Kapitel 20

Zu meiner Erleichterung wachte ich am nächsten Morgen in einem leeren Haus auf. Weder Amelias noch Octavias Gedanken verströmende Köpfe waren unter meinem Dach. Ich lag im Bett und schwelgte selig in der Ruhe. Vielleicht könnte ich meinen nächsten freien Tag mal ganz allein verbringen. Das schien zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber träumen durfte man ja noch. Nachdem ich Pläne für den Tag gemacht hatte (Sam anrufen und nach meinem Auto fragen, einige Rechnungen bezahlen, zur Arbeit gehen), stellte ich mich unter die Dusche. Ich schäumte mich ausgiebig ein und verbrauchte enorm viel heißes Wasser. Und dann lackierte ich mir noch die Finger- und Fußnägel frisch, ehe ich in eine Jogginghose und ein T-Shirt schlüpfte und mir erst einmal einen Kaffee machen ging. Die Küche war blitzblank. Amelia war wirklich ein Segen.

Der Kaffee war großartig, und der mit Blaubeermarmelade bestrichene Toast köstlich. Sogar meine Geschmacksknospen waren glücklich. Als ich meine Frühstückssachen wieder weggeräumt hatte, sang ich fast vor Freude darüber, endlich einmal allein zu sein. Zurück in meinem Zimmer machte ich mein Bett und legte etwas Make-up auf.

Natürlich klopfte es genau zu diesem Zeitpunkt an meiner Hintertür, und ich fuhr vor Schreck fast aus der Haut. Ich suchte mir ein Paar Schuhe und ging öffnen.

Tray Dawson stand vor der Tür, und er lächelte. »Sookie, Ihr Auto läuft prima«, sagte er. »Ich musste nur hier und da 'n bisschen was erneuern. War das erste Mal, dass ich Vampirasche von 'nem Unterboden kratzen musste. Aber Sie können wieder fahren.«

»Oh, danke! Wollen Sie nicht hereinkommen?«

»Nur für 'ne Minute«, sagte er. »Haben Sie eine Coke im Kühlschrank?«

»Aber sicher.« Ich holte ihm eine Coke, fragte, ob er ein paar Kekse oder ein Erdnussbuttersandwich wolle, und als er ablehnte, ging ich schnell mein Make-up beenden. Ich hatte angenommen, Dawson würde mich zu meinem Auto bringen, doch er war damit zu mir herausgefahren, so dass ich ihn wieder heimbringen musste.

Ich hatte Scheckbuch und Stift schon gezückt, als ich mich zu dem großen Mann an den Küchentisch setzte und fragte, was ich ihm schuldete.

»Keinen Cent«, sagte Dawson. »Hat alles der Neue bezahlt.«

»Der neue König?«

»Ja, der hat mich mitten in der Nacht angerufen. Hat mir die ganze Geschichte erzählt, mehr oder weniger, und mich gebeten, mir das Auto morgens gleich als Erstes anzusehen. Ich war noch wach, als er anrief, war also nicht schlimm. Und heute Morgen bin ich gleich zum Merlotte's und hab Sam gesagt, den Anruf kann er sich sparen, weil ich schon Bescheid weiß. Sam hat dann Ihr Auto in meine Werkstatt rausgefahren, und ich bin hinter ihm her. Wir haben's zusammen auf die Hebebühne geschafft und mal 'nen Blick drauf geworfen.«

Eine ganz schön lange Rede für Dawson. Ich steckte mein Scheckbuch wieder in die Handtasche, hörte zu und fragte wortlos, indem ich auf sein Glas zeigte, ob er noch eine Coke wolle. Er schüttelte den Kopf, ehe er fortfuhr. »Wir mussten 'n paar Teile wieder befestigen und den Behälter für die Scheibenwischerflüssigkeit austauschen. Ich wusste zufällig, bei welchem Rusty's Salvage sie Ersatzteile für solche Autos wie Ihrs haben, und ratzfatz war's fertig.«

Ich bedankte mich noch einmal bei ihm, dann fuhr ich Dawson raus zu seiner Reparaturwerkstatt. Seit ich das letzte Mal hier vorbeigekommen war, hatte er den Rasen vor seinem Haus gemäht. Es war ein bescheidenes, aber schön gepflegtes Holzhaus, gleich neben der großen Werkstatt, vor der sonst immer die verschiedensten Motorradeinzelteile verstreut herumgelegen hatten. Die hatte Dawson anscheinend alle irgendwo anders verstaut, und auch sein Pick-up war frisch gewaschen.

Bevor Dawson ausstieg, sagte ich: »Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie meinen Wagen repariert haben, obwohl Autos gar nicht Ihr Spezialgebiet sind.«

»Nun, ich hab's gern getan«, erwiderte Dawson und hielt kurz inne. »Aber wenn's Ihnen nichts ausmacht, hätte ich nichts dagegen, wenn Sie bei Ihrer Freundin Amelia ein gutes Wort für mich einlegen.«

»Ich habe leider keinen großen Einfluss auf Amelia«, erwiderte ich. »Aber ich werde ihr sehr gern sagen, was für ein feiner Kerl Sie sind.«

Er lächelte über das ganze Gesicht. So freudig hatte ich Dawson, glaube ich, noch nie erlebt. »Sie sieht richtig fein aus«, sagte er, und da ich keine Ahnung hatte, nach welchen Kriterien Dawson sich eine Frau aussuchte, war dies doch schon mal ein Hinweis.

»Rufen Sie sie an, ich lege ein Wort für Sie ein«, versicherte ich ihm.

»Abgemacht.«

So waren wir beide glücklich, als wir uns verabschiedeten, und Dawson ging beschwingt über den aufgeräumten Vorplatz in seine Werkstatt. Ich wusste nicht, ob Amelia etwas für Dawson übrighatte, aber ich würde mein Bestes tun und ihr zureden, ihm doch wenigstens eine Chance zu geben.

Auf dem Heimweg lauschte ich auf irgendwelche seltsamen Geräusche des Autos, doch es lief tadellos.

Amelia und Octavia kamen gerade nach Hause, als ich zur Arbeit aufbrach.

»Wie geht's dir?«, fragte Amelia mit einem wissenden Unterton.

»Prima«, sagte ich automatisch. Dann erst begriff ich, dass sie glaubte, ich wäre gestern Abend gar nicht nach Hause gekommen. Sie dachte, ich hätte mich mit jemandem amüsiert. »Hey, du erinnerst dich doch noch an Tray Dawson, oder? Du bist ihm in Maria-Stars Apartment begegnet.«

»Sicher.«

»Er wird dich anrufen. Sei nett zu ihm.«

Sie lächelte hinter mir her, als ich in mein Auto stieg.

Und endlich einmal war es langweilig und völlig normal auf der Arbeit. Terry Bellefleur stand hinter dem Tresen, weil Sam an Sonntagnachmittagen nicht gern arbeitete. Es war ein ruhiger Tag im Merlotte's. Wir machten spät auf am Sonntag und wir schlossen früh, so dass ich um sieben schon wieder nach Hause fahren konnte. Niemand tauchte auf dem Parkplatz auf, und ich konnte direkt in mein Auto steigen, ohne in ein langes seltsames Gespräch verwickelt oder angegriffen zu werden.

Am nächsten Vormittag hatte ich einiges in der Stadt zu erledigen. Ich hatte kaum noch Bargeld, also fuhr ich zum Bankautomaten und winkte auf dem Weg Tara Thornton du Rhone zu. Tara winkte lächelnd zurück. Die Ehe bekam ihr, und ich hoffte, JB und sie waren sehr viel glücklicher als mein Bruder und seine Ehefrau. Als ich die Bank wieder verließ, sah ich zu meiner Überraschung Alcide Herveaux aus der Kanzlei des altehrwürdigen Rechtsanwalts Sid Matt Lancaster herauskommen und fuhr auf den Parkplatz der Kanzlei. Alcide kam zu meinem Auto herüber.

Wäre ich nur weitergefahren, dachte ich, vielleicht hatte Alcide mich gar nicht gesehen.

Das Gespräch würde sicher schwierig werden. Aber ich sollte fair bleiben, Alcide hatte mit einer ganzen Menge zu kämpfen gehabt. Seine Freundin war brutal ermordet worden, viele andere Rudelmitglieder waren ebenfalls tot, und er hatte eine riesige Vertuschungsaktion arrangieren müssen. Aber jetzt war er Leitwolf, und er hatte seinen Sieg auf ganz traditionelle Weise gefeiert. Rückblickend war es ihm vermutlich ziemlich peinlich, in aller Öffentlichkeit Sex mit einer jungen Werwölfin gehabt zu haben, vor allem so bald nach dem Tod seiner Freundin. Es steckte ein ganzes Bündel von Gefühlen in seinen Gedanken, und er wurde rot, als er an mein Autofenster trat.

»Sookie, ich hatte noch gar keine Gelegenheit, dir für deine Hilfe in jener Nacht zu danken. Es war wirklich ein Glück für uns, dass dein Boss dich begleitet hat.«

Was für ein Glück, ja, zumal du mir sicher nicht, so wie er, das Leben gerettet hättest. »Kein Problem, Alcide«, sagte ich wunderbar ruhig und gelassen. Herrje, ich würde mir doch nicht den Tag vermiesen lassen. »Haben sich die Dinge in Shreveport wieder etwas beruhigt?«

»Die Polizei scheint keine Spur zu haben.« Er blickte sich prüfend um, ob auch niemand in Hörweite war. »Den Ort des Geschehens haben sie immer noch nicht gefunden, und inzwischen hat es viel geregnet. Wir hoffen, dass sie eher früher als später ihre Nachforschungen einstellen.«

»Und ihr alle plant noch, an die Öffentlichkeit zu treten?«

»Es wird schon bald so weit sein. Ich stehe mit Leitwölfen anderer Rudel aus der Gegend in Kontakt. Bei uns gibt's ja kein Treffen aller Anführer so wie bei den Vampiren, die für jeden Bundesstaat einen haben. Dazu sind es einfach viel zu viele Leitwölfe. Aber wir stehen kurz davor, unter den Leitwölfen jedes Bundesstaates jeweils einen Vertreter zu wählen, der dann zu einer Nationalversammlung fährt.«

»Klingt wie ein Schritt in die richtige Richtung.«

»Vielleicht bitten wir sogar die anderen Wergeschöpfe, sich uns anzuschließen. Sam beispielsweise könnte als Verbündeter zu meinem Rudel gehören, auch wenn er kein Werwolf ist. Und es wäre gut, wenn einsame Wölfe wie Dawson wenigstens zu einigen der Rudelpartys kämen... sich uns bei Vollmond anschließen oder so was.«

»Dawson scheint sein Leben zu gefallen, so wie es ist«, sagte ich. »Und ob Sam sich mit euch offiziell verbünden will, musst du mit ihm selbst besprechen.«

»Sicher. Du scheinst aber eine Menge Einfluss auf ihn zu haben. Da dachte ich, ich erwähne es mal.«

Das sah ich gar nicht so. Sam hatte eine Menge Einfluss auf mich, aber ob ich auch welchen auf ihn hatte ... da war ich mir nicht sicher. Alcide begann, von einem Fuß auf den anderen zu treten, was mir genauso wie seine Gedanken verriet, dass er weiterwollte, welche Angelegenheiten auch immer ihn nach Bon Temps geführt hatten.

»Alcide«, sagte ich einer plötzlichen Eingebung folgend, »eins würde ich gern wissen. Wer hat eigentlich die Kinder der Furnans aufgenommen?«

Alcide sah mich an, dann wandte er den Blick ab. »Libby Furnans Schwester. Sie hat drei eigene, aber sie sagte, sie würde die Kinder gern zu sich nehmen. Geld ist genug da. Und wenn es so weit ist, dass sie ins Collegealter kommen, werden wir sehen, was wir für den Sohn tun können«

»Für den Sohn?«

»Nur er gehört zum Rudel.«

Hätte ich jetzt einen Ziegelstein zur Hand gehabt, ich hätte ihn ohne Zögern gegen Alcide eingesetzt. Großer Gott. Ich holte tief Luft. Okay, um ihm nicht unrecht zu tun: Es ging nicht um das Geschlecht des Kindes. Es ging um Vollblütigkeit.

»Vielleicht reicht die Versicherungssumme auch noch für das Mädchen«, fügte Alcide hinzu, der ja kein Dummkopf war. »Dazu hat die Tante sich nicht allzu klar geäußert, aber sie weiß, dass wir helfen werden.«

»Und weiß sie, wer wir ist?«

Alcide schüttelte den Kopf. »Wir haben ihr erzählt, dass Furnan einer Geheimgesellschaft angehört habe, so was wie die Freimaurer.«

Nun schien alles gesagt zu sein.

»Viel Glück«, wünschte ich ihm, obwohl er davon schon mehr als genug gehabt hatte, ganz egal, wie man über den Tod der beiden Frauen dachte, die seine Freundinnen gewesen waren. Schließlich hatte er selbst überlebt und das Ziel seines Vaters erreicht.

»Danke, und noch einmal vielen Dank für deinen Anteil an unserem Sieg. Du bist immer noch eine Freundin des Rudels«, sagte er sehr ernst. Seine schönen grünen Augen ruhten auf meinem Gesicht. »Und du bist mir eine der liebsten Frauen auf der Welt«, fügte er unerwartet hinzu.

»Danke, das ist ein sehr schönes Kompliment, Alcide«, sagte ich und fuhr davon. Wie gut, dass ich mit ihm gesprochen hatte. Alcide war sehr viel erwachsener geworden in den letzten Wochen. Alles in allem wandelte er sich zu einem Mann, den ich noch viel mehr mochte als den alten.

Ich werde nie all das Blut und die Schreie jener entsetzlichen Nacht in dem verlassenen Industriepark in Shreveport vergessen. Aber langsam hatte ich den Eindruck, dass es doch zu etwas Gutem geführt hatte.

Als ich nach Hause zurückkam, sah ich Octavia und Amelia vor dem Haus harken. Ach, wie wunderbar. Ich hasse nichts auf der Welt so sehr wie Harken. Doch wenn ich mich nicht ein-, zweimal im Herbst dazu durchringe, bleiben auf dem Grundstück wahre Berge von Kiefernnadeln liegen.

Ich bedankte mich heute schon den ganzen Tag bei allen möglichen Leuten, und wie's aussah, war ich damit noch nicht fertig. Nachdem ich das Auto hinter dem Haus geparkt hatte, ging ich wieder nach vorne.

»Füllst du das Zeug in Säcke oder verbrennst du es?«, rief Amelia.

»Oh, ich verbrenne es, wenn nicht gerade ein Feuerverbot herrscht«, sagte ich. »Es ist unglaublich lieb von euch beiden, dass ihr mir diese Arbeit abnehmt.« Ich wollte gar nicht so überschwänglich daherkommen - aber wenn einem die lästigste aller Pflichten abgenommen wird, ist das schon ein echtes Vergnügen.

»Ich brauche Bewegung«, erklärte Octavia. »Gestern waren wir zum Einkaufen in Monroe, da bin ich auch schon ein wenig gelaufen.«

Amelia behandelte Octavia inzwischen eher wie eine Großmutter als wie eine Lehrerin, das war jedenfalls mein Eindruck.

»Hat Tray angerufen?«, fragte ich sie.

»Ja, klar.« Amelia lächelte über das ganze Gesicht.

»Er findet, dass du richtig fein aussiehst.«

Octavia lachte. »Amelia, du bist eine Femme fatale.«

Amelia wirkte glücklich. »Er ist ein interessanter Typ, finde ich.«

»Etwas älter als du«, sagte ich, nur damit sie es wusste.

Amelia zuckte die Achseln. »Das ist mir egal. Ich gehe gern mit ihm aus. Pam und ich sind doch eher Freundinnen als Geliebte, glaube ich. Und seit ich das mit dem Wurf junger Katzen herausgefunden habe, bin ich auch wieder offen für andere Männer.«

»Glaubst du wirklich, Bob hatte da eine Wahl? War das nicht eher so was wie... wie Instinkt?«, fragte ich.

Und just in diesem Augenblick kam der fragliche Kater angelaufen, um nachzusehen, warum wir alle hier draußen standen, wo es im Haus doch ein wunderbar bequemes Sofa und mehrere kuschelige Betten gab.

Octavia stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ach, zum Teufel«, murmelte sie, richtete sich kerzengerade auf und streckte die Hand aus. »Potestas mea te in formam veram tuam commutabit natura ips reaffirmet Incantationes praeviae deletae sunt«, sagte sie.

Der Kater blinzelte Octavia an und gab dann einen höchst sonderbaren Laut von sich, eine Art Kreischen, wie ich es nie zuvor aus dem Maul einer Katze gehört hatte. Und auf einmal war die Luft um den Kater neblig und dicht und diffus und voller Funken. Der Kater kreischte noch einmal. Amelia starrte das Tier mit weit aufgerissenem Mund an. Octavia blickte resigniert und ein wenig traurig drein.

Der Kater drehte und wand sich auf dem verblichenen Rasen, und plötzlich war ein menschliches Bein zu sehen.

»Großer Gott!«, rief ich und schlug die Hand vor den Mund.

Jetzt hatte er schon zwei Beine, zwei behaarte Beine, dann einen Penis, und dann wandelte sich sein ganzer Körper zu einem Mann, während er unentwegt kreischte. Und zwei entsetzliche Minuten später lag der Zauberer Bob Jessup zwar zitternd, aber wieder als vollständiger Mensch in meinem Garten. Nach einer weiteren Minute stellte er das Kreischen ein und zuckte nur noch. Auch nicht viel schöner, aber immerhin eine Entlastung für unser Trommelfell.

Und schon war Bob aufgesprungen und stürmte entschlossen auf Amelia zu, um sie zu erwürgen.

Ich packte ihn an den Schultern und versuchte, ihn von ihr wegzuziehen. Octavia sagte nur: »Sie wollen doch nicht, dass ich Sie gleich wieder verhexe, junger Mann?«

Das erwies sich als äußerst wirksame Drohung. Bob ließ sofort von Amelia ab und stand keuchend in der Kälte. »Ich fasse es nicht, dass du mir das angetan hast!«, rief er. »Ich fasse es nicht, dass ich die letzten Monate ein Kater war!«

»Wie geht es Ihnen?«, fragte ich. »Sind Sie geschwächt? Sollen wir Ihnen ins Haus helfen? Möchten Sie vielleicht etwas anziehen?«

Unbestimmt sah er an sich herunter. Er hatte schon eine Weile keine Kleidung mehr getragen, doch plötzlich wurde er rot, wirklich über und über rot. »Ja«, sagte er verlegen. »Ja, ich möchte etwas anziehen.«

»Kommen Sie.« Die Abenddämmerung brach bereits herein, als ich Bob ins Haus führte. Bob war ein schmaler Mann, und eine meiner Jogginghosen würde ihm sicher passen. Nein, dachte ich dann, Amelia war etwas größer als ich, und eine Kleiderspende von ihr wäre mehr als nur gerechtfertigt. Ich entdeckte den Wäschekorb voll frisch gewaschener Sachen, den Amelia auf die Treppe gestellt hatte, um ihn beim nächsten Mal mit hinaufzunehmen. Sieh an, da waren doch ein altes blaues Sweatshirt und eine schwarze Jogginghose. Wortlos reichte ich beides Bob, und er zog sich mit zitternden Händen an. Als ich den Wäschestapel durchsuchte, fand ich auch noch ein Paar weiße Socken. Er setzte sich aufs Sofa, um sie anzuziehen. So weit konnte ich ihn erst mal einkleiden. Seine Füße waren größer als meine oder Amelias, Schuhe waren also nicht im Angebot.

Bob schlang die Arme um sich, als fürchtete er, er könnte wieder verschwinden. Sein dunkles Haar klebte ihm am Kopf. Er blinzelte. Wahrscheinlich fragte er sich, was aus seiner Brille geworden war. Hoffentlich hatte Amelia die irgendwo verwahrt.

»Bob, möchten Sie etwas trinken?«, fragte ich.

»Ja, gerne.« Er schien Schwierigkeiten zu haben, mit den Lippen Worte zu formen, und wischte sich mit der Hand in einer komischen Geste am Mund entlang - genau wie meine alte Katze Tina, wenn sie sich die Pfote leckte, ehe sie sich zu putzen begann. Bob bemerkte, was er da tat, und ließ die Hand abrupt sinken.

Kurz dachte ich daran, ihm Milch in einer Schüssel zu bringen, aber das wäre wohl eine Beleidigung gewesen. Stattdessen holte ich ihm ein Glas Eistee. Er trank davon, verzog aber das Gesicht.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich hätte fragen sollen, ob Sie Eistee mögen.«

»Ich mag Tee«, sagte er und sah das Glas an, als würde er erst jetzt den Tee mit der Flüssigkeit in seinem Mund in Verbindung bringen. »Ich bin nur nicht mehr daran gewöhnt.«

Okay, ich weiß, das mag jetzt ziemlich schrecklich klingen, aber ich hätte Bob tatsächlich beinahe gefragt, ob er etwas Katzenfutter möchte. Amelia hatte noch einen ganzen Beutel Whiskas im Regal auf der hinteren Veranda. Gerade noch rechtzeitig biss ich mir auf die Lippe. »Wie wär's mit einem Sandwich?« Ich hatte eben keine Ahnung, worüber ich mit Bob reden sollte. Über Mäuse?

»Warum nicht.« Er schien selbst nicht zu wissen, was er als Nächstes tun sollte.

Also machte ich ihm ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade und eins aus Vollkornweizen mit Schinken, Gewürzgurke und Senf. Er aß sie beide, auch wenn er sehr langsam und vorsichtig kaute. Dann entschuldigte er sich, verschwand ins Badezimmer, schloss die Tür hinter sich und blieb eine sehr lange Zeit darin.

Amelia und Octavia kamen erst ins Haus, als Bob schon im Bad war.

»Es tut mir so leid«, versicherte Amelia.

»Mir auch«, sagte Octavia, die älter und kleiner wirkte.

»Sie wussten die ganze Zeit, wie man ihn zurückverwandeln kann?« Ich versuchte, ganz ruhig und ohne Vorwurf in der Stimme zu sprechen. »Ihr misslungener Versuch war eine List?«

Octavia nickte etwas beschämt. »Ich hatte Angst, ich dürfte nicht mehr zu Besuch kommen, wenn Sie mich nicht mehr brauchen. Dann hätte ich weiter bei meiner Nichte bleiben müssen. Aber hier ist es so viel schöner. Ich hätte es bald zugegeben, denn mich hat mein Gewissen doch sehr geplagt, seit ich hier wohne.« Sie schüttelte ihren ergrauten Kopf. »Ich bin ein schlechter Mensch, weil ich Bob länger als nötig als Kater habe leben lassen.«

Amelia war entsetzt. Offenbar war Octavias Sturz vom Sockel auch für sie eine völlig überraschende Wendung, die ihre eigene Schuld, Bobs Schicksal betreffend, weit in den Hintergrund rückte - obwohl es doch allein durch sie überhaupt erst so weit gekommen war. Amelia war eindeutig eine Frau, die ganz im Hier und Jetzt lebte.

Als Bob wieder aus dem Badezimmer kam, marschierte er schnurstracks auf uns zu. »Ich will zurück in meine Wohnung in New Orleans«, forderte er. »Wo zum Teufel bin ich hier überhaupt? Wie bin ich hierhergekommen?«

Aus Amelias Gesicht wich alle Farbe. Octavias Miene verdüsterte sich. Ich verließ auf leisen Sohlen das Wohnzimmer. Was jetzt kam, würde höchst unerfreulich werden, da die beiden Hexen Bob nun auch noch von Katrina erzählen mussten. Ich wollte lieber nicht miterleben, wie er diese schreckliche Nachricht aufnehmen würde, die noch obendrauf kam auf all das, womit er sowieso schon fertig werden musste.

Wo Bob wohl gewohnt hatte, fragte ich mich. Ob es sein Apartment noch gab? Waren seine Besitztümer noch vorhanden? Lebte seine Familie noch? Ich hörte Octavia die Stimme erheben und immer leiser werden, und dann vernahm ich eine furchtbare Stille.