Kapitel 5

Eric fuhr herum, verdeckte mit seinem breiten Rücken das Seitenfenster, um mich vor dem Schuss zu schützen, und die Kugel traf ihn in den Hals. Er sank in den Sitz zurück, und einen furchtbaren Augenblick lang saß er mit ausdrucksloser Miene da, während ihm dunkelrotes Blut zähflüssig über die weiße Haut lief. Ich schrie, als könnte Lärm mich schützen. Darin wurde der Revolver auf mich gerichtet, während der Bewaffnete sich durch das Seitenfenster in die Corvette hineinlehnte, um an Eric vorbei auf mich zu zielen.

Doch das war ein Fehler gewesen. Eric umklammerte das Handgelenk des Mannes mit der Hand und begann zuzudrücken. Jetzt schrie der »Streifenpolizist« selbst und versuchte, mit seiner freien Hand auf Eric einzuschlagen. Der Revolver fiel auf mich, und ich konnte nur von Glück sagen, dass sich dabei kein Schuss löste. Mit Revolvern kenne ich mich nicht besonders gut aus, aber das Ding hier war groß und sah bösartig aus. Mühsam richtete ich mich aus meiner zusammengekauerten Haltung auf, nahm den Revolver in die Hand und zielte mit der Mündung direkt auf den Schützen.

Er erstarrte, so, wie er da hing, halb im Auto, halb draußen. Eric hatte ihm bereits den Arm gebrochen und hielt ihn mit eisernem Griff fest. Der Idiot hätte sich lieber vor dem Vampir fürchten sollen, der ihn im Klammergriff hatte, als vor einer Kellnerin, die kaum wusste, wie man einen Revolver abfeuerte.

Eins stand fest: Hätte die Streifenpolizei beschlossen, Raser auf der Autobahn abzuknallen statt ihnen Strafzettel auszustellen, hätte ich längst davon gehört.

»Wer sind Sie?«, fragte ich. Daraus, dass meine Stimme nicht allzu fest klang, konnte mir wirklich keiner einen Vorwurf machen. »Wer hat Sie geschickt?«

»Es wurde mir befohlen«, keuchte der Werwolf. Jetzt, wo ich Zeit hatte, ihn genauer zu betrachten, fiel mir auf, dass er gar keine richtige Polizeiuniform trug. Die Farbe stimmte und der Hut auch, aber seine Hose war keine Uniformhose.

»Von wem?«, fragte ich.

Eric schlug dem Werwolf die Fangzähne in die Schulter und zog den falschen Streifenpolizisten trotz seiner eigenen Wunde Zentimeter um Zentimeter ins Auto hinein. Es war nur fair, dass Eric etwas frisches Blut bekam, nachdem er schon so viel eigenes verloren hatte. Der Angreifer heulte auf.

»Lassen Sie nicht zu, dass er mich zum Vampir macht«, flehte er mich an.

»Da hätten Sie noch Glück«, sagte ich. Nicht, weil ich das Vampirdasein für so verdammt großartig hielt, sondern weil ich sicher war, dass Eric etwas sehr viel Grausameres im Sinn hatte.

Ich stieg aus der Corvette, denn es wäre sinnlos gewesen, Eric dazu bewegen zu wollen, den Werwolf loszulassen. Jetzt, im Blutrausch, würde er nicht mehr auf mich hören. Meine Blutsbande mit Eric trugen maßgeblich zu dieser Entscheidung bei. Ich freute mich für ihn, dass er sich genussvoll an dem Blut eines anderen satt trinken konnte. Und Wut erfüllte mich, weil jemand versucht hatte, ihm zu schaden. Normalerweise gehörte weder das eine noch das andere zur Palette meiner Gefühle, daher bestand wohl kein Zweifel, wie es dazu kommen konnte.

Außerdem war es mir in der Corvette langsam zu eng geworden. Ich, Eric und dann noch dieser Werwolf, das war eindeutig einer zu viel.

Wie durch ein Wunder fuhr niemand vorbei, als ich auf dem Standstreifen zum Auto unseres Angreifers ging. Es erwies sich (was mich nicht wunderte) als ein einfacher weißer Wagen, dem ein falsches Blinklicht aufgesetzt worden war. Ich schaltete die Scheinwerfer aus, und indem ich jeden vorhandenen Knopf drückte und an jedem Draht zog, gelang es mir schließlich, auch dem Blinklicht den Garaus zu machen. Jetzt fielen wir wenigstens nicht mehr so auf. Die Lichter der Corvette hatte Eric gleich zu Beginn des Angriffs gelöscht. Rasch sah ich mich im Inneren des Wagens um, fand aber nirgends einen Briefumschlag mit der Aufschrift »Mein Auftraggeber - nur öffnen, falls ich gefasst werde«. Ich brauchte irgendeinen Hinweis. Hier musste doch wenigstens ein Papierfetzen mit einer Telefonnummer zu finden sein, die ich in einem nach Nummern sortierten Telefonbuch nachschlagen konnte. Wenn ich bloß gewusst hätte, wie man richtig nach Hinweisen sucht. Zu blöd! Auf dem Weg zurück zu Eric erkannte ich in den aufleuchtenden Scheinwerfern eines vorbeidonnernden Sattelschleppers, dass aus dem Seitenfenster der Corvette keine Beine mehr herausragten. Prima, so fiel auch unser Auto gleich viel weniger auf. Aber wir mussten hier unbedingt verschwinden.

Ich spähte in die Corvette - sie war leer. Nur ein einsamer Blutfleck auf dem Fahrersitz deutete noch auf das hin, was hier gerade geschehen war. Ich zog ein Taschentuch aus der Handtasche, spuckte darauf und rieb das trocknende Blut ab. Nicht gerade die feine Art, aber praktisch.

Und dann stand Eric plötzlich so unvermittelt neben mir, dass ich einen Schreckensschrei unterdrücken musste. Er war immer noch erregt von dem unerwarteten Angriff, drängte mich ans Auto und bog meinen Kopf gerade so weit zurück, wie es für einen Kuss nötig war. Lust überkam mich, und fast hätte ich gesagt: »Ach, was soll's, nimm mich, du herrlicher Wikinger.« Und es waren nicht nur die Blutsbande, die mich in Erics stumme Aufforderung fast einwilligen ließen, sondern auch meine Erinnerung daran, wie wunderbar Eric im Bett war. Doch dann dachte ich an Quinn, und mit einer gewaltigen Willensanstrengung löste ich meine Lippen von Erics Mund.

Einen Augenblick lang glaubte ich, er würde mich nicht loslassen. Doch dann tat er es. »Lass mal sehen«, sagte ich mit zittriger Stimme und zog seinen Hemdkragen herunter, um einen Blick auf die Schusswunde zu werfen. Der Heilungsprozess war schon fast abgeschlossen, aber Erics Hemd war natürlich noch immer voller Blut.

»Was hatte das zu bedeuten?«, fragte er. »War das ein Feind von dir?«

»Keine Ahnung.«

»Er hat auf dich gezielt«, erklärte Eric mir, als hätte ich das nicht kapiert. »Er hatte es auf dich abgesehen.«

»Und was, wenn er dir damit einen Schlag versetzen wollte? Was, wenn er dir meinen Tod in die Schuhe schieben wollte?« Ich hatte es so satt, im Mittelpunkt irgendwelcher Verwicklungen zu stehen, dass ich mir wohl geradezu wünschte, Eric möge das Opfer sein. Aber dann fiel mir noch etwas anderes ein. »Wie hat er uns überhaupt gefunden?«

»Uns muss jemand verraten haben, der wusste, dass wir heute Abend von Shreveport nach Bon Temps zurückfahren«, sagte Eric. »Jemand, der wusste, mit welchem Auto ich unterwegs bin.«

»Niall kann es nicht gewesen sein«, entgegnete ich, noch ehe ich meine unbedingte Loyalität gegen meinen brandneuen, selbst ernannten Urgroßvater überdacht hatte. Er konnte mich doch ebenso gut von hinten bis vorne belogen haben. Seine Gedanken hatte ich nicht lesen können. Wieso vertraute ich ihm also? Diese Ungewissheit, die ich sonst kaum kannte, fühlte sich seltsam an.

Ich glaubte eben einfach nicht, dass Niall mich angelogen hatte.

»Ich glaube auch nicht, dass der Elf es war«, sagte Eric. »Aber das besprechen wir besser auf der Fahrt. Wir sollten hier nicht länger herumstehen.«

Da hatte er recht. Ich wusste nicht, was Eric mit der Leiche gemacht hatte, wollte es auch gar nicht wissen. Vor einem Jahr noch hätte mich die Vorstellung, am Rande der Autobahn einfach so eine Leiche zurückzulassen, schier zerrissen. Jetzt war ich bloß froh, dass irgendwo da draußen in den Wäldern der Werwolf lag und nicht ich.

Okay, ich war eine furchtbar schlechte Christin. Aber ich hatte eine gute Überlebensrate vorzuweisen.

Während wir durch die Dunkelheit fuhren, dachte ich an den Abgrund, der sich da direkt vor mir auftat und nur darauf zu warten schien, dass ich den nächsten Schritt tat. Ich war am Rande dieses Abgrunds gestrandet. Es fiel mir immer schwerer, mich an das zu halten, was richtig war, weil das Naheliegende so viel verlockender erschien. Also wirklich, schoss es mir erbarmungslos durch den Kopf, hatte ich etwa immer noch nicht begriffen, dass Quinn mich hatte fallen lassen? Hätten wir nicht längst voneinander gehört, wenn wir noch ein Paar wären? Und hatte ich nicht schon immer eine Schwäche für Eric gehabt, der ein leidenschaftlicher und ungestümer Liebhaber war? Und gab es nicht jede Menge Beweise dafür, dass Eric mich besser beschützen konnte als irgendwer sonst?

Ich konnte kaum die Energie aufbringen, über mich selbst schockiert zu sein.

Wenn eine Frau erst mal bereit ist, einen Mann wegen seiner Fähigkeiten als Beschützer zum Liebhaber zu nehmen, steht sie kurz davor, auch die Wahl des Ehemanns nur noch von den wünschenswerten Charaktereigenschaften abhängig zu machen, die er an die nächste Generation vererben könnte. Ja, wenn die Chance bestanden hätte, von Eric ein Kind zu bekommen (bei dem Gedanken überlief mich ein Schauer), hätte er ganz oben auf meiner Liste gestanden - einer Liste, von der ich bis jetzt gar nicht gewusst hatte, dass ich sie führte. Ich sah mich als Pfauendame, die nach dem Pfauenherrn mit dem schönsten Pfauenrad Ausschau hielt, oder als Werwölfin, die darauf wartete, dass der Leitwolf (der stärkste, klügste, mutigste) des Rudels sie bestieg.

Igitt, das ging zu weit. Ich war eine Menschenfrau. Und ich wollte versuchen, eine gute Frau zu sein. Ich musste Quinn finden, weil ich mit ihm zusammen war... irgendwie jedenfalls.

Nein, keine Wortklauberei!

»Worüber denkst du nach, Sookie?«, fragte Eric in die Dunkelheit hinein. »In deinem Gesicht spiegeln sich die Gedanken in so rasender Geschwindigkeit, dass ich gar nicht hinterherkomme.«

Dass er mich sehen konnte - nicht nur im Dunkeln, sondern auch während er eigentlich auf die Straße achten musste -, war nicht nur unheimlich, sondern auch ärgerlich. Und ein Beweis seiner Überlegenheit, sagte mein inneres Steinzeitweib.

»Eric, fahr mich einfach nach Hause. Meine Gefühle überfordern mich gerade.«

Danach schwieg er. Vielleicht, weil er verstand, wie mir zumute war, oder auch, weil die Heilung seiner Wunde ihn schmerzte.

»Darüber müssen wir noch mal reden«, sagte Eric, als er in meine Auffahrt einbog. Er parkte vor dem Haus und drehte sich in dem engen Auto zu mir herum. »Sookie, ich habe Schmerzen ... Darf ich ...« Er beugte sich zu mir herüber und strich mir mit dem Finger den Nacken entlang.

Schon bei der Vorstellung machte mein Körper, was er wollte. In meinem Schoß begann es zu pochen... aber das war einfach nicht richtig. Herrje, die bloße Vorstellung, von einem Vampir gebissen zu werden, erregte mich schon. War das nicht entsetzlich? Ich ballte die Hände so fest zusammen, dass meine Fingernägel sich schmerzhaft in die Handflächen gruben.

Erst jetzt, als das harte Licht der Außenbeleuchtung vor meinem Haus auf das Auto fiel, erkannte ich, dass Eric sogar noch blasser war als sonst. Und während ich ihn ansah, begann die Kugel aus der Wunde herauszutreten. Eric lehnte sich in den Fahrersitz zurück und schloss die Augen. Millimeter um Millimeter schob sich die Kugel hervor, bis sie mir schließlich in die aufgehaltene Hand fiel. Nanu? Hatte Eric mich nicht irgendwann mal extra eindringlich gebeten, ihm eine Kugel aus dem Arm zu saugen? Ha! Dieser Lügner. Die Kugel wäre auch ganz von allein herausgekommen. Die Empörung brachte mich, zumindest ein Stück weit, wieder zur Vernunft.

»Du schaffst es schon noch bis nach Hause«, sagte ich, obwohl ich ein fast unwiderstehliches Bedürfnis verspürte, ihm meinen Hals oder mein Handgelenk anzubieten. Ich biss die Zähne zusammen und stieg aus dem Auto. »Oder du hältst kurz im Merlotte's und trinkst dort eine Flasche TrueBlood, wenn's wirklich nötig ist.«

»Du bist hartherzig«, sagte Eric, aber richtig wütend oder beleidigt klang es nicht.

»Das bin ich«, erwiderte ich und lächelte. »Pass auf dich auf, hörst du?«

»Natürlich«, sagte Eric. »Ich lass mich von keinem Streifenpolizisten mehr anhalten.«

Ich zwang mich, ins Haus zu gehen, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Als ich drin war und die Tür endlich hinter mir ins Schloss fiel, fühlte ich mich unglaublich erleichtert. Geschafft, Gott sei Dank. Am liebsten hätte ich mich bei jedem Schritt umgedreht, den ich mich weiter von Eric entfernt hatte. Diese Sache mit den Blutsbanden war wirklich lästig. Wenn ich nicht vorsichtig und wachsam war, würde ich noch etwas tun, das mir hinterher leidtäte.

»Frauen sind das stärkere Geschlecht!«, rief ich aus.

»Hey, was ist denn mit dir los?«, fragte Amelia, und ich schrak zusammen. Sie kam gerade von der Küche her die Diele entlang, in einem pfirsichfarbenen Nachthemd samt passendem Morgenrock, beides mit cremefarbener Spitze abgesetzt. Amelia besaß lauter so schöne Sachen. Sie würde zwar nie über die Einkaufsgewohnheiten anderer Leute lästern, aber etwas von Wal-Mart würde sie auch nie anziehen.

»Es war ein anstrengender Abend«, sagte ich und sah an mir hinunter. Mein blaues Seiden-T-Shirt hatte nur einige feine Blutspritzer abbekommen, aber ich würde es einweichen müssen. »Wie ist es hier so gelaufen?«

»Octavia hat angerufen.« Amelia versuchte, mit fester Stimme zu sprechen, doch ich spürte Wellen großer Unruhe von ihr ausgehen.

»Deine Mentorin.« Ich hatte auch schon klügere Bemerkungen gemacht.

»Ja, genau die.« Amelia bückte sich und nahm Bob auf den Arm, der stets um sie zu sein schien, wenn sie unglücklich war. Sie drückte ihn an die Brust und verbarg ihr Gesicht in seinem Fell. »Octavia hatte natürlich schon davon gehört. Und trotz Katrina und all der Veränderungen in ihrem Leben durch den Hurrikan musste sie auf den Irrtum zu sprechen kommen.« (So nannte Amelia es - Irrtum.)

»Wie Bob es wohl nennen würde, wenn er darauf zu sprechen kommen könnte?«

Amelia sah mich über Bobs Kopf hinweg an. Ich wusste sofort, dass das ziemlich taktlos gewesen war. »Tut mir leid. Ich sollte erst denken und dann reden. Aber es ist vielleicht nicht allzu realistisch, zu hoffen, du könntest aus der Sache herauskommen, ohne dafür zu zahlen, hm?«

»Du hast recht«, erwiderte Amelia, auch wenn sie nicht allzu glücklich darüber wirkte. »Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe etwas ausprobiert, was ich nicht hätte ausprobieren dürfen, und das auf Bobs Kosten.«

Wow, wenn Amelia beschloss, einen Fehler einzugestehen, machte sie gleich Nägel mit Köpfen.

»Ich muss mich meiner Strafe stellen«, fuhr sie fort. »Vielleicht darf ich ein Jahr lang meine Hexenkünste nicht ausüben. Vielleicht auch länger.«

»Oh, das wäre hart.« Ich hatte mir vorgestellt, dass Amelias Mentorin sie einfach vor einem Rat von Magiern, Zauberern und Hexen oder was auch immer zurechtweisen und dann Bob in seine menschliche Gestalt zurückverwandeln würde. Danach würde sie Amelia sofort vergeben und ihr versichern, wie sehr sie ihre Schülerin schätze. Und weil ihre Mentorin ihr vergab, vergaben ihr auch all die anderen, und Amelia und Bob würden zurück zu mir nach Hause kommen und hier zusammen leben, bis dass ... na, jedenfalls noch eine ganze Weile lang. (Davon hatte ich mir kein allzu genaues Bild gemacht.)

»Das ist noch die mildeste Strafe«, sagte Amelia.

»Oh.«

»Die anderen Möglichkeiten willst du gar nicht hören.«

Da hatte sie recht. Das wollte ich nicht.

»Und zu welchem geheimnisvollen Ausflug hat Eric dich nun abgeholt?«, fragte Amelia.

Amelia konnte unser Ziel oder unsere Route niemandem verraten haben, sie hatte sie nicht gekannt. »Ach, er wollte mich bloß in ein neues Restaurant in Shreveport einladen. Es hat irgend so einen schicken französischen Namen. War sehr schön dort.«

»Dann war's also so was wie eine Verabredung?« In ihren Gedanken hörte ich sie klar und deutlich die Frage stellen, welchen Platz Quinn noch in meinem Leben einnahm, wenn ich jetzt eine Beziehung mit Eric begann.

»Oh, nein, keine richtige Verabredung«, widersprach ich. Aber das klang selbst in meinen Ohren nicht überzeugend. »Zwischen uns läuft nichts. Es war einfach nur eine Verabredung mit einem Freund.« Samt Küssen und Revolverschüssen.

»Er sieht unglaublich gut aus«, meinte Amelia.

»Ja, keine Frage. Aber ich kenne ja einige leckere Kerle. Erinnerst du dich noch an Claude?« Ich hatte Amelia das Poster gezeigt, das vor zwei Wochen mit der Post gekommen war. Die Vergrößerung eines Liebesroman-Covers, für das Claude und ich mal posiert hatten. Amelia war beeindruckt gewesen - aber welche Frau wäre das nicht?

»Oh, ich war übrigens letzte Woche in seinem Club und habe ihn strippen sehen.« Amelia konnte mir kaum in die Augen blicken.

»Und du hast mich nicht mitgenommen?!« Claude war ein äußerst unsympathischer Typ, vor allem im Vergleich zu seiner Schwester Claudine, aber er war einfach hinreißend. Was männliche Schönheit betraf, spielte er in derselben Liga wie Brad Pitt. Und er war natürlich schwul. Aber ging man davon in solchen Fällen nicht schon fast aus? »Warst du dort, als ich arbeiten musste?«

»Ich dachte, du fändest es nicht gut, wenn ich hingehe«, sagte Amelia. »Weil du doch mit seiner Schwester befreundet bist. Ich war mit Tara dort. JB hat gearbeitet. Bist du sauer?«

»Nein, ist mir egal.« Meine Freundin Tara besaß eine Boutique, und ihr frischgebackener Ehemann JB arbeitete in einem Fitnesscenter für Frauen. »Obwohl ich Claude ja gern mal sehen würde, wenn er so tut, als würde ihm etwas Spaß machen.«

»Er schien sich ganz gut zu amüsieren«, sagte Amelia. »Denn es gibt ja niemanden, den Claude mehr liebt als Claude, nicht wahr? Und dann all die Frauen, die da sitzen und ihn anhimmeln ... Er steht zwar nicht auf Frauen, aber er steht eindeutig darauf, angehimmelt zu werden.«

»Auch wieder wahr. Lass uns irgendwann mal zusammen hingehen.«

»Okay«, sagte Amelia, die schon wieder viel fröhlicher wirkte. »Jetzt erzähl mal, was du in diesem schicken neuen Restaurant gegessen hast.« Und so erzählte ich. Doch noch viel lieber hätte ich Amelia von meinem Urgroßvater Niall erzählt: wie er aussah, was er gesagt hatte, dass ich eine ganze Familiengeschichte besaß, die ich nicht gekannt hatte. Es würde noch eine Zeit lang dauern, bis ich die Handlungsweise meiner Großmutter begreifen und sich mein Bild von ihr im Licht der neuen Fakten geändert haben würde. Und ich musste noch einmal über die unschönen Erinnerungen an meine Mutter nachdenken. Sie war meinem Vater in Liebe verfallen und hatte Kinder bekommen, weil sie ihn liebte ... nur um festzustellen, dass sie ihn nicht mit diesen Kindern teilen wollte, vor allem nicht mit mir, einem anderen weiblichen Wesen. Zumindest war das meine neueste Erkenntnis.

»Es gab auch noch anderes Zeug zum Essen«, sagte ich schließlich gähnend. Es war schon sehr spät. »Aber ich muss jetzt ins Bett. Hat irgendwer für mich angerufen?«

»Dieser Werwolf aus Shreveport wollte dich sprechen. Ich habe ihm gesagt, dass du ausgegangen bist und er es bei dir auf dem Handy versuchen soll. Er fragte, ob er dich irgendwo treffen könnte. Aber ich wusste ja nicht mal, wo du warst, und das habe ich ihm auch gesagt.«

»Alcide. Was der wohl wollte?« Ach, den konnte ich auch morgen noch zurückrufen.

»Und eine junge Frau. Sie sagte, sie habe schon mal als Kellnerin im Merlotte's gearbeitet und habe dich gestern auf der Hochzeit getroffen.«

»Tanya?«

»Ja, so hieß sie.«

»Was wollte die denn?«

»Weiß ich nicht. Sie sagte, sie ruft noch mal an oder trifft dich im Merlotte's.«

»Mist. Hoffentlich hat Sam sie nicht als Aushilfe oder so was eingestellt.«

»Ich dachte, ich bin die Aushilfe.«

»Ja, aber vielleicht hat jemand gekündigt. Ich warne dich, Sam mag sie.«

»Und du nicht?«

»Sie ist ein heimtückisches Miststück.«

»Oh Mann, ehrlich?«

»Kein Scherz, Amelia. Tanya hat den Job im Merlotte's damals nur angenommen, um mich für die Pelts auszuspionieren.«

»Ach, die ist das. Na, die spioniert dich nicht wieder aus. Dafür werde ich schon sorgen.«

Diese Aussicht schreckte mich allerdings noch mehr als eine Zusammenarbeit mit Tanya. Amelia war eine machtvolle und fachkundige Hexe, nicht dass ich falsch verstanden werde, aber sie neigte leider dazu, ihre Fähigkeiten zu überschätzen. Siehe Bob.

»Sprich so was bitte erst mit mir ab«, bat ich. Amelia wirkte überrascht.

»Ja klar«, sagte sie. »So, und jetzt ab ins Bett.«

Sie stieg mit Bob im Arm die Treppe hinauf, und ich ging in mein kleines Bad, um mich abzuschminken und mein Nachthemd anzuziehen. Amelia hatte die kleinen Blutspritzer auf meinem T-Shirt nicht bemerkt, und ich weichte es gleich im Waschbecken ein.

Was für ein Tag! Ich hatte Zeit mit Eric verbracht, immer wieder eine Herausforderung, und ich hatte einen lebenden Verwandten gefunden, auch wenn er ein Supra war. Ich hatte jede Menge über meine Familie gelernt, darunter allerdings auch Unerfreuliches. Ich hatte in einem schicken Restaurant gegessen, an dessen Speisen ich mich allerdings nur noch dunkel erinnern konnte. Und zu guter Letzt war auch noch auf mich geschossen worden.

Ich kroch ins Bett und begann mein Gebet, in das ich Quinn als einen der Ersten einschließen wollte. Die Aufregung über meinen neuen Urgroßvater würde mich die ganze Nacht wach halten, hatte ich gedacht. Doch der Schlaf überkam mich schon, als ich noch dabei war, Gott zu bitten, mir einen Weg durch den moralischen Morast all dieser Morde in der Welt der Supras zu weisen.