Kaffee und aß meinen Toast. Ich hatte immer noch einen Rest Pflaumenmus von meiner Großmutter, das ich zögernd darauf strich. Jedes Mal, wenn ich davon aß, musste ich melancholische Anwandlungen abwehren. Aber es hatte doch keinen Sinn, ein so gutes Pflaumenmus einfach verderben zu lassen. Meine Großmutter hätte es ganz gewiss so gesehen.

Als Marley wieder in die Küche kam, setzte er sich mir ganz zwanglos gegenüber. Dadurch entspannte auch ich mich.

»Ich bin Ihnen wirklich dankbar für Ihre Mühe«, sagte ich, nachdem er die ersten Bissen gegessen hatte.

»Ich habe sonst nichts zu tun, wenn er mit Amelia redet«, erklärte Marley. »Außerdem, wenn sie noch den ganzen Winter hier ist, freut er sich, wenn sie ein Kaminfeuer anmachen kann. Wer hat Ihnen denn die Holzklötze hierhergebracht und sie dann nicht gehackt?«

»Mein Bruder.«

»Hmph«, machte Marley und aß weiter.

Ich hatte meinen Toast bereits aufgegessen, schenkte mir einen zweiten Becher Kaffee ein und fragte Marley, ob er noch etwas wolle.

»Nein, vielen Dank«, sagte er und öffnete die Tüte mit den Barbecue-Kartoffelchips.

Dann entschuldigte ich mich und ging unter die Dusche. Es war an diesem Tag deutlich kühler draußen, und so holte ich ein langärmliges T-Shirt aus einer Kommodenschublade, die ich schon seit Monaten nicht geöffnet hatte. Genau das richtige Wetter für Halloween. Es war bereits zu spät, um noch einen Kürbis und Süßigkeiten zu kaufen ... nicht, dass bei mir besonders viele Kinder vorbeikamen und »Süßes oder Saures« riefen. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte ich mich wieder normal, was so viel hieß wie: zufrieden mit mir selbst und meiner Welt. Es gab zwar eine Menge zu betrauern, was ich auch noch tun würde, doch ich befürchtete nicht mehr ständig, mir an der nächsten Ecke eine Ohrfeige einzufangen.

Kaum war mir das durch den Kopf gegangen, begann ich natürlich auch schon zu grübeln. Mir fiel auf, dass ich gar nichts von den Vampiren aus Shreveport gehört hatte, fragte mich dann allerdings, warum ich das sollte oder wollte. Diese Zeit des Übergangs von einem Herrscher zum nächsten musste voller Spannungen und Verhandlungen sein, und es war das Beste, wenn die Untoten das unter sich regelten. Von den Werwölfen aus Shreveport hatte ich auch nichts gehört. Aber da die polizeilichen Nachforschungen nach all den Vermissten noch liefen, war das wohl ein gutes Zeichen.

Da ich gerade mit meinem Freund Schluss gemacht hatte, hieß das - zumindest theoretisch -, dass ich frei und ungebunden war. Als Ausdruck meiner neu gewonnenen Freiheit legte ich etwas mehr Lidschatten auf als üblich. Und trug auch noch Lippenstift auf. Gar nicht so leicht, sich abenteuerlustig zu fühlen. Tja, eigentlich hatte ich ja auch gar nicht frei und ungebunden sein wollen.

Ich hatte eben mein Bett gemacht, als Amelia an meine Tür klopfte.

»Komm rein!«, rief ich, faltete mein Nachthemd zusammen und legte es in die Kommode. »Was ist los?«

»Äh, mein Dad möchte dich um einen Gefallen bitten.«

Ich spürte richtiggehend, wie mein Gesicht eine bittere Miene annahm. Natürlich, wenn Copley Carmichael extra von New Orleans hierherkam und seine Tochter besuchte, musste er ja etwas Bestimmtes wollen. Und ich konnte mir bereits sehr gut vorstellen, was für eine Bitte das sein würde.

»Erzähl schon«, sagte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Oh, Sookie, deine ganze Körpersprache sagt bereits nein!«

»Ignorier meine Körpersprache und sprich selbst.«

Sie seufzte schwer, um mir zu zeigen, wie widerwillig sie mich in die Angelegenheiten ihres Vater hineinzog. »Ich habe ihm von der Übernahme der Vampire aus Las Vegas erzählt, und jetzt will er seine Geschäftsverbindungen mit den Untoten erneuern. Er möchte von jemandem in die neuen Kreise eingeführt werden. Und er hofft, du könntest das für ihn tun.«

»Ich kenne Felipe de Castro nicht mal.«

»Nein, aber du kennst diesen Victor. Und der wirkte doch so, als wäre er an seinem eigenen Fortkommen interessiert.«

»Du kennst ihn genauso gut wie ich«, betonte ich.

»Vielleicht, aber viel wichtiger ist doch, dass er weiß, wer du bist. Ich bin nur die andere Frau im Zimmer«, sagte Amelia, und ihr Argument leuchtete mir ein - auch wenn ich das nur ungern zugab. »Ich meine, er weiß schon, wer ich bin und wer mein Dad ist. Aber du bist ihm wirklich aufgefallen.«

»Oh, Amelia«, stöhnte ich, und einen Augenblick lang hätte ich ihr am liebsten einen Fußtritt versetzt.

»Ich weiß, dass dir das nicht passen wird, aber mein Dad will dir auch was zahlen, eine Art Finderlohn«, murmelte Amelia ziemlich verlegen.

Ich wedelte mit der Hand, wie um den Gedanken zu verscheuchen. Nein, ich würde mich doch nicht vom Vater einer Freundin dafür bezahlen lassen, dass ich einen Anruf oder was auch immer für ihn machte. Okay, ich weiß. In diesem Augenblick hatte ich mich bereits entschieden, ihm den Gefallen zu tun - Amelia zuliebe.

Und so gingen wir ins Wohnzimmer und redeten mit Copley Carmichael.

Er begrüßte mich sehr viel herzlicher als bei seinem letzten Besuch und konzentrierte sich voll und ganz auf mich, nach dem Motto »Nur Sie sind mir wichtig«. Ich dagegen betrachtete ihn mit sehr viel größerer Skepsis, und weil er kein Dummkopf war, fiel ihm das auch sofort auf.

»Entschuldigen Sie, Miss Stackhouse, dass ich schon so bald nach meinem letzten Besuch erneut hier eindringe«, salbaderte er wie ein Schleimer vor dem Herrn. »Aber die Situation in New Orleans ist wirklich zum Verzweifeln. Wir versuchen, die Stadt wieder aufzubauen und den Leuten Jobs zu verschaffen. Diese Geschäftsverbindung ist wirklich sehr wichtig für mich, ich bin für sehr viele Arbeitnehmer verantwortlich.«

Erstens glaubte ich nicht, dass es Carmichaels Unternehmen an Aufträgen mangelte; auf die Verträge zum Wiederaufbau der Anwesen der Vampire war es sicher nicht angewiesen. Und zweitens glaubte ich ihm keine Sekunde lang, dass der Wiederaufbau der stark beschädigten Stadt sein einziges Motiv war. Doch nach einem Blick in seine Gedanken war ich bereit zuzugeben, dass die Zerstörungen immerhin einer der Gründe für sein Drängen auf Eile waren. Außerdem hatte Marley das Holz für den Winter gehackt und eine ganze Ladung davon ins Haus geschafft. Das zählte für mich sehr viel mehr als jeder Appell an meine Gefühle.

»Ich rufe heute Abend im Fangtasia an«, sagte ich. »Mal sehen, was sie dort sagen. Aber weiter lasse ich mich da nicht hineinziehen.«

»Miss Stackhouse, ich stehe in Ihrer Schuld«, erwiderte Copley Carmichael. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ihr Chauffeur hat bereits etwas für mich getan«, sagte ich. »Wenn er auch den Rest des Eichenholzes noch hackt, wäre ich sehr froh.« Ich selbst habe kein besonderes Talent fürs Holzhacken, das weiß ich, und zwar, weil ich's schon ausprobiert habe. Drei oder vier Holzklötze, und ich bin völlig erledigt.

»Das hat er getan?« Copley gelang es ausnehmend gut, erstaunt dreinzublicken. Ich war nicht mal sicher, ob es nur gespielt oder doch echt war. »Wie aufmerksam von Marley.«

Amelia lächelte, versuchte aber, es vor ihrem Vater zu verbergen. »Okay, das wäre also abgemacht«, plauderte sie forsch drauflos. »Dad, möchtest du ein Sandwich oder einen Teller Suppe? Wir haben auch etwas Kartoffelsalat oder Chips da.«

»Klingt gut«, sagte er. Tja, er versuchte immer noch, sich als jovialen Mann des Volkes zu geben.

»Marley und ich haben bereits gegessen«, erzählte ich beiläufig und fügte hinzu: »Ich muss in die Stadt fahren, Amelia. Brauchst du irgendwas?«

»Ein paar Briefmarken«, sagte sie. »Kommst du bei der Post vorbei?«

Ich zuckte die Achseln. »Liegt auf dem Weg. Tschüs, Mr Carmichael.«

»Nennen Sie mich doch bitte Copley, Sookie.«

Ich hatte gewusst, dass er das sagen würde. Und als Nächstes würde er den höflichen Gentleman herauskehren. Auf jeden Fall lächelte er mich schon mit genau der richtigen Mischung aus Bewunderung und Respekt an.

Ich schnappte mir meine Handtasche und verließ das Haus durch die Hintertür. Marley hackte mit aufgekrempelten Hemdsärmeln immer noch Holz. Hoffentlich war das auch wirklich seine eigene Idee gewesen, dachte ich. Für eine Gehaltserhöhung sollte es zumindest reichen.

Eigentlich hatte ich gar nichts Bestimmtes in der Stadt zu erledigen, ich wollte nur endlich Amelias Vater entkommen. Ich hielt beim Supermarkt und kaufte Küchenpapier, Brot und Thunfisch ein, und dann fuhr ich noch bei Sonic vorbei und gönnte mir ein dickes fettes Eis. Oh ja, ich war ein böses Mädchen, daran bestand kein Zweifel. Ich saß in meinem Wagen und leckte noch an dem Eis, als ich ein paar Autos weiter ein interessantes Paar entdeckte. Anscheinend hatten die beiden mich nicht bemerkt, denn Tanya und Arlene unterhielten sich angeregt. Sie saßen in Tanyas Mustang. Arlenes Haar war frisch gefärbt, also flammend rot bis an die Haarwurzeln, und wurde von einem Bananenclip zurückgehalten. Sie trug ein Stricktop im Tigermuster, mehr konnte ich von ihrem Outfit nicht erkennen. Tanya hatte eine schöne hellgrüne Bluse an und darüber eine dunkelbraune Strickjacke. Und sie hörte Arlene aufmerksam zu.

Ich versuchte mir vorzustellen, dass die beiden sich über etwas ganz anderes unterhielten als über mich. Paranoid oder so was war ich schließlich nicht. Aber wenn man seine einstige gute Freundin mit seiner erklärten Feindin reden sieht, muss man die Möglichkeit, dass sie auf ziemlich unvorteilhafte Weise über einen herziehen, wenigstens in Erwägung ziehen.

Es ging gar nicht darum, dass sie mich nicht leiden konnten. Ich hatte schon mein ganzes Leben mit Leuten zu tun, die mich nicht leiden konnten. Und ich wusste sogar immer haargenau, warum und wie sehr sie mich nicht leiden konnten. Was ziemlich unerfreulich ist, wie sich jeder vorstellen kann. Doch mich beunruhigte eher der Gedanke, dass Arlene und Tanya womöglich schon so weit waren, mir wirklich etwas antun zu wollen.

Ich überlegte, wie ich das herausfinden könnte. Wenn ich mich ihnen näherte, würden sie mich sofort bemerken. Konnte ich sie vielleicht auch von meinem Auto aus »lesen«? Mal ausprobieren. Ich beugte mich vor, als würde ich an meinem CD-Player hantieren, und konzentrierte mich auf sie. Es war gar nicht so einfach, die Gedanken der Leute in den Autos zwischen uns geistig auszublenden oder durch sie hindurchzupflügen.

Schließlich half mir, dass Arlenes Gedankenmuster mir so vertraut waren. Es klappte. Mein erster Eindruck war der von großer Freude. Arlene ging es prima, weil sie die ungeteilte Aufmerksamkeit einer ziemlich ahnungslosen Zuhörerin genoss, der sie von ihrem neuen Freund erzählen konnte und von seiner Überzeugung, dass man unbedingt alle Vampire und vielleicht auch gleich die Leute, die mit ihnen zu tun hatten, töten müsste. Arlene selbst vertrat eigentlich gar nicht so radikale Meinungen, aber sie ließ sich enorm beeinflussen von Leuten, für die sie etwas empfand.

Als von Tanya eine besonders starke Welle der Genervtheit ausging, klinkte ich mich in ihre Gedankengänge ein. Super, auch das klappte. Vorsichtshalber blieb ich die ganze Zeit in meiner halb vorgebeugten Haltung sitzen und nahm hin und wieder irgendeine CD zur Hand, während ich versuchte, so viel wie möglich aufzuschnappen.

Tanya stand noch immer auf der Gehaltsliste der Pelts, genauer gesagt von Sandra Pelt. Und allmählich bekam ich mit, dass Tanya nach Bon Temps geschickt worden war, um dafür zu sorgen, dass es mir so schlecht wie eben möglich erging.

Sandra Pelt war Debbie Pelts Schwester, die ich in meiner Küche erschossen hatte. (Nachdem sie versucht hatte, mich zu ermorden. Mehrmals. Das will ich nur noch mal betonen.)

Verdammt, das Thema Debbie Pelt hing mir zum Hals heraus. Schon lebend hatte die Frau mich wie ein Fluch verfolgt. Genauso bösartig und rachsüchtig wie ihre kleine Schwester Sandra. Ich hatte gelitten wegen ihres Todes, Schuld und Reue empfunden und mich gefühlt, als stünde mir ein großes »K« für Kain auf die Stirn geschrieben. Einen Vampir zu töten ist schlimm genug, doch seine Leiche verschwindet, und dann ist sie irgendwie ... ausgelöscht. Einen Menschen zu töten verändert einen für immer.

Genauso sollte es sein.

Aber es kann eben auch passieren, dass einem das alles irgendwann gründlich zum Hals heraushängt, oder, anders ausgedrückt, ein Klotz am Bein ist. Mir jedenfalls hing Debbie Pelt zum Hals heraus. Denn selbst nach ihrem Tod hatte dieser elendige Fluch mich weiterverfolgt, in Gestalt ihrer Eltern und ihrer Schwester. Von denen wurde ich sogar gekidnappt. Doch ich konnte den Spieß umdrehen und sie in meine Gewalt bringen. Damit ich sie laufen ließ, willigten sie ein, mich in Zukunft in Ruhe zu lassen. Sandra betonte allerdings, dass sie sich an dieses Versprechen nur bis zum Tod ihrer Eltern gebunden fühle. Und so musste ich mich nun also fragen, ob Mr und Mrs Pelt noch unter den Lebenden weilten.

Es reichte. Ich ließ den Motor an und fuhr eine Weile ziellos durch Bon Temps, wobei ich ständig jemandem zuwinkte, weil ich in fast jedem entgegenkommenden Wagen ein mir bekanntes Gesicht sah. Was sollte ich jetzt bloß tun? Keine Ahnung. Bei dem kleinen Stadtpark hielt ich an, stieg aus dem Auto und machte, die Hände in die Taschen gestopft, einen Spaziergang. In meinem Kopf herrschte das reinste Chaos.

Ich dachte an die Nacht, in der ich meinem ersten Liebhaber Bill erzählt hatte, dass ich als Kind von meinem Großonkel missbraucht worden war. Bill war meine Geschichte so zu Herzen gegangen, dass er meinem Großonkel umgehend einen Besucher ins Haus schickte. Und siehe da, mein Großonkel fiel die Treppe herunter und starb. Ich war furchtbar wütend geworden auf Bill, weil er sich einfach in meine Vergangenheit eingemischt hatte. Doch ich konnte nicht leugnen, dass ich nach dem Tod meines Großonkels eine tiefe Erleichterung empfunden hatte. Auch wenn ich mir wie die Komplizin bei einem Mord vorgekommen war.

Und dann war da noch Andre, den ich bei meiner Suche nach Überlebenden schwer verletzt in den Trümmern des Hotels Pyramide von Giseh fand, ein Vampir, der mich zugunsten seiner Königin unter strikter Kontrolle halten wollte. Andre hätte trotz seiner schrecklichen Wunden überlebt, wenn der verletzte Quinn sich nicht zu ihm geschleppt und ihn gepfählt hätte. Ich war einfach davongegangen, ohne Quinn von seinem Tun abzuhalten und Andre zu retten. An Andres Tod trug ich noch viel größere Schuld als an dem meines Großonkels.

Ich lief durch den leeren Park und kickte vereinzelte Blätter davon, die mir vor die Füße wehten. In mir schwelte eine grausige Versuchung. Nur ein Wort von mir zu einem der vielen Geschöpfe der Supra-Welt, und Tanya wäre tot. Oder ich könnte gleich die eigentliche Quelle des Übels in den Blick fassen und Sandra ausschalten lassen. Und wieder dieses Gefühl - ihr Abgang von dieser Welt wäre eine einzige Erleichterung.

Doch ich konnte es einfach nicht tun.

Aber ich konnte auch nicht länger mit dieser Tanya auf den Fersen leben. Sie hatte alles getan, um die sowieso schon wackelige Beziehung meines Bruders zu seiner Ehefrau zu ruinieren. So etwas machte man einfach nicht.

Und plötzlich wusste ich, wen ich um Rat fragen würde. Genau, das war die richtige Person. Und sie wohnte sogar bei mir, wie praktisch.

Als ich wieder nach Hause kam, waren Amelias Vater und sein zuvorkommender Chauffeur bereits abgefahren. Amelia stand in der Küche und wusch Geschirr ab.

»Amelia!«, rief ich, und sie schreckte zusammen. »Oh, 'tschuldigung. Ich hätte wohl etwas lautere Schritte machen sollen.«

»Ich hatte gehofft, das Verhältnis zwischen meinem Dad und mir würde sich verbessern«, sprudelte sie gleich los. »Aber ich glaube, das ist nicht der Fall. Er will nur, dass ich gelegentlich etwas für ihn tue.«

»Na ja, immerhin ist unser Kaminholz jetzt gehackt.«

Sie lachte ein wenig und trocknete sich die Hände ab. »Du siehst aus, als hättest du etwas auf dem Herzen.«

»Eins noch, ehe ich dir diese lange Geschichte erzähle. Ich tue deinem Vater den Gefallen, aber eigentlich mache ich den Anruf für dich«, sagte ich. »Ich meine, ich rufe natürlich für ihn im Fangtasia an, aber nur weil du meine Mitbewohnerin bist und du dich darüber freust. So, das wäre also geklärt. Und jetzt zu meiner langen Geschichte: Ich habe etwas Schreckliches getan.«

Amelia setzte sich an den Küchentisch und ich mich ihr gegenüber, genauso wie Marley und ich mittags. »Klingt interessant«, sagte sie. »Ich bin ganz Ohr. Leg los.«

Und dann erzählte ich Amelia alles: über Debbie Pelt, Alcide, Sandra Pelt, ihre Eltern und deren Versprechen, dass Sandra mich nie wieder belästigen würde, solange sie lebten. Was sie mir vorgeworfen hatten und wie ich mich dabei fühlte. Tanya Grissom, Spionin, Spitzel und Störenfried in der Ehe meines Bruders.

»Boah!«, rief Amelia, als ich fertig war, und dachte eine Weile nach. »Okay, zuerst checken wir mal Mr und Mrs Pelt.« Wir gingen an den Computer, den ich aus Hadleys Apartment in New Orleans mitgebracht hatte. Und schon nach fünf Minuten Surferei im Internet wussten wir, dass Gordon und Barbara Pelt tot waren, seit ihnen vor zwei Wochen beim Linksabbiegen in eine Tankstelle ein Sattelschlepper voll in die Seite gebrettert war.

Wir sahen uns an und zogen die Nasen kraus. »Uhhh«, machte Amelia. »Ein schrecklicher Tod.«

»Diese Sandra hat wahrscheinlich nicht mal mehr gewartet, bis ihre Eltern unter der Erde waren, ehe sie ihren So-bringe-ich-Sookie-ins-Grab-Plan aktivierte«, erwiderte ich.

»Das Miststück wird niemals lockerlassen. Bist du sicher, dass Debbie Pelt adoptiert war? Rachsucht scheint ja ziemlich charakteristisch für die ganze Familie zu sein.«

»Die beiden müssen sich sehr nahegestanden haben«, sagte ich. »Irgendwie hatte ich stets das Gefühl, dass Debbie mehr Schwester von Sandra war als Tochter ihrer Eltern.«

Amelia nickte nachdenklich. »Alles ein bisschen krank«, meinte sie. »Mal sehen, was ich tun kann. Todesmagie verwende ich nicht. Und du hast ja auch gesagt, dass Tanya und Sandra nicht sterben sollen, da nehme ich dich beim Wort.«

»Richtig«, erwiderte ich kurz angebunden. »Und, äh, ich bezahle dich natürlich dafür.«

»Quatsch«, entgegnete Amelia. »Du hast mich bereitwillig aufgenommen, als ich aus New Orleans weg musste, und es die ganze Zeit mit mir ausgehalten.«

»Na ja, du zahlst aber auch Miete«, betonte ich.

»Ja, gerade so viel, um meine Nebenkosten zu decken. Und du hast mich ertragen und dich nie über die Sache mit Bob aufgeregt. Glaub mir, ich bin wirklich froh, mal etwas für dich tun zu können. Hast du was dagegen, wenn ich Octavia um Rat frage?«

»Nein, gar nicht«, sagte ich, bemüht, meine Erleichterung über den Beistand der erfahrenen älteren Hexe nicht allzu deutlich zu zeigen. »Du hast es bemerkt, oder? Dass sie nicht weiß, was sie machen soll? Dass sie kein Geld hat?«

»Ja«, gab Amelia zu. »Ich weiß nur nicht, wie ich ihr welches anbieten soll, ohne sie zu beleidigen. Aber das hier ist eine gute Gelegenheit. Zurzeit wohnt sie bei ihrer Nichte, dort ist sie in irgendeiner Ecke im Wohnzimmer untergekommen. Das hat sie mir erzählt - mehr oder weniger. Doch ich weiß nicht, wie ich ihr da heraushelfen kann.«

»Ich denke auch mal drüber nach«, versprach ich. »Wenn sie's bei ihrer Nichte gar nicht mehr aushält, könnte sie auch eine Weile hier im Gästezimmer wohnen.« Diese Aussicht erfreute mich zwar nicht sonderlich, aber die ältere Hexe hatte ziemlich unglücklich gewirkt. Schon der kleine Magie-Ausflug zu Maria-Stars Apartment hatte sie aufgeheitert, obwohl das nun wirklich ein schrecklicher Anblick gewesen war.

»Es wäre besser, wenn wir gleich was auf längere Sicht für sie finden«, sagte Amelia. »Aber ich werde sie mal anrufen.«

»Okay. Sag mir dann einfach, was ihr besprochen habt. Ich muss mich jetzt für die Arbeit umziehen.«

Auf meinem Weg ins Merlotte's kam ich an nicht allzu vielen Wohnhäusern vorbei, doch alle hatten Gespenster in den Bäumen, aufblasbare Plastikkürbisse im Vorgarten und ein oder zwei echte ausgehöhlte Kürbisse auf der vorderen Veranda. Die Prescotts hatten auf dem Rasen vor ihrem Haus Maisgarben, kleine Heuballen und einige Blätter und Kürbisse kunstvoll zu einem Arrangement drapiert. Unbedingt Lorinda Prescott sagen, wie hübsch das ausgesehen hat, notierte ich mir im Geiste, wenn ich sie das nächste Mal bei Wal-Mart oder auf der Post sehe.

Als ich beim Merlotte's ankam, war es bereits dunkel. Ich griff nach meinem Handy und rief im Fangtasia an, ehe ich hineinging.

»Fangtasia, die Bar mit Biss. Besuchen Sie Shreveports einzige Vampirbar, wo Untote jede Nacht einen blutigen Drink nehmen«, tönte die Bandansage. »Um die Öffnungszeiten der Bar zu erfahren, drücken Sie die Eins. Um einen Termin für eine Privatparty festzulegen, drücken Sie die Zwei. Um einen lebenden Menschen oder einen untoten Vampir zu sprechen, drücken Sie die Drei. Und bedenken Sie bitte: Scherzanrufe werden nicht geduldet. Wir finden Sie, überall.«

Ich hätte schwören können, dass es Pams Stimme war. Auch wenn sie bemerkenswert gelangweilt klang. Ich drückte die Drei.

»Fangtasia, wo all Ihre untoten Träume wahr werden«, sagte eine der Vampirsüchtigen. »Hier ist Elvira. Was kann ich für Sie tun?«

Elvira? Dass ich nicht lache. »Sookie Stackhouse. Ich muss mit Eric sprechen.«

»Könnte Clancy Ihre Frage beantworten?«, fragte Elvira.

»Nein.«

Sie schien verblüfft.

»Der Meister ist sehr beschäftigt«, versuchte sie es, als wäre das für einen Menschen wie mich schwer zu begreifen.

Elvira war anscheinend eine Neue. Oder vielleicht wurde ich langsam arrogant. Jedenfalls ging diese Elvira mir gehörig auf die Nerven. »Hören Sie«, sagte ich und versuchte, dabei wenigstens freundlich zu klingen. »Wenn Sie Eric nicht innerhalb von zwei Minuten ans Telefon holen, wird er mächtig enttäuscht sein von Ihnen.«

»Nun«, erwiderte Elvira spitz. »Sie müssen ja nicht gleich so unhöflich werden.«

»Offenbar doch.«

»Dann müssen Sie sich wohl einen Moment gedulden«, sagte Elvira gehässig, und schon war ich in der Warteschleife gelandet. Miststück! Ich sah zum Eingang für Angestellte hinüber, ich musste bald mit der Arbeit beginnen.

Klick. »Hier ist Eric. Bist du es, meine geliebte Exfreundin?«

Trotz Erics gnadenloser Übertreibung konnte ich nicht verhindern, dass mein Herz wie wild zu pochen begann und ich vor Aufregung zitterte. »Ja, ja«, sagte ich und war stolz, wie fest meine Stimme klang. »Eric, hör zu. Ich hatte heute Besuch von einem hohen Tier aus New Orleans namens Copley Carmichael. Er hat mit Sophie-Anne in irgendwelchen geschäftlichen Verhandlungen wegen des Wiederaufbaus ihrer Residenz gestanden und will jetzt eine Verbindung zu den neuen Herrschern herstellen.« Ich holte tief Luft. »Geht's dir gut?«, fügte ich noch hinzu und machte mit einer sorgenvollen Frage all meine kultivierte Gleichgültigkeit zunichte.

»Ja.« Sein Tonfall war sehr privat. »Ja, ich bin ... all dem gewachsen. Wir hatten sehr, sehr viel Glück, dass es uns gelungen ist... Wir hatten sehr viel Glück.«

Leise atmete ich wieder aus, damit Eric es nicht hörte. Was natürlich sinnlos war, Vampire hören alles. Ich kann nicht behaupten, dass ich wegen des Machtwechsels bei den Vampiren völlig aufgewühlt war, aber kaltgelassen hatte mich die Sache auch nicht. »Okay, sehr gut«, sagte ich forsch. »Jetzt zu Copley. Gibt es da irgendwen, mit dem er sich treffen und die Baupläne besprechen könnte?«

»Ist er in der Gegend?«

»Keine Ahnung. Er war heute Vormittag hier. Aber das kann ich in Erfahrung bringen.«

»Die Vampirin, mit der ich jetzt zusammenarbeite, könnte die richtige Ansprechpartnerin für ihn sein. Sie würde sich bestimmt hier im Fangtasia oder auch im Merlotte's mit ihm treffen.«

»Okay. Ihm ist sicher beides recht.«

»Gib mir Bescheid. Oder er soll hier anrufen und direkt einen Termin ausmachen. Er soll nach Sandy fragen.«

Ich lachte. »Sandy hm?«

»Ja«, sagte Eric ernst genug, um mich sofort wieder zur Vernunft zu bringen. »Und sie ist überhaupt nicht lustig, Sookie.«

»Okay, okay, schon verstanden. Ich rufe seine Tochter an, sie ruft ihn an, er ruft im Fangtasia an, alles wird abgemacht, und ich habe ihm den versprochenen Gefallen getan.«

»Ist es Amelias Vater?«

»Ja, und er ist ein Blödmann«, erwiderte ich. »Aber er ist ihr Dad, und vom Baugeschäft versteht er vermutlich auch eine ganze Menge.«

»Wir haben vor deinem Kamin gelegen, und wir haben über unser Leben gesprochen«, sagte Eric.

Okay, abrupter Themenwechsel. »Äh. Ja. Haben wir.«

»Ich erinnere mich, dass wir zusammen geduscht haben.«

»Ja, das haben wir auch.«

»Wir haben so viele Dinge getan.«

»Äh... ja. Stimmt.«

»Wenn ich hier in Shreveport nicht so viel zu tun hätte, käme ich dich ganz allein besuchen, um dich daran zu erinnern, wie sehr du all diese Dinge genossen hast.«

»Falls meine Erinnerung mich nicht trügt«, sagte ich streng, »hast du all diese Dinge ganz genauso genossen.«

»Oh, ja.«

»Eric, ich habe jetzt wirklich keine Zeit mehr. Ich muss arbeiten.« Oder lichterloh in Flammen aufgehen, je nachdem, was zuerst passierte.

»Tschüs.« Bei ihm konnte sogar das sexy klingen.

»Tschüs.« Bei mir nicht.

Es dauerte einen Augenblick, bis ich mich gesammelt hatte. Dinge fielen mir wieder ein, die ich zu vergessen versucht hatte. In den Tagen, die Eric bei mir gewesen war - okay, in den Nächten -, hatten wir viel geredet und viel Sex miteinander gehabt. Und es war wunderbar gewesen. Die Freundschaft. Der Sex. Das Lachen. Der Sex. Die Gespräche. Der ... genau.

Jetzt dort hineinzugehen und Bier zu servieren erschien mir plötzlich trostlos.

Aber es war eben mein Job, und ich war es Sam schuldig, zur Arbeit zu erscheinen. Also trottete ich ins Büro, verstaute meine Handtasche und nickte Sam zu, während ich Holly schon auf die Schulter tippte, um sie abzulösen. Wir tauschten unsere Schichten, um Abwechslung zu haben, aber auch, weil am Abend die Trinkgelder höher waren. Holly freute sich, dass ich kam, denn sie hatte abends eine Verabredung mit Hoyt. Sie wollten in Shreveport etwas essen und dann ins Kino gehen, und ein Teenager würde auf Cody aufpassen. Holly erzählte mir einiges davon, während ich das andere gleichzeitig in ihren glücklichen Gedanken las, und ich musste höllisch aufpassen, dass ich nichts durcheinanderbrachte. Daran konnte man sehen, wie sehr das Gespräch mit Eric mich verwirrt hatte.

Eine halbe Stunde lang hatte ich richtig viel zu tun, aber dann waren erst einmal alle mit Getränken und Essen versorgt. Also rief ich Amelia an, um ihr Erics Nachricht auszurichten, und sie sagte, sie würde ihren Vater umgehend informieren. »Danke, Sookie«, fügte sie noch hinzu. »Du bist eine super Mitbewohnerin.«

Na, hoffentlich erinnerte sie sich daran, wenn sie mit Octavia eine magische Lösung für mein Tanya-Problem ersann.

Claudine kam an diesem Abend ins Merlotte's, und alle Männerherzen schlugen höher, als sie sich in einer grünen Seidenbluse, schwarzen Hosen und hochhackigen schwarzen Stiefeln an den Tresen stellte. Mit diesen Absätzen war sie schätzungsweise mindestens 1,85 Meter groß. Zu meinem Erstaunen hatte sie sogar ihren Zwillingsbruder Claude im Schlepptau. Rasant wie ein Lauffeuer griffen die höherschlagenden Herzen auch beim anderen Geschlecht um sich. Claude, dessen Haar genauso schwarz und wellig, wenn auch nicht ganz so lang war wie Claudines, sah blendend aus und hätte problemlos in jede Calvin-Klein-Werbung gepasst. Er trug eine maskulinere Version von Claudines Outfit, und das Haar hatte er sich mit einem Lederband zurückgebunden. Da er in einem Club in Monroe am Damenabend strippte, wusste Claude genau, wie er Frauen anlächeln musste, auch wenn sie ihn gar nicht interessierten. Nein, das nehme ich zurück. Ihn interessierte, wie viel Geld sie in ihren Handtaschen hatten.

Die Zwillinge waren noch nie zusammen im Merlotte's erschienen, falls Claude überhaupt schon mal einen Fuß in diese Bar gesetzt hatte. Er besaß einen eigenen Club und hatte Wichtigeres zu tun.

Ich ging sie natürlich begrüßen. Claudine schloss mich herzlich in die Arme, und ich staunte nicht schlecht, als Claude ihrem Beispiel folgte. Er wollte dem Publikum wohl etwas bieten, denn so ziemlich alle Gäste starrten zu uns herüber. Sogar Sam machte große Augen. Zusammen waren die Elfenzwillinge aber auch einfach überwältigend.

Wir standen am Tresen, ich in ihrer Mitte und von beiden mit einem Arm umschlungen. Und schon spürte ich, wie im Raum überall Gedanken aufloderten mit kleinen schmutzigen Fantasien, von denen einige sogar mich erschreckten. Und ich kannte wirklich auch die absonderlichsten Dinge, die manche Leute sich so ausdenken. Genau, ich Glückliche, ich bekam das alles immer mit, live und in Farbe.

»Wir sollen dich von unserem Großvater grüßen«, flüsterte Claude so leise, dass bestimmt niemand es hörte. Na gut, Sam vielleicht, aber er war die Verschwiegenheit in Person.

»Er fragt sich, warum du nicht angerufen hast«, sagte Claudine, »vor allem angesichts der Ereignisse neulich Nacht, in Shreveport.«

»Ach, das war doch schon vorbei«, erwiderte ich überrascht. »Warum ihm noch etwas erzählen, das schon gut ausgegangen ist? Du warst doch da. Aber danach habe ich mal versucht, ihn anzurufen.«

»Es hat nur einmal geklingelt«, murmelte Claudine.

»Tja, ein gewisser Vampir hat mein Handy zerstört, damit ich den Anruf nicht mache. Er sagte, es sei ein Fehler und könne einen Krieg auslösen. Aber ich habe ja auch die Nacht überlebt. Also war's schon okay.«

»Du musst mit Niall reden, ihm die ganze Geschichte erzählen«, sagte Claudine und lächelte dabei quer durch den Raum Catfish Hennessy zu, der seinen Bierkrug so hart auf den Tisch setzte, dass er überschwappte. »Niall möchte, dass du dich ihm anvertraust, jetzt, wo ihr euch kennengelernt habt.«

»Warum greift er dann nicht wie jeder andere auf der Welt einfach zum Telefonhörer?«

»Weil er nicht all seine Zeit in dieser Welt verbringt«, sagte Claude. »Noch gibt es Orte nur für das Elfenvolk.«

»Sehr kleine Orte«, schwärmte Claudine sehnsuchtsvoll. »Aber sehr schön.«

Ich war froh, Verwandte zu haben, und ich freute mich immer, wenn ich Claudine sah, die ja buchstäblich meine Lebensretterin war. Aber die beiden Geschwister zusammen waren mir doch ein wenig zu überwältigend, zu erdrückend - und wenn sie so dicht an mich gedrängt standen (sogar Sam wunderte sich schon), strapazierte ihr süßer Geruch, der Geruch, der auf Vampire so berauschend wirkte, meine arme Nase doch etwas zu arg.

»Sieh mal«, sagte Claude, leicht amüsiert. »Ich glaube, wir bekommen Gesellschaft.«

Arlene pirschte sich an uns heran und betrachtete Claude, als hätte sie einen ganzen Teller voll leckerem Grillfleisch und Zwiebelringen entdeckt. »Wer ist denn dein neuer Freund hier, Sookie?«, fragte sie.

»Das ist Claude«, stellte ich vor. »Ein entfernter Cousin von mir.«

»Ah, Claude. Nett, Sie kennenzulernen«, sagte sie.

Arlene hatte wirklich Nerven, vor allem wenn ich daran dachte, was sie von mir hielt und wie sie mich behandelte, seit sie zu diesen Pseudogottesdiensten der Bruderschaft der Sonne ging.

Claude wirkte zutiefst desinteressiert. Er nickte nur.

Arlene hatte mehr erwartet, und nach kurzem Schweigen tat sie so, als hätte ein Gast von einem ihrer Tische gerufen. »Oh, da wird ein Bier verlangt!«, sagte sie munter und eilte an einen Tisch mit zwei Männern, die ich nicht kannte und mit denen sie sehr ernsthaft sprach.

»Ich freue mich immer, euch beide zu sehen, aber ich muss leider arbeiten«, sagte ich. »Ihr solltet mir also nur ausrichten, dass mein ... dass Niall wissen will, warum ich angerufen und gleich wieder aufgelegt habe?«

»Und warum du danach nicht noch einmal angerufen hast, um es zu erklären.« Claudine bückte sich und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Ruf ihn bitte heute Abend nach der Arbeit an, ja?«

»Okay«, sagte ich. »Mir wär's trotzdem lieber, er hätte selbst angerufen und gefragt.« Boten waren ja schön und gut, aber per Telefon ging's schneller. Und ich hätte gern seine Stimme gehört. Ganz egal, wo mein Urgroßvater gerade sein mochte, er könnte doch sicher mit einem Augenzwinkern in diese Welt zurückkehren und mich anrufen, wenn er sich wirklich solche Sorgen um meine Sicherheit machte.

So sah ich das jedenfalls.

Okay, ich hatte natürlich keine Ahnung, welche Zwänge so ein Leben als Elfenprinz mit sich brachte. Aber das gehörte sowieso in die Rubrik »Probleme, von denen ich keine Ahnung haben will«.

Nach weiteren Umarmungen und Küssen schlenderten die Zwillinge wieder aus dem Merlotte's hinaus, wobei ihnen viele sehnsüchtige Blicke bis an die Tür folgten.

»Hui, Sookie, du hast ja tolle Freunde!«, rief Catfish Hennessy, und eine Welle der Zustimmung schwappte durch den Raum.

»Den Mann habe ich schon mal in einem Club in Monroe gesehen. Strippt der nicht?«, fragte eine Krankenschwester namens Debbie Murray, die in einem Krankenhaus nahe Clarice arbeitete und mit zwei weiteren Krankenschwestern an einem Tisch saß.

»Ja«, sagte ich. »Der Club gehört ihm sogar.«

»Schön und reich«, schwärmte Beverly Sowieso, eine der anderen Krankenschwestern. »Zum nächsten Damenabend nehme ich meine Tochter mit. Sie hat gerade mit einem richtigen Loser Schluss gemacht.«

»Nun...«Ich überlegte kurz, ob ich erklären sollte, warum Claude an keiner Tochter je Gefallen finden würde, entschied dann aber, dass das nicht meine Aufgabe war. »Viel Spaß!«, rief ich stattdessen nur.

Da ich mir eine kurze Auszeit mit meinen Quasi-Verwandten gegönnt hatte, beeilte ich mich nun, mich wieder um meine Gäste zu kümmern. Aber die Zwillinge waren eine prima Ablenkung gewesen, und so war keiner ungehalten.

Gegen Ende meiner Schicht kam Copley Carmichael herein. Er wirkte seltsam allein. Marley wartete vermutlich draußen im Wagen.

Mit seinem schicken Anzug und dem teuren Haarschnitt passte er hier nicht wirklich herein, aber zu seinen Gunsten muss ich sagen: Er verhielt sich, als ginge er dauernd in Bars wie das Merlotte's. Zufällig stand ich gerade neben Sam, der einen Bourbon-Coke für einen meiner Tische mixte, und ich sagte ihm, wer der Fremde war.

Ich servierte den Drink und nickte dann zu einem leeren Tisch hinüber. Mr Carmichael verstand den Wink und setzte sich.

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Mr Carmichael?«, fragte ich.

»Einen Scotch bitte, Single Malt«, sagte er. »Welche Sorte auch immer Sie dahaben. Dank Ihres Anrufs bin ich hier mit jemandem verabredet, Sookie. Wenn Sie das nächste Mal etwas brauchen, geben Sie mir Bescheid. Dann werde ich sehen, was ich für Sie tun kann.«

»Nicht nötig, Mr Carmichael.«

»Bitte, nennen Sie mich Copley.«

»Mhm-hmmm. Okay, einen Scotch also.«

Ich konnte einen Single Malt nicht von einem Loch im Boden unterscheiden, aber Sam konnte es natürlich, und er reichte mir ein glänzendes, sehr anständig eingeschenktes Glas Scotch. Ich serviere zwar Hochprozentiges, trinke es aber nur selten. Und die meisten Leute hier bestellen bloß das übliche Zeug: Bier, Bourbon-Coke, Gin Tonic, Jack Daniel's.

Ich stellte das Glas vor Mr Carmichael auf den Tisch, mit einer Cocktailserviette, und brachte ihm noch eine kleine Schale gemischter Snacks.

Dann überließ ich ihn sich selbst, denn ich musste noch andere Gäste bedienen. Aber ich beobachtete ihn. Und mir fiel auf, dass auch Sam Amelias Vater aufmerksam im Auge behielt. Doch alle anderen waren viel zu sehr mit sich selbst und ihren Drinks beschäftigt, um sich um diesen Fremden zu kümmern, der nicht annähernd so interessant erschien wie Claude und Claudine.

Dann, als ich gerade nicht hinsah, setzte sich eine Vampirin zu Copley. Außer mir erkannte das vermutlich niemand, denn sie war eine noch sehr junge Vampirin, das heißt, noch keine fünfzig Jahre untot. Ihr früh ergrautes, silbriges Haar trug sie zu einem praktischen kinnlangen Pagenkopf geschnitten. Sie war klein, vielleicht 1,60 Meter groß, wohlgeformt an all den richtigen Stellen, und sie trug eine kleine Brille mit Silbergestell - die reinste Heuchelei. Ich hatte noch nie einen Vampir kennengelernt, dessen Sehvermögen nicht absolut perfekt und schärfer als das jedes Menschen gewesen wäre.

»Darf ich Ihnen etwas Blut bringen?«, fragte ich.

Ihre Augen waren wie Laser. Schenkte sie einem ihre volle Aufmerksamkeit, bereute man, sie angesprochen zu haben.

»Sie sind die Menschenfrau Sookie«, sagte sie.

Ich sah nicht ein, warum ich etwas bestätigen sollte, dessen sie sich so sicher war. Also wartete ich ab.

»Ein Glas TrueBlood, bitte«, sagte sie. »Recht warm. Und ich will Ihren Boss sprechen, sagen Sie ihm das.«

Als wäre Sam irgendein Knochen. Aber egal, sie war der Gast, ich die Kellnerin. Also stellte ich ein TrueBlood in die Mikrowelle und erzählte Sam, was sie wollte.

»In einer Minute«, sagte er, denn er machte gerade ein Tablett voller Drinks für Arlene fertig.

Ich nickte und brachte der Vampirin das Blut.

»Danke«, sagte sie höflich. »Ich bin Sandy Sechrest, die neue Repräsentantin des Königs von Louisiana.«

Ich konnte nicht einschätzen, wo genau Sandy Sechrest aufgewachsen war, aber es musste in den Vereinigten Staaten gewesen sein, wenn auch nicht im Süden. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich ohne allzu große Begeisterung. Repräsentantin des Königs? Waren die Sheriffs der Bezirke, die viele verschiedene Funktionen hatten, nicht auch die Repräsentanten des Königs? Und was hatte das für Eric zu bedeuten?

In dem Augenblick kam Sam an den Tisch, und ich ging, um nicht neugierig zu erscheinen. Außerdem konnte ich es später vermutlich sowieso seinen Gedanken entnehmen, falls Sam mir nicht erzählen würde, was die neue Vampirin von ihm wollte.

Die drei unterhielten sich einige Minuten miteinander. Dann entschuldigte Sam sich, weil er wieder hinter den Tresen musste.

Gelegentlich sah ich zu der Vampirin und dem mächtigen Geschäftsmann hinüber. Hätte ja sein können, dass sie noch einen Drink wollten, doch keiner ließ Durst erkennen. Sie sprachen sehr ernst miteinander, und beide erwiesen sich als echte Experten in Sachen Pokerface. Aber so sehr, dass ich mich in Copley Carmichaels Gedanken eingeklinkt hätte, interessierte mich das Gespräch nun auch wieder nicht, und Sandy Sechrest war sowieso eine Leerstelle für mich.

Ansonsten verlief dieser Abend wie immer. Ich bemerkte es nicht mal, als die Repräsentantin des neuen Königs und Mr Carmichael die Bar verließen. Und dann war es an der Zeit, aufzuräumen und die Tische fertig zu machen für Terry Bellefleur, der früh am nächsten Morgen saubermachen würde. Als ich mich schließlich umsah, waren alle außer Sam schon weg.

»Hey, bist du durch?«, fragte er.

»Ja«, sagte ich nach einem letzten Blick.

»Hast du eine Minute für mich?«

Für Sam hatte ich doch immer eine Minute.