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Meggan dachte in der folgenden Woche oft über Jennys Worte nach. Zu Anfang machte sie sich Sorgen, der Bergmann, in den Jenny vernarrt war, könnte Tom sein. Er war nach dem Konzert sehr charmant gewesen, und niemand konnte leugnen, dass er gut aussah und ein anziehendes Lächeln besaß. Nur die, die ihn gut kannten, blickten hinter seine Fassade. Die Heilbuths waren sehr freundlich zu ihm gewesen, besonders als sie erfuhren, dass er Meggan aus Kindertagen kannte. Ihre Dienstherren hatten sogar angedeutet, Tom sei auf Grasslands jederzeit willkommen. Vielleicht hatte er einmal Lust, sagten sie, am Sonntag mit Will herauszukommen. Meggans einzige Hoffnung, davon verschont zu bleiben, ruhte darauf, dass sie sich sicher war, dass es Will nicht recht wäre, wenn Tom ihm beim Besuch bei seiner Schwester Gesellschaft leisten wollte. Wenn Tom nicht der Bergmann war, von dem Jenny gesprochen hatte, sinnierte Meggan, dann konnte es nur Will sein. Je mehr Meggan darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien es ihr. Von dieser Schlussfolgerung ausgehend, betrachtete sie das Betragen ihres Bruders in Jennys Gegenwart in einem neuen Licht. Wollte Will mit seinem ungehobelten Betragen darüber hinwegtäuschen, dass er sich zu der jungen Frau hingezogen fühlte? Als sie am nächsten Sonntag wieder mit ihrer Familie zu Mittag aß, sorgte sie dafür, dass sie unter vier Augen mit Will sprechen konnte. Sobald sich die Gelegenheit ergab, machte Meggan keine Ausflüchte. ?Ich glaube nicht, dass du Jenny nicht magst. Ich glaube vielmehr, dass du sie viel zu gern hast.? Die dunkle Röte auf Wills Wangen verriet ihr alles. Sie hatte recht: Ihr Bruder fühlte sich zu Jenny Tremayne hingezogen. »Ich glaube, Jenny ist sehr angetan von dir.« Ihr Bruder wurde noch röter. »Und wenn schon?« »Du magst sie doch, oder nicht?« Will kniff nur die Lippen zusammen. »Wenn du sie magst, warum bist du dann in ihrer Gesellschaft immer so grob und kehrst ihr gleich wieder den Rücken?« »Sie ist Caroline zu ähnlich, deswegen will ich nichts mit ihr zu tun haben.« »Das, Will Collins, ist ein sehr dummer Grund. Warum sollte Jennys Äußeres ein Problem sein?« Will schüttelte den Kopf. Meggan glaubte schon, er werde gar nicht antworten. Und als er antwortete, schmerzte der Zorn in seiner Stimme sie. »Verstehst du das nicht? Sie zu lieben wäre, als würde ich meine eigene Schwester lieben. Es wäre, als würde die Vergangenheit lebendig werden.« »Oh, Will. Will. Du quälst dich ohne Grund. Jenny sieht vielleicht aus wie Caroline, aber vom Wesen her ist sie ganz anders als unsere Schwester. Jenny besitzt viel mehr Geist.« Ein schiefes Lächeln huschte über Wills Gesicht. Er wusste alles über Miss Jennys Geist. Sie waren sich am Samstagabend vor dem Beginn des Konzerts über den Weg gelaufen, und da hatte sie sehr deutlich gemacht, was sie von seinem ungehobelten Benehmen hielt. Auch wenn Meggan es nicht ahnte, wusste er, dass Jenny, als sie nach dem Konzert auf sie beide zugekommen war, gehofft hatte, er würde ihr verzeihen. Und was hatte er getan? Er hatte ihr den Rücken zugekehrt. »Und«, fuhr Meggan fort, während sie überlegte, was dieses leichte Lächeln und das anschließende Stirnrunzeln zu bedeuten hatten, ?dein Gerede ?ber die Vergangenheit ist ziemlich unangebracht.? »Sie ist eine Tremayne. Unsere Familie hat keinen Grund, freundlich über sie zu denken.« »Du kannst doch Jenny nicht die Schuld für die Handlungen ihres Vaters und unserer Mutter geben. Dinge, von denen sie nichts weiß und wahrscheinlich nie etwas erfahren wird. Und was Caroline und Rodney angeht, ich glaube, sie weiß nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Tod unserer Schwester und dem Weggehen ihres Bruders von zu Hause gibt.« Will zuckte die Achseln. »Sie ist trotzdem eine Tremayne. Sie würde sich nie mit einem einfachen Bergmann abgeben.« »Du wärst überrascht, Will Collins.« Seine Reaktion, mehr Mienenspiel denn Worte, bestätigte Meggans Vermutungen. »Findest du …« »Ich finde es dumm, dass du deine Gefühle leugnest.« Er wurde wieder rot. »Leugnest du nicht auch deine?« Meggan spürte, wie eine warme Röte ihre Wangen überzog. »Aha, dann habe ich doch recht!«, rief Will aus. »Wenn ich Miss Jenny Tremayne den Hof mache, fühlst du dich wohl frei, Trevannick hinterherzulaufen.« »Das war nicht nett gesagt.« »Aber es ist wahr.« Jetzt, wo er den Spieß umgedreht hatte, brachte Will seine Gefühle unter Kontrolle. Meggans Stimme zitterte. »Das ist nicht wahr. Con Trevannick hat damit nichts zu tun. Jenny hat mir gestanden, dass ihr ein Bergmann sehr am Herzen liegt und dass sie bereit wäre, in Australien zu bleiben, wenn er ihre Liebe erwiderte.« Will kniff die Lippen zusammen, als wollte er das, was seine Schwester sagte, nicht glauben. »Aber sie hat nicht meinen Namen genannt. Das hättest du mir gesagt, oder?« »Ich habe Augen im Kopf. Ich habe gesehen, wie sie dich anschaut, wenn sie sich unbeobachtet glaubt, und wie du sie anschaust, wenn du glaubst, es sieht keiner.« Tat sie nicht dasselbe bei Con? »Du hattest immer schon eine romantische Vorstellungskraft, Megs.« Will bemühte sich um einen verächtlichen Tonfall, auch wenn er befürchten musste, dass ihm der elendiglich misslang. »Ich denke nicht, dass du irgendetwas zu verlieren hättest, solltest du Jenny deine Freundschaft anbieten.« Will schüttelte den Kopf. »Das wird nie passieren. Selbst wenn es Gefühle zwischen uns gäbe, was meinst du wohl, wie Ma sich fühlen würde, wenn ich mit einer Tremayne anbändeln würde?« Meggan war zutiefst schockiert. An Ma hatte sie nicht gedacht, sie hatte nur herausfinden wollen, ob ihre beste Freundin und ihr Bruder einander liebten. Will hatte recht. Ma würde es völlig aus der Fassung bringen. Und das galt sicher auch für ihre eigenen Gefühle für Con Trevannick. Wie dumm sie gewesen war. Wie viel vernünftiger Will doch war. Sie umarmte ihren Bruder. »Du hast recht, Will. Ich bin schon wieder dumm und romantisch. Ich sage nichts mehr.« Er erwiderte ihre Umarmung, und so saßen Bruder und Schwester da und genossen die Wärme ihrer Nähe. »Du machst dich am besten bald auf den Heimweg, Megs.« »Warum?« Will nickte über die Schulter. »Schau mal da oben. Scheint, als würde sich ein Gewitter zusammenbrauen.« Meggan drehte sich um. Im Südosten hingen diesige Wolken über dem Horizont. »Ich glaube, du hast recht. Es könnte heute Abend ein Unwetter geben. Ich verabschiede mich von Ma und Pa und mache mich gleich auf den Weg.« Als sie und Bertie Kooringa verlassen hatten und auf dem Weg nach Grasslands waren, war Meggan erleichtert, dass der Himmel vor ihnen und im Norden blau und sonnig blieb. ?ber die rechte Schulter beobachtete sie, wie sich im S?den Gewitterwolken auft?rmten und Richtung Burra zogen.  
Ein drohendes spätes Gewitter erweckte bei den Bürgern von Kooringa keine übermäßige Besorgnis. Oft sah man, wie sich ein Sturm aufbaute, wie der graue Himmel immer dunkler wurde, bis er fast schwarz war, und dann zerstreuten sich die Wolken wieder und es fielen nur wenige Regentropfen. Wahrscheinlich war es diesmal auch so. Doch am späten Nachmittag war in der Ferne Donnergrollen zu hören. »Scheint so, als käme wirklich ein Gewitter«, bemerkte Henry Collins. Ein aufsteigender Wind jagte die Gewitterwolken gen Burra. »Sieht aus, als würde es schnell ziehen, Pa. Könnte auch Hagel geben.« Die Wolken waren jetzt dunkler, fast schwarz, und hatten einen hässlichen grünen Anstrich. An diesem Pfingstsonntagnachmittag sahen viele das Gewitter rasch auf Burra und seine Siedlungen zuziehen. Einige hofften, es werde darüber hinwegziehen. Andere hörten das vereinzelte Donnergrollen und bereiteten sich auf ein möglicherweise sehr heftiges Unwetter vor. Hühner wurden in den Hühnerstall getrieben, Ziegen im Schutz der Cottageveranda angepflockt und alles, was weggeweht werden konnte, in Sicherheit gebracht. Mehr als zwei Stunden, nachdem sich die Wolken im Südosten zusammengeballt hatten, war die Stadt eingehüllt in eine unheimliche, schaurige Dunkelheit. Im Cottage der Familie Collins machte Joanna sich daran, die Lampen anzuzünden. Der Wind wurde lauter. »Es ist da«, schrie Will, und die Worte waren kaum aus seinem Mund, da krachte ein fürchterlicher Donnerknall, und beide Männer st?rzten ins Cottage. Nachbeben ersch?tterten das Haus, und auf den Schrankbrettern klapperte das gute Porzellan. »Mein Gott«, schrie Henry, »das war direkt über uns.« Joanna drückte mit angstvoll aufgerissenen Augen beide Hände ans Herz. »Ich spüre es bis ins Mark.« Ein zweites Geräusch setzte unmittelbar ein, wie das eines riesigen Wasserfalls, der vom Himmel stürzte. Will lief ans Fenster. »Eine Sintflut. Es gießt in Strömen.« »Und das Geräusch?« »Hagel, Ma. Komm und schau’s dir an. Hagelkörner so groß wie Orangen.« Sie drängten sich am Fenster zusammen, um ehrfürchtig zuzuschauen. Doch als ein Hagelkorn an die Fensterscheibe schlug, scheuchte Henry seine Familie vom Fenster weg. »Keiner von uns will so nah dran sein, wenn der Hagel eine Scheibe einschlägt.« Der Hagel dauerte nur wenige Minuten. Der Regen griff nicht ganz so wütend an. »Ich glaube, es lässt langsam nach«, bemerkte Will. Er ging wieder ans Fenster. »Und das Gewitter zieht von der Grube weg.« »In welche Richtung, Sohn?« Will verrenkte den Kopf, um gen Himmel zu schauen. »Schwer zu sagen, Pa. Über die Stadt, glaube ich.« »Wenn die Stadt so viel Regen abkriegt, gibt es sicher eine plötzliche Überschwemmung.« »Bei dem ganzen Wasser ist die Grube bestimmt auch überschwemmt.« Keine zehn Minuten, nachdem Will dies gesagt hatte, klopfte es an der Tür. Henry öffnete, und vor ihm stand einer der Stallburschen aus der Grube. »Käpt’n Roach schickt mich, Sie zu holen, Käpt’n Collins. Sie und Ihre Jungen. Das Wasser flutet die Erzsohlen. Ich soll noch mehr Männer aus der Stadt holen.« Sämtliche Senken und Mulden auf dem Grubengelände waren mit Wasser gefüllt. Winzige Bäche flossen in alle Vertiefungen. Ein breiter Strom fegte über die Erzaufbereitungsfläche und drohte, das kostbare Erz wegzuschwemmen. Die Männer arbeiteten hart, hoben Gräben aus, um das Wasser abzuleiten, karrten Steine und Holz herum, um Flutsperren zu bauen. An allen Schachtzugängen arbeiteten Männer, um zu verhindern, dass das Wasser in die Schächte lief. Das Wasser war eigentlich nicht das Problem, denn in der Mine in Burra gab es große Wasserzuläufe, und die große Pumpe arbeitete ununterbrochen, um die Strossen trocken zu halten. Die Gefahr lag in der Gewalt des Wassers und der Trümmer, die es mitschwemmte. Grubenleitern konnten abrutschen, die Schachtwände konnten instabil werden und bröckeln. Auch Tom Roberts war unter denen, die herbeigeeilt waren, um in der Grube zu helfen. »Was gibt’s aus der Stadt, Tom?«, fragte Will. »Die Commercial Road ist wie ein Fluss. Am unteren Ende ist das Wasser direkt durch einige Cottages und Geschäfte gelaufen.« »Und deine Hütte? Solltest du nicht dort sein?« »Wenn es eine Überschwemmung gibt, dann nur am unteren Ende in der Nähe des Burra Creek. Die Hütten im oberen Bereich des Zuflusses sind sicher.« »Der Regen zieht bald vorüber«, erklärte ein anderer Mann. »Seht ihr, wie schnell er über die Grube wegzieht?« Doch über die Siedlung zog das Unwetter nur langsam hinweg. Auch als der schlimme Donner sich gelegt hatte und die Blitze nachgelassen hatten, fiel weiterhin schwerer Regen. Männer, die aus der Stadt gekommen waren, um an der Grube zu helfen, eilten zurück nach Hause. Gegen halb zehn kamen mehrere wieder zurück. »Wir brauchen Hilfe, Captain Roach. Die Stadt ist überschwemmt. Wir brauchen Pferde und Karren, um die M?bel aus den H?usern zu holen. Ladenbesitzer wollen ihre Waren in Sicherheit bringen.? Roach reagierte sofort. Innerhalb kürzester Zeit eilte er mit sechs leeren Hunten in die Stadt. Mit ihm gingen sowohl Will als auch Tom. Henry, Hal und Tommy arbeiteten weiter in der Grube. Als sie die Stadt erreichten, boten sich ihnen Szenen des Chaos und der Verwüstung. Die Erdhütten, erst vor zwei Wochen überschwemmt, waren bereits wieder überflutet. Obwohl das Unwetter nach Nordwesten zu ziehen schien, machte sich niemand Hoffnung, dass das Wasser mit dem abziehenden Unwetter sinken würde, denn es regnete unaufhörlich. Leichterer Regen als mitten im Gewitter, und doch genug, um die Ängste der Menschen vor einer größeren Überschwemmung zu schüren. Überall am Creek trafen die Bewohner Vorsichtsmaßnahmen und schafften ihr Hab und Gut aus den Wohnungen. Alles, was beweglich war, wurde die Böschung hinaufgetragen. Die vom Regen durchtränkte Erde war nass und glitschig, eine zusätzliche Gefahrenquelle. Während sich die Männer mit Betten, Tischen und schwereren Möbeln abplagten, trugen die Frauen Bettzeug und Kleidung, und Kinder packten Töpfe, Teller und kreischende Hühner. Quietschende Schweine, patschnasse, erbärmliche Hunde und Familienziegen wurden die Böschung hinaufgetrieben. Katzen miauten jämmerlich von da, wo sie Schutz gesucht hatten. Die Bachbewohner häuften ihre Besitztümer nahe ihren Schornsteinaufsätzen auf, und Frauen und Kinder passten im Regen darauf auf. Der Schaden durch den Regen war nicht so schlimm, wie alles in der Flut zu verlieren. Und den Verlust ihres Hab und Guts an Langfinger und anderes unredliches Volk konnten sie sich ebenso wenig leisten. Mehr als eine Stunde lang half Will, wo er konnte. In dieser Zeit stieg das Wasser nicht höher. Die Bewohner am oberen Bereich des Zuflusses zum Creek hielten es für sicher, in ihren Behausungen zu bleiben. Gegen elf Uhr gingen viele ins Bett. Milly Roberts war eine von ihnen. Milly konnte nicht schlafen. Die Angst hielt sie wach. Stunden schienen vergangen zu sein, seit Tom nach Hause gekommen und dann wieder weggegangen war, um anderen zu helfen. Obwohl er ihr versichert hatte, ihre Wohnung wäre sicher, konnte sie sich nicht entspannen. Immer noch regnete es. Wenn der Regen wieder stärker wurde, wenn es wieder goss wie beim Höhepunkt des Gewitters, dann wurden bestimmt alle am Creek überflutet. Was sie brauchte, um ihre Ängste zu beschwichtigen, fand Milly, war ein kräftiger Schluck von dem Whisky, den Tom am Samstagabend mit nach Hause gebracht hatte. Ihre kleine Wohnung bestand nur aus einem großen Raum und einem winzigen Schlafzimmer. Im großen Zimmer zündete sie die Lampe an und nahm die Whiskyflasche mit zum Tisch. Mehr als einen Schluck Alkohol trank Milly selten auf einmal. Nur genug, um ihren Körper zu wärmen und ihre sexuelle Bereitschaft anzuheizen. Als die vertraute Wärme sie durchströmte, dachte sie an Tom und wie sehr sie ihn inzwischen hasste, aber auch fürchtete. Tom war ihr Mittel gewesen, um aus Pengelly wegzukommen. Um das zu erreichen, hatte sie keine Bedenken gehabt, von ihm die Ehe zu verlangen, obwohl es gar nicht notwendig gewesen wäre. Am Tag ihrer Hochzeit war sie von allen anderen Bergmannstöchtern im Dorf beneidet worden. Wenn die anderen jungen Frauen sie jetzt sehen könnten, würden sie sie nicht mehr beneiden. Selbstmitleid mischte sich unter die Angst, und Milly schenkte sich noch einen Whisky ein, diesmal einen größeren. Tom hatte recht, sie eine Hure zu nennen, denn das war sie. Von dem Tag an, da ihr weiblicher Körper sich entwickelte, genoss Milly die Freude, mit einem Mann zusammen zu sein. In Pengelly war es ihr bei ihren amourösen Abenteuern nur ums Vergnügen gegangen. Als sie nach Burra kamen, war Milly Tom eine Weile treu gewesen. Ihr Mann wusste, wie man eine Frau gl?cklich machte. Doch er veränderte sich ganz allmählich. Er war ein gewalttätiger Säufer. In den ersten Jahren war es Milly gelungen, ihm in den Nächten, da er betrunken war, aus dem Weg zu gehen. Doch als die Zechereien häufiger wurden, entfloh sie seiner Brutalität nicht mehr. In Millys Kopf spukte stets die Erinnerung an Toms Mutter herum. Tom mochte seinem Vater immer ähnlicher werden, doch Milly würde es zum Teufel nicht zulassen, dass seine Brutalität aus ihr so ein jämmerliches Geschöpf wie seine Mutter machte. Je schlimmer Toms Verhalten wurde, desto entschlossener wurde Milly, ihn zu verlassen. Doch dafür brauchte sie Geld. Milly hatte ihren Wert rasch einzuschätzen gelernt. Und sie hatte das, was das Verlangen der Männer anzog, nicht verloren. Für eine Frau, die ihnen Vergnügungen bot, waren Männer immer bereit, Geld lockerzumachen. Tom wusste nichts von den Silbermünzen, die sie heimlich hortete. Sie waren in einer Dose versteckt, auf einem Sims, den sie vorsichtig innen in den Schornstein gekratzt hatte. Wenn sie der Faust ihres Mannes oder seiner brutalen Inbesitznahme nicht entfliehen konnte, halfen ihr der Gedanke an das Silber und das Wissen, dass sie bald wieder etwas daraufhäufen konnte, die Schmerzen zu ertragen. Milly trank ihren Becher Whisky, schenkte sich unbesonnen zum dritten Mal ein und dachte an ihr Geld. Sie hatte schon genug gespart, um Burra verlassen zu können. Sie glaubte nicht, dass Tom sich die Mühe machen würde, ihr zu folgen, wenn sie wegging. Er wäre genauso froh, sie los zu sein, wie sie ihn. Doch für den Fall, dass er sie suchte, wollte sie genug Geld haben, um Südaustralien sofort verlassen zu können. Vielleicht würde sie nach Melbourne gehen oder nach Sydney. Dort würde sie sich ein paar hübsche Kleider kaufen und Männer finden, die viel reicher waren als die Bergleute in Burra. Vielleicht hatte sie sogar das Glück, einen wohlhabenden Mann zu finden, der bereit war, ihr die Ehe zu bieten oder sie wenigstens auszuhalten.  
Während Milly den Whisky trank und im Nebel der Trunkenheit über eine strahlendere Zukunft nachdachte, ging Will den Bach entlang. Er machte sich Sorgen um die Stabilität der Brücke, die von der Grube zum Hüttenwerk über den Creek führte. Da langes Bauholz in der Region knapp war, war die Brücke für die schweren Erzkarren aus Felsbrocken und Erdreich erbaut worden. Sie war nicht besonders hoch. Was für die Konstruktion notwendig gewesen war, hatte von der Böschung des Bachs aufgehäuft werden müssen, um einen breiten ebenen Straßendamm zu schaffen. Auch andere Männer standen da und starrten auf den irdenen Damm, alle mit mehr oder weniger besorgtem Gesicht. Auf der anderen Seite staute sich das Wasser fast bis zur Höhe der Brücke. »Was meinst du?«, fragte Will einen. »Hält sie?« Der Mann wies mit dem Finger auf die Brücke. »Da hast du deine Antwort, Bursche.« Etwa auf halber Höhe der stromabwärts gelegenen Seite der Brücke war zwischen den Felsbrocken ein Rinnsal aufgetaucht. Die Männer hielten die Luft an und hofften, es würde bei diesem Sickern bleiben. Will blickte von dem Rinnsal zu der Last des Wassers jenseits der Brücke. »Wir sollten die Bachbewohner warnen, dass die Brücke wahrscheinlich nicht hält.« Doch seine Worte kamen zu spät. In dem Augenblick, da er sich abwandte, hörte er das Dröhnen, gefolgt von angsterfülltem Geschrei. »Sie ist weg! Die Brücke ist weg!« »O Gott.« Einen Augenblick starrte Will entsetzt auf die Katastrophe. In Sekundenschnelle war die Brücke vollkommen verschwunden, und eine mächtige Wasserwand rauschte den Bach hinunter. Er lief mit den anderen am Ufer entlang zurück. »Kommt raus!«, schrien sie. »Kommt raus! Die Brücke ist weg!« Die Bachbewohner hörten die Katastrophe näher kommen. Selbst die, die schliefen, wurden vom furchtbaren Tosen der rauschenden Flut geweckt. Im Nachtgewand stolperten sie aus ihren Behausungen durchs Wasser, das mit erschreckender Geschwindigkeit stieg. Diejenigen, die sich in Sicherheit gewähnt hatten, bemühten sich jetzt verzweifelt, ihre Habseligkeiten zu retten, und flößten Möbel durch mehr als ein Meter hohe Fluten. Ihr Vieh konnten sie nicht retten. Geflügel, Schweine und Enten wurden mit allem anderen, was der Flut im Weg war, hinweggespült. Die Schreie der Frauen und Kinder und die verzweifelten Rufe der Männer verstärkten die Kakophonie. Wer bereits oben auf der Böschung war, griff nach unten, um andere in Sicherheit zu ziehen. Tom lief am Ufer entlang zu seiner Hütte. Das Wasser stand sicher schon dreißig Zentimeter oder höher darin. Es dauerte einige Augenblicke, bis die Warnrufe zu Millys whiskygetränktem Hirn vordrangen. Als sie die Gefahr erfasste, war ihr erster Gedanke, ihr Geld zu retten. Sie sprang rasch auf und taumelte gegen den Tisch, denn in ihrem Kopf drehte sich alles vom Whisky. Sie stützte sich ab, doch sie sah alles nur verschwommen. Aus der Benommenheit wurde Übelkeit, und sie übergab sich in das Wasser, das immer höher um ihre Beine stieg. Vor Angst und Hilflosigkeit fing sie an zu schluchzen. Jetzt, wo sie den Whisky erbrochen hatte, war die Übelkeit vergangen, doch ihr Kopf pochte. Mein Geld, dachte sie, ich muss mein Geld holen. Als sie endlich den Hocker zum Kamin gezogen hatte, stand das Wasser ihr schon bis zu den Knien, und der Hocker schwamm. Sie weinte die ganze Zeit, und der Kopfschmerz wurde von der Angst noch verschlimmert. Da die nassen Kleider ihr an den Beinen klebten, gelang es Milly erst beim dritten Versuch, auf den Hocker zu steigen. Dann weinte sie noch lauter aus Angst, er würde unter ihr wegtreiben und sie würde ins Wasser stürzen. In dem Augenblick, als ihre Hand die Dose mit dem Geld berührte, kenterte der Hocker. Milly stürzte, den kostbaren Schatz fest an die Brust gedrückt, seitwärts gegen die Wand. Das Wasser reichte ihr jetzt bis zur Hüfte. Es schwappte über den Tisch, und mit einem leisen Zischen ging die Lampe aus und ließ sie im Dunkeln. Milly schrie. Sie schrie ein zweites Mal, als sie spürte, dass sich neben ihr etwas bewegte, und schluchzte erleichtert auf, als sie Toms Stimme hörte. »Tom. Tom.« Sie war so erleichtert, dass sie sich ihm in die Arme geworfen hätte, wäre das machbar gewesen. Ihr Mann packte sie am Arm und drängte sie, sich zu beeilen. Bald waren sie aus der Hütte und mühten sich durch das immer weiter steigende Wasser dahin, wo Stufen in die Böschung gehauen worden waren. Draußen vor der Hütte gab es etwas Licht, es war nicht vollkommen dunkel. Tom sah die Dose, die Milly mit der freien Hand gepackt hielt. Ohne sie zu fragen, begriff er, was darin war. Er wurde von einer mörderischen Wut gepackt. Eine richtige Hure, die Geld für ihre Dienste nahm. Der Drang, sie unter Wasser zu stoßen und sie unten zu halten, bis sie nicht mehr atmete, war groß. Sie hatte ihn mehr zum Narren gemacht, als er hinnehmen konnte. Nur die Tatsache, dass um ihn herum noch andere durchs Wasser wankten, ließ ihn vorsichtig sein. An den Stufen stolperte Milly, denn der tropfnasse Stoff ihres Nachthemds, das ihr an den Beinen klebte, zog sie nieder. Tom hatte keine Schwierigkeiten. Er krabbelte aus dem Wasser und streckte die Hand nach ihr aus, um sie hinaufzuziehen. »Gib mir die Dose«, rief er. »Nein.« »Gib sie mir, du dummes Flittchen. Ich kann dich nicht mit einer Hand hochziehen.« Ich geb sie ihm nicht, dachte Milly. Tom soll mein Silber nicht haben. Sie scharrte mit den Füßen, um unter dem Wasser einen sicheren Stand zu finden. Doch ihre F??e glitten im Schlamm aus, und sie sp?rte das Ziehen der Str?mung an den Beinen. »Tom!«, schrie sie voller Panik. »Die Dose, Milly. Gib sie mir, damit ich dich mit beiden Händen ziehen kann.« Die Angst vor dem Ertrinken war größer, und Milly reichte ihm die Dose hinauf. Doch Tom stellte sie nicht zur Seite. Und er griff auch nicht nach Millys anderer Hand. Er spürte, wie das Wasser an Milly zerrte. Ganz langsam ließ er ihre Hand aus seinem Griff gleiten. Sie schrie seinen Namen, bevor sie weggewirbelt wurde. Sie schrie noch, als das Wasser sie flussabwärts trug. Will sah, wie Tom Millys Hand losließ, doch er war zu weit weg, um zu helfen. Er lief am Ufer entlang und rief nach ihr. Er beschwor sie, sie solle versuchen, den Rand zu erreichen und sich an irgendetwas festhalten, um sich über Wasser zu halten. Doch Milly konnte nicht schwimmen. Und sie bekam auch nichts zu packen, was sie hätte retten können. Als etwas gegen ihren Körper schlug, wurde sie nach unten gezogen, kam hektisch plantschend wieder hoch, um noch einmal unterzugehen. Als das Wasser sich zum zweiten Mal über ihrem Kopf schloss, wusste sie, dass sie nie nach Sydney gehen und die hübschen Kleider aus ihren Tagträumen tragen würde. Das große Durcheinander aus Habseligkeiten entlang der Böschung behinderte Will, und die Flut trug Milly rasch außer Sichtweite. Als er sie nicht mehr sehen konnte, blieb er stehen, stützte die Hände auf die Knie und japste vor Anstrengung und Schmerz. Er hatte Milly Roberts nicht gemocht, doch ein solches Schicksal wünschte er keinem Menschen. Er fand Tom noch an den Stufen, wo Milly abgetrieben worden war. »Es tut mir wirklich leid, Tom. Ich konnte sie nicht retten.« Tom nickte nur. Will dachte, er sei starr vor Schock und Trauer. »Komm, Tom. Komm mit mir heim. Du kannst jetzt nichts mehr tun.« »Nein«, stimmte Tom ihm zu. »Ich hab alles verloren.« Alles, außer Millys Silberschatz. Er war ein Idiot gewesen, dass er nicht gemerkt hatte, was sie trieb. Wenn sie sich gestritten hatten, hatte sie ihm manchmal erklärt, sie werde ihn verlassen. Er hatte sie ausgelacht, doch sie hatte die ganze Zeit die Silbermünzen gespart. Nun, das Geld gehörte jetzt ihm, und die verlogene Hure war er für immer los. Die Familie Collins nahm ihn, schockiert über die Tragödie, bereitwillig auf. Henry packte ihn an der Schulter. »Wir sind alle sehr traurig für dich, Tom. Bleib nur hier, so lange du musst.« Tom schüttelte den Kopf, als wäre er bestürzt. »Ich hatte sie fast gerettet.« »Du hast es versucht, Tom. Ich hab dich gesehen«, versuchte Will ihn zu trösten. »Ich wünschte nur, ich wär nah genug dran gewesen, um dir zu helfen.« Ich bin froh, dass du’s nicht warst, dachte Tom. Er saß, den Kopf auf die Arme gestützt, am Küchentisch und schluchzte. »Ich hab sie nicht immer richtig behandelt, und jetzt ist sie mir weggenommen worden. Ich werd für meine Sünden bestraft.« »Ich bete für euch beide«, sagte Joanna, »für Millys Seele und dafür, dass der Herr dir Trost gibt und die Last der Schuld, die du trägst, erleichtert.« Damit setzte sie sich ihm gegenüber an den Tisch, nahm seine Hände und betete. Der Rest der Familie stand respektvoll schweigend um sie herum. Tom sprach ihr »Amen« nach und dankte ihr für ihre Gebete. Na, die hab ich aber alle hübsch zum Narren gehalten, dachte er. Niemand wird je erfahren, dass ich mir Milly vom Hals geschafft habe. Ich kann den trauernden Ehemann spielen und mir damit Joannas Mitleid sichern. Sie hat mich schon immer gemocht. Mit Joanna und den Heilbuths auf meiner Seite werde ich Meggan gewinnen. Ich kann auch auf ihr Mitgefühl spekulieren. Ich überzeuge sie davon, dass der Schock, Milly zu verlieren, einen besseren Menschen aus mir gemacht hat. Er senkte den Kopf wieder auf die Arme, um seine Gedanken zu verbergen, und dankte der Vorsehung für die plötzliche Flut. Jetzt, da er Geld hatte, konnte er Meggan ein anständiges Zuhause bieten. In Millys Dose waren fast hundert Pfund. Die Schlampe musste jeden Tag auf dem Rücken verbracht haben, um so viel zur Seite legen zu können. Er hatte schnell begriffen, warum Milly das Silber gespart hatte. Nun, jetzt hatte sie ihn verlassen, wenn auch nicht auf die Art, wie sie es vorgehabt hatte.  
Als am Montagmorgen die Dämmerung hereinbrach, boten die durchnässten Bachbewohner, die mit ihren gleichermaßen durchnässten Besitztümern oben auf der Böschung hockten, einen jämmerlichen Anblick. Es fiel immer noch ein leichter Regen, und durch etliche Läden lief immer noch knöcheltief das Wasser. Da die mächtige Welle, die dem Zusammenbruch der Hauptbrücke gefolgt war, auch alle anderen Brücken über den Bach weggespült hatte, gab es keine Möglichkeit, den Menschen am anderen Ufer zu helfen. Als das Wasser im Laufe des Tages sank, machten sich die Leute auf den Weg in die Stadt. Sowohl die methodistische Kirche als auch der Speisesaal der Schule waren geöffnet worden, um den Wohnungslosen Obdach zu gewähren. Joanna Collins war unter den vielen, die herbeieilten, um zu helfen. Wenn die Menschen ihr für ihre Güte dankten, erwiderte sie nur: »Danken Sie dem Herrn.« Während die Stadt noch mit dem Durcheinander kämpfte, konnte die Arbeit in der Grube wie gewohnt weitergehen. Trotz der vom Himmel gestürzten Wassermassen war die Grube praktisch unbeschadet davongekommen. Selbst die aus ihren Wohnungen vertriebenen Bergleute erschienen zur Arbeit. Viele hatten den in ihren Hütten gut versteckten Spargroschen verloren. Ohne Heim und ohne Geld konnte kein Mann es sich leisten, einen Tag in der Grube zu vers?umen. Tom trat mit dem jungen Tommy Collins seine Schicht an. »Was bringt’s, nichts zu tun?«, fragte er Will. »Ein Mann geht besser zur Arbeit, als herumzusitzen und zu grübeln.« »Du hast recht«, stimmte Will ihm zu. »Ich geh in die Stadt, um zu helfen. Vielleicht hör ich ja was.« Er brachte es nicht über sich, Milly zu erwähnen. Tom verstand. Er nickte nur. An diesem Tag war nichts Neues in Erfahrung zu bringen. Millys Leiche war wohl weit flussabwärts getrieben worden. Am Dienstag sorgte eine erneute Sturzflut für weiteres Chaos. Die Bachbewohner, die in ihre Hütten zurückgekehrt waren, wurden wieder weggewaschen. Trümmer, von der sinkenden Flut abgelagert, wurden erneut aufgewirbelt und weiter den Bach hinuntergespült. Millys Leiche wirbelte mit allem anderen herum und wurde dorthin getrieben, wo sie unentdeckt blieb, bis kaum mehr davon übrig war als gebleichte Knochen, eingehüllt in kaum noch identifizierbare Stofffetzen. Die schreckliche Lage, in der so viele steckten, war das einzige Gesprächsthema der Männer in der Grube. »Sammy kümmert sich um uns. Captain Roach hat geholfen, wo er konnte.« »Ich hab gehört, die Gesellschaft will mehr Cottages bauen.« »Das werden sie müssen. Hast du nicht die Notiz an der Tür der Schmiede gesehen?« »Was stand drauf?« »Niemand darf mehr im Creek leben. Es gilt ab jetzt als widerrechtliches Betreten. Wer nach dem ersten Dezember noch dort wohnt, wird nicht mehr in der Grube beschäftigt.« »Das kann Sammy nicht machen.« Die Empörung war groß. »Sammy besitzt das Land. Ganz Kooringa gehört der Bergwerksgesellschaft.« »Captain Roach hat an den Betriebsdirektor, Mr. Ayers, geschrieben und um Geld gebeten, um uns zu helfen, das zu ersetzen, was wir verloren haben.? Sobald irgendwo in der Stadt Menschen zusammentrafen, ging das Gespräch weiter. Und so dauerte es nicht lange, bis allgemein bekannt war, dass die Gesellschaft nicht die Absicht hatte, den Menschen, die dazu beigetragen hatten, sie reich zu machen, finanzielle Hilfe zu gewähren. Zu Recht wütende Menschen fragten sich, wie sie überleben sollten. Ihre Antwort kam mit dem Klappern von Hufen und dem Rattern der Postkutschenräder, die vor dem Burra Hotel zum Stehen kamen. Der Kutscher rief: »Gold! Gold! Man hat Gold gefunden.« »Wo?« »Ist das wahr?« »Erzählen Sie uns mehr.« »Hat man wirklich Gold gefunden?« Der Kutscher hielt die Hand hoch, um den Tumult zu beruhigen. »Es stimmt. In der Nähe von Bathurst, nordwestlich von Melbourne, ist Gold gefunden worden. Die Leute sagen, das ist nur der Anfang; überall im Land wird man Gold finden.« Die Aufregung wuchs. Dies war die Antwort auf die Misere der Wohnungslosen. Vergiss Burra und die für die Lunge schädliche Knochenarbeit des Kupferabbaus. Sie würden dahin gehen, wo ein Vermögen darauf wartete, vom Boden aufgehoben zu werden. Als die Postkutsche nach Adelaide abfuhr, saßen darin drei Männer, die die Versprechungen auf Reichtum überprüfen und dann Nachricht nach Burra schicken würden. So begann der Exodus der Bergleute aus Burra, der den Niedergang der »Monster Mine« einleitete. Meggan erfuhr von diesen Ereignissen erst viele Tage später.