18

 

Ein kalter Wind fegte den Winterregen von der Seite gegen die Kutsche. Die Segeltuchrollos an den Fenstern konnten die Kälte nicht abhalten, und die Frauen zogen ihre Reisedecken enger um sich. Meggan hob eine Ecke des Rollos an. Die Fensterläden an den Häusern entlang der Commercial Road waren geschlossen, und im grauen Licht lagen die Häuser verlassen da. Ein weniger einladendes Willkommen war schwer vorzustellen. Meggan ließ das Rollo wieder zufallen. »Wir sind bald da, dann können wir uns am Feuer wärmen. Der arme Mills wird sehr erleichtert sein, glaube ich.« Er muss, beschloss sie, eine Zulage bekommen, um ihn für das Ungemach zu entschädigen, das er ausgestanden hat. Denn er hatte sich vehement gegen Meggans Absicht, mit der Postkutsche zu reisen, verwehrt, und seine Frau hatte ihm darin beigestanden. Sie hätten das Gefühl, ihren Pflichten nicht nachzukommen, wenn Mills seine Herrin nicht sicher nach Burra kutschierte. Als die Kutsche um die Ecke in die Market Street einbog, sodass der Regen jetzt von hinten kam, hob Meggan das Rollo in der Tür noch einmal, um die Stadt zu betrachten, die sie im Frühling des vorausgegangenen Jahres das letzte Mal gesehen hatte. Jane betrachtete interessiert den für sie neuen Ort. Selbst wenn man das unfreundliche Wetter berücksichtigte, strahlte die Stadt eine Aura von Verlassenheit aus. Viele Läden waren verrammelt. An der Grube war die Veränderung noch weit dramatischer. Das lärmende, geschäftige Treiben war Vergangenheit. Das mechanische Schlagen der gro?en Balancier-Dampfmaschine dr?hnte umso lauter, weil andere Ger?usche g?nzlich fehlten. Es schien, als bewegte sich nur eine Handvoll Arbeiter ?ber das Grubengel?nde. Meggan ?berlegte, wie viele wohl noch unter Tage arbeiteten. Ihr Vater beantwortete ihr diese Frage, als sie, trocken und warm, am Küchenfeuer saßen. »Die Belegschaft der Grube ist von rund zweitausend auf etwa vierhundert gesunken. Es wird nur sehr wenig Kupfer gefördert.« »Wie kann die Grube dann noch existieren?« »Auf der Grubensohle ist noch ein recht großer Erzvorrat. Der wird die Grube über Wasser halten, bis die Männer von den Goldfeldern zurückkommen.« »Glaubst du wirklich, dass die Männer nach Burra zurückkehren?« »Einige sind schon wieder da, obwohl nur wenige wieder als Bergleute arbeiten. Ayers ist überzeugt, dass die meisten zurückkommen. Goldsucher waren draußen in der Hoffung, in Südaustralien ein Goldfeld zu finden.« »Davon hat mein Mann gesprochen. Bis jetzt waren sie nicht erfolgreich.« »Und ich glaube auch nicht, dass sie Erfolg haben werden. Dies hier ist Kupferland, kein Goldland.« Sie sprachen weiter über die Stadt und die Menschen, die noch da waren, über die, die weggegangen waren, und die, die, reich geworden durchs Gold oder mit leeren Händen, zurückgekehrt waren. Jane saß da, hörte zu und staunte, dass Meggans Eltern sie so fraglos akzeptierten. Henry Collins mochte sie sofort, er war vom selben Schlag wie ihr Adoptivvater. Bei Joanna Collins war sie sich, trotz der freimütig gewährten Gastfreundschaft, nicht so sicher. Es konnte nicht ausbleiben, dass Jane ins Gespräch mit einbezogen und nach ihrem Leben gefragt wurde. Als sie erzählte, wie die Wintons sie gefunden hatten, sp?rte sie, dass ihre Mutter und sie mit derselben Gro?z?gigkeit aufgenommen worden w?ren, wenn die Collins sie gefunden h?tten. Trotzdem war sie froh, dass Meggan im Voraus einen Brief geschrieben und ihr Kommen angek?ndigt hatte. Ein Windstoß rüttelte an den Fenstern, und der Regen ließ nicht nach. »Wenn es weiter so regnet, müsst ihr uns für mehr als eine Nacht beherbergen. Ich möchte Mills nicht bitten, uns noch einmal bei so einem Wetter zu kutschieren.« Mills war in die Stadt zurückgekehrt, um die Pferde und die Kutsche in einem Stall unterzustellen und sich ein Zimmer zu suchen. »Ich verstehe nicht, warum du nach Grasslands gehst«, sagte Joanna. »Du solltest bei uns bleiben. Wir sind deine Eltern.« »Ja, Ma, ich weiß, dass es dir lieber wäre, ich würde hierbleiben, aber ich würde den Anblick der Grube nicht ertragen. Ich muss aufs Land, wo Frieden und weite Landschaft sind.« »Vergiss nicht, Joanna, unsere Meggan ist früher schon gerne übers Moor gestreift.« »Meggan ist kein Kind mehr. Sieh sie dir doch an, eine Dame ist sie.« »Innendrin bin ich immer noch derselbe Mensch, Ma. Wenn ich je die Gelegenheit hätte, übers Moor zu streifen, würde ich es, glaube ich, tun.« Meggan sah die Wehmut in den Augen ihrer Mutter, bemerkte, dass sie ihrem Vater einen raschen Blick zuwarf, und beobachtete einen harten Zug um seinen Mund. »Geht ihr je nach Cornwall zurück?« »Deine Mutter würde gerne. Ich hingegen finde keinen überzeugenden Grund, die Reise anzutreten.« Als der beständige kalte Wind die Regenwolken zwei Tage später vertrieben hatte, fuhr Mills Meggan und Jane hinaus nach Grasslands. Diesmal waren die Rollos der Kutsche aufgerollt, und die Frauen konnten die vorüberziehende Landschaft betrachten. »Ich bin diesen Weg so oft gefahren«, sagte Meggan, »dass ich das Gefühl habe, nach Hause zu kommen. Ich freue mich sehr darauf, die Zwillinge wiederzusehen.« »Ich frage mich, was die Kinder von mir halten werden?« »Sie werden Sie wahrscheinlich für die aufregendste Person halten, der sie je begegnet sind. Barney wird mit den Tierspuren prahlen, die er unterscheiden kann. Er erwartet sicher, dass Sie ihm noch mehr zeigen können. Er interessiert sich für alles. Sarah ist auf ihre stille Art auch sehr interessiert.« »Sie mögen sie sehr, Meggan.« »Sie werden sie auch bald ins Herz schließen.« Barney wartete am Tor, um es für die Kutsche zu öffnen und, als Mills hindurchgefahren war, wieder zu schließen. Meggan öffnete den Kutschenschlag, beugte sich hinaus und half ihm hereinzuklettern. »Ich habe die Kutsche kommen sehen«, sagte er, »und wollte der Erste sein, der Sie willkommen heißt.« »Und wo bleibt dann mein Willkommen?« Meggan streckte die Arme aus. Barney umarmte sie stürmisch. »Ich bin froh, dass Sie wieder da sind. Wir haben Sie vermisst. Die Dame, die nach Ihnen kam, war ziemlich schrecklich. Sie hat nie mit uns gespielt oder uns erlaubt, Spaß zu haben. Wir waren froh, als sie wieder ging.« Er kicherte. »Versprechen Sie mir, es nicht meinen Eltern zu verraten, wenn ich Ihnen ein Geheimnis erzähle?« Meggan nickte. »Sarah und ich haben alles getan, damit es dazu kommt.« »Das war nicht sehr nett von dir, Barney.« »Na, sie war auch nicht besonders nett.« »Zu Jane wirst du aber nicht ungezogen sein, oder?« »O nein.« Er schaute zu Jane hinüber. »Ich mag Sie. Sie sind Meggans Freundin. Meggan hat bestimmt keine Freundinnen, die nicht nett sind. Sind Sie wirklich eine Aborigine?« »Barney, sei nicht unhöflich.« »Die Frage ist ganz natürlich, Meggan. Ja, Barney, ich bin eine Aborigine.« »Können Sie einen Bumerang werfen?« Jane lachte. »Nein, Barney, nur Männer werfen Bumerangs.« »Oh.« Er war niedergeschlagen. »Ich hatte gehofft, Sie könnten mir beibringen, wie man ihn so wirft, dass er wieder zurückkommt.« »Nein. Tut mir leid, Barney.« Die Kutsche hielt vor dem Haus, wo Mr. und Mrs. Heilbuth mit Sarah auf sie warteten, um sie willkommen zu heißen. Sarah stürzte sich sofort in Meggans Arme. Wie sie das Kind so in den Armen hielt, spürte Meggan Tränen in den Augen. Sie hatte die Zwillinge vermisst. Mrs. Heilbuth umarmte sie, und Mr. Heilbuth gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Wir freuen uns so, Sie wieder bei uns zu haben, Meggan, selbst unter so traurigen Umständen.« »Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich gebeten haben, zu Ihnen zu kommen.« Sie wandte sich um, um Jane an der Hand zu nehmen und sie nach vorne zu führen. »Dies ist Jane, von der ich Ihnen geschrieben habe. Jane, dies sind Mr. und Mrs. Heilbuth und Sarah, die Zwillingsschwester des kleinen Barney.« »Wie geht es Ihnen?«, sagte Jane leise. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, dass Sie mir erlauben, Meggan zu begleiten.« »Sie müssen uns nicht danken. Als Meggan uns von Ihrer Notlage schrieb, waren wir uns sofort einig, dass Sie mit ihr herkommen müssen. Nun, Meggan, wir haben für Sie das Gästezimmer hergerichtet, und Jane kann Ihr altes Zimmer neben den Zwillingen haben.« Sarah folgte Meggan ins Gästezimmer. »Sind Sie wieder unser Kindermädchen?« »Nein, Jane wird euer neues Kindermädchen.« »Aber vielleicht mag ich sie nicht. Ich möchte, dass Sie sich wieder um uns kümmern.« »Ich werde immer eure Freundin bleiben.« »Lesen Sie uns auch Geschichten vor und spielen mit uns?« »Selbstverständlich.« »Dann sind Sie auch unser Kindermädchen.« Meggan setzte sich aufs Bett und zog Sarah in ihre Arme. »Sarah, Schatz, ich werde eines Tages wieder weggehen. Jane hat sonst niemanden, zu dem sie gehen kann. Sie bleibt in Grasslands, um sich um euch beide zu kümmern und eurer Mama zu helfen.« »Sie könnten doch beide unsere Kindermädchen sein«, erklärte Sarah mit der Logik eines Kindes und krabbelte von Meggans Schoß. »Ich helfe Ihnen, die Sachen wegzuräumen.« Das Mädchen begeisterte sich für die Kleider, die Meggan auspackte. »Sie haben aber viele schöne Kleider. Hat Jane auch schöne Kleider?« »Ja, Jane hat sehr schöne Kleider, wenn auch nicht so viele wie ich. Sie hat auf einer Farm gelebt wie deine Familie, und deswegen hat sie mehr praktische Kleider für jeden Tag.« »Ich wünschte, ich hätte auch Kleider mit Spitzen und Bändern.« »Wenn du eines Tages ein solches Kleid brauchst, wirst du auch eines bekommen.« Meggan holte ein schlichtes Kleid aus grauer Seide aus dem Koffer. »Siehst du, Sarah, nicht alle meine Kleider sind mit Bändern und Spitzen besetzt.« Sarah schmollte. »Ich würde Sie gerne in einem Ihrer hübschen Kleider sehen.« Meggan lächelte freundlich. »Eines Tages wirst du das.« Ihre Kleider würden noch einige Monate ungetragen bleiben, denn ihre Figur veränderte sich jetzt schnell. Als sie mit dem Auspacken fertig war, ging Meggan mit Sarah in Janes Zimmer, wo sie Barney trafen, der sie mit endlosen Fragen plagte. Er wandte sich aufgeregt an seine Zwillingsschwester. »Weißt du was? Als Jane klein war, hat sie im Busch gelebt. Sie mussten jagen, um etwas zu essen zu haben. Jane kann mit uns jagen gehen.« Sarah sah ihn zweifelnd an. »Ich will nicht jagen. Da muss man den Tieren doch wehtun.« »Ich nehme keinen von euch mit zur Jagd. Aber ich kann euch zeigen, welche Buschnahrung man draußen finden kann.« »Können Sie mir noch ein paar Tierspuren beibringen?« »Ja, sicher.« Sie lächelte Meggan an. »Der Bursche hier hört ja gar nicht mehr auf zu fragen.« Meggan lachte. »Ich habe Sie gewarnt.« »Weswegen haben Sie die Frau gewarnt?« »Nicht ›die Frau‹, Barney, ›Jane‹.« »Tut mir leid.« »Ich habe Jane gesagt, dass du ihr ein Loch in den Bauch fragen würdest.« »Weil ich ›wissierig‹ bin, nicht wahr?« Meggan lachte wieder und fuhr ihm durch die Haare. »Das weißt du noch, nicht wahr? Ist Cookie in der Küche? Ich würde ihr gerne Guten Tag sagen.« »Wir haben auch neue Welpen. Lady hat jetzt Welpen. Mögen Sie Hunde, Jane?« »Ich mag Welpen.« »Dann kommen Sie.« Sie gingen zusammen hinaus in den Küchenhof. Als sie Lady mit ihren vier flauschigen schwarz-weißen Welpen, die um sie herumtollten, auf dem Sackleinen liegen sah, hatte Meggan fast ein Déjà-vu-Erlebnis. Sie konnte Con sehen, wie er, amüsiert über Barneys Fragen, an der Wand lehnte. Sie sah ihn neben den Kindern knien und dem Jungen den Unterschied zwischen Welpenjungen und Welpenm?dchen erkl?ren. Wie lange das her zu sein schien. Als die Welpen angemessen bewundert und gestreichelt worden waren, sprangen die Kinder vor Meggan und Jane in die Küche. Cookie nahm Meggan warm in die Arme. »Es ist so schön, Sie zu sehen, Meggan. Die beiden haben keinen Tag aufgehört, von Ihnen zu reden.« »Cookie, das ist Jane Winton, das neue Kindermädchen der Zwillinge.« Cookie taxierte die junge Aborigine kurz. Sie war mit Aboriginal-Dienstpersonal im Haus aufgewachsen und war mit den Aboriginal-Kindern befreundet gewesen. Jane war anders als alle, die sie gekannt hatte. Die junge Frau war schön, und sie trug nicht die schlichten, billigen Kleider, die man Aboriginal-Dienstboten gemeinhin gab. Hinter dem schönen Gesicht sah Cookie einen intelligenten, freundlichen und seelisch starken Menschen. Jane war ein Mensch, den man hoch schätzen musste. »Sie sind hier sehr willkommen, Jane. Wenn die beiden Ihnen Schwierigkeiten machen, sagen Sie mir nur Bescheid.« »Vielen Dank. Und vielen Dank, dass Sie mich so herzlich aufnehmen. Ich bin wirklich froh, dass ich dank Meggan herkommen konnte.« Cookie schenkte für sie drei Tee ein, schnitt Teekuchen auf und stellte für die Zwillinge Kekse und Milch auf den Tisch. »Was Ihrem Mann zugestoßen ist, war schrecklich, Meggan.« »Was ist passiert?« Diesmal war Sarah diejenige, die die Frage stellte, die ihr Bruder jedoch gleich beantwortete. »Mama hat es uns erzählt. Meggan hat ihn verloren und ihn nicht wiedergefunden.« Die drei Frauen tauschten erstaunte und amüsierte Blicke. »Ich habe ihn nicht wirklich verloren, Barney.« »Was ist mit ihm passiert? Ist er weggegangen?« »Nein, Barney. Er ist gestorben.« »Oh.« Der Junge runzelte die Stirn. »Dann hat Mama aber gelogen. Sie hat gesagt, Sie hätten Mr. Westoby verloren. Ich wollte Ihnen helfen, ihn wiederzufinden.« Um die Tränen in ihren Augen zu verbergen, nahm Meggan Barney in die Arme. »Das ist sehr lieb von dir, Schatz. Deine Mutter hat nicht gelogen. So sagen die Leute einfach, wenn jemand gestorben ist. Sie sagen, man hat jemanden verloren.« »Das ist dumm. Wie ist er gestorben?« »Bei einem Unfall, Barney, und mehr werde ich dir darüber nicht erzählen.«  
Eine Woche später hatte das Leben in Grasslands in einen entspannten Rhythmus gefunden. Für Meggan war es, als wäre sie nach Hause gekommen. Grasslands war für sie immer mehr ein Zuhause gewesen als das Cottage in Burra, Mrs. Heilbuth war immer mütterlicher gewesen als ihre eigene Ma. Mrs. Heilbuth war ganz aufgeregt wegen des Babys, das sie erwartete. »Sie werden eine kleine Seele haben, die Sie an Ihren Mann erinnert.« Meggan wusste, dass sie ihr niemals die Wahrheit sagen konnte. Mrs. Heilbuths Fragen, ob sie Pläne habe, ihre Karriere fortzusetzen, konnte sie jedoch ehrlich beantworten. »Ich weiß es nicht, Mrs. Heilbuth. Ohne David hätte ich nie den Erfolg erreicht, den ich hatte. Ich habe das Gefühl, ihm alles zu verdanken. Eine innere Stimme sagt mir, ich solle fortfahren zu Ehren all dessen, was er für mich getan hat. Obwohl ich nicht glaube, dass ich den Mut habe, ohne ihn an meiner Seite weiterzumachen. Dann ist da das Baby. Mein Kind hat keinen Vater mehr, und deshalb muss ich immer für ihn da sein.« »Dann hoffen Sie auf einen Sohn?« »Tut das nicht jede Frau?« Ein Sohn wäre in jeder Hinsicht eine Miniaturausgabe seines Vaters, sodass sie für den Rest ihres Lebens eine kostbare Erinnerung an den Mann hätte, den sie immer lieben würde.  
Die Zwillinge fanden, Jane sei das beste Kindermädchen der Welt, außer Meggan natürlich, die in ihren Herzen immer den ersten Platz einnehmen würde. Sie erklärten, sie wären froh, dass Jane bleiben würde, um sich um sie zu kümmern, wenn Meggan sie verließe. Die Freundschaft zwischen Meggan und Jane wuchs mit jedem Tag. Mrs. Heilbuth war entzückt, als Jane ein leidenschaftliches Interesse für den Prozess der Käseherstellung an den Tag legte. Am Ende der Woche wusste Jane, dass sie niemals wieder fortgehen wollte. Hier, umgeben von der Wärme dieser Familie, weit weg von Engstirnigkeit und Misshelligkeiten, konnte sie wieder glücklich sein. Hier würde sie das Entsetzen von Joshuas Vergewaltigung hinter sich lassen können. Sie würde nicht zulassen, dass die Erinnerungen sie Tag und Nacht heimsuchten, auch wenn sie es nie vergessen würde. Genauso wenig, wie sie ihr Versprechen vergessen würde. Wenn sie Joshua Winton je wiedersah, würde sie ihn töten. Die Wintermonate vergingen, und die Tage wurden wieder wärmer. Hellgrüne Triebe an Bäumen und Sträuchern kündigten die neue Wachstumsperiode an. Flaumige gelbe Blüten bedeckten die Akazien, deren süßer Duft schwer in der Luft lag. Je weiter die Schwangerschaft voranschritt, desto müder wurde Meggan und war es zufrieden, halbe Tage müßig zuzubringen. Wenn das kleine Wesen in ihrem Bauch sich rührte, legte sie manchmal eine Hand dahin, wo die Bewegung zu spüren war. Dann wusste sie, dass sie ihr ungeborenes Kind jetzt schon ungestüm liebte. Auch wenn das ein egoistischer Gedanke war, war sie froh, dass sie Cons Kind ganz für sich haben würde. Einen Teil des Tages verbrachte sie damit, regelmäßige Korrespondenz mit dem Anwalt Mr. Reilly zu führen, der Davids Angelegenheiten regelte. Meggan war noch dabei, das Ausmaß der Geschäftsanteile ihres verstorbenen Ehemanns zu erkunden. All das und Davids Besitzt?mer geh?rten jetzt ihr. Abgesehen davon, dass sie akzeptieren musste, von jetzt an eine wohlhabende Frau zu sein, hatte Meggan im Augenblick keine Vorstellung, was sie mit den Aktien, die sie besa?, machen sollte. Sowohl Mr. Reilly als auch Mr. Harrison von der Bank dr?ngten sie zu verkaufen. Letzten Endes war das wohl das Kl?gste. Doch vorerst konnte sie sich zu keiner Entscheidung durchringen, und so wies sie Mr. Reilly an, alles solle so weiterlaufen wie bisher. In den ersten Wochen in Grasslands schrieb sie Dankesbriefe an die Trauernden, die Davids Beerdigung beigewohnt hatten, und an andere, die ihr Beileid in Briefform ausgedrückt hatten. Doch einen Menschen gab es, dem sie nicht schreiben konnte. Den Menschen, den sie, wenn auch ohne jede Logik, für Davids Tod verantwortlich machte. Davids Leichnam war von der Straße aufgehoben und ins städtische Leichenschauhaus gebracht worden, und Mills und Mrs. Mills hatten sie zur Identifikation begleitet. Sie bestanden darauf, sie könne sich einer solchen Aufgabe unmöglich allein stellen, ohne jemanden zu haben, der ihr beistand. Am Ende war sie diejenige gewesen, die die völlig aufgelöste Haushälterin hatte trösten müssen. Der Schock war Meggan so in die Glieder gefahren, dass sie viele Tage lang keine Tränen vergoss. Davids Gesicht war unverletzt. Die Räder der Kutsche hatten seinen Körper zermalmt. Meggan hatte beim Anblick der Leiche gar nichts empfunden. Diese hagere Gestalt mit gelblicher, blutleerer Haut, die sich stramm über die Knochen des Gesichts zog, war nur eine makabre Karikatur des Mannes, der ihr Ehemann gewesen war. In dem Augenblick, da sie sich abwandte, verbannte sie das Bild der Leiche aus ihrem Kopf. So wollte sie David nicht in Erinnerung behalten. Sie würde nur an seine Güte und Freundlichkeit denken und an die friedliche Zeit, die sie zusammen erlebt hatten. Sie würde sich an die zärtliche Liebe erinnern, die er ihr gegeben hatte. Eine Liebe, die sie in vollem Ma?e erwidert hatte. Sein Tod hinterlie? in ihrem Leben eine nicht zu schlie?ende L?cke. Bei ihrer Rückkehr machte Mrs. Mills sich unter Tränen daran, eine Kanne erquickenden Tee zu kochen, und Meggan sah die persönlichen Dinge ihres Mannes durch, die man ihr ausgehändigt hatte. Unter ihnen fand sie ein Saphirarmband. Am Tag der Beerdigung trug sie es, ungeachtet dessen, was andere denken mochten, über dem schwarzen Handschuh an ihrem Handgelenk. Das Armband war das letzte Geschenk ihres Ehemannes, und sie würde es zum letzten Abschied tragen. Madame Marietta unterstützte Meggan uneingeschränkt in dieser Entscheidung, Mrs. Harrison verfocht ihrer Natur gemäß die gegenteilige Position. »Ha!«, erklärte Madame, als die meisten Trauernden gegangen waren. »Die werden sich mächtig das Maul zerreißen. Dumme Frauen, alle zusammen, die nichts anderes haben im Leben als die Kinder, die sie ihren Männern gebären.« Meggan war zu müde, um ihr zuzustimmen oder zu widersprechen, und sagte gar nichts. Madames Groll gegen Frauen, die Kinder bekamen, gefiel ihr nicht recht. »Ich hatte ihm noch gar nicht von dem Baby erzählt.« Sie war nicht stolz darauf, aber sie war erleichtert, dass sie ihm diesen Schmerz erspart hatte. Jetzt spielte es keine Rolle mehr. »Wenn ich es ihm an dem Abend erzählt hätte, als ich es vorhatte …« Der Satz blieb unvollendet. Wenn sie doch nur weinen könnte. Wenn doch nur diese schreckliche Taubheit von ihr abfiele. »Sie müssen sich nicht aufregen, Meggan. Ihr Mann hat es gewusst.« »Was?« Madames Worte rissen Meggan aus ihrer Teilnahmslosigkeit. »Sie haben es ihm gesagt?« Madame besaß zumindest so viel Gewissen, ein reumütiges Gesicht zu machen. »Ich habe ihm bei die Juwelier getroffen. Er bat mich um mein Meinung, ob er die Armband kaufen solle. Ich fragte ihn, ob die Armband ein spezielles Geschenk f?r die Baby sei.? »Das haben Sie ihn gefragt?« »Es war ein ganz natürlich Frage.« Madame breitete verteidigend die Hände aus. »Ich wusste nicht, dass Sie es ihm verheimlicht hatten.« Meggan wurde ganz übel. »Was hat David darauf gesagt?« Madame wurde nervös. »Vielleicht war er ein bisschen überrascht. Ich erinnere mich nicht. Ich habe die Laden sofort verlassen. Ich habe nicht einmal die Unfall gesehen.« »Sie haben den Laden eiligst verlassen, weil Ihnen klarwurde, was Sie getan hatten. Vielleicht ist Ihnen sogar gedämmert, warum ich es ihm noch nicht gesagt hatte. Wie konnten Sie so gedankenlos sein?« »Jetzt geben Sie mir den Schuld an Ihren Indiskretion. Das kann ich nicht akzeptieren. Ich gehe.« »Ja, bitte gehen Sie, Madame. Ich möchte allein sein.« Zeugen hatten ausgesagt, David habe gedankenverloren gewirkt und sei der Gefahr nicht gewahr gewesen, als er auf die Straße trat. Im abgedunkelten Zimmer liegend, wusste Meggan ohne jeden Zweifel, dass Madames unachtsame Worte der Grund für Davids Tod gewesen waren. Auch sie selbst hatte Schuld am Tod ihres Mannes. Dieses Kreuz würde sie immer tragen. Von diesem Tag an hatte sie sich bis zu dem Augenblick, da Adam Winton mit Jane vor der Tür stand, geweigert, Besucher zu empfangen. Mr. und Mrs. Mills schützten ihre Privatsphäre mit allen Mitteln. Und wann immer Mrs. Mills die Schluchzer hörte, die klangen, als rissen sie ihre junge Herrin entzwei, war sie zur Stelle, um die Fluten mit einer Tasse starkem, süßem Tee einzudämmen und Meggan so viel Trost zu bieten, wie diese annehmen mochte.  
Eines, was Meggan mit ihrem ererbten Wohlstand tun wollte, war, ihren Eltern einen behaglichen Lebensstil zu ermöglichen. »Du musst nicht mehr arbeiten, Pa.« »Was soll ich denn den ganzen Tag machen, wenn ich nicht mehr in die Grube gehen kann?« »Du kannst tun, was du willst, Pa. Ich kann euch ein sorgenfreies und behagliches Leben bereiten, wo auch immer ihr leben wollt. Ich weiß, dass du immer gesagt hast, du würdest gerne reisen, um neue Orte zu sehen. Jetzt kannst du reisen.« »Ich bin jetzt älter, Meggan. Ich ziehe nicht mehr durch die Welt.« »Denk darüber nach«, fügte Joanna flehentlich hinzu. »Wir könnten nach Hause zurückkehren.« »Zurück nach Cornwall? Nein, Joanna, das ist nichts mehr für uns. Australien ist jetzt unsere Heimat. Das andere Leben haben wir hinter uns gelassen.« »Vielleicht du und die Kinder. Ich bin hier nie heimisch geworden.« Henry warf seiner Frau einen scharfen Blick zu. »Das ist allein deine Schuld. Du hast dich in deiner Religion vergraben und alle, die gerne mit dir Freundschaft geschlossen hätten, von dir gewiesen.« Die Härte in den Worten ihres Mannes, die selten zu hören war, ließ Joanna erbleichen. Sie verteidigte sich. »In Cornwall würde ich Freunde finden.« »Was bedeuten mir Freunde, wenn Meggan und unsere Söhne in Australien sind?« »Wie oft bekommen wir denn Post von unseren Söhnen?« »Wir sind immerhin auf demselben Kontinent. Das allein zählt. Ich möchte nicht wie Phillip Tremayne werden, der ans andere Ende der Welt schickt, um seinen Sohn zu finden, bevor er vor seinen Schöpfer tritt.« Die Erwähnung von Phillip Tremayne brachte Joanna zum Schweigen. Sie nahm ihre Näharbeit wieder auf und überließ Vater und Tochter das Gespräch. Ihre Worte drangen kaum in ihr Bewusstsein, denn sie war in Gedanken v?llig mit der Vorstellung besch?ftigt, in das Land ihrer V?ter zur?ckzukehren. Die Sehnsucht, nach Hause zur?ckzukehren, hatte sie in den Jahren, die sie in Burra gelebt hatten, mit aller Macht unterdr?ckt. Da sie bis dato nie genug Geld gehabt hatten, eine solche Reise zu unternehmen, hatte sie auch nie ?ber ihren Wunsch gesprochen. Jetzt jedoch h?tte sie sich dank der Gro?z?gigkeit ihrer Tochter diesen Traum erf?llen k?nnen. Wenn sie ihren Mann doch nur ?berreden k?nnte. Jedes Mal, wenn Meggan ihre Eltern sah, flehte sie ihren Vater an, die Arbeit in der Grube aufzugeben. »Wenn der rechte Augenblick kommt, Meggan«, antwortete er darauf stets. »Und wann soll das sein, Pa? Wenn du nicht mehr arbeiten kannst?« »Ich bin Bergmann, bis ich etwas anderes finde, womit ich meine Tage füllen kann. Ich bin kein Mann für den Müßiggang.« »Wenn ich dich nicht überzeugen kann, die Arbeit in der Grube aufzugeben, Pa, dann lass mich Ma das Geld geben, um einen Urlaub in Cornwall zu machen, ja?« »Meinst du das ernst, Meggan?«, rief Joanna überrascht. »Ja, Ma. Ich würde dir eine Kabine buchen und mich um alles kümmern. Du bräuchtest es nur noch zu genießen.« Die strahlende Freude in Joannas Gesicht wich rasch einem Stirnrunzeln. »Ich möchte nicht allein reisen. Dein Pa will mich nicht begleiten.« Sie warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu, der mit dem erwarteten Kopfschütteln beantwortet wurde. »Ich könnte dich begleiten, Ma.« Der Gedanke, ihre Mutter auf der Reise zu begleiten, kam ihr just in diesem Augenblick. »Du kannst in deinem Zustand unmöglich reisen, wo das Baby schon so bald kommt.« »Nein, Ma. Die Reise würde warten müssen, bis das Baby mindestens sechs Monate alt ist.«  
Die andere Freude in Meggans Leben in den Monaten des Wartens auf die Niederkunft war es, Jane in die Welt der Romane einzuführen. Eines Nachmittags hatte Jane Meggan nach dem Titel des Buches gefragt, das sie gerade las. Zufällig war es an diesem Nachmittag Verstand und Gefühl von Miss Austen. »Ich habe noch nie einen Liebesroman gelesen«, erklärte Jane. »Noch nie? Was haben Sie denn gelesen?« »Ich habe zwei Bücher von Charles Dickens gelesen. Sie haben Adam gehört. Davon abgesehen gab es bei uns nur Zeitschriften und ab und zu einmal eine Zeitung.« Sie lächelte. »Ich habe jedes Wort verschlungen. Der Rest der Familie fand mich seltsam. Keiner hat sich fürs Lesen interessiert.« »Haben sie Ihnen niemals Bücher gekauft?« »Ich habe nicht darum gebeten. Und da sie sich nicht für Romane interessierten, ist niemand auf den Gedanken gekommen, für mich Bücher zu kaufen.« »Sie müssen sich meine Bücher ausborgen, wann immer Sie wollen. Kommen Sie mit. Ich geben Ihnen Stolz und Vorurteil zu lesen. Es wird Ihnen bestimmt gefallen.« Jane fand so viel Gefallen an dem Buch, dass sie es immer wieder las. »Wenn ich einen Sohn bekomme«, erklärte sie, »taufe ich ihn Darcy.«  
Meggan, Jane und die Zwillinge machten gerade einen Spaziergang am Bach, als bei Meggan das Fruchtwasser abging. Plötzlich wurden ihre Beine ganz nass, was sie gleichermaßen schockierte wie beunruhigte. Sie blieb stehen, denn sie wusste nicht, was mit ihr geschah. Jane drehte sich um, um zu schauen, warum Meggan stehen geblieben war, und schickte die Kinder rasch einige Wildblumen in der Nähe pflücken. »Was ist, Meggan?« »Ich bin ganz nass. Es läuft mir an den Beinen hinunter.« Jane keuchte auf. »Wir müssen zurück. Das Baby kommt.« »Woher wissen Sie das? Ich habe doch noch gar keine Wehen.« »Das Fruchtwasser ist abgegangen. Hat Ihnen niemand gesagt, dass das passiert?« Meggan schüttelte den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung. Haben wir genug Zeit, zum Haus zurückzukehren? Jane«, plötzlich zitterte ihre Stimme vor Panik, »ich habe keine Ahnung, was mich erwartet.« »Ich zum Glück schon. Als meine Mutter noch lebte, ich meine, meine leibliche Mutter, hat sie den Aboriginal-Frauen im Lager geholfen, ihre Kinder zur Welt zu bringen. Barney, Sarah, kommt, wir gehen zurück zum Haus.« Mrs. Heilbuth steckte Meggan sofort mit viel Getue ins Bett. Cookie stellte zusätzliche Kessel mit Wasser auf den Herd. Bertie, der Stallbursche, wurde nach Burra geschickt, um die Hebamme und Meggans Eltern zu holen. Meggan lag im Bett und fühlte sich vollkommen wohl. Jane setzte sich zu ihr, sobald Mrs. Heilbuth die Zwillinge übernommen hatte. »Hatten Sie schon Wehen?« »Ein paar ganz schwache.« »Das ist noch gar nichts. Wenn die Geburtswehen einsetzen, Meggan, dann werden Sie nicht mehr zweifeln, was das ist.« Meggan aß ihr Abendessen im Bett und überlegte immer noch, wann die Niederkunft wohl anfangen würde. Ihre Erfahrung bis dahin war ganz anders als die Geschichten über Geburten, die man ihr erzählt hatte. Als ihr gegen zehn Uhr die Augen schwer wurden, dachte sie schon, Jane habe sich geirrt. »Ich glaube, mein Baby ist noch nicht bereit, geboren zu werden, Jane. Ich dachte, es käme Mitte des Monats.« »Wir müssen hoffen, dass es bereit ist, geboren zu werden, Meggan.« »Sie machen sich Sorgen, Jane.« »Ja. Wenn sich bis morgen früh nichts tut, müssen wir den Arzt holen. Ich weiß nicht, was mit dem Baby passiert, wenn es, jetzt wo das Fruchtwasser abgegangen ist, noch im Bauch bleibt, Meggan.« »Weiß die Hebamme das? Ist sie schon da?« »Noch nicht. Vielleicht ist sie bei einer anderen werdenden Mutter.« »Jane, ich muss dieses Baby gesund zur Welt bringen. Ich würde es nicht ertragen, wenn ihm etwas zustieße.« »Scht jetzt. Ich hätte nichts sagen sollen. Machen Sie sich keine Sorgen, Meggan, ich weiß, was zu tun ist, wenn die Wehen losgehen. Wir müssen nur hoffen, dass sie bald einsetzen. Ich schlafe nebenan. Sie sollten auch schlafen.« Obwohl sie dachte, sie würde wach bleiben und darauf warten, dass die Geburt begann, schlief Meggan tief und fest und träumte, bis ein schrecklicher Schmerz im Bauch sie keuchend weckte. Das, dachte sie, hat Jane also gemeint. Beim zweiten Schmerz ballte sie die Hände zu Fäusten. Es heißt, das kann mehrere Stunden dauern. So lange ertrage ich das nicht. Die dritte Wehe war noch stärker. »Jane!«, schrie sie. »Jane!« Jane war im Nu an ihrer Seite und mahnte sie, ruhig zu bleiben. Meggan warf den Kopf hin und her. »Ich kann nicht, Jane.« Eine weitere Wehe ließ sie laut aufschreien. Jane warf rasch die Bettdecke zurück, zog Meggans Nachthemd hoch und beugte ihre Knie. »Ich kann schon den Kopf sehen. Ihr Baby braucht jetzt nicht mehr lange. Oh, Mrs. Heilbuth, halten Sie Meggans Hand, sie muss sich an irgendetwas festhalten.« Niemals hätte sie sich solche Schmerzen vorstellen können. Meggan keuchte und schwitzte, schrie jedoch nicht mehr laut auf. »Sie können ruhig schreien, meine Liebe«, sagte Mrs. Heilbuth. Meggan schüttelte den Kopf und biss die Zähne zusammen.  
Doch der Schmerz schien ihren ganzen Körper erfasst zu haben. Mit der linken Hand zerquetschte sie Mrs. Heilbuths Hand, mit der rechten hielt sie sich an der Bettkante fest. Ein Schmerzensschrei entrang sich ihr. Plötzlich war alles vorbei. Fünf Minuten nach Mitternacht hielt Meggan ihre Tochter in den Armen. Sie staunte, wie winzig und perfekt sie war, die kleinen Finger mit den winzigen Nägeln. Sie berührte ihr Gesicht, das Cons so ähnlich war, und erfuhr eine Liebe, wie sie noch nie eine empfunden hatte. Als der winzige Mund sich um ihre Brustwarze schloss, um zu saugen, war sie fast überwältigt von dem Wunder, das ihre Tochter war. Henry Collins hatte Nachtschicht. Auf der 50-Lachter-Sohle arbeiteten neue Männer, Männer, in die er wenig Vertrauen hatte, obwohl es kornische Bergleute waren. Sie waren als Gedingearbeiter eingestellt und unter Tage geschickt worden, um ein neues Vorkommen aufzuhauen. Bei den ständigen Wasserproblemen in den tiefsten Schächten wurde in den höheren Abbausohlen jede Unze Kupfer gesucht. Henry Collins stieg ab, um ihre Arbeit zu überwachen. Die erste Sprengung war erfolgreich gewesen, jetzt wurde der Schutt beiseitegeschaufelt. Henry inspizierte den freigelegten Erzgang. »Was meinen Sie, Käpt’n Collins?«, fragte einer der Männer. »Der Kupferflöz läuft mehr nach Süden. Setzen Sie da drüben noch eine Ladung.« Er nahm seine Taschenuhr heraus, um nach der Zeit zu schauen. Die Zeiger standen auf fünf Minuten vor Mitternacht. Er überließ den Gedingearbeitern das Bohren und das Setzen der Sprengladungen und krabbelte durch einen niedrigen Zugang im Fels zu einem anderen Vorkommen. An diesem Vorkommen waren die Erzgedingehauer mit schweren Keilhauen am Werk, das Erz zu brechen. Er sprach mit den Männern der Kameradschaft, bevor er eine kleine Keilhaue zur Hand nahm und sich an der anderen Seite des Gangs zu schaffen machte. Die Explosion erschütterte die Erde unter ihnen, um sie herum und über ihnen. Zu Eis erstarrt, tauschten Henry und die Erzgedingehauer ängstliche Blicke. »Die Dummköpfe haben zu viel Sprengstoff genommen«, schrie Henry. »Kommt, Männer, sie brauchen wahrscheinlich Hilfe.« Henry erreichte den Verbindungszugang als Erster. Er war auf Händen und Knien; Kopf, Arme und Oberkörper steckten schon in dem schmalen Gang. Es gab kein Geräusch, kein ominöses Knacksen, keine Warnung. Die Felswand über seinem Kopf brach einfach zusammen.  
Alle hielten es für das Beste, Meggan die Nachricht zu verschweigen. Alle, außer Joanna. »Meggan wird wissen, dass etwas nicht stimmt, wenn ihr Pa sie nicht besucht. Wir sagen ihr besser die Wahrheit.« Diese Worte hatte sie zu Mr. Heilbuth in den sonnigen Stunden des Vormittags gesagt, während die Männer immer noch damit zugange waren, den Bergsturz wegzuräumen und Captain Collins’ Leiche zu bergen. Mr. Heilbuth hatte die Hebamme zurück in die Stadt gefahren. Die gute Frau war erst eine Stunde nach der Geburt nach Grasslands gekommen. Sie hatte versichert, dass alles so war, wie es sein sollte, hatte Jane mit einem rechten Maß an Neugier betrachtet und einen bärbeißigen Kommentar über ihre Geschicklichkeit abgegeben. Als Mr. Heilbuth die Hebamme an ihrem Haus abgesetzt hatte, war er zur Grube gefahren, um Henry und Joanna Collins mitzunehmen, damit sie ihre Tochter und ihr Enkelkind besuchen konnten. Erst als er an die Grube kam, erfuhr er von der Tragödie. Der Anblick der Männer und Frauen, die sich um das Fördergerüst drängten, sagte ihm alles, noch bevor er nah genug bei ihnen war, um ihre ernsten Mienen zu erkennen und die Taschent?cher, mit denen Tr?nen weggewischt wurden. Er band das Pferd mit der Kutsche etwas abseits an, um sich den Leuten zu Fuß zu nähern. »Was ist passiert?«, fragte er einen Mann am Rand der Gruppe. »Bergsturz. Hat Käpt’n Collins erwischt.« »Gütiger Himmel! Er ist doch nicht tot, oder?« »Schätze schon, so sicher wie das Amen in der Kirche.« »Wo ist Mrs. Collins?« Der Mann wies mit einem Nicken auf die andere Seite des Schachts. Mr. Heilbuth schob sich durch die wartende Menschenmenge, bis er an ihrer Seite war. »Mrs. Collins, ich habe die Neuigkeit gehört. Besteht denn gar keine Hoffnung?« Sie schüttelte den Kopf, und er sah, dass ihre Lippen sich in stummem Gebet bewegten. »Mrs. Collins, ich habe auch erfreulichere Neuigkeiten für Sie.« Sie unterbrach ihr Gebet nicht. »Sie haben eine Enkeltochter. Meggan hat heute Nacht ein Mädchen zur Welt gebracht.« Da sah Joanna ihn an. »Geht es ihnen gut?« »Ja, beide sind wohlauf.« »Wann wurde das Kind geboren?« »Wenige Minuten nach Mitternacht, glaube ich.« Einen Augenblick schwieg sie. Tränen traten ihr in die Augen. Sie richtete den Blick wieder auf den Schacht. Die Worte, die sie sprach, waren kaum vernehmlich. »Der Herr gibt, der Herr nimmt.« George Heilbuth blieb an Joannas Seite, bis Henry Collins’ Leiche geborgen worden war, und als sie die Totenbahre zum Cottage trugen, ging er neben ihr her. »Kommen Sie mit mir nach Grasslands, Mrs. Collins? Sie sollten nicht hier allein bleiben.« »Ich muss zum Pfarrer gehen und mich um die Beerdigung kümmern.« »Soll ich den Pfarrer herbitten? Es kommen sicher Leute, die ihre Aufwartung machen wollen. Ihr Mann war wohlgelitten.« So konnte er die Nachricht, dass man Henry Collins am nächsten Vormittag um zehn Uhr beerdigen würde, mit nach Grasslands nehmen. Mrs. Heilbuth war sehr besorgt über das, was ihr Mann ihr mitzuteilen hatte. »Die arme, liebe Meggan. Sie hat ihrem Vater so nahegestanden. Was für eine Tragödie. Wir müssen es ihr verheimlichen, bis sie stark genug ist, den Schock zu ertragen.« Cookie war, als sie davon erfuhr, genauso einer Meinung mit Mrs. Heilbuth wie Mr. Heilbuth. Jane unterstützte Joanna Collins’ Wunsch, es Meggan zu sagen. »Wir können es ihr nicht verheimlichen. Wenn sie wach wird, will sie sicher wissen, warum ihre Eltern nicht gekommen sind, um ihr Enkelkind zu besuchen. Können Sie sie anlügen? Ich werde nicht lügen. Mrs. Heilbuth«, fuhr sie in sanfterem Tonfall fort. »Sie wollen doch sicher nur das Beste für Meggan. Versetzen Sie sich einmal in ihre Lage. Würden Sie nicht auch die Wahrheit wissen wollen?« »Sie haben recht, Jane. Meggan wird es uns nicht danken, wenn wir sie in Unwissenheit lassen. Wenn ich es ihr erzähle, kurz bevor sie das Baby füttert, findet sie im Stillen der Kleinen vielleicht Trost.« Mrs. Heilbuth weckte Meggan. »Wie geht es Ihnen, meine Liebe?« »Sehr gut.« Ihr Mund, der sich zu einem Lächeln verziehen wollte, erstarrte, als sie Mrs. Heilbuths ernstes Gesicht sah. »Was ist? Mein Baby?« Sie schob sich hoch, um einen panischen Blick in das Kinderbettchen zu werfen, und wurde fast überwältigt vor Erleichterung, als sie das Baby sich recken und gähnen sah. »Ihrem Baby geht’s gut, Meggan.« »Aber …?« »Ihr Vater, Meggan. Oh, meine Liebe, es gibt keine Möglichkeit, es Ihnen leichter zu machen.« »Er ist tot?« »Ja, meine Liebe. Letzte Nacht kam es in der Grube zu einem Bergsturz.« »Oh.« Sie schrie nicht auf, das könne nicht wahr sein, und schluchzte auch nicht vor Kummer. Sie lehnte den Kopf in das Kissen und schloss die Augen. Ein Leben ohne ihren Pa konnte sie sich einfach nicht vorstellen. »Wann ist die Beerdigung?« »Morgen um zehn Uhr.« »Ich will dabei sein.« Mrs. Heilbuth war schockiert. »Meine Liebe, Sie haben eben erst ein Kind zur Welt gebracht. Sie sollten mindestens zehn Tage das Bett hüten, ganz zu schweigen von einer viele Meilen langen Reise zu einer Beerdigung und zurück. Was ist mit dem Baby? Sie müssen hier sein, um es zu stillen.« »Ich nehme sie mit. Wenn ich sie gut einwickle, wird ihr nichts passieren.« Wieder zeigte Mrs. Heilbuth entsetztes Missfallen. »Seien Sie vernünftig, Meggan. Trauern Sie im Bett, wo Sie und die Kleine sicher sind. Ihr Vater wird das verstehen.« Aus der Wiege drang ein Wimmern. »Ich glaube, Ihre Tochter hat Hunger.« Mrs. Heilbuth holte das Baby aus der Wiege und legte es seiner Mutter in die Arme. Das kleine Mädchen schmiegte sich an Meggans Brust und suchte nach der Brustwarze. Meggan knöpfte rasch ihr Nachthemd auf, um das Baby anzulegen. Mit der anderen Hand liebkoste sie sein weiches, schwarzes Haar. »Ich nenne sie Henrietta, nach Pa.« Henrietta Constance, fügte sie im Stillen hinzu. Meine Tochter wird nach ihrem Vater und nach ihrem Großvater heißen. Das arme Kind, es wird weder den einen noch den anderen kennenlernen. Bei dem Gedanken weinte sie echte Tränen der Trauer. Mrs. Heilbuth saß bei Meggan und tröstete sie, so gut sie es vermochte, bis Jane ein Tablett mit Tee brachte. Die Zwillinge folgten ihr, denn sie wollten unbedingt das Baby noch einmal sehen. Als sie die Kleine in Meggans Armen sahen, liefen sie zum Bett. »Schau, sie ist wach«, sagte Sarah. »Kann ich sie auf den Arm nehmen, Meggan?« »Bitte«, ermahnte ihre Mutter sie. »Bitte?« »Ganz kurz. Komm hier rauf aufs Bett.« »Hat sie schon einen Namen?« »Sie heißt Henrietta.« Sarah hielt das Baby so vorsichtig wie zartes Porzellan. Ihr ganzes Gesicht strahlte vor Liebe und Staunen. Barneys Gesicht verriet ähnliche Gefühle, als ihm erlaubt wurde, den Platz seiner Schwester einzunehmen. Das Leben geht weiter, dachte Meggan, der das Herz überfloss vor Liebe. Pass auf sie auf, Pa. Sorg dafür, dass ihr nichts passiert. »Warum weinen Sie, Meggan? Sind Sie unglücklich, weil Sie ein Baby haben?« »Nein, Barney. Ich bin sehr glücklich, ein so hübsches Baby zu haben.« »Barney, Sarah, Meggan muss sich ausruhen. Ihr könnt das Baby morgen wieder besuchen.« »Ja, Mama. Tschüss, Meggan.« »Bekomme ich keinen Kuss, bevor ihr geht?« Die beiden eilten zurück und kletterten aufs Bett, um ihr einen Kuss zu geben. Barney gab auch dem Baby einen Kuss. »Ich hab dich lieb, kleine Etty. Glauben Sie, sie hat mich auch lieb?« »Dazu ist sie noch zu klein.« »Aber sie wird mich lieb haben?« »Ganz bestimmt, und Sarah auch.« Glücklich über diese Gewissheit, folgte Barney seiner Mutter und seiner Zwillingsschwester aus dem Zimmer. »Bleiben Sie bei mir, Jane?« »Ich habe nicht die Absicht, Sie allein zu lassen. Soll ich die Kleine wieder in ihr Bettchen legen?« Meggan schüttelte den Kopf. »Ich möchte sie noch ein Weilchen halten. Jane, was machen Aboriginal-Frauen, wenn sie Babys haben?« »Was meinen Sie?« »Liegen sie zwei Wochen herum und machen gar nichts?« »Aboriginal-Frauen können sich einen solchen Luxus nicht leisten. Sie müssen immer Buschnahrung sammeln und zubereiten.« »Dann laufen sie also kurz nach der Geburt wieder herum?« »Ja. Warum fragen Sie?« »Wenn eine Aboriginal-Frau das kann, kann ich das auch. Ich werde morgen zur Beerdigung meines Vaters gehen, und ich nehme Etty mit.« Wie leicht ihr Barneys Abkürzung des Namens über die Lippen kam. Meggan fuhr ihrer Tochter mit einem Finger über die samtweiche Wange. »Kleine Etty. Der Name passt zu dir.«  
Mrs. Heilbuth protestierte auch weiterhin, unterstützt auch diesmal von Cookie. Meggan blieb, mit Beistand von Jane, eisern. Baby Etty wurde in ein Umschlagtuch gewickelt und von Mrs. Heilbuth hinaus zum Pferdewagen getragen. Jane half Meggan, die, als sie aufstand, um sich anzukleiden, feststellen musste, dass sie doch nicht ganz so kräftig war, wie sie im Bett liegend gedacht hatte. Trotzdem würde sie es sich nicht anders überlegen. Es war ein perfekter Septembertag, die Sonne schien, der Himmel war wolkenlos blau, Sträucher und Wiesen waren nach dem Winterregen von einem kräftigen Grün. Henry Collins’ Sarg war bereits auf dem Leichenwagen, als George Heilbuth die Leine anzog und den Pferdewagen vor dem Cottage zum Halten brachte. Als Meggan den mit schwarzem Stoff behängten Wagen sah, der von zwei mit Federn geschm?ckten und mit Schabracken belegten Pferden gezogen wurde, keuchte sie auf und konnte die Tr?nen nicht mehr zur?ckhalten. Mr. Heilbuth half ihr von dem Wagen herunter und ging dann Jane zur Hand, die Mrs. Heilbuth das Baby aus den Armen nahm, um es in Meggans Arme zu legen. Gestützt von Janes Arm, ging sie langsam zum Cottage. Ihre Mutter saß, umgeben von Trauernden, im Wohnzimmer. Meggan ging zu ihr, beugte sich vor und legte das Baby in die Arme seiner Großmutter. »Ich habe sie Henrietta genannt.« Der zarte Anflug eines Lächelns erhellte Joannas Augen, und sie wiegte das Baby an ihrer Brust. »Darf ich sie tragen, Meggan?« »Ja, Ma. Mr. Heilbuth nimmt dich mit uns im Pferdewagen mit.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Heilbuth, aber Captain Roach schickt einen Pferdewagen für mich. Es wäre angemessen, wenn du mit mir fährst, Meggan.« Die beiden Pferdewagen fuhren von der Grube zur methodistischen Kirche hinter dem Leichenwagen her. Zahlreiche Bergleute folgten zu Fuß dahinter. Entlang des Weges schlossen sich immer mehr Menschen der Prozession an. Viele warteten schon an der Kirche. Henry Collins war wohlgelitten gewesen. Meggan blieb an der Seite ihrer Mutter und nahm ihr Henrietta ab, als das Baby quengelig wurde. Als die Erde auf den Sarg ihres Vaters geworfen wurde, war Meggan übel vor Erschöpfung. Bei ihrer Rückkehr ins Cottage erhob sie keine Einwände, als man sie anwies, ihr Kleid auszuziehen und sich ins Bett zu legen. Den Rest der Woche blieb Meggan bei Joanna im Cottage. Sie wollte ihre Mutter nicht allein lassen und verspürte selbst das starke Bedürfnis, bei ihrer Mutter zu sein, ihre Trauer zu teilen und Trost in der Sorge um Etty zu finden. Es musste gepackt werden, denn das von der Bergwerksgesellschaft zur Verfügung gestellte Cottage hatte bis zum Ende der Woche geräumt zu sein. Captain Roach schickte M?nner, die halfen, die M?bel herauszuschaffen und sie in ein leeres Cottage in der Bridge Street zu bringen. Die Einladung der Heilbuths, in Grasslands zu leben, schlug Joanna aus. Auch Meggan konnte sie nicht überzeugen, es sich noch einmal zu überlegen. »Es gefällt mir nicht, dass du allein lebst, Ma.« »Du könntest bei mir bleiben.« »In einem so kleinen Haus würde ich ersticken. Wir würden bald anfangen, uns zu zanken.« »Warum denn das?« »Ma, das weißt du so gut wie ich. Wir sind uns zu ähnlich. Wir können beide sehr stur sein, wenn es uns in den Kram passt. Und dann die kleine Etty. Die Landluft ist sauberer.« Sie hörten auf zu streiten und packten Bettwäsche aus, um sie in den Schrank zu legen. »Ma«, setzte sie nachdenklich an, »möchtest du immer noch zurück nach Cornwall? Wenn du willst, bringe ich dich.« Joannas Augen blickten wehmütig in die Ferne. »Ja, ich möchte gern nach Hause.« »Dann fahren wir, Ma. Sobald Etty ein bisschen älter ist.«