Kapitel 14

Als ich mich für die Arbeit anzog - ja, sogar nach einer Nacht wie dieser musste ich arbeiten -, klopfte es an der Haustür. Ich hatte schon ein Fahrzeug meine Auffahrt heraufkommen hören und mir hastig die Schuhe zugebunden.

Der FedEx-Wagen kam nicht oft zu mir, und die dünne Frau, die dazugehörte, kannte ich nicht. Meine ramponierte Tür zu öffnen war gar nicht so leicht. Kein Wunder, so, wie Quinn sich gestern Nacht dagegengeworfen hatte. Sie war hinüber. Bei Lowe's in Clarice anrufen und Ersatztür bestellen, notierte ich mir im Geiste. Vielleicht würde Jason mir helfen, sie einzuhängen. Die FedEx-Frau musterte das gesplitterte Holz immer noch, als die Tür endlich offen war, enthielt sich aber taktvollerweise eines Kommentars.

»Wollen Sie das hier annehmen?«, fragte sie und hielt mir ein Päckchen hin.

»Sicher.« Etwas verdutzt unterschrieb ich und nahm das Päckchen entgegen. Es kam aus dem Fangtasia. Nanu. Sobald sich der FedEx-Wagen wieder entfernte, öffnete ich es. Ein rotes Handy. Schon richtig eingestellt auf meine Nummer. Ein kleiner Zettel lag bei. »Sorry wegen des anderen, Liebes«, stand darauf, unterschrieben mit einem großen »E«. Außerdem ein Aufladegerät. Und ein zweites Ladegerät fürs Auto. Samt einem Schreiben, dass meine Rechnung für das erste halbe Jahr bereits beglichen sei.

Ich war etwas ratlos, als ich noch einen Wagen meine Auffahrt heraufkommen hörte, und blieb einfach auf der Veranda stehen. Diesmal war es ein Transporter der Firma Heim & Haus in Shreveport, die eine neue Haustür lieferte, eine sehr schöne. Es waren auch gleich zwei Männer dabei, die sie einbauten. Und um all die Kosten hatte sich bereits jemand gekümmert.

Fehlt nur noch, dass Eric auch die Lüftungsschlitze meines Wäschetrockners säubern lässt, dachte ich.

Ich fuhr zeitig ins Merlotte's, damit ich noch mit Sam reden konnte. Doch die Tür zu seinem Büro war geschlossen, und von drinnen hörte ich Stimmen. Letzteres war zwar nicht allzu ungewöhnlich, doch geschlossen war diese Tür nur äußerst selten. Mich packte auf der Stelle die Neugier. Ich konnte Sams vertraute Gedankenstruktur erkennen, und da war noch eine andere, der ich auch schon mal begegnet war. Weil ich aber plötzlich Stuhlbeine über den Fußboden kratzen hörte, verkrümelte ich mich schnell in den Lagerraum, ehe die Tür geöffnet wurde.

Tanya Grissom trat auf den Flur und verschwand.

Zwei, drei Minuten wartete ich. Doch meine Angelegenheit war so dringend, dass ich ein Gespräch mit Sam riskieren wollte, auch wenn er vielleicht nicht dazu aufgelegt war. Mein Boss saß in seinem knarrenden alten Holzdrehstuhl, die Füße auf dem Schreibtisch. Sein Haar stand ihm sogar noch wilder vom Kopf ab als üblich, es glich immer mehr einem rötlich goldenen Heiligenschein. In Gedanken verloren starrte er vor sich hin, doch als ich ihn um ein Gespräch bat, nickte er und sagte, ich solle die Tür schließen.

»Weißt du, was letzte Nacht passiert ist?«, fragte ich.

»Ich habe etwas von einer feindlichen Übernahme gehört«, sagte Sam und kippte leicht mit der gefederten Lehne des Holzstuhls nach hinten. Es quietschte nervtötend. Herrje, ich war heute wirklich überreizt. Ich musste mir auf die Unterlippe beißen, um ihn nicht gleich anzufahren.

»Ja, so könnte man es ausdrücken.« Eine feindliche Übernahme, das traf es haargenau. Ich erzählte Sam, was sich bei mir zu Hause abgespielt hatte.

Sam wirkte besorgt. »Ich mische mich nie in Vampir-Angelegenheiten ein. Zweigestaltige und Vampire können nicht gut miteinander. Tut mir wirklich leid, dass du da reingezogen wurdest, Sookie. Eric, dieser Arsch.« Es sah aus, als wollte er noch viel mehr sagen, doch er presste die Lippen zusammen.

»Weißt du irgendwas über den König von Nevada?«, fragte ich.

»Ich weiß, dass er einen großen Verlagskonzern besitzt«, sagte Sam, ohne zu zögern, »und mindestens ein Casino und einige Restaurants. Außerdem gehört ihm eine Vampir-Entertainment-Firma. Die produziert großartige Tanzshows und Sachen wie Die Elvis-Revue der Untoten mit lauter Vampiren als Elvis-Imitatoren, was wirklich komisch ist, wenn man drüber nachdenkt.« Wir wussten beide, dass der echte Elvis tatsächlich noch unter uns weilte, aber selten gut genug in Form war, um aufzutreten. »Wenn es denn zu einer Übernahme kommen musste, hat Louisiana im Grunde genommen mit Felipe de Castro großes Glück gehabt. Er ist genau der richtige Vampir für einen vom Tourismus abhängigen Staat. Unter ihm wird New Orleans sicher so wiederaufgebaut, wie es sein sollte, schon allein deshalb, weil er seinen Anteil an den Einkünften einstreichen will.«

»Felipe de Castro ... klingt exotisch«, sagte ich.

»Ich bin ihm nie begegnet, aber er ist wohl sehr, hm, charismatisch«, erzählte Sam. »Mal sehen, ob er sich in Louisiana niederlässt oder ob dieser Victor Madden sein Stellvertreter hier wird. Wie auch immer, das Merlotte's wird's nicht betreffen, aber dich zweifellos, Sookie.« Sam nahm die Füße vom Tisch und setzte sich aufrecht in den Holzstuhl, der wie aus Protest laut quietschte. »Wenn es nur irgendeine Möglichkeit gäbe, dich aus dieser Vampirwelt wieder herauszuholen.«

»Wenn ich an dem Abend, als ich Bill kennenlernte, schon gewusst hätte, was ich jetzt weiß, hätte ich vermutlich auch nicht anders gehandelt«, sagte ich. »Oder doch, vielleicht hätte ich ihn den Rattrays überlassen.« Ich hatte Bill aus den Händen eines fiesen Gaunerpärchens befreit, und wie sich herausstellte, waren sie nicht bloß Gauner, sondern sogar Mörder. Genauer gesagt, Ausbluter, Leute, die Vampire an abgelegene Orte lockten, sie dort mit Silberketten überwältigten und ihnen all ihr Blut abzapften, weil es auf dem Schwarzmarkt Unsummen einbrachte. In diesem Fall hatten allerdings die Rattrays selbst den höchsten Preis gezahlt.

»Das ist nicht dein Ernst.« Wieder kippte Sam mit der Stuhllehne nach hinten (quietsch! quietsch!), dann sprang er auf. »Das hättest du nie getan.«

Es tat wirklich gut, mal etwas Angenehmes über mich zu hören, vor allem nach dem Gespräch mit Quinn an diesem Morgen. Ich war versucht, Sam auch davon zu erzählen, doch er ging bereits auf die Bürotür zu. Zeit, sich an die Arbeit zu machen, für uns beide. Ich stand ebenfalls auf. Und dann gingen wir in die Bar und taten die Dinge, die wir jeden Tag taten. Auch wenn ich kaum bei der Sache war.

Um mich selbst etwas aufzumuntern, versuchte ich, an etwas Schönes, noch vor mir Liegendes zu denken, etwas, auf das ich mich freuen konnte. Mir fiel nichts ein. Einen langen, trostlosen Augenblick lang stand ich mit dem Bestellblock in der Hand am Tresen und versuchte, nicht endgültig in das tiefe dunkle Loch einer Depression zu versinken. Dann versetzte ich mir selbst einen Klaps.

Dummkopf! Du hast ein Haus, Freunde, einen Job. Dir geht's besser als Millionen anderen Menschen auf der Welt. Und bald sehen die Dinge auch wieder rosiger aus.

Eine Weile wirkte es. Ich lächelte einfach jeden an, und falls das Lächeln mal etwas spröde ausfiel, Herrgott, es war immer noch ein Lächeln.

Nach ein oder auch zwei Stunden kam Jason mit seiner Frau Crystal ins Merlotte's. Crystal sah mürrisch aus und war offensichtlich schwanger, und Jason... Na ja, er hatte diesen harten, fast gemeinen Ausdruck im Gesicht, den er manchmal bekam, wenn er enttäuscht war.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Oh, nicht viel«, erwiderte er nicht gerade mitteilsam. »Bringst du uns zwei Bier?«

»Klar.« Nanu, dachte ich, er hat doch sonst nie für Crystal mitbestellt. Crystal, einige Jahre jünger als Jason, war eine hübsche Werpantherin, wenn auch keine sehr gute, denn sie hatte ziemlich mit den Folgen der Inzucht in Hotshot zu kämpfen. Wenn nicht gerade Vollmond war, tat sie sich schwer mit der Verwandlung, und sie hatte mindestens schon zwei Fehlgeburten erlitten. Was mir leidtat für sie, umso mehr, weil ich wusste, dass sie deshalb in der Werpanthergemeinde als schwach galt. Jetzt war Crystal wieder schwanger. Und diese Schwangerschaft war vermutlich der einzige Grund, warum ihr Onkel Calvin Norris ihrer Heirat mit Jason zugestimmt hatte. Denn Jason war kein Werpanther von Geburt, sondern durch Biss, das heißt, eher durch ganz viele Bisse - von einem eifersüchtigen Nebenbuhler, der Crystal damals ganz für sich allein haben wollte. Jason konnte sich daher auch nicht in einen richtigen Panther verwandeln, dafür aber in ein Wesen halb Tier, halb Mensch. Es gefiel ihm.

Ich brachte ihnen zwei gut gekühlte Krüge Bier und wartete, ob sie noch etwas zu essen bestellen wollten.

Mich wunderte natürlich, dass Crystal Alkohol trank, aber das war nicht meine Sache, hatte ich entschieden.

»Ich nehme einen Cheeseburger mit Pommes«, sagte Jason. Keine allzu große Überraschung.

»Und du, Crystal?«, fragte ich, weil ich freundlich sein wollte. Immerhin war sie meine Schwägerin.

»Oh, ich habe nicht genug Geld für Essen«, sagte sie.

Was sollte ich dazu sagen? Fragend sah ich Jason an, doch er zuckte nur die Achseln. Ein Achselzucken, das (für seine Schwester) besagte: »Ich habe einen richtig dummen Fehler gemacht, werde das aber auf keinen Fall zugeben, denn ich bin ein sturer Mistkerl.«

»Crystal, ich lade dich gern zum Lunch ein«, sagte ich ruhig. »Was möchtest du denn?«

Sie blickte ihren Ehemann finster an. »Dasselbe, Sookie.«

Ich schrieb ihre Bestellung auf einen Extrazettel und lief zur Durchreiche, um sie weiterzugeben. Herrje, Jason regte mich echt auf, aber im Grunde ärgerte ich mich über beide. Die ganze Geschichte war glasklar in ihren Gedanken zu lesen gewesen, und seit ich begriffen hatte, was los war, hatte ich von den beiden die Nase gestrichen voll.

Crystal und Jason wohnten in Jasons Haus, doch Crystal fuhr fast jeden Tag nach Hotshot hinaus, wo sie sich wohler fühlte, weil sie sich dort nicht verstellen musste. Außerdem war sie es gewohnt, ihre Verwandten um sich zu haben, und sie vermisste ihre Schwester und deren kleine Kinder. Tanya Grissom hatte bei Crystals Schwester ein Zimmer gemietet, das Zimmer, in dem Crystal bis zu ihrer Heirat mit Jason gewohnt hatte. Und so hatten sich Crystal und Tanya sofort angefreundet. Da Shoppen Tanyas liebstes Hobby war, hatte Crystal sie des Öfteren begleitet. Und dabei war all das Geld draufgegangen, das Jason ihr von seinem Gehalt für den Haushalt gegeben hatte. Schon zweimal nacheinander, trotz diverser Szenen und Streitereien.

Jetzt weigerte Jason sich, ihr überhaupt noch Geld zu geben. Er machte alle Lebensmitteleinkäufe selbst, holte Sachen aus der Reinigung ab und bezahlte eigenhändig jede Rechnung. Crystal solle sich einen Job suchen, hatte er ihr gesagt, wenn sie eigenes Geld haben wolle. Und weil Crystal keine Ausbildung hatte und auch noch schwanger war, besaß sie jetzt nicht einen Cent.

Jason versuchte, Crystal die Folgen ihres Handelns vor Augen zu führen; seine Ehefrau aber in aller Öffentlichkeit vorzuführen, würde die schlimmsten Folgen haben. Was konnte mein Bruder bloß für ein Idiot sein.

Und was sollte ich jetzt tun? Hm... gar nichts. Das Problem mussten die beiden selbst lösen. Ich sah da einfach zwei Spätpubertäre vor mir, die nie erwachsen geworden waren, und was ihre Chancen betraf, war ich nicht allzu optimistisch.

Mit äußerst ungutem Gefühl erinnerte ich mich an die ungewöhnlichen Gelöbnisse bei der Hochzeit. Zumindest mir waren sie seltsam erschienen, in Hotshot galten sie, soweit ich wusste, als völlig normal. Als Jasons nächste noch lebende Verwandte hatte ich gelobt, die Strafe auf mich zu nehmen, wenn Jason eine Verfehlung begehen sollte, genau so, wie Calvin Norris es für seine Nichte Crystal gelobt hatte. Ein verdammt voreiliges Gelöbnis, wenn ich es mir richtig überlegte.

Als ich ihnen die Teller an den Tisch brachte, waren sie vollauf damit beschäftigt, den anderen zu ignorieren. Vorsichtig stellte ich das Essen ab, brachte ihnen eine Flasche Heinz-Ketchup und verzog mich wieder. Ich hatte mich schon viel zu sehr eingemischt, als ich Crystal das Essen spendierte.

Eine Person, die in all das verwickelt war, könnte ich mir allerdings vorknöpfen, und ich versprach mir selbst auf der Stelle, dass ich das auch tun würde. All meine Wut und Unzufriedenheit konzentrierten sich nun auf Tanya Grissom. Ich würde dieser Frau etwas wirklich Schreckliches antun. Was zum Teufel hatte sie hier zu suchen? Warum scharwenzelte sie um Sam herum? Welchen Zweck verfolgte sie damit, dass sie Crystal in diesen Kaufrausch trieb? (Denn ich hielt es keine Sekunde lang für Zufall, dass Tanyas neuste beste Freundin ausgerechnet meine Schwägerin war.) Wollte Tanya mich zu Tode nerven? Sie schwirrte herum wie eine lästige Pferdebremse, die man gelegentlich mal zu sehen bekam ... aber nie lange genug, um sie zu erschlagen. Während ich wie auf Autopilot herumlief und meinen Job erledigte, grübelte ich vor mich hin, wie ich sie aus meiner Umlaufbahn schießen könnte. Zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich darüber nach, jemanden gewaltsam festzuhalten, um seine Gedanken zu lesen. Okay, das wäre bei Tanya nicht so einfach, immerhin war sie eine Gestaltwandlerin, aber ich wüsste endlich, was sie im Schilde führte. Und ich war überzeugt, dass mir diese Information eine Menge Kummer ersparen konnte... eine ganze Menge.

Während ich grübelte und plante und vor mich hin wütete, aßen Crystal und Jason schweigend ihren Lunch. Jason bezahlte ausdrücklich nur seine eigene Rechnung, während ich Crystals übernahm. Dann gingen sie, und ich fragte mich, wie der Rest ihres Tages wohl aussehen würde. War ich froh, dass ich das nicht miterleben musste.

Sam, der hinter dem Tresen stand, hatte es mit angesehen und fragte mich leise: »Was ist denn mit den beiden los?«

»Jungvermählten-Blues«, sagte ich, »und schwerwiegende Anpassungsprobleme.«

Er wirkte besorgt. »Lass dich da nicht reinziehen«, riet er mir, schien aber augenblicklich zu bereuen, dass er den Mund aufgemacht hatte, »'tschuldigung, ich will dir keine ungebetenen Ratschläge erteilen.«

Irgendetwas kribbelte da in meinen Augenwinkeln. Sam gab mir doch Ratschläge, weil er mich mochte, verdammt. In meinem überreizten Zustand war das bereits Grund genug für selbstmitleidige Tränen. »Schon okay, Boss.« Ich versuchte, munter und sorglos zu wirken, drehte mich auf dem Absatz um und machte die Runde an meinen Tischen.

Sheriff Bud Dearborn saß in meinem Bereich, was ungewöhnlich war. Normalerweise setzte er sich woanders hin, wenn er wusste, dass ich arbeitete. Bud hatte eine mit reichlich Ketchup getränkte Portion Zwiebelringe vor sich und las eine Zeitung aus Shreveport. Die Schlagzeile des Aufmachers lautete: Polizei sucht sechs Vermisste, und ich blieb stehen und fragte Bud, ob er mir die Zeitung geben würde, wenn er sie ausgelesen habe.

Misstrauisch sah er mich an. Die kleinen Schweinsäuglein in seinem dicken Gesicht musterten mich, als erwartete er, ein blutiges Hackebeil an meinem Gürtel hängen zu sehen. »Sicher, Sookie«, sagte er nach einem längeren Moment des Schweigens. »Haben Sie etwa einen dieser Vermissten bei sich zu Hause deponiert?«

Ich gab mein Bestes und strahlte ihn an. Vor lauter Überreiztheit wurde mein Lächeln allerdings zu dem breiten Grinsen eines Menschen, der geistig nicht ganz auf der Höhe ist. »Nein, Bud, ich will nur wissen, was in der Welt so vor sich geht. Ich habe heute noch keine Nachrichten gehört.«

»Ich lasse die Zeitung dann liegen«, sagte Bud und las weiter. Ich glaube, er hätte mir den Ruf eines Jimmy Hoffa angehängt, wenn er nur gewusst hätte, wie. Nicht, dass er mich unbedingt für eine Mörderin hielt, aber ich kam ihm verdächtig vor, und vielleicht war ich ja sogar in Dinge verwickelt, die er in seinem Landkreis nicht duldete. Und diese Ansicht teilte Bud Dearborn mit Alcee Beck, zumal seit dem Tod des Mannes in der Bücherei. Zum Glück für mich hatte sich erwiesen, dass der Kerl ein Strafregister so lang wie mein Arm hatte, darunter auch Gewaltverbrechen. Obwohl Alcee wusste, dass ich in reiner Notwehr gehandelt hatte, traute er mir jedoch nicht so ganz... genau wie Bud Dearborn.

Als Bud sein Bier ausgetrunken und seine Zwiebelringe vertilgt hatte, ging er hinaus, um die Übeltäter des Landkreises Renard das Fürchten zu lehren, und ich nahm mir seine Zeitung, um hinter dem Tresen den Aufmacher zu lesen. Sam sah mir dabei über die Schulter. Nach dem nächtlichen Blutbad in dem Industriepark hatte ich mich absichtlich von allen Nachrichten ferngehalten. Mir war klar gewesen, dass die Werwolfgemeinde etwas so Großes nie geheim halten konnte. Das Einzige, was sie tun konnte, war, die Spuren, denen die Polizei auf jeden Fall folgen würde, so gut es ging zu verwischen. Und genau das war geschehen.

Nach über vierundzwanzig Stunden steht die Polizei bei ihrer Suche nach den sechs vermissten Einwohnern von Shreveport vor einem Rätsel. Bis jetzt ist es nicht gelungen, Zeugen zu finden, die einen der Vermissten am Mittwochabend nach 22 Uhr noch gesehen haben, was die Arbeit zusätzlich erschwert.

»Wir haben nichts gefunden, was diese Personen in Zusammenhang miteinander bringt«, sagte Detective Willie Cromwell.

Zu den Vermissten gehören Cal Myers, ein Detective der Polizei von Shreveport; Amanda Whatley, Eigentümerin einer Bar im Zentrum von Shreveport; Patrick Furnan, Besitzer des örtlichen Harley-Davidson-Handels, und seine Ehefrau Libby; Christine Larrabee, Witwe von Schulaufsichtsrat John Larrabee; und Julio Martinez, Pilot des Luftwaffenstützpunkts Barksdale. Nachbarn berichten, dass sie Libby Furnan bereits einen Tag vor Patrick Furnans Verschwinden nicht mehr gesehen haben, und Christine Larrabees Cousine sagt aus, dass Larrabee schon drei Tage lang telefonisch nicht zu erreichen war. Daher geht die Polizei davon aus, dass die beiden Frauen bereits vor dem Verschwinden der anderen Personen ermordet wurden.

Das Verschwinden von Detective Cal Myers sorgt für Nervosität bei der Polizei. Sein Kollege Detective Mike Loughlin sagte: »Myers war einer der frisch beförderten Detectives, und wir hatten kaum Gelegenheit, uns besser kennenzulernen. Ich weiß nicht, was ihm zugestoßen sein könnte.« Myers (29) war seit sieben Jahren für die Polizei von Shreveport tätig. Er war ledig.

»Wenn sie tot sind, müsste inzwischen wenigstens eine Leiche aufgetaucht sein«, sagte Detective Cromwell gestern. »Wir haben ihre Wohnungen, Häuser und Büros auf Hinweise durchsucht, doch bis jetzt haben wir nichts gefunden.«

Und noch ein Fall gibt der Polizei Rätsel auf. Bereits am Montag wurde eine weitere Einwohnerin von Shreveport tot aufgefunden. Maria-Star Cooper, Assistentin eines Fotografen, lag ermordet in ihrem Apartment am Highway 3. »Das Apartment glich einem Schlachthaus«, sagte Coopers Vermieter, der einer der Ersten am Tatort war. In diesem Mordfall gibt es bislang keine Verdächtigen. »Jeder hat Maria-Star geliebt«, sagte ihre Mutter Anita Cooper. »Sie war so talentiert und hübsch.«

Die Polizei weiß noch nicht, ob Coopers Tod im Zusammenhang mit den Vermisstenfällen steht.

Wie bereits berichtet, hat Don Dominica, Besitzer von »Dons Wohnmobil-Park«, der Polizei gemeldet, dass auf seinem Grundstück seit einer Woche drei Wohnmobile stehen, von deren Eigentümern jede Spur fehlt. »Ich weiß nicht genau, wie viele Leute sich jeweils in den Wohn- mobilen aufhielten«, sagte er. »Sie sind alle zusammen angekommen und haben die Plätze für einen Monat gemietet. Auf dem Anmeldebogen ist eine Priscilla Hebert eingetragen. Ich glaube, es waren mindestens sechs Leute in jedem Wagen. Sie sind mir alle völlig normal vorgekommen.«

Auf die Frage, ob die Wohnmobile leer geräumt seien, antwortete Dominica: »Das weiß ich nicht, da müsste ich erst nachsehen. Für so was habe ich keine Zeit. Aber ich habe diese Leute in den letzten Tagen nicht mal von weitem gesehen.«

Andere Bewohner des Wohnmobil-Parks haben die neu Angekommenen nicht kennengelernt. »Sie sind lieber unter sich geblieben«, erzählte ein Nachbar.

Polizeipräsident Parfit Graham sagte: »Ich bin sicher, dass wir diese Fälle lösen werden. Irgendwann finden wir den richtigen Anhaltspunkt. Wenn in der Zwischenzeit jemand etwas über den Verbleib dieser Personen erfährt, soll er sich unter der für diesen Fall eingerichteten Rufnummer bei der Polizei melden.«

Oh ja, das Telefonat konnte ich mir bestens vorstellen. »Hallo, all die Vermissten sind in einem Werwolfkrieg gestorben«, würde ich sagen. »Sie waren alle Werwölfe. Ein heimatloses, habgieriges Rudel aus dem Süden Louisianas sah in dem Führungsstreit des Shreveport-Rudels die Möglichkeit, selbst die Macht an sich zu reißen.«

Sehr lange würden sie mir wohl kaum zuhören.

»Sie haben den Schauplatz des Geschehens also noch nicht entdeckt«, sagte Sam leise.

»Das war wirklich ein guter Ort für das Treffen.«

»Obwohl, früher oder später...«

»Ja. Ob noch was zu sehen ist?«

»Viel wohl nicht mehr«, sagte Sam. »Alcides Leute hatten inzwischen Zeit genug. Die Leichen haben sie wahrscheinlich irgendwo in der tiefsten Provinz verbrannt. Oder auf dem Grundstück eines Rudelmitglieds begraben.«

Mich schauderte. Gott sei Dank hatte ich das nicht miterleben müssen, so dass ich wirklich nicht wusste, was aus den Leichen geworden war. Nach einer erneuten Runde an meinen Tischen und einigen frisch servierten Drinks nahm ich die Zeitung wieder zur Hand und schlug die Seite mit den Todesanzeigen auf. Als ich die Rubrik »Todesfälle im Bundesstaat« erreichte, bekam ich einen furchtbaren Schreck.

SOPHIE-ANNE LECLERQ, bedeutende Geschäftsfrau und seit Hurrikan Katrina wohnhaft in Baton Rouge, ist in ihrem Wohnhaus an den Folgen von Sino-Aids verstorben. Leclerq, eine Vampirin, hat umfangreiche Holdings in New Orleans und an vielen anderen Orten des Bundesstaates besessen. Aus dem näheren Umfeld von Leclerq wurde bekannt, dass sie seit über hundert Jahren in Louisiana lebte.

Eine Todesanzeige für einen Vampir hatte ich noch nie gelesen. Und diese hier war eine einzige Lüge. Sophie-Anne hatte nicht Sino-Aids gehabt, die einzige Krankheit, die vom Menschen auf Vampire übertragbar war. Sophie-Anne war vermutlich eher an einem akuten Loch im Herzen infolge Pfählens gestorben. Sino-Aids war jedoch gefürchtet unter Vampiren, auch wenn es nicht hoch ansteckend war. Zumindest klang es nach einer Erklärung, die von den Managern der Geschäftswelt klaglos geschluckt würde, wenn plötzlich ein anderer Vampir Sophie-Annes Holdings führte. Und es war eine Erklärung, die niemand genau prüfen würde, zumal es nicht mal eine Leiche gab, mit der man die Behauptung widerlegen konnte. Damit die Todesanzeige heute schon in der Zeitung stand, musste jemand direkt nach ihrem Tod in der Redaktion angerufen haben, vielleicht sogar noch vor ihrem Tod. Mich schauderte.

Was wohl Sigebert, Sophie-Annes treu ergebenem Bodyguard, tatsächlich zugestoßen war? Victor hatte angedeutet, dass Sigebert zusammen mit der Königin umgekommen war. Eindeutig waren seine Worte zwar nicht gewesen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihr Bodyguard überlebt hatte. Nie hätte er jemanden nahe genug an Sophie-Anne herangelassen, um sie zu töten. Sigebert war so viele Jahre, ja Jahrhunderte an ihrer Seite gewesen, dass er wohl ihren Verlust nicht überlebt hätte.

Ich legte die Seite mit den Todesanzeigen auf Sams Schreibtisch; das Merlotte's war ein viel zu betriebsamer Ort, um über so etwas zu reden, selbst wenn wir Zeit gehabt hätten. Und die Gäste strömten nur so herein. Ich rannte mir die Hacken wund, um alle zu bedienen und natürlich auch, um gutes Trinkgeld zu kassieren. Doch nach der Woche, die ich hinter mir hatte, fiel es mir nicht nur schwer, mich über das Geld zu freuen, es war mir auch fast unmöglich, auf die üblich fröhliche Weise meine Arbeit zu verrichten. Ich tat einfach mein Bestes und antwortete lächelnd, wann immer ich angesprochen wurde.

Als meine Schicht endlich zu Ende war, wollte ich mit niemandem mehr über irgendetwas reden.

Aber meine Wünsche zählten natürlich mal wieder nicht.

Vor meinem Haus warteten bereits zwei Frauen auf mich, und beide strahlten Verärgerung aus. Die eine kannte ich: Frannie Quinn. Und die Frau an ihrer Seite musste Quinns Mutter sein. Im grellen Licht der Außenbeleuchtung konnte ich die Frau, deren Leben eine solche Katastrophe gewesen war, gut sehen. Sie war immer noch schön, aber auf so eine Gothic-Art, die überhaupt nicht zu ihrem Alter passte. Sie war Ende vierzig, ihr Gesicht hager und ihre Augen umschattet. Ihr schwarzes Haar war bereits von grauen Strähnen durchzogen, und sie war sehr groß und schlank. Frannie trug ein ärmelloses Top, das ihren BH sehen ließ, enge Jeans und Stiefel, und ihre Mutter hatte so ziemlich das Gleiche an, wenn auch in anderen Farben. Vermutlich war Frannie zuständig dafür, was ihre Mutter anzog.

Ich parkte mein Auto neben ihnen, denn ich hatte keine Lust, sie ins Haus zu bitten. Widerwillig stieg ich aus.

»Du Miststück!«, rief Frannie leidenschaftlich. Ihr junges Gesicht war wutverzerrt. »Wie kannst du meinem Bruder das antun? Er hat so viel für dich getan!«

So konnte man es natürlich auch sehen. »Frannie«, sagte ich und versuchte, so ruhig und gelassen wie möglich zu sprechen, »was sich zwischen Quinn und mir abspielt, geht dich wirklich nichts an.«

Die Haustür ging auf, und Amelia trat auf die Veranda. »Sookie, brauchst du mich?«, fragte sie, und ich roch geradezu die Magie, die sie umgab.

»Ich komme gleich rein, einen Moment«, erwiderte ich, aber ohne sie wieder ins Haus hineinzuschicken. Mrs Quinn war eine vollblütige Wertigerin und eindeutig stärker als ich, und auch Frannie war nicht zu unterschätzen.

Mrs Quinn trat auf mich zu und sah mich fragend an. »Sind Sie die, die John liebt?«, fragte sie. »Sind Sie die, die mit ihm Schluss gemacht hat?«

»Ja, Ma'am. Es hat einfach nicht geklappt.«

»Die beiden sagen, ich muss wieder in die Wüste«, sagte sie. »An diesen Ort, wo sie all die verrückten Wergeschöpfe verwahren.«

Also doch, ein Sanatorium. »Oh, tatsächlich?«, fragte ich, um deutlich zu machen, dass ich damit nichts zu tun hatte.

»Ja«, sagte sie - und verfiel wieder in Schweigen. Was für eine Erleichterung.

Doch Frannie war noch nicht fertig mit mir. »Ich habe dir mein Auto geliehen!«, rief sie. »Und ich bin zu dir gekommen, um dich vor den Vampiren zu warnen.«

»Und dafür bin ich dir sehr dankbar.« Mir sank das Herz. Warum nur fielen mir keine beschwörenden Worte ein, die den Schmerz, der geradezu in der Luft lag, lindern konnten? »Glaub mir, ich hätte mich auch gefreut, wenn die Dinge anders gelaufen wären.« Lahm, aber ehrlich.

»Was hast du gegen meinen Bruder?«, fragte Frannie. »Er sieht gut aus, er liebt dich, er hat Geld. Er ist ein großartiger Kerl. Was ist los mit dir, warum willst du ihn nicht?«

Die unverblümte Antwort - dass ich Quinn wirklich mochte, aber nicht die zweite Geige spielen wollte aufgrund der Bedürfnisse seiner Familie - verbot sich aus zwei Gründen: Sie war unnötig verletzend, und ich hätte als Folge davon selbst schwer verletzt werden können. Mrs Quinn mochte nicht bei klarem Verstand sein, doch sie hörte mit sich stetig steigernder Erregung zu. Was würde passieren, wenn sie sich in ihre Tigergestalt verwandelte? Würde sie in den Wald rennen? Oder mich angreifen? All das schoss mir durch den Kopf. Ich musste irgendwas sagen.

»Frannie«, begann ich absichtlich sehr langsam, denn ich wusste nicht, was nun folgen sollte. »Ich habe nichts gegen deinen Bruder. Er ist wirklich ein großartiger Kerl. Aber es spricht einfach zu viel gegen uns als Paar. Ich will ihm nicht im Weg stehen und möchte, dass er eine ganz, ganz wunderbare Frau findet. Deshalb habe ich mit ihm Schluss gemacht. Glaub mir, mir tut es auch weh.« Na also, das meiste stimmte doch sogar, wenn das keine Hilfe war. Aber ich hoffte natürlich, dass Amelia ihre Finger- spitzen gespreizt hielt, um jederzeit eine ordentliche Dosis Magie zu versprühen. Und zwar mit dem richtigen Zauberspruch. Vorsichtshalber trat ich ein paar Schritte von Frannie und ihrer Mutter zurück.

Frannie stand kurz vor einem Wutausbruch, und ihre Mutter wurde immer rastloser. Amelia war unbemerkt an den Rand der Veranda getreten. Der Geruch der Magie wurde stärker. Und einen Augenblick lang schien die Nacht ihren Atem anzuhalten.

Und dann drehte Frannie sich um. »Komm, Mama«, sagte sie, und die beiden Frauen stiegen in Frannies Auto. Ich ergriff die Gelegenheit und rannte auf die Veranda hinauf. Wortlos standen Amelia und ich Seite an Seite da, bis Frannie den Motor angelassen hatte und davonfuhr.

»Aha«, meinte Amelia, »du hast also Schluss gemacht mit ihm.«

»Ja.« Ich war völlig erledigt. »Er hat zu viel Ballast«, sagte ich. Dann erschrak ich. »Mensch, dass ich mich mal bei solchen Worten erwische, hätte ich auch nie gedacht. Vor allem, wenn ich an meinen eigenen Ballast denke.«

»Na, er hatte wenigstens eine Mutter.« Amelia schien ihren hellsichtigen Abend zu haben.

»Ja, er hatte eine Mutter. Übrigens, danke, dass du aus dem Haus gekommen bist, obwohl es übel hätte ausgehen können.«

»Wofür ist eine Mitbewohnerin denn da?« Amelia drückte mich leicht an sich. »Du siehst aus, als könntest du einen Teller Suppe vertragen. Und dann ab ins Bett.«

»Ja«, sagte ich. »Das klingt richtig gut.«