Kapitel 17

Als ich am nächsten Morgen in die Küche kam, saßen Amelia und Octavia dort am Tisch. Amelia hatte keinen Kaffee übrig gelassen, aber immerhin hatte sie die Kanne ausgewaschen, so dass es nur fünf Minuten dauerte, bis ich den ersten dringend benötigten Becher in Händen hielt. Amelia und ihre Mentorin unterhielten sich taktvoll weiter, während ich herumwurstelte und mir ein Müsli mischte, etwas Zucker darüberstreute und Milch daraufgoss. Ich beugte mich beim Essen über die Schale, damit mir keine Milch auf mein ärmelloses Top tropfte. Ach, im Grunde war's doch schon viel zu kalt, um hier noch ärmellos herumzusitzen. Also zog ich mir erst mal ein Sweatshirt über, das ruhig schmutzig werden konnte, und machte es mir endlich mit Kaffee und Müsli gemütlich.

»Wie sieht's denn aus?«, fragte ich, um zu signalisieren, dass ich nun bereit war, mit dem Rest der Welt in Kontakt zu treten.

»Amelia hat mir von Ihrem Problem erzählt«, erwiderte Octavia. »Und auch von Ihrem freundlichen Angebot.«

Ah. Oh. Welches Angebot?

Ich nickte weise, als wüsste ich Bescheid.

»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, bei meiner Nichte herauszukommen«, sagte die ältere Frau sehr ernst. »Janesha hat drei Kinder, eins davon noch ein Baby, und dazu einen Freund, der kommt und geht, wie es ihm gerade passt. Ich schlafe auf dem Sofa im Wohnzimmer, und wenn die Kinder morgens aufstehen, kommen sie einfach herein und schauen Zeichentrickserien. Ob ich schon aufgestanden bin oder nicht. Es ist ihr Apartment, natürlich, und ich bin auch schon seit drei Wochen dort, so dass sie mich nicht mehr als Gast ansehen.«

Ich überlegte. Octavia könnte in dem Schlafzimmer gegenüber von meinem unterkommen oder oben im Gästezimmer. Meine Wahl fiel aufs Gästezimmer.

»Und wissen Sie, jetzt, da ich älter werde, muss ich auch häufiger mal schnell ins Bad.« Sie sah mit der komischen Missbilligung jener Leute drein, die plötzlich erkennen, dass das Älterwerden tatsächlich auch sie betrifft. »Das Zimmer im Erdgeschoss ist also genau das richtige, zumal mit der Arthritis in meinen Knien. Habe ich erwähnt, dass Janeshas Apartment im zweiten Stock liegt?«

»Nein«, sagte ich etwas benommen. Herrje, das ging alles so schnell.

»Nun zu Ihrem Problem. Ich bin wahrlich keine Hexe der Schwarzen Magie, aber diese beiden jungen Frauen müssen Sie loswerden, sowohl Ms Pelts Helfershelferin als auch Ms Pelt selbst.«

Ich nickte eifrig.

»Und«, sagte Amelia, die nicht länger schweigen konnte, »wir haben auch schon eine Idee.«

»Ich bin ganz Ohr«, erwiderte ich und schenkte mir einen zweiten Becher Kaffee ein. Den hatte ich jetzt nötig.

»Es gibt einen sehr einfachen Weg, Tanya loszuwerden. Erzählen Sie Ihrem Freund Calvin Norris, was sie treibt«, sagte Octavia.

Ich starrte sie an. »Oh, das dürfte dazu führen, dass Tanya einige ziemlich schreckliche Dinge zustoßen.«

»Wollen Sie das denn nicht?«, fragte Octavia völlig unschuldig, aber man merkte, dass sie es faustdick hinter den Ohren hatte.

»Hm, doch. Aber ich will nicht, dass sie stirbt. Ich meine, ihr soll nichts geschehen, das sie nicht überstehen kann. Ich möchte bloß, dass sie verschwindet und nie wieder auftaucht.«

»Dass sie verschwindet und nie wieder auftaucht klingt ziemlich endgültig für mich«, sagte Amelia.

Für mich ehrlich gesagt auch. »Dann eben noch mal anders: Ich will, dass sie ihr Leben lebt, aber irgendwo weit weg von mir. Ist es nun klar genug?« Ich wollte nicht unfreundlich sein, sondern mich bloß deutlich ausdrücken.

»Ja, junge Lady. Ich glaube, das haben wir verstanden«, erwiderte Octavia mit eisigem Unterton.

»Ich möchte nur nicht, dass es irgendein Missverständnis gibt«, beteuerte ich. »Es steht eine Menge auf dem Spiel. Ich glaube, Calvin mag Tanya ganz gern. Aber jede Wette, er könnte sie auch ziemlich wirksam vergraulen.«

»So sehr, dass sie diese Gegend für immer verlässt?«

»Du müsstest überzeugend darlegen, dass du die Wahrheit gesagt hast«, meinte Amelia. »Dass sie heimlich gegen dich vorgeht.«

»Woran denkst du?«, fragte ich.

»Okay, hier ist unsere Idee«, sagte Amelia, und schwupp, schon lief Phase eins. Im Grunde hätte ich auch selbst drauf kommen können, aber mithilfe der Hexen wurde es ein absolut reibungsloser Plan.

Ich rief Calvin an und bat ihn, um die Lunchzeit doch mal bei mir vorbeizukommen, wenn er Zeit hätte. Er schien zwar überrascht, von mir zu hören, willigte aber ein.

Und es wartete noch eine Überraschung auf ihn, da er in meiner Küche Amelia und Octavia antraf. Calvin Norris war der Anführer der Werpanthergemeinde in dem kleinen Dorf Hotshot und hatte Amelia schon öfter gesehen. Octavia war ihm unbekannt, aber weil er ihre magischen Kräfte spüren konnte, respektierte er sie sofort. Was die Sache schon mal vereinfachte.

Calvin war vielleicht Mitte vierzig, stark und solide und ziemlich selbstsicher. Sein Haar wurde bereits grau, doch er stand pfeilgerade da, und er strahlte eine Ruhe aus, die wirklich beeindruckend war. Eine Zeit lang hatte er sich mal für mich interessiert, und es hatte mir echt leidgetan, dass ich nicht dasselbe für ihn empfinden konnte. Denn Calvin war ein guter Kerl.

»Was gibt's Sookie?«, fragte er, nachdem er die ihm angebotenen Kekse, Tee und Coke abgelehnt hatte.

Ich holte tief Luft. »Ich petze nicht besonders gern, Calvin, aber wir haben ein Problem.«

»Tanya«, erwiderte er unverzüglich.

»Ja.« Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, meine Erleichterung zu verbergen.

»Sie ist ein raffiniertes Luder«, sagte Calvin, und ich war enttäuscht, Bewunderung in seiner Stimme zu hören.

»Sie spioniert«, entgegnete Amelia. Sie hatte die Gabe, direkt zum Punkt zu kommen.

»Für wen?« Calvin neigte den Kopf. Er schien nicht besonders überrascht, aber neugierig.

Und so erzählte ich ihm eine bearbeitete Fassung der Geschichte, einer Geschichte, die ich selbst schon nicht mehr hören konnte. Calvin musste wissen, dass die Pelts eine Riesenfehde mit mir hatten, dass Sandra mich bis ins Grab verfolgen würde, dass Tanya, die wie eine lästige Pferdebremse um mich herumschwirrte, als Störenfried in Bon Temps platziert worden war.

Calvin streckte die Beine aus, während er zuhörte, die Arme vor der Brust verschränkt. Er trug brandneue Jeans und ein kariertes Hemd und verströmte einen Geruch wie von frisch geschlagenem Holz.

»Wollen Sie sie mit einem Zauberbann belegen?«, fragte er Amelia, als ich mit Erzählen fertig war.

»Das wollen wir«, antwortete sie. »Aber dafür brauchen wir Sie, um sie hierherzulotsen.«

»Wie wird sich das auswirken? Wird sie darunter leiden?«

»Sie wird alles Interesse daran verlieren, Sookie und ihrer Familie zu schaden. Und sie wird Sandra Pelt nicht mehr gehorchen wollen. Körperlich wird sie gar nicht darunter leiden.«

»Wird es sie denn seelisch verändern?«

»Nein«, schaltete Octavia sich ein. »Und es ist kein so radikaler Zauberbann wie der zum Beispiel, bei dem sie einfach die Gegend verlassen und nie mehr zurückkehren würde.«

Darüber dachte Calvin kurz nach. »Irgendwie mag ich das alte Mädchen ja«, sagte er. »Sie ist so lebhaft. Aber ich bin natürlich auch besorgt über den Unfrieden, den sie zwischen Crystal und Jason stiftet, und ich würde gern was gegen Crystals Verschwendungssucht tun. Denn so kann es nicht weitergehen.«

»Sie mögen sie?«, fragte ich. Es sollten alle Karten auf dem Tisch liegen.

»Wie gesagt.«

»Nein, ich meine, Sie mögen sie?«

»Nun, wir beide ... wir haben schon einige schöne Abende miteinander verbracht.«

»Sie wollen also nicht, dass sie die Gegend verlässt«, sagte ich. »Sie wollen lieber das andere ausprobieren.«

»Darauf läuft's hinaus. Denn mit einem haben Sie recht: Tanya kann nicht hierbleiben und weitermachen wie bisher. Entweder ihr Verhalten ändert sich, oder sie verlässt die Gegend.« Das Letzte schien ihn unglücklich zu machen. »Arbeiten Sie heute, Sookie?«

Ich sah auf den Wandkalender. »Nein, heute habe ich frei.« Ich hatte sogar zwei Tage hintereinander frei.

»Dann werde ich sie mir schnappen und sie heute Abend hierherbringen. Bleibt den Ladys dann noch genug Zeit?«

Die beiden Hexen blickten einander an und berieten sich schweigend.

»Ja, das reicht uns«, meinte Octavia schließlich.

»Ich bringe sie gegen sieben her«, sagte Calvin.

Das lief ja alles unerwartet reibungslos.

»Danke Calvin«, sagte ich, »das hilft uns ungemein.«

»Es schlägt einen Haufen Fliegen mit einer Klappe«, erwiderte Calvin. »Falls es nicht funktioniert, werden diese beiden Ladys hier allerdings nicht gerade zu meinen Freunden zählen.«

Die Hexen wirkten nicht sonderlich glücklich.

Calvin musterte Bob, der eben zur Tür hereingelaufen kam. »Hallo, Bruder«, sagte er zu dem Kater und warf dann Amelia einen skeptischen Blick zu. »Sieht aus, als würde das mit Ihrer Magie nicht immer funktionieren.«

Amelia wirkte schuldbewusst und angriffslustig zugleich. »Es wird schon klappen«, sagte sie entschlossen. »Sie werden sehen.«

»Ich hoffe es.«

Den Rest des Tages verbrachte ich damit, mir die Nägel zu machen, Wäsche zu waschen, Bettlaken zu wechseln - all die Dinge eben, die man an freien Tagen so erledigt. Ich ging in die Bücherei, gab Bücher ab, lieh neue aus, ohne dass irgendetwas Unerwartetes passierte. Zum Glück hatte eine von Barbara Becks Teilzeithilfen Dienst. So musste ich die entsetzliche Messerattacke nicht noch einmal durchleben, was mir jetzt sicher eine ganze Zeit lang bei jeder Begegnung mit Barbara blühen würde. Mir fiel auf, dass der Blutfleck vom Fußboden verschwunden war.

Danach ging ich in den Supermarkt. Kein Angriff von Werwölfen, kein Überfall von Vampiren. Niemand versuchte mich oder irgendwen, den ich kannte, umzubringen. Keine geheimen Verwandten, die sich plötzlich zu erkennen gaben, und niemand, der versuchte, mich in seine Probleme hineinzuziehen, seien es eheliche oder andere.

Ich war schon geradezu stinknormal, als ich wieder nach Hause kam.

Heute Abend war ich mit Kochen dran, und ich hatte mich für Schweinekoteletts entschieden. Ich machte eine große Menge meiner Lieblingspanade, tunkte das Fleisch in Milch und wendete es dann in der Mischung, so dass es nur noch in die Röhre musste. Dann bereitete ich Bratäpfel zu, mit Rosinen, Zimt und Butter, schob sie in den Ofen und setzte noch einen Topf mit Erbsen und Mais aus der Dose, leicht gesalzen und bei niedriger Temperatur, auf den Herd. Nach einer Weile öffnete ich die Backröhre und tat das Fleisch dazu. Einen Augenblick dachte ich daran, auch noch Kekse zu backen, aber es kamen auch so schon genug Kalorien zusammen.

Während ich kochte, beratschlagten sich die Hexen im Wohnzimmer. Die beiden schienen sich prächtig zu verstehen, und ich konnte Octavia ihrer Schülerin in dozierendem Ton etwas erklären hören. Amelia warf gelegentlich eine Frage ein.

Ich führte einige Selbstgespräche, während ich in der Küche hantierte, und hoffte, dass dieses Magieritual auch wirklich funktionierte. Sicher, ich war den Hexen dankbar, dass sie mir so bereitwillig halfen, aber ich fühlte mich auch etwas an den Rand gedrängt im häuslichen Miteinander. Als ich Amelia vorgeschlagen hatte, dass Octavia eine Weile hier wohnen könne, war das eher so aus einer Laune heraus geschehen. (Okay, dann musste ich in Gesprächen mit meiner Mitbewohnerin eben ab sofort vorsichtiger sein.) Und Octavia hatte sich nicht dazu geäußert, ob sie nur übers Wochenende bleiben würde oder gleich einen ganzen Monat. Sie hatte überhaupt keinen Zeitraum genannt, und das machte mir Angst.

Ich hätte mir Amelia natürlich vorknöpfen können: »Du hast mich nicht gefragt, ob Octavia genau jetzt zu diesem Zeitpunkt hier wohnen kann, und es ist immer noch mein Haus.« Aber es war ja Platz für Octavia da, und sie brauchte dringend irgendwo ein Zimmer. Die Erkenntnis, dass ich über eine dritte Person im Haus - noch dazu eine, die ich kaum kannte - nicht allzu glücklich war, kam etwas spät.

Vielleicht könnte ich Octavia ja einen Job besorgen. Wenn sie erst wieder ein regelmäßiges Einkommen hatte, wäre sie unabhängig und würde ausziehen. Ich fragte mich, in welchem Zustand ihre Wohnung in New Orleans wohl war. Vermutlich unbewohnbar. Aber trotz all ihrer magischen Kräfte konnte wohl selbst Octavia die Schäden eines solchen Hurrikans nicht ungeschehen machen. Seit ihren Andeutungen über ihre Bedürfnisse in Sachen Bad und das Treppensteigen schätzte ich ihr Alter etwas höher, aber sie erschien mir noch immer nicht viel älter als, sagen wir mal, dreiundsechzig. Und das war doch heutzutage gar nichts.

Um sechs Uhr rief ich Octavia und Amelia zum Essen. Ich hatte den Tisch gedeckt und Eistee eingeschenkt, aber sie mussten sich selbst an Herd und Ofen bedienen. Nicht sehr vornehm, ich weiß, aber so hatte ich einige Servierteller weniger abzuwaschen.

Wir sprachen nicht viel beim Essen, sondern dachten alle drei an den bevorstehenden Abend. Ich konnte Tanya zwar überhaupt nicht leiden, aber ein wenig Sorgen machte ich mir ihretwegen doch.

Im Grunde behagte mir die Idee, sie zu verändern, nicht sonderlich, aber so, wie es war, ging's einfach nicht weiter. Tanya sollte mich gefälligst in Ruhe lassen und sich aus meinem Leben und dem Leben der Leute um mich herum heraushalten. Und das würde nur geschehen, wenn sie zu allem in Bon Temps eine neue Haltung einnahm. Da führte kein Weg dran vorbei. Und so hatte ich ganz im Zuge meines neuen Pragmatismus entschieden, dass es überhaupt keine Frage war, ob ich ein Leben mit Tanyas Einmischungen führen wollte oder ein Leben mit einer veränderten Tanya.

Ich räumte das Geschirr ab. Normalerweise machte bei uns immer die den Abwasch, die nicht gekocht hatte, doch die beiden Hexen mussten noch ein paar Vorbereitungen treffen. Mir war's recht, ich wollte etwas zu tun haben.

Um 19.05 Uhr hörten wir den Kies der Auffahrt unter den Rädern eines Pick-up knirschen.

Als Calvin uns anbot, Tanya um sieben hierherzubringen, war mir nicht klar gewesen, dass er sie als Paket liefern würde.

Calvin trug Tanya über der Schulter. Tanya hatte eine gute Figur, war aber kein Fliegengewicht, und Calvin hatte ziemlich zu schleppen. Doch er atmete gleichmäßig und brach auch nicht in Schweiß aus. Tanya war an Händen und Füßen gefesselt, die Gelenke hatte er vorsichtshalber aber erst mit einem Schal umwickelt, damit die Stricke nicht in die Haut schnitten. Und sie war (Gott sei Dank) geknebelt, und das sogar mit einem schicken roten Halstuch. Tja, der Anführer der Werpanther hatte wirklich etwas übrig für Tanya.

Sie führte sich natürlich auf wie eine verhaltensgestörte Klapperschlange, wand sich, zappelte, zischte. Als sie Calvin zu treten versuchte, gab er ihr einen Klaps auf den Hintern. »Jetzt hör schon auf«, sagte er, klang aber nicht sonderlich verärgert. »Du verhältst dich falsch, und jetzt gibt's Medizin.«

Er war durch die Vordertür ins Haus gekommen und ließ Tanya aufs Sofa fallen.

Die Hexen hatten mit Kreide einiges auf den Fußboden des Wohnzimmers gezeichnet, worüber ich nicht gerade begeistert gewesen war. Amelia hatte mir allerdings versichert, dass sie das alles wieder wegwischen könne, und da sie ohnehin Weltmeisterin im Putzen war, hatte ich sie gewähren lassen.

Überall standen Schalen mit den verschiedensten Dingen herum (zu genau wollte ich mir das gar nicht ansehen). Octavia nahm eine Schale, entzündete das Material darin und trug sie zu Tanya. Mit der Hand wedelte sie ihr den Rauch zu. Ich trat lieber noch einen Schritt zurück, und Calvin, der Tanya bei den Schultern festhielt, wandte den Kopf ab. Tanya hielt, so lange sie konnte, die Luft an.

Als sie den Rauch schließlich eingeatmet hatte, entspannte sie sich.

»Sie muss dort sitzen.« Octavia zeigte auf einen Kreis aus lauter Kreidesymbolen. Calvin hievte Tanya auf den Stuhl, der in seiner Mitte stand. Und dank des seltsamen Rauches blieb sie dort ruhig sitzen.

Octavia begann in einer Sprache zu singen, die ich nicht verstand. Amelias Zaubersprüche waren immer in Latein gewesen oder zumindest einer primitiveren Form davon (das hatte sie mir erzählt). Aber bei Octavia klang es viel facettenreicher, fast als würde sie eine völlig andere Sprache benutzen.

Ich war auf dieses Ritual sehr gespannt gewesen, doch es erwies sich als ziemlich langweilig, jedenfalls für die, die nicht daran teilhatten. Ich hätte am liebsten alle Fenster aufgerissen, um den Rauch aus dem Haus zu bekommen, und war bloß froh, dass Amelia daran gedacht hatte, die Feuermelder auszuschalten. Tanya schien irgendetwas zu spüren, aber wer konnte schon mit Sicherheit sagen, ob da wirklich die Pelt-Einflüsterungen ausgelöscht wurden.

»Tanya Grissom«, deklamierte Octavia, »reiße die Wurzeln des Bösen aus deiner Seele und reinige dich vom Einfluss jener, die dich für ihre bösen Absichten missbrauchen.« Octavia gestikulierte wild mit einem seltsamen Ding, das einem mit einer Weinranke umwundenen menschlichen Knochen furchtbar ähnlich sah, über Tanyas Kopf herum. Woher sie den Knochen hatte, wollte ich lieber nicht wissen.

Tanya stieß trotz Knebel einen gellenden Schrei aus, und ihr Rücken bog sich erschreckend. Dann entspannte sie sich wieder.

Amelia gab ein Zeichen, und Calvin löste das schicke rote Halstuch, mit dem Tanya wie ein kleiner Bandit ausgesehen hatte. Und dann zog er noch ein Taschentuch aus Tanyas Mund, ein ganz sauberes weißes. Sie war eindeutig mit sehr viel Liebe und Umsicht verschleppt worden.

»Ich fass es nicht! Wie kannst du mir das antun!«, schrie Tanya, kaum dass sie wieder sprechen konnte. »Wie kannst du mich einfach wie ein Steinzeitmacho kidnappen, du Trottel!« Wäre sie dazu in der Lage gewesen, hätte sie sicher auf Calvin eingeprügelt. »Und was zum Teufel soll dieser Rauch? Sookie, willst du dein Haus abfackeln? Hey, weg von meinem Gesicht mit dem Ding da, alte Hexe!« Tanya schlug mit ihren gefesselten Händen nach dem mit einer Weinranke umwundenen Knochen.

»Ich heiße Octavia Fant.«

»Na toll, Octavia Fant. Nehmen Sie mir die Fesseln ab!«

Octavia und Amelia tauschten einen Blick.

Tanya wandte sich an mich. »Sookie, sag diesen Spinnern, sie sollen mich gehen lassen! Calvin, ich war halbwegs an dir interessiert, bevor du mich gefesselt und geknebelt verschleppt hast! Was hast du dir bloß dabei gedacht?«

»Ich wollte dein Leben retten«, sagte Calvin. »Und du wirst jetzt nicht gehen. Wir müssen reden.«

»Okay«, erwiderte Tanya langsam, als sie begriff (das las ich in ihren Gedanken), dass hier etwas Ernstes im Gange war. »Worüber müssen wir reden?«

»Über Sandra Pelt«, sagte ich.

»Sandra kenne ich. Was ist mit ihr?«

»Welche Verbindung haben Sie zu ihr?«, fragte Amelia.

»Was geht Sie das an, Amy?«, konterte Tanya.

»Amelia«, korrigierte ich. Ich hatte mich auf die große Ottomane gesetzt, Tanya gegenüber. »Und du solltest die Frage besser beantworten.«

Tanya warf mir einen ihrer giftigen Blicke zu - davon hatte sie ein paar besonders schöne auf Lager - und sagte: »Ich hatte mal eine Cousine, die von den Pelts adoptiert wurde. Und Sandra war die Adoptivschwester meiner Cousine.«

»Bist du eng mit Sandra befreundet?«, fragte ich.

»Nein, nicht besonders. Ich hab schon eine Weile nichts mehr von ihr gehört.«

»Hast du nicht letztens erst eine Abmachung mit ihr getroffen?«

»Nein, Sandra und ich sehen uns nicht allzu oft.«

»Was halten Sie von ihr?«, fragte Octavia.

»Sie ist ziemlich hinterhältig. Aber irgendwie bewundere ich sie auch«, sagte Tanya. »Wenn Sandra etwas will, nimmt sie es sich.« Sie zuckte die Achseln. »Aber sie geht etwas zu weit für meinen Geschmack.«

»Wenn sie Ihnen auftragen würde, das Leben eines anderen zu ruinieren, würden Sie es also nicht tun?« Octavia musterte Tanya aufmerksam.

»Ich habe Besseres zu tun«, erwiderte Tanya. »Das Leben anderer kann sie selbst ruinieren, wenn ihr so viel dran liegt.«

»Sie würden nichts damit zu tun haben wollen?«

»Nein«, sagte Tanya. Und sie meinte es ernst, das konnte ich erkennen. Langsam wurde sie sogar ein wenig nervös und fragte sich, worauf unsere Fragen abzielten. »Ah, habe ich etwa irgendwem etwas angetan?«

»Du hast wohl kurz davor gestanden«, sagte Calvin.

»Aber diese netten Ladys hier sind eingeschritten. Amelia und Miss Octavia sind ... äh, weise Frauen. Und Sookie kennst du ja schon.«

»Ja, Sookie kenne ich.« Tanya sah mich verdrossen an. »Sie wollte sich nicht mit mir anfreunden, wie sehr ich mich auch bemüht habe.«

Wenn du näher an mich herangekommen wärst, hättest du mich rücklings erstochen, dachte ich, sagte stattdessen aber: »Tanya, in letzter Zeit bist du mit meiner Schwägerin etwas zu oft shoppen gegangen.«

Tanya brach in Gelächter aus. »Zu viel Shopping-Therapie für die schwangere Jungvermählte?« Dann schien sie mit einem Mal verwirrt. »Ja, wir sind tatsächlich öfter im Einkaufscenter von Monroe gewesen, als ich es mir leisten kann. Wo hatte ich das Geld nur her? Dabei gehe ich nicht mal besonders gern shoppen. Warum habe ich das getan?«

»Du wirst es nicht mehr tun«, sagte Calvin.

»Sag mir nicht, was ich zu tun habe, Calvin Norris!«, polterte Tanya. »Ich werde nicht mehr shoppen gehen, weil ich es nicht will. Nicht, weil du es mir sagst.«

Calvin wirkte erleichtert.

Amelia und Octavia wirkten erleichtert.

Wir nickten alle gleichzeitig. Das war Tanya, keine Frage. Nur ohne Sandra Pelts zerstörerischen Einfluss. Keine Ahnung, ob Sandra eigene Hexenkünste eingesetzt oder Tanya bloß viel Geld geboten und ihr eingeredet hatte, ich sei an Debbies Tod schuld. Doch die beiden Hexen schienen Erfolg damit gehabt zu haben, das von Sandra verdorbene Stück aus Tanyas Charakter zu entfernen.

Ich war irgendwie seltsam ernüchtert, dass sich dieser Stachel in meinem Fleisch so leicht - leicht für mich, wenigstens - hatte entfernen lassen, und ertappte mich bei dem Gedanken, dass wir Sandra Pelt doch auch entführen und umprogrammieren könnten. Die wäre bestimmt nicht so leicht zu verändern, denn in dieser Familie Pelt war es ja total krank zugegangen.

Die Hexen waren glücklich, Calvin freute sich, und ich war erleichtert. Calvin erklärte Tanya, dass er sie wieder nach Hotshot zurückfahren würde, und die noch immer leicht verwirrte Tanya legte einen Abgang hin, der sehr viel würdevoller ausfiel als ihr Auftritt. Sie verstand nicht, warum sie in meinem Haus gewesen war, und schien sich auch nicht an das zu erinnern, was die Hexen getan hatten. Aber über diese Lücken in ihrem Gedächtnis war sie anscheinend auch nicht unglücklich.

Die beste aller Welten.

Vielleicht würden Jason und Crystal sich jetzt, ohne Tanyas schlechten Einfluss, wieder vertragen. Schließlich hatte Crystal Jason wirklich heiraten wollen, und auch auf ihr Kind schien sie sich richtig zu freuen. Warum nur war sie so unzufrieden ... ich verstand es einfach nicht.

Am besten trug ich sie in die lange Liste der Leute ein, die ich einfach nicht verstand.

Während die Hexen bei offenen Fenstern - der Abend war zwar kühl, aber ich wollte den penetranten Kräutergeruch loswerden - das Wohnzimmer aufräumten, legte ich mich mit einem Buch auf mein Bett. Doch ich konnte mich nicht aufs Lesen konzentrieren. Schließlich beschloss ich rauszugehen, zog eine Kapuzenjacke an und sagte Amelia noch kurz Bescheid. Ich setzte mich in einen der Holzstühle, die Amelia und ich bei Wal-Mart im Sommerschlussverkauf erstanden hatten, und bewunderte noch einmal den dazu passenden Tisch mit dem großen Sonnenschirm in der Mitte. Vergiss nicht, den Schirm abzunehmen und die Gartenmöbel für den Winter abzudecken, ermahnte ich mich. Dann lehnte ich mich zurück und überließ mich meinen Gedanken.

Eine Weile war es schön, einfach hier draußen zu sitzen, die Bäume und den Erdboden zu riechen und dem rätselhaften Laut der Nachtschwalben aus dem Wald zu lauschen. Im Licht der Außenbeleuchtung fühlte ich mich sicher, auch wenn ich wusste, dass das natürlich eine Illusion war. Im Licht sieht man nur ein wenig deutlicher, was auf einen zukommt.

Bill trat aus dem Wald und kam wortlos zu meinem Haus herüber. Er setzte sich in einen der anderen Stühle.

Einige Augenblicke schwiegen wir. In mir wallte nicht mehr der qualvolle Schmerz auf, den ich in den vergangenen Monaten empfunden hatte, wenn er in meiner Nähe war. Seine Anwesenheit störte die Herbstnacht kaum, so sehr war er ein Teil von ihr.

»Selah ist nach Little Rock gezogen«, sagte Bill.

»Warum das denn?«

»Eine große Maklerfirma hat ihr einen Job angeboten«, erzählte Bill. »Genau das, was sie schon immer wollte. Eine Firma, die auf Grundstücke für Vampire spezialisiert ist.«

»Ist sie eine Vampirsüchtige geworden?«

»Ich glaube schon. Aber ich habe damit nichts zu tun.«

»Warst du nicht ihr Erster?« Vielleicht klang ich ein wenig zu bitter. Bill war mein Erster gewesen, in jeder Hinsicht.

»Frag nicht.« Er wandte mir sein Gesicht zu. Es war leuchtend weiß. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich war nicht ihr Erster. Aber ich wusste immer, dass es der Vampir in mir war, der sie anzog, und nicht die Person, die dieser Vampir war.«

Ich verstand, was Bill sagen wollte. Als ich erfuhr, dass er den Befehl hatte, sich an mich heranzumachen, hatte ich das Gefühl gehabt, dass es die Telepathin in mir war, die ihn anzog, und nicht die Frau, die diese Telepathin war. »Jeder bekommt, was er verdient«, sagte ich.

»Ich habe mir nie etwas aus ihr gemacht. Oder nur wenig.« Bill zuckte die Achseln. »Es hat so viele gegeben wie sie.«

»Was glaubst du eigentlich, wie ich mich fühle, wenn ich so etwas höre?«

»Ich sage nur die Wahrheit. Es hat nur eine gegeben wie dich.« Und dann stand er auf und ging zurück in den Wald, langsam wie ein Mensch, so dass ich ihm nachblicken konnte.

Bill führte anscheinend so etwas wie eine heimliche Kampagne, um meine Achtung wiederzuerlangen. Ob er wohl davon träumte, dass ich ihn wieder lieben könnte? Es tat immer noch weh, wenn ich an den Abend dachte, an dem ich die Wahrheit erfahren hatte. Das Äußerste, worauf er hoffen durfte, war meine Achtung, dachte ich. Vertrauen? Liebe? Das konnte ich mir einfach nicht vorstellen.

Ich saß noch einige Zeit draußen und dachte über den Abend nach, den ich hinter mir hatte. Eine Helfershelferin der Feindin war ausgeschaltet. Die Feindin selbst musste erst noch aufgespürt werden. Die Polizei von Shreveport fiel mir ein und ihre Suche nach den Vermissten, die alle Werwölfe gewesen waren. Wann sie wohl aufhören würde zu suchen?

Mit Werwolfpolitik würde ich es jedenfalls nicht so bald wieder zu tun bekommen, hoffte ich, schließlich waren die überlebenden Rudelmitglieder jetzt erst mal damit beschäftigt, ihre Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.

Ich hoffte, dass Alcide sein neues Amt als Leitwolf gefiel, und fragte mich, ob er in der Nacht seines Sieges wohl einen kleinen vollblütigen Werwolf gezeugt hatte. Was wohl aus den Kindern der Furnans geworden war?

Und weil ich schon in Grübelei versunken war, dachte ich auch gleich noch an Felipe de Castro. Hatte er irgendwo in Louisiana eine neue Residenz errichtet oder war er in Las Vegas geblieben? Hoffentlich hatte jemand Bubba erzählt, dass Louisiana einen neuen Vampirkönig hatte. Ob ich ihn wohl je wiedersehen würde? Er hatte eins der berühmtesten Gesichter der Welt, war im Kopf aber leider ziemlich wirr, weil er von dem Aufwärter im Leichenschauhaus von Memphis, der zufällig ein Vampir war, erst in allerletzter Sekunde herübergeholt worden war. Bubba hatte sehr unter Hurrikan Katrina gelitten. Er war von den andern Vampiren in New Orleans abgeschnitten gewesen und hatte sich von Ratten und sonstigem Kleinvieh (ich vermutete ja, dass es herrenlose Hauskatzen waren) ernähren müssen, bis er eines Nachts von einem Suchtrupp Vampire aus Baton Rouge gefunden wurde. Zuletzt hatte ich gehört, dass sie ihn zur Erholung und Regeneration aus Louisiana wegschicken mussten. Vielleicht würde er in Las Vegas landen. Dort war's ihm ja schon zu Lebzeiten gut ergangen.

Plötzlich bemerkte ich, dass ich vom langen Sitzen ganz steif geworden war. Die Nacht war unangenehm kalt und meine Kapuzenjacke nicht warm genug. Zeit, wieder hinein und ins Bett zu gehen. Das Haus war bereits dunkel, Octavia und Amelia waren sicher völlig erledigt von ihrer Hexerei.

Ich hievte mich aus dem Stuhl, nahm den Sonnenschirm aus seiner Verankerung und lehnte ihn im Geräteschuppen an die Arbeitsbank, an der der Mann, den ich einst für meinen Großvater hielt, Reparaturen gemacht hatte. Und als ich die Tür des Geräteschuppens hinter mir schloss, war mir, als würde ich den Sommer endgültig wegsperren.