Kapitel 3

Ich wusste, dass Amelia aus der Küche zurückgekommen war und neben dem Lehnsessel stand, in dem ihr Vater saß. Und ich wusste auch, dass sie wie erstarrt war. Mir selbst stockte eine Sekunde lang der Atem.

»Ich bin ihm nie begegnet«, sagte ich langsam. Ich fühlte mich, als wäre ich durch einen Dschungel gelaufen und plötzlich in eine Fallgrube gestürzt. Herrgott, was war ich froh, dass außer mir keiner hier Gedanken lesen konnte. Ich hatte niemandem, überhaupt niemandem erzählt, was ich in Hadleys Schließfach gefunden hatte, als ich es an jenem Tag in der Bank in New Orleans ausräumte. »Hadley war ja schon einige Zeit vor ihrem Tod geschieden worden.«

»Sie sollten sich irgendwann mal die Zeit nehmen, ihn zu besuchen. Ein interessanter Mann«, sagte Copley, als hätte er es überhaupt nicht darauf angelegt, dass seine Worte bei mir einschlagen wie eine Bombe. Und jetzt wartete er natürlich auf meine Reaktion. Er hatte gehofft, dass ich von dieser Ehe überhaupt nichts wusste, dass ich vollkommen überrascht sein würde. »Er ist ein erfahrener Zimmermann. Ich würde ihn gern mal wieder für mich arbeiten lassen.«

Der Lehnsessel, in dem Amelias Vater saß, war mit einem cremefarbenen Stoff bezogen, der mit einer Unzahl winziger blauer Blüten an sich windenden grünen Stängeln bestickt war. Er war immer noch schön, wenn auch bereits etwas verblichen. Ich konzentrierte mich auf das altmodische Blumenmuster des Lehnsessels, um Copley Carmichael nicht zu zeigen, wie unglaublich wütend ich war.

»Er bedeutet mir nichts, egal, wie interessant er auch sein mag«, sagte ich so gleichmütig, als könnte mich gar nichts erschüttern. »Die Ehe der beiden war aus und vorbei. Und Sie wissen sicher auch, dass Hadley bereits eine neue Beziehung hatte, als sie starb.« Ermordet wurde. Aber die Justiz verfolgte die Ermordung von Vampiren immer noch nicht, oder nur dann, wenn der Mörder ein Mensch war. Diese polizeilichen Aufgaben übernahmen die Vampire unter ihresgleichen selbst.

»Ich dachte, Sie würden zumindest das Kind einmal sehen wollen«, sagte Copley.

Gott sei Dank hatte ich diese Worte in seinen Gedanken schon ein, zwei Sekunden, bevor er sie aussprechen konnte, gelesen. Doch obwohl ich wusste, was er sagen würde, erschütterte mich seine ach-so-beiläufige Bemerkung bis ins Mark. Die Genugtuung, mir das anmerken zu lassen, würde ich ihm jedoch nicht verschaffen. »Meine Cousine Hadley war sehr wild. Sie nahm Drogen und nutzte Menschen aus und war sicher nicht die ausgeglichenste Frau auf Erden. Aber sie sah sehr gut aus und hatte Ausstrahlung, daher scharten sich immer Bewunderer um sie.« Na also, da hatte ich mitsamt Vor- und Nachteilen meine Cousine Hadley beschrieben, ohne einmal das Wort »Kind« in den Mund zu nehmen. Welches Kind überhaupt?

»Was hat Ihre Familie gesagt, als sie zu einer Vampirin wurde?«, fragte Copley.

Hadley war von Königin Sophie-Anne Leclerq höchstpersönlich herübergeholt worden. Ihr »Übertritt« war offiziell festgehalten worden. Neu geschaffene Vampire mussten sich registrieren lassen, sobald sie in ihr anderes Dasein übergetreten waren. Und sie mussten den Meister nennen, dessen Geschöpf sie waren. Es war so eine Art staatlich geregelte Geburtenkontrolle für Vampire. Keine Frage, dass das Ministerium für Vampirangelegenheiten sich jeden Vampir, der zu viele kleine Vampire machte, vorknöpfen würde.

Amelia hatte das Weinglas in Reichweite ihres Vaters abgestellt und sich wieder neben mich aufs Sofa gesetzt. »Dad, Hadley hat zwei Jahre lang im Apartment über mir gewohnt«, sagte sie. »Wir wissen natürlich, dass sie eine Vampirin war. Und ich dachte, du wolltest mir Neuigkeiten von zu Hause erzählen.«

Gott schütze Amelia. Nur mit größter Mühe konnte ich mich noch zusammenreißen, und das verdankte ich einzig meiner jahrelangen Übung in Selbstbeherrschung. Ich musste mich oft zurückhalten, wenn ich in den Gedanken irgendwelcher Leute wieder einmal die größten Abscheulichkeiten gelesen hatte.

»Entschuldigt mich, ich muss mal nach dem Essen sehen«, murmelte ich, stand auf und verließ das Wohnzimmer. Nicht zu eilig, wie ich hoffte. Na, jedenfalls versuchte ich, ganz normal zu gehen. Aber als ich in der Küche war, rannte ich gleich weiter durch die Hintertür und über die Veranda durch die Fliegengittertür hinaus auf den Hof.

Falls ich gehofft hatte, von Hadleys geisterhafter Stimme einen Rat zu empfangen, so wurde ich enttäuscht. Vampire gehen nach ihrem endgültigen Tod nicht als Geister um, soweit ich weiß. Einige Vampire glauben sogar, sie hätten keine Seele. Wer weiß. Das liegt wohl ganz bei Gott. Tja, hier rannte ich nun also herum und führte Selbstgespräche, nur damit ich nicht über Hadleys Kind nachdenken musste und über die Tatsache, dass ich von diesem Kind noch nie etwas gehört hatte.

Vielleicht lag es auch bloß an Copley Carmichaels Art. Vielleicht musste er jedem zeigen, wie unerschöpflich sein Wissen doch war, um dadurch den Leuten, mit denen er zu tun hatte, seine Macht zu demonstrieren.

Aber ich musste wieder hineingehen, schon wegen Amelia. Ich wappnete mich innerlich, knipste mein immerwährendes Lächeln an - auch wenn es diesmal etwas schief und nervös ausfiel -, und schon war ich wieder im Wohnzimmer, setzte mich zu Amelia und strahlte in die Runde. Erwartungsvoll sahen sie mich an. Erst da bemerkte ich, dass das Gespräch anscheinend stockte.

»Ach«, sagte Copley plötzlich. »Jetzt hätte ich fast vergessen, dir etwas zu erzählen, Amelia. Letzte Woche hat jemand für dich angerufen, eine Frau, die ich nicht kenne.«

»Wie heißt sie denn?«

»Oh, Moment. Mrs Beech hatte es doch aufgeschrieben, bevor sie durchstellte. Ophelia? Octavia? Ja, Octavia Fant. Das ist es. Ein ungewöhnlicher Name.«

Amelia sah aus, als würde sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Ihre Gesichtsfarbe wechselte schlagartig, und sie musste sich mit der Hand an der Sofalehne festhalten. »Bist du sicher?«, fragte sie.

»Ja, ganz sicher. Ich habe ihr deine Handynummer gegeben und ihr gesagt, dass du in Bon Temps wohnst.«

»Danke, Dad«, krächzte Amelia. »Ah, ich wette, das Essen ist gleich fertig. Ich gehe mal schnell nachschauen.«

»Hat Sookie nicht gerade erst nach dem Essen gesehen?« Er setzte das breite, nachsichtige Lächeln eines Mannes auf, der denkt, wie furchtbar albern Frauen doch sein können.

»Oh, stimmt, aber jetzt dauert's nicht mehr lange«, sagte ich, während Amelia so schnell aus dem Zimmer flitzte, wie ich es vorhin gern getan hätte. »Und es wäre doch schade, wenn es anbrennt. Amelia hat sich so viel Mühe gegeben.«

»Kennen Sie diese Ms Fant?«, fragte Copley.

»Nein, dazu kann ich nichts sagen.«

»Amelia wirkt ja beinahe verängstigt. Es versucht doch nicht irgendjemand, meiner Tochter etwas anzutun, oder?«

Er war ein ganz anderer Mann, als er diese Worte aussprach, ein Mann, der mir beinahe sympathisch war. Egal, wie er sonst sein mochte - Copley Carmichael war auch ein Vater, der nicht wollte, dass irgendwer seiner Tochter wehtat. Keiner außer ihm selbst jedenfalls.

»Das glaube ich nicht.« Ich wusste, wer Octavia Fant war, weil ich es in Amelias Gedanken gelesen hatte. Doch solange sie selbst es nicht laut aussprach, konnte ich mich dazu nicht äußern. Manchmal vermischten sich die Dinge, die ich laut ausgesprochen hörte, mit denen, die ich nur in meinem Kopf wahrnahm, und alles geriet mir durcheinander - einer der Gründe, warum viele mich für ziemlich verrückt hielten. »Sie sind Bauunternehmer, Mr Carmichael, nicht wahr?«

»Copley, bitte. Ja, unter anderem.«

»Ihr Geschäft boomt zurzeit sicher.«

»Selbst wenn meine Firma zweimal so groß wäre, kämen wir mit den Aufträgen nicht hinterher«, sagte er. »Aber es tut mir in der Seele weh, New Orleans so zerstört zu sehen.«

Seltsam, aber das glaubte ich ihm aufs Wort.

Das Abendessen verlief recht angenehm. Falls Amelias Vater irritiert darüber war, dass wir in der Küche aßen, so ließ er es sich nicht anmerken. Da er Bauunternehmer war, bemerkte er natürlich, dass der Küchenanbau des Hauses ganz neu war, und so erzählte ich ihm von dem Brand - das hätte schließlich jedem zustoßen können, oder? Den Teil mit dem Brandstifter ließ ich trotzdem lieber weg.

Copley schien das Essen zu schmecken, und er lobte Amelia, die sich mächtig darüber freute. Er trank dazu noch ein Glas Wein, aber nicht mehr, und aß auch nicht übermäßig viel. Amelia und er unterhielten sich über Freunde der Familie und einige ihrer Verwandten, so dass ich meinen eigenen Gedanken nachhängen konnte. Und Nachdenkenswertes gab es genug.

Als ich nach Hadleys Tod in der Bank ihr Schließfach öffnete, fand ich ihre amtliche Heiratserlaubnis und ihr Scheidungsurteil darin sowie einige persönliche Dinge: ein paar Fotos, die Todesanzeige ihrer Mutter und verschiedene Schmuckstücke. Und dann war da noch eine Locke feinen schwarzen Haars gewesen, die von etwas Tesafilm zusammengehalten wurde. Sie hatte in einem kleinen Briefumschlag gelegen. Ich weiß noch, dass ich mich wunderte, wie seidig das Haar war. Aber eine Geburtsurkunde hatte in dem Schließfach nicht gelegen und auch kein anderer Hinweis darauf, dass Hadley ein Kind bekommen hatte.

Bis zu diesem Tag hatte ich keinen klar umrissenen Grund gehabt, Kontakt zu Hadleys Exehemann aufzunehmen. Ich hatte ja nicht einmal etwas von seiner Existenz geahnt, ehe ich das Schließfach öffnete. In ihrem Testament hatte sie ihn nicht erwähnt, und ich war ihm nie begegnet. Er war auch nicht zu mir gekommen, als ich in New Orleans war.

Warum hatte sie das Kind in ihrem Testament nicht erwähnt? Das würde doch jede Mutter tun. Aber sie hatte Mr Cataliades und mir, obwohl sie uns zu ihren Nachlassverwaltern bestimmt hatte, ja auch nicht gesagt, dass sie überhaupt ein Kind hatte und es dem Vater überlassen hatte. Okay, jedenfalls hatte sie mir nichts davon gesagt.

»Sookie, reichst du mir bitte die Butter?«, bat Amelia, und an ihrem Ton erkannte ich, dass sie nicht zum ersten Mal fragte.

»Oh, natürlich«, sagte ich. »Kann ich jemandem noch etwas zu trinken einschenken, ein Glas Wasser vielleicht oder noch etwas Wein?«

Sie lehnten beide ab.

Nach dem Abendessen bot ich an, den Abwasch zu machen, was Amelia nach kurzem Zögern annahm. Ein bisschen Zeit sollte sie schon noch allein mit ihrem Vater verbringen, auch wenn Amelia die Aussicht darauf gar nicht behagte.

Relativ ungestört werkelte ich vor mich hin: Ich wusch ab, trocknete ab und räumte alles zurück in die Schränke. Ich wischte über die Arbeitsflächen, nahm das Tischtuch vom Tisch und stopfte es gleich in die Waschmaschine auf der geschlossenen hinteren Veranda. Danach ging ich in mein Zimmer und las eine Weile, auch wenn ich nicht sehr viel mitbekam von dem, was in meinem Buch passierte. Schließlich legte ich es beiseite und zog eine Schachtel aus meiner Unterwäschekommode. In dieser Schachtel befand sich alles, was ich in Hadleys Schließfach gefunden hatte. Ich las noch einmal die Namen auf ihrer amtlichen Heiratserlaubnis. Ganz spontan rief ich die Auskunft an.

»Ich brauche die Nummer eines gewissen Remy Savoy«, sagte ich.

»In welcher Stadt?«

»New Orleans.«

»Der Anschluss ist abgemeldet.«

»Dann versuchen Sie es in Metairie.«

»Nichts, Ma'am.«

»Okay, danke.«

Seit Katrina waren natürlich eine Menge Leute weggezogen, und viele für immer. Denn diejenigen, die vor dem Hurrikan geflohen waren, hatten selten einen Grund zurückzukehren. Viel zu oft waren ihre Häuser zerstört, und ihre Arbeitsplätze gab es auch nicht mehr.

Wie sollte ich da Hadleys Exmann finden?

Eine höchst unwillkommene Lösung schoss mir durch den Kopf. Bill Compton war ein Computergenie. Vielleicht konnte er diesen Remy Savoy auftreiben und herausfinden, wo er wohnte und ob das Kind bei ihm lebte.

Ich ließ mir den Gedanken durch den Kopf gehen, als handelte es sich um einen Wein, den ich verkosten und auf seine Güte prüfen musste. Wenn ich an unseren Wortwechsel auf der Hochzeit am Abend zuvor dachte, konnte ich mir nicht vorstellen, Bill um einen Gefallen zu bitten, auch wenn er genau der Richtige wäre für diese Aufgabe.

Plötzlich bekam ich so große Sehnsucht nach Quinn, dass ich beinahe in die Knie ging. Quinn war ein kluger und weit gereister Mann, er hätte bestimmt einen ganz hervorragenden Rat für mich gehabt. Wenn ich ihn denn je wiedersehen würde.

Ich versuchte, den Gedanken abzuschütteln. Ein Wagen fuhr auf den Parkplatz vor dem Haus. Tyrese Marley kam, um seinen Boss abzuholen. Ich richtete mich auf und trat mit dem üblichen Lächeln im Gesicht aus meinem Zimmer.

Die Haustür war schon offen, und Tyrese, der darin stand, füllte sie beinahe vollständig aus. Copley beugte sich vor und drückte seiner Tochter einen Kuss auf die Wange, was Amelia ohne den Anflug eines Lächelns hinnahm. Der Kater Bob schlüpfte durch die Tür herein und setzte sich neben sie. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Amelias Vater an.

»Du hast eine Katze, Amelia? Ich dachte, du kannst die Viecher nicht ausstehen.«

Bobs Blick wanderte zu Amelia. Niemand kann einen so anstarren wie eine Katze.

»Dad! Das ist doch Jahre her! Dies hier ist Bob, er ist wunderbar.« Amelia nahm den schwarz-weißen Kater auf den Arm und drückte ihn an ihre Brust. Selbstzufrieden sah Bob sie an und begann zu schnurren.

»Hmmm. Nun, ich werde dich anrufen. Pass bitte auf dich auf. Es gefällt mir gar nicht, dass du dich hier oben am anderen Ende von Louisiana aufhältst.«

»Es sind doch nur ein paar Autostunden«, sagte Amelia und klang dabei wie eine Siebzehnjährige.

»Auch wieder wahr«, erwiderte er und versuchte, seinen Worten eine Art reumütigen Charme zu verleihen. Da würde er wohl noch etwas üben müssen. »Sookie, danke für den schönen Abend!«, rief er mir über die Schulter seiner Tochter zu.

Marley war im Merlotte's gewesen und hatte versucht, etwas über mich in Erfahrung zu bringen, das las ich deutlich in seinen Gedanken. Es war ein ziemliches Sammelsurium an Informationen zusammengekommen. Er hatte mit Arlene geredet (was schlecht war), mit unserem neuen Koch und unserem Küchenjungen (was gut war) sowie mit einigen der Gäste. Tja, er würde seinem Boss wohl einen recht gemischten Bericht erstatten.

Die Lincoln-Limousine war kaum abgefahren, als Amelia auch schon erleichtert aufs Sofa sank. »Gott sei Dank, er ist weg«, seufzte sie. »Weißt du jetzt, was ich meine?«

»Ja«, gab ich zu und setzte mich neben sie. »Er ist ein cleverer Macher und Strippenzieher, was?«

»Immer schon gewesen«, sagte Amelia. »Er versucht, den Kontakt zwischen uns nicht abreißen zu lassen, aber unsere Vorstellungen passen überhaupt nicht zusammen.«

»Dein Vater liebt dich.«

»Das tut er. Aber er liebt auch die Macht und die Kontrolle.«

Das war noch harmlos ausgedrückt.

»Und er weiß nicht, dass du eine eigene Art Macht besitzt.«

»Nein, er glaubt es einfach nicht«, sagte Amelia. »Er behauptet, er sei ein strenggläubiger Katholik - dabei stimmt das überhaupt nicht.«

»So schlecht ist das doch gar nicht«, erwiderte ich. »Wenn er an deine Hexenkünste glauben würde, müsstest du vermutlich alle möglichen Dinge für ihn tun. Und manches davon würdest du ganz sicher nicht tun wollen, wetten?« Ich hätte mir auf die Zunge beißen mögen, aber Amelia war nicht beleidigt.

»Du hast recht«, sagte sie. »Ich würde ihm nicht helfen wollen, seine Angelegenheiten durchzusetzen. Das kann er auch ohne meine Hilfe. Wenn er mich nur in Ruhe lassen würde, dann wäre ich schon zufrieden. Aber er versucht ständig, meinen Lebensstandard nach seinen Vorstellungen zu verbessern. Dabei komme ich doch bestens klar.«

»Wer ist diese Frau, die dich in New Orleans angerufen hat?« Auch wenn ich's schon wusste, ich musste wenigstens so tun als ob. »Fant hieß sie, oder?«

Amelia schauderte. »Octavia Fant ist meine Mentorin«, erzählte sie. »Ihretwegen habe ich New Orleans verlassen. Mein Hexenzirkel würde mir etwas Schreckliches antun, wenn das mit Bob herauskäme. Octavia ist das Oberhaupt meines Zirkels. Oder dessen, was davon übrig ist. Wenn überhaupt etwas übrig ist.«

»Au weia.«

»Ja, so ein Mist. Jetzt werde ich wohl den Preis zahlen müssen.«

»Glaubst du, sie kommt hierher?«

»Ich wundere mich, dass sie noch nicht hier ist.«

Trotz ihrer Angst war Amelia nach Katrina vor Sorge um ihre Mentorin fast verrückt geworden. Sie hatte größte Anstrengungen unternommen, um etwas über ihren Verbleib zu erfahren, auch wenn sie selbst von ihr nicht gefunden werden wollte.

Amelia fürchtete sich vor allem deshalb vor Entdeckung, weil Bob immer noch ein Kater war. Ihr Herumdilettieren in Transformationsmagie galt deshalb als äußerst verwerflich, hatte sie mir erklärt, weil sie noch Praktikantin war oder so ähnlich ... kaum mehr als eine Anfängerin jedenfalls. Über die Hierarchie in der Hexenwelt ließ Amelia sich nie genauer aus.

»Hast du deinem Vater denn nicht gesagt, dass er nicht verraten soll, wo du dich aufhältst?«

»Wenn ich das getan hätte, wäre er so neugierig geworden, dass er mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hätte, um herauszufinden, warum. Ich hätte nie gedacht, dass Octavia ihn anruft. Sie weiß doch, wie schwierig unsere Beziehung ist.«

»Schwierig« war wirklich sehr freundlich ausgedrückt.

»Da wir gerade von Telefonaten sprechen, ich muss dir noch was sagen. Das hatte ich ganz vergessen!«, rief Amelia plötzlich. »Eric hat angerufen.«

»Wann?«

»Oh, gestern Abend. Ehe du nach Hause gekommen bist. Aber du hast so übergesprudelt vor Neuigkeiten, da habe ich's glatt vergessen. Und du hattest ja gesagt, du wolltest ihn sowieso noch anrufen. Ach, ich war einfach so fertig, dass mein Vater kommt. Tut mir echt leid, Sookie. Das nächste Mal schreibe ich es auf, versprochen.«

Es war nicht das erste Mal, dass Amelia vergaß, mir einen Anruf auszurichten. Ich war zwar nicht gerade erfreut, aber Schwamm drüber, unser Tag war anstrengend genug gewesen. Hoffentlich hatte Eric herausgefunden, was aus dem Geld geworden war, das die Königin mir für meine Dienste in Rhodes schuldete. Ich hatte noch immer keinen Scheck erhalten, wollte sie jetzt, da sie so schwer verletzt war, aber auch nicht nerven. Ich ging in mein Zimmer und rief im Fangtasia an, wo es sicher bereits hoch herging. Der Club war jede Nacht geöffnet, außer montags.

»Fangtasia, die Bar mit Biss«, sagte Clancy.

Na, großartig. Der Vampir, den ich am wenigsten leiden konnte. Also wählte ich meine Worte besonders sorgsam. »Clancy, hier ist Sookie. Eric hat mich gebeten, ihn zurückzurufen.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass Clancy überlegte, ob er mein Gespräch mit Eric noch irgendwie verhindern könnte. Seine Antwort schien »Nein« zu lauten, denn plötzlich sagte er: »Einen Moment.« Eine kurze Pause folgte, in der ich mir Strangers in the Night anhören durfte. Dann war Eric am Apparat. »Hallo?«, sagte er.

»Entschuldige, dass ich jetzt erst zurückrufe. Ich habe deine Nachricht eben erst erhalten. Hast du wegen des Geldes angerufen?«

Ein kurzes Schweigen. »Nein, wegen etwas vollkommen anderem. Würdest du morgen Abend mit mir ausgehen?«

Ich starrte den Telefonhörer an. Und weil mir nichts Vernünftigeres einfallen wollte, sagte ich schließlich: »Eric, ich bin mit Quinn zusammen.«

»Und wann hast du ihn zuletzt gesehen?«

»In Rhodes.«

»Und wann hast du zuletzt von ihm gehört?«

»In Rhodes.« Mein Ton war spröde, ich wollte mit Eric nicht über dieses Thema reden. Aber wir hatten so oft das Blut des anderen gehabt, dass es ein viel stärkeres Band zwischen uns gab als mir lieb war. Ehrlich gesagt, hasste ich diese Verbindung, doch wir waren gezwungen gewesen, sie einzugehen. Und nun fühlte ich mich in Erics Gesellschaft immer wunderbar schön und glücklich - und konnte rein gar nichts dagegen tun.

»Ich finde, einen Abend könntest du mir schon schenken«, sagte Eric. »Es klingt nicht gerade, als hätte Quinn all deine Termine belegt.«

»Das ist gemein.«

»Quinn ist es, der gemein ist. Erst verspricht er dir herzukommen, und dann hält er nicht Wort.« Es lag etwas Düsteres in Erics Stimme, ein wütender Unterton.

»Weißt du, ob ihm etwas passiert ist?«, fragte ich. »Weißt du, wo er ist?«

Ein bedeutungsvolles Schweigen. »Nein«, sagte Eric dann sehr sanft. »Das weiß ich nicht. Aber es ist jemand in der Stadt, der dich treffen möchte. Und ich habe versprochen, es zu arrangieren. Ich möchte dich selbst nach Shreveport fahren.«

Es ging also gar nicht um jene Art der Verabredung.

»Meinst du diesen Jonathan? Er kam auf die Hochzeit und hat sich selbst vorgestellt. Besonders viel mache ich mir nicht aus ihm, muss ich sagen. Aber ich will niemanden beleidigen, falls er ein Freund von dir sein sollte.«

»Jonathan? Welcher Jonathan?«

»Ich rede von diesem asiatischen Typen - vielleicht ein Thailänder -, der gestern Abend auf der Bellefleur-Hochzeit war. Er hat gesagt, er sei gerade in Shreveport und habe schon so viel von mir gehört, dass er mich kennenlernen wolle. Und er hat auch gesagt, dass er wie jeder gute kleine Vampir auf Besuch mit deiner Erlaubnis hier sei.«

»Ich kenne ihn nicht«, sagte Eric, jetzt in sehr viel schärferem Ton. »Ich werde hier im Fangtasia mal fragen, ob ihn jemand gesehen hat. Und ich spreche die Königin auch auf dein Geld an, obwohl sie zurzeit... nicht sie selbst ist. Wirst du jetzt bitte tun, worum ich dich gebeten habe?«

Ich schnitt dem Telefon eine Grimasse. »Schätze schon. Mit wem soll ich mich denn treffen? Und wo?«

»Mit wem du dich triffst, muss vorerst ein Geheimnis bleiben«, sagte Eric. »Und was das Wo betrifft: Wir werden in ein schickes Restaurant gehen. Aber in eins, das man in legerer Kleidung, wie man das heutzutage nennt, betreten darf.«

»Du isst doch gar nichts. Was willst du dort?«

»Ich stelle dich vor und bleibe so lange, wie du mich brauchst.«

Ein belebtes Restaurant also, na gut. »Okay«, sagte ich ziemlich ungnädig. »Ich bin nach der Arbeit so um sechs, halb sieben zu Hause.«

»Dann hole ich dich um sieben ab.«

»Lass mir Zeit bis halb acht. Ich muss mich ja noch umziehen.« Ich wusste, dass ich mürrisch klang, aber genauso fühlte ich mich eben. Ich hasste diese Geheimnistuerei.

»Wenn du mich siehst, wirst du dich gleich besser fühlen«, sagte Eric.

Verdammt, damit hatte er auch noch recht.