Kapitel 2

Leise und unauffällig begannen wir zusammenzupacken, denn es hielten sich noch einige wenige Gäste im Garten auf.

»Wo wir grad von Verabredungen reden: Was ist eigentlich aus Quinn geworden?«, fragte Sam, während er Gläser einpackte. »Seit du aus Rhodes zurück bist, hast du nur noch Trübsal geblasen.«

»Na ja, er wurde bei dem Bombenanschlag ziemlich schwer verletzt, das habe ich dir doch erzählt.« Quinn arbeitete für Special Events, ein Tochterunternehmen von E(E)E, das Veranstaltungen in der Welt der Supras organisierte: Partys zur ersten Verwandlung eines Werwolfteenagers, Wettkämpfe um das Amt des Leitwolfs, hierarchische Vampirhochzeiten. Wegen so einer Hochzeit war Quinn im Vampirhotel Pyramide von Giseh gewesen, als die Bruderschaft der Sonne ihren hinterhältigen Anschlag in die Tat umsetzte.

Diese Sonnenbrüder waren Vampirgegner, ahnten jedoch nicht, dass die Vampire nur die in der Öffentlichkeit sichtbare Spitze einer ganzen Welt von übernatürlichen Geschöpfen waren. Niemand wusste das, oder zumindest nur einige wenige so wie ich - obwohl in letzter Zeit mehr und mehr Leute hinter das große Geheimnis kamen. Die Fanatiker der Bruderschaft würden Werwölfe und Gestaltwandler wie Sam sicher genauso hassen wie die Vampire ... wenn sie denn von ihrer Existenz wüssten. Und das konnte schon sehr bald der Fall sein.

»Ja, aber ich dachte...«

»Ich weiß. Ich dachte auch, dass zwischen Quinn und mir alles klar wär«, sagte ich, und falls das etwas trübsinnig klang - genauso fühlte ich mich bei dem Gedanken an meinen verschollenen Wertiger. »Ich dachte immer, er würde sich melden. Aber bislang kam nicht ein Wort.«

»Hast du noch das Auto seiner Schwester?« Frannie Quinn hatte mir ihr Auto geliehen, damit ich nach der Katastrophe in Rhodes irgendwie nach Hause kam.

»Nein, das ist eines Abends einfach verschwunden, als Amelia und ich beide in der Arbeit waren. Ich habe Quinn auf dem Handy angerufen und ihm auf die Mailbox gesprochen, dass es weg ist. Aber er hat nicht zurückgerufen.«

»Das tut mir wirklich leid, Sookie«, sagte Sam. Er wusste, dass das kein Trost war, aber was sollte er schon groß sagen?

»Ja, mir auch«, erwiderte ich und versuchte, nicht allzu deprimiert zu klingen. Ich musste mich wenigstens bemühen, nicht ständig in dieser ermüdenden gedanklichen Endlosschleife zu versinken. Ich wusste doch, dass Quinn nicht mir die Schuld an seinen schweren Verletzungen gab. Ich hatte ihn vor meiner Abfahrt aus Rhodes noch im Krankenhaus besucht, und er war in der Obhut seiner Schwester Frannie gewesen, die mich zu dem Zeitpunkt auch nicht mehr zu hassen schien. Keine Vorwürfe, kein Hass - warum also hörte ich nichts mehr von Quinn?

Es war, als hätte der Erboden sich aufgetan und ihn verschluckt. Ich zuckte die Achseln und versuchte, an etwas anderes zu denken. Viel Arbeit war das beste Mittel gegen diese Art von Sorge. Wir fingen an, einige der Sachen zu Sams Pick-up hinüberzutragen, der etwa einen Block weiter stand. Sam hatte sich die schwereren Dinge geschnappt. Er ist nicht besonders groß, aber wie alle Gestaltwandler hat er echte Bärenkräfte.

Um halb elf waren wir fast fertig. Den Hochrufen vor der Villa entnahm ich, dass die beiden frischgebackenen Ehefrauen in ihren Flitterwochenkleidern die Treppenstufen herabgekommen waren und vor ihrer Abfahrt ihre Brautsträuße in die Menge geworfen hatten. Portia und Glen fuhren nach San Francisco, und Halleigh und Andy wollten in irgendeinen Badeort auf Jamaika. Mir entging eben einfach gar nichts.

Sam sagte, dass ich jetzt ruhig gehen könne. »Dawson wird mir nachher helfen, den Pick-up zu entladen.« Eine gute Idee, fand ich, zumal Dawson, der Sam an diesem Abend hinter der Bar im Merlotte's vertrat, ein Schrank von einem Mann war.

Nachdem wir das Trinkgeld aufgeteilt hatten, war ich etwa dreihundert Dollar reicher. Ein wirklich lukrativer Abend. Ich steckte das Geld in die Hosentasche, wo es eine Beule schlug, weil viele Ein-Dollar-Scheine darunter waren. Zum Glück waren wir hier nicht in der Großstadt, sondern im kleinen Bon Temps, ich musste also nicht fürchten, eins über den Schädel gezogen zu bekommen, noch ehe ich im Auto saß.

»Okay, dann gute Nacht, Sam«, sagte ich und zog meinen Autoschlüssel aus der anderen Hosentasche. Eine Handtasche hatte ich an diesem Abend nicht mitgenommen. Auf dem Weg vom Garten der Villa zur Straße hinunter fuhr ich mir etwas missmutig durchs Haar. Ich hatte die Frau im rosa Kittel gerade noch davon abhalten können, es hochzustecken, doch dann hatte sie mir eine bauschige Lockenfrisur im Farrah-Fawcett-Stil verpasst. Ich kam mir albern vor.

Autos fuhren vorüber, in den meisten saßen Hochzeitsgäste auf dem Weg nach Hause. Sonst herrschte der übliche Samstagabendverkehr. Die am Bordstein parkenden Wagen zogen sich sehr weit die Straße hinunter, und der Verkehr floss nur recht stockend. Ich hatte mein Auto rechtswidrig gegen die Fahrtrichtung geparkt, doch davon wurde in unserer Kleinstadt gewöhnlich kein Aufhebens gemacht.

Als ich mich bückte, um die Autotür aufzuschließen, hörte ich ein Geräusch hinter mir. In einer einzigen Bewegung schloss ich die Faust um die Schlüssel, wirbelte herum und schlug zu, so fest ich konnte. Der Schlüsselbund verlieh meiner Faust einen eisernen Drall, und der Mann hinter mir wankte rückwärts über den Gehsteig und landete schließlich mit dem Hintern auf dem Rasen der Bellefleurs.

»Ich wollte Ihnen nichts tun«, murmelte Jonathan.

Gar nicht so leicht, einigermaßen würdig und harmlos zu wirken, wenn man auf dem Hintern hockt und einem Blut aus dem Mundwinkel läuft, doch dem asiatischen Vampir gelang es spielend.

»Sie haben mich überrascht«, sagte ich, was eine starke Untertreibung war.

»Das habe ich gemerkt«, erwiderte er und sprang leichtfüßig auf. Er zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich den Mund ab.

Entschuldigen würde ich mich nicht. Leute, die sich im Dunkeln einfach von hinten an mich heranschleichen, haben verdient, was sie bekommen. Aber dann dachte ich noch mal nach. Vampire bewegten sich nun einmal lautlos. »Tut mir leid, dass ich gleich mit dem Schlimmsten gerechnet habe«, sagte ich, was irgendwie eine Art Kompromiss war. »Ich hätte mich erst umdrehen und nachsehen sollen, wer es ist.«

»Nein, dann hätte es schon zu spät sein können«, meinte Jonathan. »Eine Frau allein unterwegs muss sich verteidigen.«

»Danke für Ihr Verständnis«, sagte ich vorsichtig und blickte in den Schatten hinter ihm, ohne eine Miene zu verziehen. Was mir nicht allzu schwerfiel, weil ich in den Gedanken der Menschen ständig so viele erschreckende Dinge lese. Dann sah ich ihm direkt ins Gesicht. »Haben Sie... Was machen Sie eigentlich hier?«

»Ich bin auf der Durchreise und war als Gast von Hamilton Tharp auf der Hochzeit«, erklärte Jonathan. »Ich halte mich mit Eric Northmans Erlaubnis im Bezirk Fünf auf.«

Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Hamilton Tharp war - vermutlich irgendein Freund der Bellefleurs. Aber Eric Northman kannte ich sehr gut. (Eine Zeit lang hatte ich sogar jedes einzelne Detail von Kopf bis Fuß von ihm gekannt.) Eric war der Sheriff von Bezirk Fünf, einem großen Gebiet im Norden von Louisiana. Und wir waren auf komplizierte Weise aneinander gebunden, was ich beinah täglich höllisch bedauerte.

»Eigentlich wollte ich nur wissen - warum sind Sie mir überhaupt gefolgt?« Ich wartete, den Schlüsselbund noch in der Faust. Im Notfall würde ich ihm eins auf die Augen verpassen, beschloss ich. Sogar Vampire haben Schwachstellen.

»Ich war neugierig«, sagte Jonathan schließlich und hielt die gefalteten Hände vor sich. So langsam wurde mir dieser Vampir richtig unsympathisch.

»Warum?«

»Nun, ich habe im Fangtasia Leute über eine Blondine reden hören, von der Eric Northman angeblich sehr viel hält. Aber Eric ist so ein hochnäsiger Typ, dass es mir völlig abwegig erschien, er könne sich für eine Menschenfrau interessieren.«

»Und woher wussten Sie, dass ich heute Abend hier auf dieser Hochzeit sein würde?«

Seine Augen flackerten. Mit weiteren Fragen von mir hatte er nicht gerechnet. Er war davon ausgegangen, dass er mich beruhigen könnte, ja mir vielleicht schon in diesem Moment mit einem betörenden Vampirblick seinen Willen aufzwingen würde. Doch das funktionierte bei mir nicht.

»Diese junge Frau, die für Eric arbeitet, sein Geschöpf Pam, hat es erwähnt«, sagte er.

Der lügt wie gedruckt, dachte ich. Ich hatte Pam seit zwei Wochen nicht gesprochen, und unser letztes Gespräch war nicht gerade eine nette Plauderei unter Mädels über mein Arbeits- und Privatleben gewesen. Pam hatte noch immer mit den Wunden zu tun gehabt, die sie sich in Rhodes zugezogen hatte. Ihre Genesung und die von Eric und der Königin, das war das einzige Thema unseres Gesprächs gewesen.

»Natürlich«, sagte ich nur. »Also dann, gute Nacht. Ich muss los.« Und mit diesen Worten schloss ich mein Auto auf und stieg ein, wobei ich Jonathan im Auge behielt für den Fall, dass er irgendein krummes Ding versuchen sollte. Aber er stand nur reglos wie eine Statue da und nickte mir noch einmal zu, als ich den Motor anließ und davonfuhr. Erst beim nächsten Stoppschild legte ich den Sicherheitsgurt an. Solange Jonathan in der Nähe gewesen war, hatte ich mich nicht so im Sitz fixieren wollen. Ich verriegelte die Autotüren von innen und sah mich um. Kein Vampir weit und breit. Herrje, das war ja wirklich sehr seltsam, dachte ich. Vielleicht sollte ich besser Eric anrufen und ihm den Vorfall schildern.

Was das Seltsamste daran gewesen war: Der runzlige Mann mit dem langen hellen Haar hatte die ganze Zeit im Schatten hinter dem Vampir gestanden. Unsere Blicke waren sich nur einmal kurz begegnet. Sein schönes Gesicht war undurchdringlich gewesen, doch ich hatte gewusst, dass ich seine Anwesenheit nicht preisgeben sollte. Ich hatte seine Gedanken nicht lesen können und trotzdem hatte ich es gewusst.

Am seltsamsten aber war, dass Jonathan ihn nicht bemerkt hatte. Wenn ich bedachte, wie hervorragend der Geruchssinn von Vampiren war, erschien mir seine Ahnungslosigkeit geradezu grotesk.

Ich dachte immer noch über diesen seltsamen kleinen Vorfall nach, als ich von der Hummingbird Road in die lange Auffahrt einbog, die durch den Wald zu meinem alten Haus führte. Das Herzstück des Hauses war vor über einhundertsechzig Jahren errichtet worden, aber von der ursprünglichen Struktur war natürlich nicht mehr viel übrig. Das Haus war erweitert und umgebaut worden und hatte in all den Jahrzehnten auch immer mal wieder ein neues Dach bekommen. Anfangs hatte es nur zwei Zimmer gehabt, aber auch wenn es jetzt viel größer war, blieb es doch ein ganz gewöhnliches Wohnhaus.

Heute Abend wirkte das Haus sehr friedlich im Schein der Außenbeleuchtung, die meine Mitbewohnerin Arnelia Broadway für mich angelassen hatte. Amelias Wagen stand hinter dem Haus, und ich parkte genau daneben. Ich nahm die Schlüssel zur Hand für den Fall, dass sie schon nach oben ins Bett gegangen war. Amelia hatte die Tür mit dem Fliegengitter offen gelassen, und so verriegelte ich sie hinter mir. Dann schloss ich den Hintereingang auf und hinter mir sogleich wieder zu. Mit der Sicherheit nahmen wir es höllisch genau, Amelia und ich, vor allem bei Nacht.

Zu meiner Überraschung saß Amelia am Küchentisch und wartete auf mich. In all den Wochen, die wir nun schon zusammenwohnten, hatte sich eine Art Routine herausgebildet, und normalerweise war Amelia zu dieser Uhrzeit bereits nach oben verschwunden. Sie hatte im ersten Stock einen eigenen Fernseher, ein Handy und ein Notebook, und sie besaß einen Bibliotheksausweis der Stadtbücherei, so dass sie stets genug zu lesen da hatte. Und dann arbeitete sie ja auch noch an ihren Zauberkünsten, wozu ich ihr aber keine Fragen stellte. Niemals. Amelia war eine Hexe.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte sie und rührte in ihrem Tee, als wolle sie einen kleinen Whirlpool daraus machen.

»Na ja, sie haben geheiratet. Keine der Bräute ist in letzter Minute getürmt, Glens Vampirkunden haben sich tadellos benommen, und Miss Caroline war die Güte in Person. Aber ich musste für eine der Brautjungfern einspringen.«

»Oh, wow! Erzähl mal.«

Das tat ich, und an einigen Stellen mussten wir beide lachen. Ich dachte kurz daran, Amelia auch von dem schönen alten Mann im Schatten zu erzählen, tat es dann aber doch nicht. Was hätte ich auch sagen sollen? Er hat mich angesehen, vielleicht? Dafür erzählte ich ihr von Jonathan aus Nevada.

»Was meinst du, was wollte er wirklich?«, fragte Amelia.

»Keine Ahnung.« Ich zuckte die Achseln.

»Du musst es herausfinden. Allein schon, weil du noch nie etwas von dem Kerl gehört hast, dessen Gast er angeblich war.«

»Ich werde Eric anrufen - wenn nicht heute Nacht, dann morgen Nacht.«

»Zu schade, dass du kein Exemplar dieser Datenbank von Bill gekauft hast. Gestern erst habe ich im Internet eine Werbeanzeige dafür gesehen, auf einer Vampirwebseite.« So abrupt, wie es schien, war dieser Themenwechsel gar nicht. Bills Datenbank enthielt Bilder und/oder Lebensläufe aller Vampire auf der Welt, die er hatte ausfindig machen können. Und sogar von einigen, von denen er nur gehört hatte. Bills kleine CD brachte seinem Boss, Königin Sophie-Anne, mehr Geld ein, als ich mir je hätte träumen lassen. Aber man musste Vampir sein, um sie kaufen zu dürfen, und das wurde peinlich genau überprüft.

»Tja, da Bill fünfhundert Dollar pro Stück verlangt und es ein ziemliches Risiko ist, sich als Vampir auszugeben ...«, erwiderte ich.

Amelia winkte ab. »Das wäre es allemal wert.«

Amelia war sehr viel raffinierter als ich ... in mancher Hinsicht zumindest. Sie war in New Orleans aufgewachsen und hatte dort beinahe ihr ganzes Leben verbracht. Jetzt wohnte sie bei mir, weil sie einen riesengroßen Fehler gemacht hatte. Sie war gezwungen gewesen, New Orleans zu verlassen, nachdem sie mit ihrer Unerfahrenheit in Sachen Magie eine Katastrophe verursacht hatte. Was andererseits ein großes Glück für sie war, denn kurz danach brach Katrina über das Land herein. Seit dem Hurrikan wohnte ihr Mieter, der das Apartment im oberen Stockwerk von Amelias Haus bewohnte, allein dort. Ihr eigenes Apartment im Erdgeschoss hatte einige Schäden erlitten, und weil der junge Mann jetzt die Renovierung des Hauses überwachte, nahm sie zurzeit keine Miete von ihm.

Ah, und hier war der Grund dafür, dass Amelia auch so bald nicht nach New Orleans zurückkehren würde. Bob kam auf leisen Pfoten in die Küche und strich zur Begrüßung liebevoll um meine Beine herum.

»Hey, du süßer Schnuckel«, säuselte ich und nahm den schwarz-weißen Kater auf den Arm. »Wie geht's unserem Liebling denn heute?«

»Mir wird gleich übel«, sagte Amelia. Doch ich wusste, dass sie genauso albern mit Bob sprach, wenn ich nicht zu Hause war.

»Irgendwelche Fortschritte?«, fragte ich, als ich von Bobs langhaarigem Fell wieder aufsah. Offenbar war er heute Nachmittag gebadet worden - so flauschig war er nur selten.

»Nein«, erwiderte sie, und das klang ziemlich entmutigt. »Eine ganze Stunde lang habe ich mit ihm gearbeitet, aber zum Schluss hatte er bloß einen Eidechsenschwanz. Es hat mich all meine Zauberkraft gekostet, das wieder rückgängig zu machen.«

Bob war in Wirklichkeit ein Kerl, oder besser, ein Mann. Zwar die Art Strebertyp mit schwarzem Haar und Brille, aber Amelia hatte mir anvertraut, dass er ein buchstäblich hervorstechendes Merkmal besitze, das im angekleideten Zustand leider nicht zu erkennen sei. Amelia hatte gar keinen Transformationszauber anwenden wollen, als sie Bob in einen Kater verhexte. Das Ganze war im Eifer des Gefechts bei irgendeinem ziemlich abenteuerlichen Sexexperiment passiert. Was genau sie damals ausprobieren wollten, hatte ich lieber nie gefragt. Es musste höchst exotisch gewesen sein.

»Die Sache ist die«, sagte Amelia auf einmal, und ich war sofort auf der Hut. Jetzt würde sie mir gleich den wahren Grund dafür verkünden, warum sie hier in der Küche auf mich wartete. Amelia war eine sehr klare Senderin, und ich hatte es längst in ihren Gedanken gelesen. Doch ich ließ sie erzählen. Die Leute mochten es gar nicht, wenn ich ihnen sagte, dass sie mir nichts mehr zu erzählen bräuchten, vor allem dann nicht, wenn sie sich erst mühsam dazu hatten durchringen müssen. »Mein Dad ist morgen in Shreveport, und er will über Bon Temps zurückfahren, um mich zu besuchen«, sagte sie hastig. »Nur er und sein Chauffeur Marley. Er möchte zum Abendessen kommen.«

Morgen war Sonntag. Da hatte das Merlotte's nur am Nachmittag offen, und mit einem Blick auf den Kalender sah ich, dass ich nicht mal zur Arbeit eingeteilt war. »Dann gehe ich einfach aus«, schlug ich vor. »Ich könnte JB und Tara besuchen. Kein Problem.«

»Bleib bitte hier«, bat Amelia, der die nackte Angst ins Gesicht geschrieben stand. Den Grund nannte sie nicht, den konnte ich aber sowieso in ihren Gedanken lesen.

Amelia hatte eine äußerst schwierige Beziehung zu ihrem Vater, ja, sie hatte sogar den Nachnamen ihrer Mutter, Broadway, angenommen - obwohl das zum Teil auch damit zu tun hatte, dass ihr Vater so bekannt war. Copley Carmichael besaß großen politischen Einfluss und jede Menge Geld, auch wenn ich nicht wusste, wie sehr sein Vermögen durch den Hurrikan Katrina gelitten hatte. Carmichael war Bauunternehmer, und ihm gehörten einige große Holzfabriken; vielleicht hatte der Wirbelsturm ja seine Geschäftsgrundlage hinweggefegt. Andererseits musste die ganze Region wiederaufgebaut werden und brauchte somit Holz.

»Um wie viel Uhr kommt er denn?«, fragte ich.

»Um fünf.«

»Isst der Chauffeur an einem Tisch mit ihm?« Ich hatte noch nie mit eigenen Angestellten zu tun gehabt. Wir hatten nur einen großen Tisch, den hier in der Küche. Und ich würde sicher nicht zulassen, dass der Mann auf den Stufen der hinteren Veranda saß.

»Oh Gott!«, rief Amelia. Der Gedanke war ihr anscheinend noch gar nicht gekommen. »Was machen wir mit Marley?«

»Genau das frage ich dich.« Mein Tonfall klang vielleicht eine Spur zu geduldig.

»Hör mal«, sagte Amelia. »Du kennst meinen Dad nicht. Du weißt nicht, wie er ist.«

In Amelias Gedanken las ich, dass sie für ihren Vater wirklich höchst gemischte Gefühle hegte. Es war ziemlich schwierig, durch all die Liebe, Angst und Beklemmung zu Amelias wahrer Grundhaltung durchzudringen. Ich kannte nur wenige Reiche und noch sehr viel weniger Reiche, die einen Vollzeitchauffeur beschäftigten.

Dieser Besuch versprach interessant zu werden.

Schließlich sagte ich Amelia gute Nacht und ging zu Bett. Mich trieben zwar noch die unterschiedlichsten Gedanken um, doch körperlich war ich derart erschöpft, dass ich sehr bald schon einschlief.

Am Sonntag war das Wetter genauso schön wie am Vortag. Ich dachte an die beiden frischverheirateten Paare, die nun schon in ihr neues Leben gestartet waren, und an die alte Miss Caroline, die sich der Gesellschaft einiger Verwandter (Jungspunde um die sechzig) erfreute, die ihr nicht nur die Zeit vertreiben, sondern auch auf sie aufpassen sollten. Wenn Portia und Glen aus den Flitterwochen nach Hause kämen, würden diese Verwandten sicher ziemlich erleichtert und sehr gern in ihre viel bescheideneren Heime zurückkehren. Halleigh und Andy würden ein eigenes kleines Haus beziehen.

Ich fragte mich, was es mit Jonathan und dem schönen runzligen Mann auf sich hatte.

Ich sagte mir noch einmal, dass ich unbedingt Eric anrufen sollte, sobald er heute Abend aufgestanden war.

Ich dachte über Bills unerwartete Worte nach.

Und zum millionsten Mal überlegte ich, was es mit Quinns Schweigen auf sich haben könnte.

Doch ehe ich mich ganz meiner Grübelei hingeben konnte, erfasste mich der Hurrikan Amelia.

Es gibt eine ganze Menge an Amelia, was ich wirklich mag, ja sogar liebe. Sie ist absolut direkt, begeisterungsfähig und talentiert. Sie weiß alles über die Welt der Supras, kennt meinen Platz darin und findet mein seltsames »Talent« richtig cool. Ich kann mit ihr über alles reden, und nie reagiert sie mit Abscheu oder Angst. Allerdings kann Amelia auch ziemlich spontan und eigensinnig sein. Aber man muss die Leute nehmen, wie sie sind. Alles in allem wohne ich richtig gern mit ihr zusammen.

Und sie hat auch praktische Fähigkeiten: Sie kann prima kochen, hält peinlich genau unsere Sachen auseinander und ist weiß Gott die reinlichste Mitbewohnerin, die es gibt. Wenn Amelia eines wirklich kann, dann Putzen. Sie putzt, wenn ihr langweilig ist, sie putzt, wenn sie nervös ist, und sie putzt, wenn sie ein schlechtes Gewissen hat. Ich bin in dieser Disziplin auch nicht gerade eine Amateurin, aber Amelia ist die unangefochtene Weltmeisterin. An dem Tag, an dem sie beinahe einen Autounfall gebaut hatte, reinigte sie die komplette Einrichtung meines Wohnzimmers, samt Polstern und allem. Als ihr Mieter sie anrief und ihr erzählte, dass das Haus ein neues Dach brauche, fuhr sie in die Stadt und kam mit einer Maschine wieder, mit der sie die Parkettböden bohnerte und polierte, im Erdgeschoss und oben.

Als ich um neun Uhr aufstand, befand sich Amelia bereits mitten in einem von dem bevorstehenden Besuch ihres Vaters ausgelösten Putzwahn. Um Viertel vor elf, als ich zur Kirche aufbrach, kroch Amelia auf allen vieren im Bad im Erdgeschoss herum, das zugegebenermaßen äußerst altmodisch wirkt mit seinen kleinen achteckigen schwarz-weißen Fliesen und der großen alten Badewanne mit Klauenfüßen. Dank meines Bruders Jason hat es wenigstens eine etwas modernere Toilette. Dies war das Bad, das Amelia benutzte, weil es oben keins gab. Ich hatte ein eigenes, winzig kleines, das direkt an mein Schlafzimmer anschloss und in den fünfziger Jahren eingebaut worden war. Tja, in meinem Haus sind einige der maßgeblichen Einrichtungsstile der letzten Jahrzehnte auf engstem Raum versammelt.

»Findest du wirklich, dass es so schmutzig war?«, fragte ich und blieb in der Tür des Bads stehen. Ich sprach zu Amelias Hinterteil.

Sie hob den Kopf und strich sich mit einer Hand, die in einem Gummihandschuh steckte, das kurze Haar aus der Stirn.

»Nein, so schlimm war's nicht. Aber es soll großartig aussehen.«

»Mein Haus ist nun mal alt, Amelia. Ich glaube nicht, dass es irgendwie großartig aussehen kann.« Es gab keinen Grund, sich für das Alter oder den Zustand des Hauses oder der Möbel zu entschuldigen. Es war nun mal so, wie es war, und ich liebte es.

»Es ist ein wunderbares altes Haus, Sookie«, sagte Amelia scharf. »Aber ich habe noch einiges zu tun.«

»Okay«, erwiderte ich. »Ich gehe in die Kirche und bin ungefähr um halb eins zurück.«

»Könntest du nach der Kirche noch einkaufen gehen? Die Liste liegt auf der Küchenanrichte.«

Ich willigte ein, froh, etwas zu tun zu haben, womit ich dem Haus etwas länger fernbleiben konnte.

Der Morgen fühlte sich eher nach März an (das heißt, nach dem März im Süden) als nach Oktober. Und als ich bei der Methodistenkirche aus dem Auto stieg, hob ich den Kopf und genoss die leichte Brise. Es lag ein Hauch von Winter in der Luft, nur ein kleiner Vorgeschmack. Die Fenster der bescheidenen Kirche standen offen, und als wir gemeinsam ein Lied anstimmten, strömte unser Gesang hinaus auf den Rasen und zu den Bäumen. Ich sah dem Spiel vorüberwehender Blätter zu, während der Pastor predigte. Offen gestanden hörte ich der Predigt nicht immer zu. Manchmal war die Stunde in der Kirche einfach eine Zeit zum Nachdenken, eine Zeit, in der ich mich fragte, welche Richtung mein Leben nahm. Immerhin standen diese Gedanken dort in einem großen Zusammenhang. Doch wenn man nur zusah, wie die Blätter von den Bäumen fielen, zählte das wohl nicht so recht.

Also lauschte ich der Predigt. Reverend Collins sprach darüber, dass wir Gott geben sollten, was Gott gebührte, und Caesar, was Caesar gebührte. Mir erschien das wie eine Predigt zum 15. April, dem alljährlichen Abgabetermin der Steuererklärung, und ich ertappte mich bei der Frage, ob Reverend Collins seine Steuern wohl vierteljährlich zahlte. Doch nach einer Weile begriff ich es. Er sprach darüber, dass wir alle täglich Gesetze übertraten, ohne uns schuldig zu fühlen - wenn wir die Geschwindigkeitsbeschränkung missachteten oder wieder mal das Extraporto für den Brief nicht zahlten, den wir in ein Geschenkpaket mit hineingelegt hatten.

Ich lächelte Reverend Collins an, als ich aus der Kirche trat. Er wirkte immer ein wenig besorgt, wenn er mich sah.

Auf dem Parkplatz begrüßte ich Maxine Fortenberry und ihren Mann Ed. Maxine war eine so füllige, eindrucksvolle Erscheinung, dass Ed daneben stets schüchtern und still wirkte, ja fast unsichtbar. Ihr Sohn Hoyt war der beste Freund meines Bruders Jason. Hoyt stand hinter seiner Mutter, in einem Anzug und mit frisch geschnittenen Haaren. Interessante Anzeichen.

»Schätzchen, lass dich umarmen!«, rief Maxine, und das tat ich natürlich. Maxine war eine gute Freundin meiner Großmutter gewesen, auch wenn sie eher in dem Alter war, in dem mein Vater heute wäre. Ich lächelte Ed zu und winkte Hoyt.

»Gut siehst du aus«, sagte ich zu ihm, und er lächelte. Wow, so hatte ich Hoyt ja noch nie lächeln sehen. Ich sah Maxine an. Sie grinste.

»Hoyt geht mit dem Mädchen aus, das mit dir im Merlotte's arbeitet«, erklärte sie. »Holly. Sie hat einen kleinen Jungen, und so was muss man sich gut überlegen, aber Hoyt mochte Kinder schon immer.«

»Das wusste ich gar nicht«, sagte ich. In letzter Zeit hatte ich kaum noch etwas mitbekommen. »Das ist ja großartig, Hoyt. Holly ist ein nettes Mädchen.«

Ganz so hätte ich es wohl nicht ausgedrückt, wenn ich einen Augenblick Zeit gehabt hätte, darüber nachzudenken; aber vielleicht war's gut, dass ich es nicht getan hatte. Es sprach vieles für Holly - sie war eine treue Freundin, eine fähige Kollegin und ihrem Sohn Cody eine hingebungsvolle Mutter -, und sie war schon einige Jahre geschieden, Hoyt war also kein Lückenbüßer. Ich fragte mich nur, ob Holly Hoyt erzählt hatte, dass sie eine Wicca war. Nein, hatte sie nicht, sonst würde Maxine nicht so erfreut lächeln.

»Wir treffen uns mit ihr zum Lunch bei Sizzler«, sagte sie und meinte das Steakhouse bei der Autobahn. »Holly ist keine große Kirchgängerin, aber wir hoffen, dass sie uns bald einmal zusammen mit dem kleinen Cody begleitet. Wir machen uns jetzt besser auf den Weg, sonst kommen wir noch zu spät.«

»Gut gemacht, Hoyt«, sagte ich und klopfte ihm auf die Schulter, als er an mir vorbeiging. Er sah glücklich aus.

Alle um mich herum heirateten oder verliebten sich. Und immer freute ich mich und war glücklich für sie. Glücklich, glücklich, glücklich. Mit meinem immerwährenden Lächeln im Gesicht fuhr ich zum Supermarkt Piggly Wiggly und fischte Amelias Einkaufsliste aus der Handtasche. Ganz schön lang, aber inzwischen gab's sicher schon wieder Ergänzungen. Also rief ich sie mit dem Handy an, und richtig, drei weitere Dinge waren ihr eingefallen. So verbrachte ich also eine ganze Weile in dem Laden.

Meine Arme wurden immer länger, als ich schließlich mit schweren Plastiktüten in den Händen die Stufen zur hinteren Veranda hinaufwankte. Amelia lief zu meinem Auto, um die restlichen Tüten hereinzuholen. »Wo warst du denn so lange?«, fragte sie, als hätte sie bereits ungeduldig auf mich gewartet.

Ich sah auf meine Armbanduhr. »Ich bin von der Kirche direkt in den Supermarkt gefahren«, sagte ich, als müsste ich mich rechtfertigen. »Es ist doch erst eins.«

Amelia lief noch einmal an mir vorbei, schwer beladen und mit einem verzweifelten Kopfschütteln. Der Laut, den sie dabei von sich gab, klang wie ein einziges lang gezogenes Arrrrrrgh.

Und auch den ganzen restlichen Nachmittag führte Amelia sich auf, als müsste sie sich auf die Verabredung ihres Lebens vorbereiten.

Ich kann eigentlich ganz gut kochen, doch Amelia ließ mich bei der Zubereitung des Abendessens bloß die niederen Hilfsarbeiten verrichten. Ich durfte Gemüse putzen und schneiden. Ach ja, und sie ließ mich das Arbeitsgeschirr abwaschen. Ich hatte mich immer gefragt, ob sie wohl auch wie die Märchenhexen im Film den Abwasch mit einem einzigen Wink des Zauberstabs erledigen könnte. Doch als ich das mal ansprach, schnaubte sie bloß verächtlich.

Das Haus war blitzblank. Und auch wenn ich mich nicht darüber aufregen wollte, bemerkte ich doch, dass Amelia sogar in meinem Schlafzimmer gesaugt hatte. Unsere eiserne Regel lautete eigentlich, dass wir das Zimmer der anderen nicht betraten.

»Ich war übrigens in deinem Zimmer, tut mir leid«, sagte Amelia plötzlich, und ich schrak zusammen - ich, die Gedankenleserin. »Eine meiner verrückten Eingebungen, die ich manchmal habe. Ich war beim Staubsaugen und dachte, da mache ich den Teppich bei dir doch auch gleich. Und ehe ich noch drüber nachdenken konnte, war ich schon fertig. Deine Hausschuhe habe ich unters Bett gestellt.«

»Okay«, erwiderte ich und versuchte, gelassen zu klingen.

»Hey, es tut mir wirklich leid.«

Ich nickte, trocknete weiter Geschirr ab und räumte es in den Schrank zurück. Das Menü, das Amelia zusammengestellt hatte, bestand aus gemischtem grünem Salat mit Tomaten und in Scheibchen geschnittenen Karotten, Lasagne, warmem Knoblauchbrot und gedünstetem frischem Gemüse. Und weil ich ja angeblich absolut nichts von gedünstetem frischem Gemüse verstand, durfte ich all die rohen Zutaten schnippeln - Zucchini, Paprikaschoten, Pilze, Blumenkohl. Am späteren Nachmittag wurde ich für würdig befunden, den grünen Salat zu mischen, und ich durfte das Tischtuch auf den Tisch legen, die Vase mit den Blumen obendrauf stellen und die Gedecke anrichten. Vier Gedecke.

Ich hatte Amelia angeboten, mit Mr Marley ins Wohnzimmer zu gehen und dort mit ihm am Couchtisch zu essen. Man hätte meinen können, ich wollte ihm die Füße waschen, so entsetzt war Amelia gewesen.

»Nein, du bleibst bei mir«, bestimmte sie.

»Du hast sicher was mit deinem Vater zu besprechen«, sagte ich. »Irgendwann muss ich euch sowieso mal allein lassen.«

Sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. »Okay, ich bin erwachsen«, murmelte sie vor sich hin.

»Du bist ein Angsthase«, sagte ich.

»Du kennst ihn eben nicht.«

Um Viertel nach vier ging Amelia nach oben, um sich umzuziehen. Ich saß im Wohnzimmer und las ein Buch aus der Leihbücherei, als ich ein Auto auf dem Kies der Auffahrt vorfahren hörte. Die Uhr auf dem Kaminsims zeigte genau 16.48 Uhr. Ich rief die Treppe hinauf, ehe ich ans Fenster lief. Der Nachmittag neigte sich langsam dem Ende entgegen, aber da wir noch Sommerzeit hatten, war die Lincoln-Limousine gut zu erkennen. Sie parkte vor dem Haus, und ein Mann mit kurz geschnittenem dunklem Haar in einem Geschäftsanzug stieg auf der Fahrerseite aus. Das musste Marley sein. Leider trug er keine Chauffeursmütze, stellte ich ein wenig enttäuscht fest. Er öffnete eine der hinteren Wagentüren, und dann erschien Copley Carmichael.

Amelias Vater war nicht sehr groß und hatte kurzes, dickes graues Haar, das wie ein richtig guter Teppich dicht und weich und exzellent geschnitten war. Er war sehr braun gebrannt, und seine Augenbrauen waren immer noch dunkel. Keine Brille. Keine Lippen. Okay, jeder Mensch hat Lippen, aber seine waren so schmal, dass sein Mund wie ein Schlitz wirkte.

Mr Carmichael sah sich auf meinem Grundstück um, als wollte er eine Steuerschätzung vornehmen.

Ich hörte Amelia hinter mir die Treppe herunterstürmen, während ich dem Mann da draußen bei seiner Begutachtung zusah. Marley, der Chauffeur, blickte direkt zum Haus und schien mein Gesicht am Fenster entdeckt zu haben.

»Marley ist noch ziemlich neu«, sagte Amelia, die jetzt neben mir stand. »Er ist erst seit zwei Jahren bei meinem Dad.«

»Hatte dein Vater schon immer einen Fahrer?«

»Ja. Aber Marley ist außerdem auch Bodyguard«, erzählte Amelia ganz beiläufig, als hätte jeder einen Vater mit Bodyguard.

Jetzt gingen die beiden Männer den Kiesweg entlang auf das Haus zu, ohne die ihn säumenden, schön geschnittenen Ilexsträucher auch nur eines Blickes zu würdigen. Dann die Holzstufen hinauf. Über die Veranda. Schließlich klopfte jemand an die Tür.

Ich dachte an all die furchterregenden Geschöpfe, die mein Haus schon betreten hatten: Werwölfe, Gestaltwandler, Vampire und sogar ein oder zwei Dämonen. Warum sollte ich mir da wegen dieses Mannes Sorgen machen? Ich richtete mich kerzengerade auf, beruhigte mein aufgewühltes Inneres und ging an die Haustür - auch wenn Amelia mich fast hinprügeln musste. Schließlich sei es immer noch mein Haus, fand sie.

Ich ergriff den Türknauf und knipste noch rechtzeitig mein Lächeln an, ehe ich die Haustür öffnete.

»Kommen Sie bitte herein«, sagte ich, und Marley öffnete die Fliegengittertür für Mr Carmichael, der eintrat und seine Tochter umarmte, aber erst, nachdem er einen prüfenden Blick durch mein Wohnzimmer geworfen hatte, das sich unmittelbar an die Veranda anschloss.

Er war ein genauso klarer Sender wie seine Tochter.

Viel zu schäbig hier, dachte er, für die Tochter eines Mannes in meiner Position ... Hübsche Frau, bei der Amelia da wohnt ...Ob Amelia Sex mit ihr hat? ... So einer Frau ist wahrscheinlich alles zuzutrauen ... Keine Polizeiakte, auch wenn sie mal eine Beziehung mit einem Vampir hatte und ihr Bruder ein äußerst wilder Kerl ist...

Ein reicher und mächtiger Mann wie Copley Carmichael ließ über die neue Vermieterin seiner Tochter natürlich Nachforschungen anstellen. So ein Verhalten war mir nur einfach noch nicht untergekommen, wie so vieles andere auch, was die Reichen taten.

Ich holte tief Luft. »Ich bin Sookie Stackhouse«, sagte ich höflich. »Sie müssen Mr Carmichael sein. Und das ist...?« Nachdem ich Mr Carmichael die Hand geschüttelt hatte, wandte ich mich an Marley.

Einen Augenblick lang schien es, als hätte ich Amelias Vater auf dem falschen Fuß erwischt. Aber er fing sich in rekordverdächtiger Zeit.

»Das ist Tyrese Marley«, sagte Mr Carmichael gewandt.

Der Chauffeur schüttelte mir sanft die Hand, als müsse er achtgeben, mir nicht die Fingerknochen zu brechen, und nickte dann Amelia zu. »Miss Amelia«, sagte er, woraufhin Amelia ihn wütend anstarrte und sich schon lautstark das altmodische »Miss« verbitten wollte. Doch dann besann sie sich eines Besseren. All diese Gedanken, all das Hin und Her ... das reichte, um mich ständig abzulenken.

Tyrese Marley war ein so hellhäutiger Afroamerikaner, dass man ihn kaum einen Schwarzen nennen konnte.

Seine Haut hatte eher den Ton alten Elfenbeins, seine Augen leuchteten hellbraun, und sein Haar war zwar dunkel, aber nicht kraus und zeigte einen Stich ins Rötliche. Marley war ein Mann, bei dem man immer zweimal hinsah.

»Ich fahre in die Stadt und tanke den Wagen voll«, sagte er zu seinem Boss, »während Sie Miss Amelia besuchen. Wann soll ich Sie wieder abholen?«

Mr Carmichael sah auf die Armbanduhr. »In zwei Stunden.«

»Sie können gern zum Abendessen bleiben.« Es gelang mir, die Einladung in einem völlig neutralen Ton auszusprechen. Ich wollte, dass jeder sich in meinem Haus willkommen fühlte.

»Ich muss noch einige Besorgungen machen«, erwiderte Tyrese Marley in ebenso neutralem Ton wie ich. »Danke für die Einladung. Bis später.« Und dann ging er.

Okay, Ende meines Bestrebens in Sachen Demokratie.

Tyrese konnte nicht ahnen, wie viel lieber auch ich in die Stadt gefahren wäre, statt hier im Haus zu bleiben. Doch ich riss mich zusammen und erinnerte mich an meine Pflichten als Gastgeberin. »Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Mr Carmichael, oder etwas anderes zum Trinken? Was möchtest du, Amelia?«

»Nennen Sie mich Copley«, sagte er mit einem Lächeln, das viel zu sehr an das Grinsen eines Haifischs erinnerte, um herzlich zu wirken. »Ich nehme gern ein Glas, was immer offen ist. Und du, Schatz?«

»Etwas Weißwein«, sagte Amelia, und ich hörte, wie sie ihrem Vater einen Platz anbot, als ich in die Küche ging.

Ich schenkte den Wein ein und stellte die Gläser auf das Tablett mit unseren Horsd'oeuvres: Cracker, überbackener Camembert und dazu Aprikosenkonfitüre, gemischt mit scharfen Peperoni. Wir hatten ein paar hübsche kleine Messer gefunden, die prima zum Tablett passten, und Amelia hatte auch Cocktailservietten für die Drinks nicht vergessen.

Copley schien Appetit zu haben, der Camembert schmeckte ihm. Er nippte an dem Wein, der aus Arkansas kam, und nickte höflich. Immerhin hat er ihn nicht ausgespuckt, dachte ich. Ich trinke selten und bin überhaupt kein Connaisseur in Sachen Wein. Ehrlich gesagt, bin ich auch sonst kein großer Connaisseur. Aber mir schmeckte der Weißwein, mit jedem Schluck sogar besser.

»Amelia, erzähl mal, womit du deine Zeit verbringst, während du hier die Reparatur der Sturmschäden an deinem Haus abwartest«, sagte Copley, was ich für einen vernünftigen Gesprächseinstieg hielt.

Ich hätte ihm ja gern zuerst mal erklärt, dass seine Tochter keinen Sex mit mir hatte, aber das wäre vielleicht doch etwas zu direkt gewesen. Ich bemühte mich angestrengt, seine Gedanken nicht zu lesen. Aber ich kann's nicht anders sagen: Mit ihm und seiner Tochter im selben Zimmer zu sitzen war für mich wie Fernsehen bei voller Lautstärke.

»Gelegentlich helfe ich einem der Versicherungsvertreter hier in der Gegend bei der Aktenablage. Und ich arbeite als Aushilfe im Merlotte's«, sagte Amelia. »Ich serviere Drinks und manchmal auch die üblichen frittierten Hühnchenstreifen im Korb.«

»Und ist die Arbeit interessant?« Copleys Ton war nicht sarkastisch, das will ich fairerweise festhalten. Aber er hatte natürlich auch über Sam Nachforschungen angestellt.

»Es ist nicht schlecht«, sagte sie mit einem angedeuteten Lächeln. Das war ganz schön zurückhaltend für Amelia. Also tauchte ich in ihre Gedanken ein, um zu sehen, was da los war. Sie hatte sich für das Gespräch mit ihrem Vater so eine Art Maulkorb verordnet. »Es gibt gutes Trinkgeld.«

Ihr Vater nickte. »Und Sie, Miss Stackhouse?«, fragte Copley höflich.

Er wusste bereits alles über mich, mal abgesehen vom Farbton meines Nagellacks, aber auch den würde er meiner Akte sicher hinzufügen, wenn er könnte. »Ich bin festangestellte Kellnerin im Merlotte's«, sagte ich so, als wüsste er es nicht längst. »Schon seit Jahren.«

»Haben Sie Familie in dieser Gegend?«

»O ja, wir leben schon ewig hier«, erzählte ich. »Oder jedenfalls sehr lange. Was Amerikaner eben so unter ewig verstehen. Aber unsere Familie ist recht klein geworden. Jetzt sind nur noch mein Bruder und ich übrig.«

»Ein älterer Bruder? Ein jüngerer?«

»Jason ist älter als ich«, erwiderte ich. »Und er hat kürzlich erst geheiratet.«

»Dann gibt es ja vielleicht schon bald viele kleine Stackhouses«, sagte Copley so, als wäre das ein Grund zur Freude.

Ich nickte, als würde die Aussicht darauf auch mich freuen. Doch ich konnte die Ehefrau meines Bruders nicht allzu gut leiden und hielt es für äußerst wahrscheinlich, dass auch die Kinder der beiden ziemliche Scheusale werden würden. Eines war zurzeit sogar unterwegs, wenn Crystal nicht wieder eine Fehlgeburt erlitt. Mein Bruder war ein Werpanther (durch Biss, nicht von Geburt), und seine Frau war eine geborene ... eine vollblütige ... na, eine echte Werpantherin eben. In der kleinen, abgelegenen Werpanthergemeinde Hotshot aufzuwachsen war ohnehin schwierig, wie viel schwieriger würde es da erst für nicht vollblütige Kinder werden.

»Dad, soll ich dir noch etwas Wein nachschenken?« Amelia hatte die Worte kaum ausgesprochen, da war sie auch schon aufgesprungen und mit dem halb leeren Glas auf dem Weg in die Küche. Na prima, jetzt durfte ich mich auch noch allein mit ihrem Vater unterhalten.

»Sookie«, begann Copley Carmichael, »es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie meine Tochter schon so lange bei sich wohnen lassen.«

»Amelia zahlt Miete«, sagte ich. »Und sie kauft die Hälfte der Lebensmittel. Sie kommt für sich selbst auf.«

»Trotzdem würde ich mich für Ihre Umstände gern in irgendeiner Weise erkenntlich zeigen.«

»Amelias Miete reicht völlig aus. Sie hat sogar einige Verbesserungen fürs Haus aus eigener Tasche bezahlt.«

Plötzlich verhärteten sich seine Gesichtszüge, als wäre er etwas Ungeheuerlichem auf die Schliche gekommen. Glaubte er etwa, ich hätte Amelia überredet, hinterm Haus einen Swimmingpool bauen zu lassen?

»Sie hat eine tragbare Klimaanlage für ihr Schlafzimmer oben angeschafft«, erzählte ich. »Und sie hat eine zusätzliche Telefonleitung für den Internetanschluss legen lassen. Einen kleinen Teppich und neue Gardinen für ihr Zimmer hat sie, glaube ich, auch gekauft.«

»Sie wohnt oben?«

»Ja«, sagte ich, überrascht, weil er das nicht zu wissen schien. Vielleicht gab es doch ein paar Dinge, die sich in seinem Spionagenetz nicht verfangen hatten. »Ich wohne hier unten und sie dort oben. Wir teilen nur die Küche und das Wohnzimmer, obwohl Amelia oben auch einen Fernseher hat. Hey, Amelia!«, rief ich.

»Ja?«, klang es von der Küche her durch die Diele.

»Hast du oben eigentlich immer noch den kleinen Fernseher?«

»Ja, sogar mit Kabelanschluss.«

»Wollte nur mal fragen.«

Ich lächelte Copley an, um ihm zu verstehen zu geben, dass es nun an ihm sei, das Gespräch fortzusetzen. Er überlegte, was er mich am besten fragen könnte, um möglichst viele Informationen von mir zu bekommen. Dann tauchte plötzlich ein Name im Strudel seiner Gedanken auf, und ich musste mich wahnsinnig beherrschen, um eine höfliche Miene zu bewahren.

»Die erste Mieterin in Amelias Haus in der Chloe Street - das war Ihre Cousine, nicht wahr?«, fragte Copley.

»Hadley. Ja.« Ruhig und gefasst sah ich ihn an, während ich nickte. »Haben Sie sie gekannt?«

»Ich kenne ihren Ehemann«, sagte er und lächelte.