Kapitel 4

Ich sah auf meinen Kalender mit dem »Wort des Tages«, während ich darauf wartete, dass sich das Glätteisen für mein Haar aufheizte. »Androgyn«. Hm.

Da ich nicht wusste, in welches Restaurant wir gehen würden und wen ich dort treffen sollte, zog ich etwas Bequemes an: ein himmelblaues T-Shirt aus Seide (das Amelia mir geschenkt hatte, weil es ihr zu groß war), eine etwas schickere schwarze Hose und dazu flache schwarze Schuhe. Ich trage nie viel Schmuck, also mussten eine goldene Halskette und ein Paar kleine Goldohrringe reichen. Mein Arbeitstag war zwar anstrengend gewesen, aber ich war zu neugierig auf den vor mir liegenden Abend, um müde zu sein.

Eric kam pünktlich, und als ich ihn sah, stieg gleich (so eine Überraschung aber auch) eine seltsame Freude in mir auf. Aber das lag sicher nicht allein an den Blutsbanden zwischen uns. Bei Erics Anblick würde vermutlich in jeder Frau eine gewisse Freude aufsteigen. Er war so groß, dass er zu seiner Zeit als Riese gegolten haben musste, und hatte die Statur eines Mannes, der mit schwerem Schwert seine Feinde niedermähen konnte. Sein goldblondes Haar fiel ihm wie die Mähne eines Löwen von der hohen Stirn herab. An Eric war absolut nichts Androgynes, nichts ätherisch Schönes. Er war durch und durch männlich.

Eric drückte mir einen Kuss auf die Wange, und sofort fühlte ich mich geliebt und geborgen. Diese Wirkung hatte er auf mich, weil wir schon mehr als dreimal das Blut des anderen gehabt hatten. Wir hatten es nicht aus Vergnügen getan, sondern jedes Mal aus reiner Notwendigkeit - so sah ich das jedenfalls. Aber ich zahlte einen hohen Preis, denn wegen dieser Blutsbande war ich jetzt immer absurd glücklich, wenn er in meiner Nähe war. Ich versuchte, das Gefühl zu genießen, doch weil ich wusste, dass es nicht echt war, wollte mir das nie so recht gelingen.

Eric war in seiner Corvette gekommen, und ich war froh, dass ich eine Hose trug. In einem Kleid halbwegs anständig in eine Corvette ein- und auszusteigen war nämlich ein echtes Kunststück. Auf dem Weg nach Shreveport machte ich Small Talk, doch Eric war seltsam still - ganz untypisch für ihn. Und als ich nach Jonathan, dem geheimnisvollen Vampir von der Hochzeit, fragte, sagte er nur: »Darüber reden wir später. Du hast ihn nicht wiedergesehen, oder?«

»Nein«, erwiderte ich. »Hätte ich das sollen?«

Eric schüttelte den Kopf. Peinliches Schweigen breitete sich aus. An der Art, wie Eric das Lenkrad umklammert hielt, erkannte ich, dass er kurz davor stand, etwas zu sagen, was er eigentlich nicht sagen wollte.

»Es freut mich für dich, dass Andre den Bombenanschlag in Rhodes nicht überlebt hat«, sagte er schließlich.

Das liebste Geschöpf der Königin, Andre, war bei dem Bombenanschlag in Rhodes endgültig ums Leben gekommen. Aber es war nicht die Bombe, die ihn getötet hatte. Nur Quinn und ich wussten, was geschehen war: Quinn hatte Andre einen Holzsplitter ins Herz gestoßen, als der Vampir bewusstlos dalag. Quinn hatte Andre umgebracht, und er hatte es für mich getan, da er wusste, dass Andre Pläne hatte mit mir, die mich ganz krank gemacht hatten vor Angst.

»Die Königin wird ihn gewiss vermissen«, erwiderte ich vorsichtig.

Eric warf mir einen scharfen Blick zu. »Die Königin ist am Boden zerstört. Die Heilung ihrer Wunden wird deshalb viele Monate länger dauern. Aber was ich eigentlich sagen wollte ...« Seine Stimme verlor sich.

Das sah Eric nun wirklich nicht ähnlich. »Was denn?«, ermunterte ich ihn.

»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte er. Ich drehte den Kopf und sah ihn an, doch er blickte weiter stur geradeaus. »Du hast mir das Leben gerettet, und Pam auch.«

Peinlich berührt rutschte ich in meinem Sitz herum. »Ja, hmm«, machte ich. Tja, Miss Beredtsamkeit höchstpersönlich. Das Schweigen zog sich in die Länge, bis ich das Gefühl hatte, dass ich jetzt irgendetwas sagen musste. »Zwischen uns gibt's nun mal diese Blutsbande.«

Eine Weile antwortete Eric nicht, doch dann sagte er: »Es gibt noch andere Gründe, weshalb du mich an dem Tag, als das Hotel in die Luft flog, geweckt hast. Aber darüber reden wir ein andermal. Du hast einen wichtigen Abend vor dir.«

Ja, Boss, erwiderte ich schnippisch - wenn auch nur für mich.

Wir fuhren in einen Stadtteil von Shreveport, den ich kaum kannte, abseits des Haupteinkaufszentrums, das mir einigermaßen vertraut war. Es war eher eine Gegend, wo die Häuser groß, die Rasen gepflegt und die Läden klein und teuer waren ... das, was Kaufleute gern als »Boutique« bezeichneten. Wir bogen in eine L-förmige Straße ein, in der sich viele solcher Geschäfte aneinanderreihten und an deren kürzerem Ende sich ein Restaurant namens Les Deux Poissons befand. Es parkten etwa acht Wagen davor, von denen jeder Einzelne so viel kostete, wie ich im ganzen Jahr verdiente. Beklommen sah ich an meiner Kleidung herab.

»Keine Sorge, du bist sehr hübsch«, sagte Eric leise, beugte sich zu mir herüber und löste (was mich doch sehr wunderte) meinen Gurt. Dann gab er mir noch einen Kuss, diesmal auf den Mund. Seine strahlend blauen Augen leuchteten in seinem weißen Gesicht. Er sah aus, als läge ihm eine ganze Geschichte auf der Zunge. Doch er schluckte sie herunter, stieg aus dem Auto und kam auf meine Seite herüber, um mir die Tür aufzuhalten. Vielleicht war ich nicht die Einzige, auf die diese Blutsbande eine seltsame Wirkung ausübten?

An seiner Anspannung erkannte ich, dass mich sehr bald schon ein wichtiges Ereignis erwartete, und ich bekam es mit der Angst zu tun. Eric ergriff meine Hand, als wir zum Restaurant hinübergingen, und strich mir abwesend mit dem Daumen über die Handinnenfläche. Hui, was war denn das!? Von meiner Handfläche schien es ja eine direkte Verbindung zu meiner, meiner ... äh, Muschi zu geben.

Wir traten ins Foyer, wo ein Springbrunnen sprudelte und ein Wandschirm die Sicht auf die Tische verdeckte. Die Frau am Empfang war schwarz und wunderschön, ihr Haar lag kurz rasiert am Kopf an. Sie trug ein raffiniert gerafftes Kleid in Orange und Braun und die höchsten High Heels, die ich je gesehen hatte. Da hätte sie auch gleich in die Spitzenschuhe einer Ballerina schlüpfen können. Ich sah sie mir genauer an und prüfte ihre Gedankenstruktur. Sie war ein Mensch. Mit einem strahlenden Lächeln begrüßte sie Eric, war aber klug genug, auch mich nicht zu vergessen.

»Ein Tisch für zwei?«, fragte sie.

»Wir sind mit jemandem verabredet«, sagte Eric.

»Oh, der Gentleman...«

»Ja.«

»Hier entlang, bitte.« Ihr Lächeln wich einem Blick, in dem beinahe so etwas wie Neid lag, und dann ging sie uns voraus in die Tiefen des Restaurants. Eric bedeutete mir mit einer Geste, ihr zu folgen. Der Innenraum war ziemlich dunkel, und Kerzen flackerten auf den Tischen, die mit schneeweißen Tüchern und kunstvoll gefalteten Servietten dekoriert waren.

Ich hatte meinen Blick auf den Rücken der Empfangsdame geheftet, und als sie stehen blieb, verstand ich nicht sofort, dass wir unseren Tisch erreicht hatten. Sie trat einen Schritt zur Seite. Und da sah ich mich dem schönen Mann gegenüber, der vor zwei Nächten auf der Hochzeit gewesen war.

Die Empfangsdame drehte sich auf ihren Absätzen herum und deutete mit der Hand auf den Stuhl zur Rechten des Mannes. Dort sollte ich Platz nehmen. Der Kellner würde sofort zu uns kommen, sagte sie. Der Mann erhob sich und zog den Stuhl für mich unter dem Tisch hervor. Ich drehte mich nach Eric um, der mir aufmunternd zunickte. Und so setzte ich mich, während der Mann mir mit perfektem Timing den Stuhl unter den Hintern schob.

Eric setzte sich nicht. Ich wollte, dass er mir all das hier erklärte, doch er sprach kein Wort. Er wirkte andächtig, beinahe traurig.

Der schöne Mann betrachtete mich aufmerksam. »Kind«, sagte er, damit ich ihn ansah. Dann strich er sein langes goldblondes Haar zurück. Keiner der anderen Gäste saß so, dass sie zu sehen bekamen, was er mir zeigte.

Seine Ohren liefen spitz zu. Er war ein Elf.

Ich kannte zwei andere Elfen. Aber sie gingen Vampiren um jeden Preis aus dem Weg, weil der Geruch der Elfen auf Vampire genauso berauschend wirkte wie der von Honig auf Bären. Ein Vampir mit einem besonders fein ausgeprägten Geruchssinn hatte mir sogar einmal gesagt, dass ich selbst einen Hauch Elfenblut in mir hätte.

»Okay«, sagte ich, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich die Ohren bemerkt hatte.

»Sookie, das ist Niall Brigant.« Eric sprach es »Naiell« aus. »Er möchte dir beim Abendessen etwas erzählen. Ich bin draußen, wenn du mich brauchst.« Ein letztes förmliches Kopfnicken zu dem schönen Mann, dann ging er.

Ich sah Eric nach, und plötzlich stieg Angst in mir auf. Doch dann spürte ich eine Hand auf der meinen. Ich drehte mich um, und der Elf blickte mir direkt in die Augen.

»Wie er schon sagte, mein Name ist Niall.« Seine Stimme war hell, geschlechtslos, klangvoll, und seine Augen waren von einem so satten, prachtvollen Grün, wie ich es noch nie gesehen hatte. Im flackernden Kerzenschein kam es auf die Farbe gar nicht so sehr an - es war die Pracht, die einen berührte, das Unergründliche. Seine Hand auf der meinen war leicht wie eine Feder, aber dennoch sehr warm.

»Wer sind Sie?«, fragte ich, und damit meinte ich nicht, dass er seinen Namen noch einmal wiederholen sollte.

»Ich bin dein Urgroßvater«, sagte Niall Brigant.

»Ach du Schreck!«, rief ich, schlug mir aber sofort die Hand vor den Mund. »Tut mir leid, ich wollte nicht...« Ich konnte nur den Kopf schütteln. »Du bist mein Uropa?«, fragte ich und benutzte gleich mal versuchsweise die familiäre Version des Wortes. Niall Brigant fuhr leicht zusammen. Bei einem wirklichen Mann hätte das viel zu feminin gewirkt, nicht aber bei Niall.

Viele Kinder hier bei uns in der tiefsten Provinz nannten ihre Großväter sogar »Opapa«. Wie hätte er wohl erst darauf reagiert? Die Vorstellung half mir, mein verwirrtes Selbst wieder zu sammeln.

»Würdest du mir das wohl erklären«, bat ich höflich.

Der Kellner kam, nahm unsere Getränkewünsche auf und nannte uns die Spezialitäten des Tages. Niall bestellte eine Flasche Wein und sagte, wir würden den Lachs essen. Mich fragte er überhaupt nicht. Ganz schön selbstherrlich.

Der rothaarige Kellner nickte energisch. »Großartige Wahl«, versicherte er. Er war ein junger Werwolf. Ich hätte erwartet, dass seine Neugier Niall gelten würde (immerhin ein übernatürliches Geschöpf, dem man nur äußerst selten begegnete), doch ich schien für den Kellner von größerem Interesse zu sein. Aber das war sicher seiner Jugend geschuldet - und meinem großen Busen.

Eins war übrigens komisch bei diesem Treffen mit meinem selbsternannten Verwandten: Ich habe keinen Augenblick an seiner Ehrlichkeit gezweifelt. Dies war wirklich mein Urgroßvater, das wusste ich. Es hatte einfach klick gemacht, und plötzlich war es, als hätte ich es schon immer gewusst.

»Ich werde dir alles erklären«, sagte Niall und beugte sich sehr langsam, so dass ich seine Absicht erkennen konnte, zu mir herüber und küsste mich auf die Wange. Seine Haut um Mund und Augen runzelte sich, als er die Gesichtsmuskeln anspannte und die Lippen zum Kuss spitzte. Das Spinngewebe feiner Falten beeinträchtigte aber in keiner Weise seine Schönheit, es war wie sehr alte Seide oder wie das Gemälde eines alten Meisters, dessen Firnis von hauchdünnen Rissen überzogen ist.

Dies schien die große Nacht der Küsse zu werden.

»In meiner Jugend, vor ungefähr fünf- oder sechshundert Jahren, bin ich noch unter den Menschen umhergestreift«, sagte Niall. »Und von Zeit zu Zeit habe ich, wie jeder Mann, eine Frau getroffen, die ich begehrenswert fand.«

Ich ließ meinen Blick schweifen, damit ich Niall nicht dauernd anstarrte, und bemerkte etwas Seltsames: Niemand außer unserem Kellner sah zu uns herüber. Ich meine, uns traf nicht mal gelegentlich ein Blick oder so was. Bei keinem in diesem Restaurant fanden sich Gedanken, die erkennen ließen, dass die Menschen unsere Anwesenheit überhaupt registrierten. Mein Urgroßvater schwieg einen Moment und sprach erst weiter, nachdem ich mir einen Überblick über die Situation verschafft hatte.

»Eines Tages sah ich im Wald eine solche Frau, sie hieß Einin und hielt mich für einen Engel.« Er schwieg kurz, ehe er weitersprach. »Sie war herrlich«, schwärmte er. »So lebhaft, fröhlich, naiv.« Nialls Blick war auf mein Gesicht geheftet. Ob er dachte, dass ich war wie Einin: naiv? »Ich war jung genug, um mich Hals über Kopf zu verlieben, und jung genug, um das unvermeidliche Ende unserer Verbindung zu ignorieren: dass sie altern würde und ich nicht. Und Einin wurde schwanger, für mich ein großer Schreck. Denn Elfen und Menschen haben nur sehr selten Nachwuchs miteinander. Einin bekam Zwillinge, das ist im Elfenvolk nichts Ungewöhnliches. Und sowohl die Mutter als auch die beiden Jungen überlebten die Geburt, was zu jener Zeit nicht selbstverständlich war. Unseren älteren Sohn nannte sie Fintan und den jüngeren Dermot.«

Als der Kellner uns den Wein brachte, brach der Bann plötzlich, in den Nialls Stimme mich gezogen hatte. Im einen Moment saß ich noch im Wald an einem Lagerfeuer und lauschte einer alten Sage, und schon im nächsten - peng! - war ich in einem modernen Restaurant in Shreveport, Louisiana, umgeben von lauter Leuten, die keine Ahnung hatten, was hier vor sich ging. Unwillkürlich griff ich nach meinem Glas und trank erst einmal einen Schluck Wein. Den brauchte ich jetzt.

»Der Halbelf Fintan war dein Großvater väterlicherseits, Sookie«, sagte Niall.

»Nein. Ich weiß, wer mein Großvater war.« Meine Stimme zitterte ein wenig, aber ich sprach immer noch leise. »Mitchell Stackhouse war mein Großvater, und verheiratet war er mit Adele Haie. Corbett Haie Stackhouse war mein Vater, und meine Eltern sind bei einer Überschwemmung ertrunken, als ich noch ein kleines Mädchen war. Danach wurde ich von meiner Großmutter Adele großgezogen.« Ich erinnerte mich natürlich, dass der mir später so verhasste Vampir Andre eine Spur Elfenblut bei mir wahrgenommen hatte, und ich glaubte diesem Mann hier, dass er mein Urgroßvater war. Dennoch ergab sich mir noch immer kein stimmiges Bild meiner Familie.

»Wie war deine Großmutter?«, fragte Niall.

»Sie hat Jason und mich aufgezogen, obwohl sie es gar nicht gemusst hätte«, erzählte ich. »Sie hat uns geliebt und sich bemüht, uns anständig zu erziehen. Wir haben eine Menge von ihr gelernt. Ihre eigenen zwei Kinder hat sie beide begraben müssen, das hat sie beinahe umgebracht. Doch um unseretwillen ist sie stark geblieben.«

»Sie war sehr schön, als sie jung war«, sagte Niall. Der Blick seiner grünen Augen verweilte auf meinem Gesicht, als versuchte er, eine Spur ihrer Schönheit in ihrer Enkelin zu finden.

»Ich glaube schon«, erwiderte ich etwas unsicher. Als Enkelin denkt man nicht in Kategorien wie Schönheit von seiner Großmutter, normalerweise jedenfalls nicht.

»Ich habe sie gesehen, nachdem Fintan sie geschwängert hatte«, sagte Niall. »Sie war allerliebst. Ihr Ehemann hatte ihr gesagt, dass er keine Kinder zeugen könne, weil er im falschen Alter Mumps gehabt habe. Das ist eine Krankheit, nicht wahr?« Ich nickte. »Sie war gerade beim Teppichklopfen hinten auf dem Hof des Hauses, in dem du jetzt wohnst, als eines Tages Fintan auftauchte. Er bat sie um ein Glas Wasser und war auf der Stelle hingerissen von ihr. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als Kinder, und er versprach, er könne ihr welche machen.«

»Hast du nicht gesagt, dass Elfen und Menschen nur sehr selten Nachwuchs miteinander haben?«

»Fintan war ja nur ein Halbelf. Und er wusste bereits, dass er eine Frau schwängern kann.« Niall verzog den Mund. »Seine erste große Liebe starb bei der Geburt des Kindes, aber deine Großmutter und ihr Sohn hatten mehr Glück. Und zwei Jahre später hat sie von Fintan auch noch eine Tochter bekommen.«

»Er hat sie vergewaltigt«, warf ich ein und hoffte fast, es möge wahr sein. Meine Großmutter war die anständigste Frau, die ich je kennengelernt hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie einfach so ihren Ehemann betrogen haben sollte, zumal sie vor Gott geschworen hatte, meinem Großvater treu zu sein.

»Nein, hat er nicht. Sie wünschte sich eben Kinder, es ging ihr nicht darum, ihren Ehemann zu betrügen. Fintan waren die Gefühle anderer egal, er wollte nur unbedingt diese Frau haben«, sagte Niall. »Aber Gewalt hat er nie angewendet. Er hätte sie niemals vergewaltigt. Mein Sohn konnte eine Frau einfach zu allem überreden, sogar zu einer Sache, die gegen ihre moralischen Prinzipien verstieß ... Und er war nicht minder schön als sie.«

Ich versuchte, in der Großmutter, die ich kannte, die Frau zu sehen, die sie gewesen sein musste. Aber es wollte mir nicht gelingen.

»Wie war dein Vater, mein Enkel?«, fragte Niall.

»Sehr gut aussehend«, sagte ich. »Er war ein hart arbeitender Mann und ein guter Vater.«

Niall lächelte leicht. »Was hat deine Mutter für ihn empfunden?«

Diese Frage traf einen wunden Punkt in meinen sonst so herzlichen Erinnerungen. »Sie war ihm ... äh, absolut ergeben.« Vielleicht sogar so absolut, dass ihre Kinder zu kurz kamen.

»War sie wie besessen von ihm?« In Nialls Stimme lag kein Vorwurf, sondern Gewissheit, so als würde er die Antwort längst kennen.

»Sehr besitzergreifend«, gab ich zu. »Ich war zwar erst sieben, als meine Eltern starben, aber das hatte ich bereits erkannt. Wahrscheinlich habe ich es für normal gehalten. Sie hat einfach all ihre Aufmerksamkeit ihm gewidmet. Manchmal waren Jason und ich ihr sogar im Weg. Und sie war furchtbar eifersüchtig, wenn ich mich richtig erinnere.« Ich versuchte, ein amüsiertes Lächeln aufzusetzen, so als wäre die Eifersucht meiner Mutter eine charmante kleine Marotte gewesen.

»Es war sein Elfenerbe, das sie so stark zu ihm hingezogen hat«, erklärte Niall. »Das geht vielen Menschen so. Sie hat das Übernatürliche in ihm erkannt, und es hat sie verzaubert. War sie eine gute Mutter?«

»Sie hat sich viel Mühe gegeben«, flüsterte ich.

Mühe hatte sie sich gegeben, das stimmte. Meine Mutter wusste theoretisch, was eine gute Mutter war und wie sich eine gute Mutter ihren Kindern gegenüber verhielt. Doch letztlich hatte all ihre Liebe meinem Vater gegolten, den die Intensität ihrer Leidenschaft irritierte. Jetzt als Erwachsene konnte ich das erkennen. Als Kind hatte es mich nur verwirrt und sehr verletzt.

Der rothaarige Werwolf brachte uns den Salat. Er wollte uns fragen, ob wir noch einen Wunsch hätten, traute sich aber nicht so recht. Die Atmosphäre an unserem Tisch war ihm nicht entgangen.

»Warum hast du dich ausgerechnet jetzt entschlossen, auf mich zuzugehen?«, fragte ich. »Seit wann weißt du von mir?« Ich hatte mir die Serviette auf den Schoß gelegt und saß mit der Gabel in der Hand da. Warum probierte ich nicht einen Bissen? Essen verschwendet man nicht, war mir in meiner Erziehung vermittelt worden. Von meiner Großmutter. Die mit einem Halbelfen Sex gehabt hatte (der wie ein streunender Hund auf den Hinterhof gekommen war). So oft Sex gehabt hatte, dass im Laufe der Zeit zwei Kinder zur Welt gekommen waren.

»Ich weiß seit ungefähr sechzig Jahren von deiner Familie. Aber mein Sohn Fintan hat mir untersagt, Kontakt zu euch aufzunehmen.« Vorsichtig steckte Niall sich ein Stück Tomate in den Mund, hielt inne, kostete, kaute. Er aß, wie ich in einem indischen oder nicaraguanischen Restaurant essen würde.

»Was ist passiert?«, fragte ich, obwohl ich es mir denken konnte. »Dein Sohn ist gestorben, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Niall und legte die Gabel zur Seite. »Fintan ist gestorben. Schließlich war er zur Hälfte ein Mensch. Und er war bereits siebenhundert Jahre alt.«

Sollte ich mich dazu irgendwie äußern? Ich fühlte mich so benommen, als hätte Niall mir ein Betäubungsmittel ins Gefühlszentrum gespritzt. Vermutlich hätte ich ihn fragen sollen, wie mein - mein Großvater umgekommen war, aber ich brachte es nicht fertig.

»Deshalb hast du also beschlossen, mich aufzusuchen - aber warum?« Ich war stolz darauf, wie ruhig ich blieb.

»Ich bin alt, sogar für einen Elf, und wollte dich gern kennenlernen. Ich kann nicht wiedergutmachen, wie dein Leben aufgrund von Fintans Erbe bisher verlaufen ist. Aber ich möchte versuchen, dein Leben etwas einfacher zu machen, wenn du es mir erlaubst.«

»Kannst du mir mein telepathisches Talent nehmen?«, fragte ich. Eine wilde Hoffnung keimte auf in mir, auch wenn sie nicht frei war von Angst.

»Du fragst, ob ich dir etwas nehmen kann, das dein Wesen ausmacht«, sagte Niall. »Nein, das kann ich nicht.«

Ich sank in meinen Stuhl zurück. »War nur so eine Frage.« Ich kämpfte mit den Tränen. »Habe ich wenigstens drei Wünsche frei, oder gibt's das nur bei Flaschengeistern?«

Niall sah mich völlig humorlos an. »Du würdest keinem solchen Geist begegnen wollen, glaube mir. Und ich bin auch keine Witzfigur. Ich bin ein Prinz.«

»Entschuldige«, sagte ich. »Ich habe Schwierigkeiten, mit all diesen ... diesen verschiedenen Großvätern zurechtzukommen.« An meine menschlichen Urgroßväter erinnerte ich mich nicht mal. Und meine menschlichen Großväter - okay, der eine war gar nicht mein richtiger Großvater gewesen - hatten nicht so ausgesehen oder sich so verhalten wie dies schöne Geschöpf hier. Mein Großvater Stackhouse war vor sechzehn Jahren gestorben, und die Eltern meiner Mutter hatten meinen zehnten Geburtstag nicht mehr erlebt. Daher kannte ich meine Großmutter Adele sehr viel besser als all die anderen, ja sogar besser als meine eigenen Eltern.

Plötzlich schoss mir eine Frage durch den Kopf. »Wie kommt es eigentlich, dass Eric mich hierhergebracht hat? Du bist schließlich ein Elf. Und Vampire drehen doch eigentlich durch bei Elfengeruch.«

Die meisten Vampire verloren all ihre Selbstbeherrschung, wenn Elfen in der Nähe waren. Nur höchst disziplinierte Vampire konnten sich dann noch benehmen. Mein Schutzengel Claudine hatte geradezu Panik davor, mit den Blutsaugern auch nur in einem Raum zu sein.

»Ich kann meinen Geruch unterdrücken«, sagte Niall. »Die Vampire können mich zwar sehen, aber meinen Geruch nicht wahrnehmen. Ein ganz nützlicher Zauber. Und wie du hier siehst, kann ich dafür sorgen, dass die Menschen mich nicht einmal bemerken.«

Die Art, wie er das aussprach, ließ erkennen, dass er nicht nur sehr alt und sehr machtvoll war, sondern auch sehr stolz. »Hast du mir Claudine geschickt?«, fragte ich.

»Ja. Ich hoffe, sie war dir eine Hilfe. Nur Menschen mit Elfenblut können so eine Verbindung zu einer Elfe haben. Ich wusste, dass du sie brauchen würdest.«

»Oh ja, sie hat mir das Leben gerettet«, sagte ich. »Sie ist wundervoll.« Claudine war sogar schon mit mir shoppen gegangen. »Sind alle Elfen so nett wie Claudine oder so schön wie ihr Bruder Claude?«

Claude, der gelegentlich noch als Stripper arbeitete, inzwischen jedoch einen eigenen Club besaß, war so gut aussehend, wie ein Mann nur sein konnte - aber in jeder anderen Hinsicht leider ein unerträglich eitler Mistkerl.

»Meine Liebe«, entgegnete Niall, »wir Elfen erscheinen den Menschen alle als wunderschön, aber einige von uns sind wahre Scheusale.«

Okay, jetzt kam also die Kehrseite. Ich hatte stark den Eindruck, die gute Nachricht - zumindest aus Nialls Sicht - war, dass ich einen vollblütigen Elf zum Urgroßvater hatte. Doch das schien nur die halbe Wahrheit zu sein. Jetzt kam die schlechte Nachricht.

»Du hast lange Jahre leben können, ohne entdeckt zu werden«, sagte Niall, »und das zum Teil, weil Fintan es so wollte.«

»Hat er mich beschützt?« Ich empfand beinahe so etwas wie Zuneigung, als ich das hörte.

»Mein Sohn hat bereut, dass er zwei Kinder zu demselben Dasein verdammt hatte, unter dem er selbst schon so leiden musste - als Elf, der nicht wirklich Elf war und weder hier noch dort richtig dazugehörte. Ich fürchte, die Angehörigen unseres Volkes waren nicht sehr freundlich zu ihm.« Mit ruhigem Blick sah mein Urgroßvater mich an. »Ich habe mein Bestes getan, um ihn zu schützen, aber es hat nicht gereicht. Und Fintan fand heraus, dass er auch nicht Mensch genug war, um als Mensch zu gelten, jedenfalls nicht allzu lange.«

»Seht ihr Elfen denn normalerweise nicht so aus?«, fragte ich, neugierig geworden.

»Nein.« Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich ein fast blendendes Licht, und Niall inmitten davon, schön und absolut perfekt. Kein Wunder, dass Einin ihn für einen Engel gehalten hatte.

»Claudine hat mal gesagt, dass sie sich hinaufarbeiten will«, sagte ich. »Was bedeutet das?« Ich sprang in diesem Gespräch von einem Punkt zum anderen. All die Informationen hatten mich völlig aus dem Konzept gebracht, und es kostete mich allergrößte Mühe, das emotionale Gleichgewicht zu wahren. Sehr erfolgreich kam ich mir dabei nicht vor.

»Das hätte sie dir nicht erzählen dürfen«, sagte Niall und überlegte ein, zwei Sekunden lang, ehe er fortfuhr. »Gestaltwandler sind Menschen mit einer genetischen Veränderung, Vampire sind tote Menschen, die eine andere Existenzform angenommen haben, aber Elfen teilen außer der äußeren Hülle nichts mit dem Menschen. Es gibt viele Arten Elfen - von den grotesken wie den Kobolden bis hin zu den schönen wie uns.« Letzteres sagte er vollkommen unbefangen.

»Gibt es auch Engel?«

»Engel sind eine höhere Entwicklungsstufe der Elfen, für die man körperlich und moralisch eine beinahe vollständige Wandlung durchmachen muss. Es kann Hunderte von Jahren dauern, bis man ein Engel wird.«

Arme Claudine.

»Aber genug davon«, sagte Niall. »Jetzt will ich etwas über dich erfahren. Mein Sohn hat mich von deinem Vater und deiner Tante ferngehalten und auch von ihren Kindern. Und weil Fintan erst vor Kurzem gestorben ist, konnte ich deine Cousine Hadley nicht mehr kennenlernen. Aber mit dir kann ich mich treffen, dich berühren.« Was Niall übrigens in einer nicht wirklich menschlich zu nennenden Weise auch tat: Wenn seine Hand nicht meine bedeckte, so legte er sie mir flach an die Schulter oder auf den Rücken. Nicht ganz das Verhalten, das Menschen normal finden, aber es machte mir nichts aus. Ich wurde auch nicht panisch, wie man hätte meinen können. Bei Claudine hatte ich ja bereits bemerkt, wie häufig Elfen ihr Gegenüber berührten. Und weil ich von Elfen keine Bewusstseinsströme empfing, waren diese Berührungen auch erträglich. Von einem normalen Menschen wäre ich längst mit Gedanken bombardiert worden, denn die Berührung verstärkte meine telepathischen Fähigkeiten.

»Hatte Fintan noch irgendwelche anderen Kinder oder Enkel?«, fragte ich. Die Vorstellung, zu einer größeren Familie zu gehören, gefiel mir.

»Darüber reden wir später.« Mit einem Stoppschild hätte Niall die Frage nicht wirkungsvoller abwürgen können. »Da du mich jetzt ein wenig kennst«, fuhr er fort, »sag mir bitte, was ich für dich tun kann.«

»Warum solltest du irgendwas für mich tun?«, entgegnete ich. Die Sache mit den drei Wünschen hatten wir doch schon abgehakt. Davon wollte ich nicht wieder anfangen.

»Dein Leben ist bislang recht hart gewesen. Doch jetzt, da ich dich kennengelernt habe, möchte ich dir helfen.«

»Du hast mir doch schon Claudine geschickt. Sie war mir eine große Hilfe«, sagte ich. Ohne meinen sechsten Sinn bereitete es mir einige Mühe, den Gefühlen und Überlegungen meines Urgroßvaters zu folgen. Trauerte er um seinen Sohn? Wie war ihr Verhältnis zueinander wirklich gewesen? Hatte Fintan uns einen Gefallen tun wollen damit, dass er seinen Vater all die Jahre von den Stackhouses ferngehalten hatte? War Niall böse, oder hegte er böse Absichten gegen mich? Aber er hätte mir auch aus der Ferne etwas Schreckliches antun können, dazu musste er sich nicht erst mit mir treffen und mich zu einem teuren Abendessen einladen.

»Du willst mir keine weiteren Erklärungen geben, hm?«

Niall schüttelte den Kopf, und sein blondes Haar wehte ihm in feinsten goldenen und silbrigen Strähnen um die Schultern.

Plötzlich fiel mir etwas ein. »Könntest du meinen Freund finden?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Du hast noch einen anderen Freund? Außer dem Vampir?«

»Mit Eric bin ich nicht zusammen, ich hatte nur ein paarmal sein Blut und er meins und deshalb ...«

»Deshalb habe ich mich über ihn an dich gewandt. Du hast eine Verbindung zu ihm.«

»Ja.«

»Ich kenne Eric Northman schon sehr lange und dachte, wenn er dich bittet, würdest du kommen. War das ein Fehler?«

Diese Frage verwirrte mich. »Natürlich nicht. Ich wäre kaum gekommen, wenn er mir nicht versichert hätte, dass es okay ist. Und er hätte mich nicht hierhergebracht, wenn er dir nicht vertrauen würde ... Nehme ich jedenfalls an.«

»Möchtest du, dass ich ihn töte? Und damit die Verbindung beende.«

»Nein!«, rief ich, ziemlich aufgebracht. »Nein!«

Zum ersten Mal blickten einige der anderen Gäste zu uns herüber. Anscheinend hatten sie trotz Nialls magischem Zauberbann meine Aufregung bemerkt.

»Dieser andere Freund«, sagte Niall und aß noch ein Stück Lachs. »Wer ist das und wann ist er verschwunden?«

»Quinn ist ein Wertiger. Und seit dem Bombenanschlag in Rhodes scheint er wie vom Erdboden verschluckt. Er war verletzt worden, aber kurz danach habe ich ihn noch einmal gesehen.«

»Das von dem Hotel Pyramide habe ich gehört«, erwiderte Niall. »Warst du dort?«

Ich erzählte ihm, was geschehen war, und mein eben erst gefundener Urgroßvater hörte mir mit einem erfrischenden Mangel an vorschnellen Urteilen zu. Er war weder bestürzt noch entsetzt, und ich tat ihm auch nicht leid. Das gefiel mir richtig gut.

Ich redete und redete, und langsam sortierten sich meine Gefühle noch einmal neu. Und so sagte ich plötzlich in eine ganz normale Gesprächspause hinein: »Weißt du was? Such nicht nach Quinn. Er weiß, wo ich wohne, und meine Nummer kennt er auch. Er taucht vermutlich von selbst wieder auf, wenn er so weit ist. Oder eben nicht.«

»Aber so kann ich dir keinen Gefallen tun«, erwiderte mein Urgroßvater.

»Du kannst mich ja wieder mal zum Essen einladen«, sagte ich. »Irgendwas ergibt sich schon. Ist es verboten ... ich meine, darf ich über dich sprechen? Mit meinen Freunden?«, fragte ich. »Nein, vermutlich nicht.« Irgendwie konnte ich mir auch nicht vorstellen, meiner Freundin Tara zu erzählen, dass ich plötzlich einen Elf zum Urgroßvater hatte. Amelia hätte dafür sicher eher Verständnis.

»Ich möchte, dass unsere Verwandtschaft ein Geheimnis bleibt«, sagte Niall. »Ich bin so froh, dich endlich kennengelernt zu haben, und möchte noch viel mehr von dir wissen.« Er legte mir seine Hand an die Wange. »Aber ich habe mächtige Feinde, und ich will nicht, dass sie dir etwas zuleide tun, um mir einen Schlag zu versetzen.«

Ich nickte. Das verstand ich. Aber irgendwie war's auch ein Riesendämpfer, dass ich über meinen brandneuen Verwandten kein Wort verlieren durfte. Niall ließ meine Wange los und legte seine Hand wieder auf meine.

»Und was ist mit Jason?«, fragte ich. »Wirst du auch mit ihm reden?«

»Jason«, sagte er mit Widerwillen im Gesicht. »Der wesentliche Funke scheint bei Jason nicht gezündet zu haben. Ich weiß, er trägt dasselbe Erbe in sich wie du, aber bei ihm hat das Elfenblut nur seine sexuelle Anziehungskraft erhöht, und das spricht nicht gerade für ihn. Er würde unsere Verbindung weder verstehen noch schätzen.«

Mein Urgroßvater klang ziemlich herablassend, als er das sagte. Ich wollte gerade etwas zu Jasons Verteidigung einwenden, hielt dann aber lieber den Mund. Insgeheim gestand ich mir ein, dass Niall im Grunde genommen völlig recht hatte. Jason würde lauter Ansprüche stellen und allen davon erzählen.

»Wie oft wirst du denn so vorbeikommen?«, fragte ich stattdessen und bemühte mich, gelassen zu klingen. Ich wusste selbst, dass meine Worte etwas zu salopp ausfielen. Aber wie sollte man denn, bitte schön, mit einem derart seltenen und seltsamen Verwandten reden?

»Ich werde dich so oft besuchen kommen, wie jeder andere Urgroßvater es auch tun würde«, sagte er.

Und wie hatte ich mir das vorzustellen? Niall und ich zum Essen im Hamburger Palace? In derselben Kirchenbank beim Sonntagsgottesdienst? Wohl kaum.

»Mir kommt's so vor, als würdest du mir eine ganze Menge nicht erzählen«, platzte es plötzlich aus mir heraus.

»So haben wir auch beim nächsten Mal noch etwas, worüber wir uns unterhalten können«, sagte er und zwinkerte mir mit einem seiner tiefgrünen Augen zu. Wow, damit hatte ich nicht gerechnet. Dann reichte er mir eine Visitenkarte - auch damit hatte ich nicht gerechnet. Es stand nur sein Name drauf, Niall Brigant, und darunter eine Telefonnummer. »Unter dieser Nummer erreichst du mich jederzeit.«

»Danke«, sagte ich. »Meine Telefonnummer hast du vermutlich?« Er nickte. Ich hatte angenommen, er wolle aufbrechen, doch er blieb noch. Er schien den Abschied ebenso hinauszögern zu wollen wie ich. »Also«, begann ich und musste mich erst mal räuspern. »Was tust du eigentlich so den ganzen Tag?« Ich kann gar nicht sagen, wie seltsam, aber auch wunderbar es war, mit einem Verwandten zu reden. Sonst hatte ich ja nur Jason, und der war nicht gerade die Sorte großer Bruder, dem man alles erzählte. In einer Notlage konnte ich mich auf ihn verlassen, aber mit ihm etwas unternehmen? Kam gar nicht infrage.

Mein Urgroßvater beantwortete meine Frage, doch als ich mich später daran zu erinnern versuchte, fielen mir keine Details mehr ein. Vermutlich tat er irgendwelchen Geheimkram, den Elfenprinzen eben so tun. Er erzählte allerdings, dass er Miteigentümer von ein, zwei Banken sei, von einer Firma, die Gartenmöbel herstellte, und - was ich ziemlich merkwürdig fand - eines Unternehmens, das neue Medikamente entwickelte und testete.

Zweifelnd sah ich ihn an. »Medikamente für Menschen?«, fragte ich. Ich wollte sicher sein, dass ich ihn richtig verstanden hatte.

»Ja. Zum Großteil jedenfalls«, sagte er. »Aber einige der Chemiker stellen spezielle Dinge nur für uns her.«

»Nur für Elfen?«

Er nickte, und wieder fiel sein goldenes Haar seidig um sein Gesicht, als er den Kopf bewegte. »Heutzutage gibt es überall so viel Eisen«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob dir bekannt ist, dass wir auf Eisen sehr empfindlich reagieren? Und wenn wir ständig Handschuhe tragen, fallen wir in der modernen Welt zu sehr auf.« Ich betrachtete seine Hand, die auf dem weißen Tischtuch meine bedeckte, zog meine Finger darunter hervor und strich über seine Haut. Sie fühlte sich sonderbar samtig an.

»Wie ein unsichtbarer Handschuh«, murmelte ich.

»Genau.« Er nickte. »Eine ihrer Rezepturen. Aber reden wir nicht mehr von mir.«

Gerade jetzt, wo es interessant wird, dachte ich. Doch ich verstand natürlich, dass mein Urgroßvater keinen Grund hatte, mir jetzt schon all seine Geheimnisse anzuvertrauen.

Niall fragte mich nach meinem Job, nach meinem Boss, nach meinem Alltag - wie ein echter Urgroßvater eben. Und obwohl ihm die Vorstellung, dass seine Urenkelin arbeiten musste, nicht sonderlich gefiel, hatte er gegen den Job in einer Bar anscheinend nichts einzuwenden. Wie gesagt, Niall war nicht einfach zu verstehen. Seine Gedanken gehörten ganz allein ihm, da konnte ich nichts herauslesen. Aber mir fiel auf, dass er hin und wieder seinen Redefluss bewusst stoppte.

Schließlich hatten wir unser Essen verspeist, und ich sah auf meine Armbanduhr, erstaunt, wie viel Zeit verstrichen war. Ich musste aufbrechen, denn am nächsten Tag musste ich arbeiten. Ich entschuldigte mich, dankte meinem Urgroßvater (mir fuhr immer noch ein Schauer über den Rücken bei diesem Wort) für die Einladung und küsste ihn vorsichtig auf die Wange, so, wie er es zuvor bei mir getan hatte. Er schien den Atem anzuhalten, als ich es tat, und seine Haut fühlte sich unter meinen Lippen weich und leicht seidig an wie eine glänzende Pflaume. Obwohl er aussah wie ein Mensch, fühlte er sich überhaupt nicht so an.

Er stand auf, als ich ging, doch er blieb am Tisch - vermutlich, weil er die Rechnung bezahlen musste. Ich verließ das Restaurant, ohne irgendetwas um mich herum wahrzunehmen. Eric wartete im Auto auf mich, das unter einer Laterne geparkt war. Er hatte sich die Zeit mit einer Flasche TrueBlood und etwas zu lesen vertrieben.

Ich war total erschöpft.

Erst jetzt, als ich seinen Wirkkreis verlassen hatte, fiel mir auf, wie anstrengend das Treffen mit Niall gewesen war. Obwohl ich auf einem bequemen Stuhl gesessen hatte, fühlte ich mich, als hätten wir bei unserer Unterhaltung einen Dauerlauf hingelegt.

Niall hatte Eric über seinen Geruch hinwegtäuschen können, aber an Erics bebenden Nasenflügeln erkannte ich, dass der berauschende Duft an mir haftete. Wie in Ekstase schloss Eric die Augen und fuhr sich tatsächlich mit der Zunge über die Lippen. Ich kam mir vor wie ein T-Bone-Steak, das sich so gerade eben außer Reichweite eines Hundes befand.

»Krieg dich wieder ein«, sagte ich. Ich war nicht in Stimmung für so etwas.

Unter enormen Anstrengungen zügelte Eric sich. »Wenn du so riechst«, seufzte er, »möchte ich dich am liebsten vögeln und beißen und dich von Kopf bis Fuß abschlecken.«

Okay, daran gab's nichts misszuverstehen, und ich will auch gar nicht behaupten, dass ich mir nicht einen Moment lang (zwischen Lust und Angst schwankend) seine Worte im Geiste ausmalte. Aber es gab Wichtigeres, über das ich nachdenken musste.

»Immer langsam«, sagte ich. »Was weißt du über Elfen? Abgesehen davon, wie sie riechen und schmecken.«

Erics Blick war schon wieder etwas klarer, als er mich ansah. »Sie sind wunderbar, sowohl die Männer als auch die Frauen. Unglaublich kraftvoll und wild. Sie sind zwar nicht unsterblich, aber sie leben sehr lange, falls ihnen nichts zustößt. Mit Eisen kann man sie beispielsweise töten, und es gibt auch noch andere Wege, aber das ist harte Arbeit. Elfen bleiben gern unter sich, meistens jedenfalls, mögen gemäßigtes Klima und verschmähen keinerlei fremde Nahrung. Ich habe sogar schon mal eine Elfe Blut probieren sehen. Sie haben eine ziemlich hohe Meinung von sich selbst, höher als ihnen zusteht. Und wenn sie ihr Wort geben, halten sie es immer.« Eric dachte einen Augenblick lang nach. »Elfen beherrschen viele Spielarten der Magie, aber nicht alle dieselben. Doch sie sind alle sehr magisch veranlagt. Das ist ihr Wesen. Götter kennen sie keine, nur ihr eigenes Volk, denn sie wurden oft fälschlicherweise selbst für Götter gehalten. Manche von ihnen haben sogar Merkmale des Göttlichen angenommen.«

Ich starrte ihn an. »Was meinst du damit?«

»Na ja, ich meine nicht, dass sie heilig sind«, sagte Eric. »Die Elfen bewohnen den Wald und identifizieren sich so stark mit ihm, dass eine Verletzung, die man einem Elfen zufügt, auch andere Elfen verletzt. Daher ist ihre Anzahl stark gesunken. Wir Vampire sind über Elfenpolitik und die Überlebensstrategien der Elfen natürlich nicht auf dem Laufenden, da wir für sie so gefährlich sind ... einfach, weil wir sie berauschend finden.«

Claudine hatte ich noch nie nach all dem gefragt. Zum einen schien sie nicht gern über ihre Elfenexistenz zu reden, und immer wenn sie auftauchte, steckte ich gerade in Schwierigkeiten und war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Zum anderen hatte ich gedacht, es gäbe nur eine Handvoll Elfen auf der Welt. Und jetzt erzählte Eric mir, dass es einst ebenso viele Elfen wie Vampire gegeben hatte, das Elfenvolk aber inzwischen stark schrumpfte.

Im Gegensatz dazu wuchs die Bevölkerungszahl der Vampire - zumindest in Amerika - rasant an. Es gab allein drei Gesetzesvorlagen, die bereits auf dem Weg durch den Kongress waren und die Einwanderungsrechte für Vampire regeln sollten. Amerika galt (zusammen mit Kanada, Japan, Norwegen, Schweden, England und Deutschland) als ein Land, das auf die Große Enthüllung relativ gelassen reagiert hatte.

In der Nacht der sorgfältig geplanten Großen Enthüllung waren überall auf der Welt Vampire im Fernsehen, im Radio oder auch live aufgetreten (was immer das beste Mittel zur Verbreitung der Information gewesen war), um den Menschen zu verkünden: »Hey! Wir existieren tatsächlich. Aber wir sind keine Bedrohung für Leib und Leben der Menschen! Das neu entwickelte synthetische Blut aus Japan gewährleistet unsere Ernährung.«

Seitdem waren sechs Jahre vergangen, und die Welt befand sich mitten in einem großen Lernprozess.

Und heute Abend hatte ich selbst mein Wissen über die Welt der Supras und ihre Überlieferungen enorm erweitert.

»Die Vampire haben also die Oberhand«, sagte ich.

»Wir befinden uns nicht im Krieg«, erwiderte Eric. »Wir haben seit Jahrhunderten keinen Krieg mehr geführt.«

»Haben Vampire und Elfen in der Vergangenheit denn gegeneinander gekämpft? Ich meine, auf richtigen Schlachtfeldern?«

»Ja«, sagte Eric. »Und wenn es wieder dazu käme, wäre Niall der Erste, den ich ausschalten würde.«

»Warum?«

»Er besitzt große Macht in der Welt der Elfen und große magische Kräfte. Wenn er dich tatsächlich ernsthaft unter seine Fittiche nehmen will, hast du Glück und Unglück zugleich.« Eric ließ den Motor der Corvette an und fuhr vom Parkplatz herunter. Ich hatte Niall das Restaurant nicht verlassen sehen. Vielleicht hatte er sich ja am Tisch einfach in Luft aufgelöst? Ich konnte nur hoffen, dass er vorher wenigstens noch die Rechnung bezahlt hatte.

»Wie meinst du das? Das musst du mir erklären«, sagte ich, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass ich die Antwort gar nicht hören wollte.

»Einst gab es Tausende von Elfen in den Vereinigten Staaten«, begann Eric. »Jetzt sind es nur noch Hunderte.

Aber die Übriggebliebenen sind absolut entschlossen, auch weiterhin zu überleben. Doch nicht alle von ihnen sind gut Freund mit dem Prinzen.«

»Oh, prima. Das hat mir gerade noch gefehlt, eine weitere Gruppe Supras, die mich nicht leiden kann«, murmelte ich.

Schweigend fuhren wir durch das nächtliche Shreveport und wieder auf die Autobahn, die uns Richtung Osten nach Bon Temps führen würde. Eric schien ganz in Gedanken versunken zu sein. Meine Grübeleien hatten auch jede Menge Nahrung bekommen, mehr Nahrung als ich beim Abendessen zu mir genommen hatte, so viel war sicher.

Im Großen und Ganzen war ich eigentlich recht glücklich. Es war gar nicht so schlecht, noch nachträglich einen Urgroßvater zu bekommen. Und Niall schien sich aufrichtig zu bemühen, eine Beziehung zu mir aufzubauen. Ich hatte immer noch einen Haufen Fragen, aber die konnten warten, bis ich ihn besser kannte.

Erics Corvette hatte ziemlich viele PS unter der Haube, und Eric hielt sich nicht wirklich an das Tempolimit auf der Autobahn. Daher überraschte es mich nicht sonderlich, als hinter uns ein Blinklicht aufleuchtete. Ich wunderte mich nur, dass der Polizeiwagen Erics Corvette überhaupt hatte einholen können.

»Ähem«, machte ich, und Eric fluchte in einer Sprache, die möglicherweise seit Jahrhunderten nicht mehr gesprochen wurde. Doch selbst der Vampirsheriff von Bezirk Fünf musste heutzutage die Gesetze der Menschen beachten oder zumindest so tun als ob. Eric fuhr auf den Standstreifen.

»Was erwartest du, wenn du dir ein Kennzeichen mit VAMP drauf ans Auto schraubst?«, fragte ich. Schadenfreude musste man ja nicht immer nur heimlich genießen. Ich sah die dunkle Gestalt des Streifenpolizisten aus dem Wagen hinter uns steigen und mit etwas in der Hand auf uns zukommen - ein Klemmbrett, eine Taschenlampe?

Ich konzentrierte mich auf ihn und erfasste ihn mit meinen Gedanken. Ein aggressives Knurren voll Wut und Furcht schlug mir entgegen.

»Ein Werwolf! Irgendwas stimmt hier nicht«, rief ich, und Eric drückte mich in den Fußraum des Autos hinunter, der zumindest ein wenig Schutz geboten hätte, wenn wir nicht ausgerechnet in einer Corvette gesessen hätten.

Und dann trat der Streifenpolizist an den Wagen heran und versuchte, mich zu erschießen.