Kapitel 8

Am nächsten Morgen erwachte ich mit schweren Lidern. Ich fühlte mich benommen und hatte Kopfschmerzen. Es war wohl das, was man einen Katzenjammer aufgrund von emotionalem Stress nennt. So konnte es nicht weitergehen. Noch so eine Nacht wie diese würde ich nicht durchstehen. Sollte ich Alcide anrufen und ihn fragen, ob er mit seinen ... äh, Soldaten in Feldbetten schlief? Vielleicht würden sie mir ja eine Ecke überlassen? Doch allein schon die Vorstellung, für meine Sicherheit so weit gehen zu müssen, machte mich wütend.

Einen Gedanken bekam ich gar nicht mehr aus dem Kopf: Wenn Quinn hier wäre, müsste ich nicht in meinem eigenen Haus Angst haben. Und einen Moment lang machte ich mir um meinen verschollenen verletzten Freund nicht nur Sorgen, sondern ich war auch total sauer auf ihn.

Ich war sowieso in der Stimmung, auf irgendwen sauer zu sein. Meine Gefühle lagen schon viel zu lange blank.

Klingt wie der Beginn eines richtig tollen Tages, was?

Amelia? Fehlanzeige. Es war wohl davon auszugehen, dass sie die Nacht mit Pam verbracht hatte. Nein, ich hatte kein Problem damit, dass die beiden eine Affäre begannen. Ich hätte Amelia nur gern bei mir im Haus gehabt, weil ich allein war und Angst hatte. Ihre Abwesenheit hinterließ einen weiteren Fleck in meiner Seelenlandschaft.

Wenigstens war es etwas kühler an diesem Morgen. Man spürte deutlich, dass der Herbst nahte, er schlummerte bereits im Erdboden, und bald würden die ersten Blätter, Gräser und Blumen ihm zum Opfer fallen. Ich zog mir einen Pullover übers Nachthemd und ging auf die vordere Veranda hinaus, um dort meinen ersten Becher Kaffee zu trinken. Eine Weile hörte ich den Vögeln zu, die nicht mehr so fröhlich lärmten wie im Frühling, doch ihr Gesang und Gezwitscher versicherten mir, dass an diesem Morgen nichts Ungewöhnliches in den Wäldern lauerte. Ich trank meinen Kaffee und versuchte, den Tag zu planen, doch irgendwie rannte ich immer wieder gegen eine geistige Sperre. Es war schwierig, Pläne zu machen, wenn man den Verdacht nicht loswurde, dass einen irgendwer ermorden wollte. Falls ich meine Gedanken doch noch irgendwie von meinem vermutlich kurz bevorstehenden Tod lösen konnte, müsste ich dringend die Treppe staubsaugen, jede Menge Wäsche waschen und in die Bücherei gehen. Und falls ich all diese Hausarbeiten überleben würde, musste ich zur Arbeit.

Wo Quinn wohl war?

Wann würde ich wieder etwas von meinem neuen Urgroßvater hören?

Ob in der letzten Nacht noch weitere Werwölfe gestorben waren?

Wann würde mein Telefon klingeln?

Da auf meiner vorderen Veranda nichts weiter geschah, ging ich ins Haus hinein und spulte mein allmorgendliches Programm ab. Als ich in den Spiegel sah, tat es mir leid, dass ich mir so viel Mühe gegeben hatte. Ich sah weder erholt noch erfrischt aus, sondern wie eine Frau voller Sorgen, die kein Auge zugemacht hatte. Mit etwas Concealer verdeckte ich die Augenringe, und dann trug ich noch mehr Lidschatten und Rouge auf, um meinem Gesicht überhaupt etwas Farbe zu verleihen. Danach sah ich aus wie ein Clown, und so wischte ich das meiste wieder ab. Nachdem ich Bob gefüttert und ordentlich ausgeschimpft hatte wegen des Wurfs junger Katzen, sprang ich ins Auto und fuhr in die Stadtbücherei.

Die Bücherei in Bon Temps, die zum Bibliotheksverbund des Landkreises Renard gehörte, war in einem alten, braunen Backsteingebäude untergebracht. Unsere Bibliothekarin hatte an der Louisiana Tech in Ruston studiert und war eine tolle Frau Ende dreißig namens Barbara Beck. Ihr Ehemann Alcee war Detective bei der Polizei in Bon Temps, und ich konnte nur hoffen, dass Barbara nicht ahnte, wozu er fähig war. Alcee Beck war ein harter Typ, der Gutes tat... manchmal. Denn des Öfteren tat er auch so einiges Böses. Alcee Beck hatte Glück gehabt, als Barbara ihn heiratete, und das wusste er auch.

Barbara Beck war die einzige Vollzeitangestellte in der Bücherei von Bon Temps, und ich war nicht überrascht, sie allein dort anzutreffen. Sie sortierte gerade Bücher in die Regale ein. Barbara trug stets weite bunte Stricksachen mit farblich dazu passenden Schuhen. Und sie hatte ein Faible für klobigen, auffälligen Schmuck.

»Guten Morgen, Sookie«, sagte sie und schenkte mir ein herzliches Lächeln.

»Barbara«, erwiderte ich und versuchte zurückzulächeln. Sie bemerkte gleich, dass ich nicht ich selbst war heute, behielt ihre Gedanken aber für sich. Okay, nicht so ganz, da ich ja meine kleine Behinderung hatte, aber sie sprach sie wenigstens nicht laut aus. Ich legte die Bücher, die ich zurückgeben wollte, auf den dafür bestimmten Tisch und sah die Regale nach neu angeschafften Titeln durch. Das meiste waren Ratgeber mit Tipps zur Selbsthilfe. Wenn man bedachte, wie beliebt diese Bücher waren und wie oft sie ausgeliehen wurden, musste eigentlich jeder in Bon Temps mittlerweile perfekt sein.

Ich zog zwei neue Liebesromane heraus, ein paar Krimis und sogar einen der Science-Fiction-Romane, die ich nur selten las. (Wohl weil ich mein reales Leben schon verrückter fand als alles, was ein Science-Fiction-Autor sich ausdenken konnte.) Als ich mir gerade das Buch eines Autors ansah, von dem ich noch nie etwas gelesen hatte, hörte ich im Hintergrund ein dumpfes Geräusch und registrierte, dass jemand die Bücherei durch den Hintereingang betreten hatte. Ich kümmerte mich nicht darum, hier bei uns in Bon Temps kamen manche Leute grundsätzlich durch die Hintertür.

Erst als Barbara einen seltsamen Laut von sich gab, sah ich auf. Der Mann hinter ihr war sehr groß, sicher 1,95 Meter, und spindeldürr. Er hielt ein großes Messer in der Hand und hatte es Barbara an die Kehle gesetzt. Einen Moment lang hielt ich ihn für einen Räuber und fand es aberwitzig, dass er eine Bücherei ausraubte. Wollte er etwa die Verzugsgebühren für zu spät abgegebene Bücher klauen?

»Klappe halten!«, zischte er und ließ lange scharfe Reißzähne sehen. Ich erstarrte. Barbara hatte das Stadium der Angst schon hinter sich. Gleich würde sie in Panik ausbrechen. Doch ich konnte noch die Gedanken eines weiteren lebenden Hirns im Gebäude wahrnehmen.

Eine zweite Person war auf leisen Sohlen durch die Hintertür hereingekommen.

»Detective Beck bringt Sie um, wenn Sie seiner Frau etwas antun!«, rief ich mit lauter Stimme. Und voller Überzeugung. »Sie sind so gut wie tot.«

»Wer ist das? Kenn ich nicht. Ist mir auch egal«, sagte der große Mann.

»Sollte dir aber nicht egal sein, du Wichser!«, rief Alcee Beck, der sich von hinten angeschlichen hatte. Er hielt dem Mann seine Pistole an den Kopf. »Und jetzt lass meine Frau los und runter mit dem Messer.«

Aber der Reißzahntyp dachte gar nicht daran. Er drehte sich um, schubste Barbara Alcee in die Arme und rannte mit erhobenem Messer auf mich zu.

Aufs Geratewohl schleuderte ich ihm einen gebundenen Nora-Roberts-Roman entgegen, der ihn direkt am Kopf traf, und stellte ihm ein Bein. Benommen vom Schlag des Buches stolperte er, wie gehofft, über mein Bein.

Und fiel in sein eigenes Messer, was ich nicht geplant hatte.

Augenblicklich herrschte Stille in der Bücherei, nur Barbaras Keuchen war zu hören. Alcee Beck und ich starrten auf die Blutlache, die sich unter dem Mann ausbreitete.

»Au weia«, sagte ich leise.

»Was für ... eine Scheiße!«, rief Alcee Beck. »Wo haben Sie denn so zu werfen gelernt, Sookie Stackhouse?«

»Beim Softball«, sagte ich, und das war die reine Wahrheit.

Kein Wunder, dass ich an diesem Nachmittag zu spät zur Arbeit kam. Ich war noch müder als am Morgen, ging aber davon aus, dass ich den Tag überleben würde. Bislang hatte das Schicksal zweimal verhindert, dass ich ermordet wurde. Ich musste annehmen, dass auch der Reißzahntyp als Mörder auf mich angesetzt worden war und es genauso vermasselt hatte wie der falsche Streifenpolizist auf der Autobahn. Vielleicht hätte ich beim dritten Mal nicht mehr so viel Glück. Wie standen die Chancen, dass noch mal ein Vampir eine Revolverkugel für mich abfing oder Alcee Beck seiner Frau aus purem Zufall ihr Lunchpaket brachte, das sie zu Hause in der Küche vergessen hatte? Ziemlich schlecht, oder? Aber was soll's, zweimal hatte ich immerhin schon Glück gehabt.

Wovon auch immer die Polizei offiziell ausging (ich kannte den Kerl nicht, und keiner konnte das Gegenteil behaupten - außerdem hatte er Barbara angegriffen, nicht mich), jetzt hatte Alcee Beck mich auf dem Radar. Mit seinem präzisen Blick für Situationen hatte er sofort begriffen, dass der Reißzahntyp es eigentlich auf mich abgesehen hatte. Barbara war für den Kerl nur ein Mittel gewesen, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Das würde Alcee Beck mir nie verzeihen, auch wenn es gar nicht meine Schuld war. Und außerdem hatte ich das Buch mit verdächtig starkem Drall und sehr gezielt geworfen.

An Alcees Stelle hätte ich vielleicht genauso gedacht.

Und jetzt war ich also im Merlotte's, lief wie benommen durch die Bar und fragte mich, wohin ich gehen und was ich tun sollte und warum Patrick Furnan so durchgedreht war. Woher kamen bloß all diese fremden Leute? Den Werwolf, der Maria-Stars Apartment aufgebrochen hatte, kannte ich nicht. Eric war von einem Kerl angeschossen worden, der erst seit ein paar Tagen in Furnans Werkstatt gearbeitet hatte. Und den Reißzahntyp hatte ich nie zuvor gesehen, und der gehörte nun wirklich zu den unvergesslichen Typen.

Die ganze Situation ergab überhaupt keinen Sinn.

Dann hatte ich plötzlich eine Idee. Ich bat Sam, kurz telefonieren zu dürfen, die Gäste an meinen Tischen waren gerade versorgt und zufrieden, und er nickte. Den ganzen Abend über hatte er mich schon eingehend gemustert, als wollte er mich jeden Augenblick zur Rede stellen. Jetzt bekam ich endlich eine Verschnaufpause. Ich ging in Sams Büro, schlug das Telefonbuch von Shreveport auf, suchte nach Patrick Furnans Privatnummer und rief an.

»Hallo?«

Ich erkannte die Stimme.

»Patrick Furnan?«, fragte ich, nur um sicherzugehen.

»Am Apparat.«

»Warum versuchen Sie, mich zu ermorden?«

»Was? Wer spricht da?«

»Ach, hören Sie auf. Sookie Stackhouse. Warum tun Sie das?«

Ein langes Schweigen.

»Versuchen Sie, mich hereinzulegen?«, fragte er.

»Was? Glauben Sie etwa, das Telefon wird abgehört? Ich will wissen, warum. Ich habe Ihnen nie etwas getan. Ich gehe nicht mal mehr mit Alcide aus. Aber Sie versuchen, mich auszuschalten, als hätte ich irgendeine Macht. Sie haben die arme Maria-Star töten lassen. Und Christine Larrabee. Was hat es damit auf sich? Ich bin doch vollkommen unwichtig.«

»Glauben Sie wirklich, dass ich hinter all dem stecke?«, fragte Patrick Furnan langsam. »Dass ich weibliche Rudelmitglieder ermorden lasse? Dass ich Sie umbringen will?«

»Ja, das glaube ich.«

»Ich bin nicht der Täter. Das von Maria-Star habe ich in der Zeitung gelesen. Und Christine Larrabee ist ebenfalls tot?« Er klang fast verängstigt.

»Ja«, erwiderte ich mit genauso unsicherer Stimme wie er. »Und irgendwer hat zweimal versucht, mich zu ermorden. Ich fürchte, dass in diesem Kreuzfeuer auch völlig Unschuldige ihr Leben lassen könnten. Und ich will natürlich auch nicht sterben.«

»Meine Frau ist gestern verschwunden«, sagte Furnan. Kummer und Angst schwangen in seiner Stimme mit. Und Wut. »Alcide hat sie, und dafür muss der Scheißkerl bezahlen.«

»So was würde Alcide nie tun«, sagte ich. (Okay, wissen konnte ich das nicht, ich war bloß ziemlich sicher, dass Alcide so was nie tun würde.) »Sie behaupten also, Sie hätten die Ermordung von Maria-Star und Christine nicht in Auftrag gegeben. Und was ist mit den Angriffen auf mich?«

»Damit habe ich nichts zu tun. Warum sollte ich Frauen angreifen? Wir würden nie eine vollblütige Werwölfin töten. Außer Amanda vielleicht«, fügte Furnan taktlos hinzu. »Wenn wir vorhätten, irgendwen zu ermorden, dann die Männer.«

»Sie und Alcide sollten dringend miteinander reden, finde ich. Er hat Ihre Frau nicht. Er glaubt, dass Sie völlig durchgedreht sind, weil Sie Frauen angreifen lassen.«

Wieder folgte ein langes Schweigen. Schließlich sagte Furnan: »Sie haben recht, wir sollten miteinander reden. Es sei denn, Sie haben sich das alles nur ausgedacht, um mich in eine Falle zu locken und damit Alcide mich töten kann.«

»Ich will nur selbst die nächste Woche noch erleben.«

»Ich stimme einem Treffen mit Alcide zu, wenn Sie dabei anwesend sind und schwören, jedem von uns zu sagen, was der andere denkt. Sie sind eine Freundin des Rudels, des ganzen Rudels. Jetzt können Sie uns helfen.«

Patrick Furnan war so darauf erpicht, seine Frau wiederzufinden, dass er sogar bereit war, mir zu glauben.

Ich dachte an die Leute, die bereits gestorben waren, und an die, die noch sterben würden, und dazu konnte auch ich gehören. Was zum Teufel ging hier bloß vor sich? »Das werde ich, wenn Alcide und Sie unbewaffnet zu dem Treffen erscheinen«, sagte ich. »Wenn mein Verdacht sich bestätigt, dann haben Sie beide einen gemeinsamen Feind, der dafür sorgen will, dass Sie sich gegenseitig ausschalten.«

»Wenn der schwarzhaarige Mistkerl in die Bedingungen einwilligt, tue ich es auch«, sagte Furnan. »Und falls Alcide meine Frau doch in seiner Gewalt hat, sollte er ihr besser kein Haar krümmen und sie gleich mitbringen. Oder ich zerreiße ihn bei lebendigem Leib in der Luft, das schwöre ich bei Gott.«

»Verstehe. Und ich sorge dafür, dass auch er es versteht. Wir melden uns wieder bei Ihnen«, versprach ich und konnte nur hoffen, dass ich die Wahrheit sagte.