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Der Mann, der sich James Pengelly nannte, hatte nur eine entfernte Ähnlichkeit mit dem jungen Mann, der einst Rodney Tremayne gewesen war. In den Jahren in Australien hatte die Sonne seine einst blasse Haut gerötet. Sein Haar war ungepflegt und brauchte dringend einen Friseur, während ein Schnurrbart und ein kurzer Kinnbart seine untere Gesichtshälfte verdeckten. Die Augen waren immer noch vom selben klaren Blau, und die Fältchen um die Augenwinkel kamen vom vielen Blinzeln gegen die stechende Sonne. Diese Augen starrten jetzt die beiden jungen Frauen an, die Arm in Arm durch den Garten spazierten. Ihr Lachen wehte durch das offene Fenster, die höhere Stimmlage der einen verschmolz harmonisch mit der tieferen Stimme der anderen. Die Besitzerin des klimpernden Lachens schaute zum Fenster herüber, lächelte und winkte. James antwortete mit einem Heben der Hand und einem Lächeln, obwohl es die andere junge Frau war, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte. »Sie sind eine Freude für die Augen, nicht wahr?« Charles Winton hatte den Raum betreten und stand jetzt neben seinem Buchhalter. »Wenn Sie Jane gesehen hätten, als wir sie gefunden haben, krank und halb verhungert, würden Sie noch mehr über die junge Frau staunen, die aus ihr geworden ist.« »Das haben Sie schon einmal gesagt. Abgesehen von der Farbe ihrer Haut würde man nicht vermuten, dass sie eine Aborigine ist. Und doch frage ich mich, Charles, was die Zukunft für sie bereithält.« »Inwiefern?« »Nun, erst einmal wären nur wenige Weiße bereit, ein schwarzes Mädchen als ihre eigene Tochter aufzuziehen. Kaum mehr wären bereit, ein schwarzes Mädchen in der weißen Gesellschaft zu akzeptieren, obwohl die Regierung eine Politik der Assimilation vertritt. Sie haben Jane in die Zivilisation eingeführt, aber haben Sie ihr damit einen Gefallen getan?« »Finden Sie, wir hätten die beiden sterben lassen sollen, wo es doch so leicht war, sie zu retten?« James wandte sich um, um Charles anzusehen. Dessen Lippen waren vor Verärgerung fest zusammengepresst. Die dichten Augenbrauen unter der gerunzelten Stirn zusammengezogen, starrte er die beiden jungen Frauen an. »Ich wollte weder Sie noch Mrs. Winton beleidigen, Charles. Ihre Wohltätigkeit ist äußerst löblich. Jane ist eine nette, intelligente junge Frau, und Hannah war in der kurzen Zeit, da ich sie kannte, ein absoluter Engel. Aber …« Er unterbrach sich, um in einer stummen Wiederholung seiner Frage die linke Schulter zu heben. Charles Winton räumte ein, dass an seiner Bemerkung durchaus etwas dran war. »Sie haben nichts gesagt, was Mary und ich nicht schon oft besprochen haben. Wir haben kürzlich lange über die Zukunft unserer beiden Mädchen nachgedacht, jetzt, wo sie im heiratsfähigen Alter sind. Wir werden für Jane einen guten Ehemann finden. Einen, der über die Farbe ihrer Haut hinwegsehen kann auf den Menschen darunter.« »Ich hoffe für Jane, dass Ihnen das gelingt.« James überlegte, wen Charles wohl im Sinn hatte. Wusste er, dass Joshuas Blick häufig auf Jane ruhte? Die junge Frau war von einer dunklen Schönheit, gegen die Annes angelsächsische Gesichts- und Haarfarbe geradezu fade wirkten. Ob sie sich ihrer Wirkung bewusst war oder nicht, Jane würde stets die Aufmerksamkeit von Männern auf sich ziehen. Der jüngere der beiden Winton-Br?der gierte auf jeden Fall nach der jungen Aboriginal-Frau. Doch seine Begierde zielte nicht auf eine Heirat. Und Adam? Die Gef?hle des ?lteren Sohnes gegen?ber Jane konnte James nicht klar umrei?en. »… möchte nicht, dass Anne wegzieht, wenn sie heiratet.« James, dem bewusst wurde, dass Charles Winton mit ihm sprach, richtete seine Aufmerksamkeit rasch wieder auf seinen Arbeitgeber. »Anne und ihre Mutter«, fuhr Charles fort, »haben sich immer sehr nahegestanden. Mary hofft, dass Anne einen Mann heiratet, der bereit ist, sich hier auf Riverview niederzulassen.« Er unterbrach sich. »Sie haben sich gut in unseren Lebensstil eingefügt, James.« Der Erklärung fehlte es so sehr an Feinsinn, dass die Botschaft unmöglich misszuverstehen war. James Pengelly antwortete, indem er den Sachverhalt klar formulierte. »Sie finden, ich wäre ein passender Ehemann für Anne.« »Mary und ich haben darüber gesprochen. Wir hatten gehofft, der Vorschlag käme von Ihnen. Sie haben doch keine Abneigung gegen Anne, oder?« »Niemand könnte Anne nicht mögen. Sie ist eine warmherzige, freundliche junge Frau.« »Und, was sagen Sie dann dazu, James? In der Zeit, die Sie bei uns sind – zweieinhalb Jahre sind das jetzt, nicht wahr? -, haben meine Gewinne dank Ihrem Geschick mit Zahlen und Bilanzen eine beträchtliche Steigerung erfahren. Ich würde Sie gerne in Diensten halten. Mary möchte, dass ihre Tochter in der Nähe bleibt. Eine Heirat zwischen Anne und Ihnen scheint eine glänzende Idee zu sein.« »Nichts für ungut, Charles, ich würde sagen, Ihre glänzende Idee ist in erster Linie zum Nutzen von Riverview und für Mrs. Wintons Glück.« Charles Winton war ehrlich bestürzt. »Heiliger Strohsack! Vermutlich haben meine Worte Ihnen diesen Eindruck vermittelt. Wir sind hier nicht eigenn?tzig. Anne hat ihrer Mutter anvertraut, dass sie gewisse Gef?hle f?r Sie hegt.? Jetzt war es an James, überrascht zu sein. »Anne hat nie eine Andeutung gemacht, dass sie mich besonders mag.« Charles lächelte. »Sie denken zweifellos, wenn Anne etwas will, geht sie drauflos und nimmt es sich. Doch wie es scheint, ist unsere Tochter in dieser Angelegenheit ohne unsere Unterstützung nicht in der Lage, sich zu erklären.« »Die Sie ihr bereitwillig gewähren.« In diesem Augenblick schaute Anne wieder zu dem Fenster herüber, wo die Männer standen und redeten. Rasch wandte sie den Blick wieder ab. James glaubte, eine Röte ihre Wangen überziehen zu sehen. Vielleicht wusste oder erriet sie, um was das Gespräch sich drehte. »Also, was denken Sie?«, fragte Charles Winton noch einmal. »Im Augenblick habe ich gar keinen klaren Gedanken. Ich mag Anne, sehr. Doch bis jetzt habe ich noch nicht übers Heiraten nachgedacht. Seit ich nach Australien gekommen bin, war ich eigentlich entschlossen, Junggeselle zu bleiben.« »Das können Sie nicht machen, Mann«, rief Charles aus. »Das Leben ist nichts ohne eine gute Frau an Ihrer Seite und Kinder, um Ihr Herz zu erfreuen. Und auch wenn es zweifellos stolz von mir ist, so etwas zu sagen, aber unsere Familie ist da doch ein lobenswertes Beispiel.« James musste notgedrungen lächeln. Die Wintons waren in der Tat eine Empfehlung für Ehe und Familie. Der Schwur, Junggeselle zu bleiben, war aus dem Kummer und dem Schmerz geboren, die der junge Rodney Tremayne erlitten hatte. Die Erfahrungen in der Kolonie hatte James Pengelly hart gemacht. Cornwall, die emotionale Torheit der Jugend und der Verrat seines Vaters lagen weit hinter ihm. Diese Vergangenheit gehörte zu einem anderen Mann. Warum sollte er Anne Winton nicht heiraten? Sie war, wie er zu ihrem Vater gesagt hatte, warmherzig und freundlich. Ihre Schönheit lag in ihrem Wesen, denn nur ein Vater oder ein Liebhaber konnte in ihrem Gesicht etwas anderes sehen als Reizlosigkeit. Anne schienen die recht gewöhnliche Anordnung ihrer Züge und ihre unbestimmbare Gesichts- und Haarfarbe keinen Kummer zu bereiten. Bei reiflicher Überlegung hatte es eindeutig Vorteile für ihn. Er mochte die Familie Winton, hegte großen Respekt für Charles und Bewunderung für Mary. Hier in Riverview tat er die Arbeit, die ihm wirklich Spaß machte. Der Wohlstand hatte dafür gesorgt, dass die Schaffarm sich zu etwas entwickelt hatte, das einem kleinen Dorf ähnelte. James war schon einige Monate vor Ort gewesen, als die Familie in ihre zweistöckige Villa eingezogen war, erbaut aus örtlichen Steinen und durchweg mit Geschmack und Stil möbliert. Vor dem Haus lagen anziehende Gärten, und ein Rasen fiel ab zum hohen Ufer des Murray River. Links davon, hinter dem ursprünglichen Haus und der alten Küche, war die Stelle, wo James, wie er oft gedacht hatte, gerne sein eigenes Haus bauen würde. Er konnte es viel schlechter treffen, als Anne Winton zu heiraten. »Gut, Charles. Wenn Anne mich will, bin ich einverstanden, sie zur Frau zu nehmen.« »Ausgezeichnet.« Charles nahm James’ Hand und hielt sie fest. »Ich nehme an, Sie wollen selbst mit Anne sprechen?« »Ja. Ich heirate sie nur, wenn ich mir ganz sicher bin, dass sie das wirklich will.« Charles ging zu dem offenen Fenster und lehnte sich hinaus. »Anne, komm doch mal einen Augenblick her.« Er grinste James an. »Warum einen Dienstboten bitten, wenn ich sie doch selbst rufen kann.« »Ja, warum?« Wenige Minuten später betrat Anne den Raum, wo der Buchhalter ihres Vaters die Geschäftsbücher der Schaffarm führte. Ein rascher Blick von einem zum anderen bestätigte, was sie im Garten vermutet hatte. Das leichte innere Zittern, das sie gespürt hatte, wurde jetzt zu einem Dutzend in ihrem Bauch herumflatternder Schmetterlinge. Sie vergrub die Finger in den Falten ihres Rocks, damit sie nicht verrieten, wie sehr sie zitterte. »Was ist, Daddy? Brauchst du mich?« »Nein, mein Liebling. James möchte dich etwas fragen.« Er gab ihr ein Küsschen auf die Wange. »Ich lasse euch beide allein.« Anne hörte, wie die Tür hinter ihrem Vater geschlossen wurde. Sie verschränkte die Hände vor dem Körper und schaute James direkt in die Augen. »Was möchten Sie mich fragen, James?« »Wissen Sie, warum Ihr Vater uns allein gelassen hat?« »Ich vermute, dass er Heiratsvermittlung betrieben hat«, bemerkte Anne ohne jede Sentimentalität. Entschlossen, ihre Gefühle für diesen Mann nicht zu zeigen, bevor sie nicht wusste, wie sie aufgenommen wurden, war sie dankbar, als James lachte. Anne lächelte ihn an. »Ich habe doch recht, oder? Vater ist zu dem Schluss gekommen, Sie sollten mich heiraten.« »Wie unromantisch das klingt.« Das Lachen blieb in seiner Stimme. Anne würde stets offen sagen, was sie dachte. »Hat Ihr Antrag denn irgendetwas Romantisches?«, konterte sie. »Ich nehme doch an, Sie werden mir einen Antrag machen.« »Ja, das werde ich.« Er unterdrückte sein Amüsement. »Anne, ich möchte wissen, wie Sie zu der Sache stehen. Würden Sie mich heiraten, weil Sie meine Frau sein wollen oder weil es der Wunsch Ihrer Eltern ist?« »Werden Sie mich dreist finden, wenn ich die Wahrheit sage?« »Ich will die Wahrheit wissen. Ich habe keine Zeit, affektiert über falsche Schüchternheit zu lächeln.« »Gut, denn ich werde niemals affektiert sein, und ich weiß auch nicht, wie man sich schüchtern gibt. Nun denn, James Pengelly, ich liebe Sie und wünsche mir nichts mehr, als Ihre Frau zu werden.« Wieder lachte James. »Ich habe Sie noch nicht gefragt.« »Dann fragen Sie mich.« Er griff nach ihren Händen und hielt sie leicht in seinen. »Anne Winton, wollen Sie mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden?« »Ja, James Pengelly.« Sie reckte sich mutig, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu geben. »Es macht mir nichts aus, dass du mich noch nicht liebst. Aber wage es nicht, deine Meinung zu ändern.« Charles Winton gab die Verlobung formell bekannt, als die Familie sich zum Abendessen versammelte. Er öffnete zwei Flaschen seines besten Weins, um alle Gläser zu füllen. »Ich möchte einen Toast aussprechen«, erklärte er. »Adam, Joshua, Jane, wir trinken auf die Gesundheit von Anne und James, die sich verlobt haben. Heißt euren Schwager in der Familie willkommen.« Die Reaktion der Brüder entsprach ihrem jeweiligen Naturell. Adam umarmte seine Schwester, schüttelte James die Hand und erklärte, er sei von ganzem Herzen für die Verbindung. Joshua, der seine Schwester ebenfalls umarmte, sagte: »Ich hätte mir ja denken können, dass du deinen Willen kriegst, Anne«, und dann zu James: »Ich hoffe, du weißt, auf was du dich da einlässt.« Anne reagierte mit einem spielerischen Klaps auf den Arm ihres Bruders. »Hör damit auf, Joshua.« »Achte nicht auf ihn, Anne.« Jane trat zwischen die beiden, nahm Annes Hand und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich freue mich sehr für dich.« Der einzige andere Mensch im Raum, der wusste, dass sie nicht gl?cklich war, war James. Er hatte ihr Gesicht gesehen, als Charles die Ank?ndigung verlauten lie?. Es gab noch eine Neuigkeit, doch die hob Charles Winton sich für nach dem Abendessen auf. »Anne, Jane, eure Mutter und ich wollen euch eine besondere Freude machen. Wir fahren mit euch nach Adelaide. Und«, er hielt eine Hand hoch, um die aufgeregten Stimmen zu beruhigen, »wir werden im Haus des Gouverneurs einen Ball besuchen.«  
Adelaide war faszinierend. Anne erinnerte sich nur noch schwach an die Stadt, in der die Familie 1845 angekommen war. Sechs Jahre Wohlstand in der Kolonie hatten solche Veränderungen bewirkt, dass es nur wenig gab, was in ihrer Erinnerung eine Saite anschlug. Bei allem, was sie sah, machte sie aufgeregte Bemerkungen: Die Gebäude waren eindrucksvoll, die Läden faszinierend, die Menschen noch mehr. Für Jane war alles neu, aufregend, anders. Für eine junge Frau, die nur die Abgeschiedenheit einer isolierten Schaffarm kannte, war Adelaide mehr als einschüchternd. Erst als sie in ihrem Hotel ankamen, ging ihr auf, dass man sie als Kuriosum betrachtete; faszinierend, aber mit dem Status ihrer Adoptivfamilie unvereinbar. Die Blicke, die ihr bei ihrer Fahrt durch die Stadt gefolgt waren, hatten sie nicht beunruhigt. Sie hatte jeden Gaffer offen angeblickt. Als die Familie die Hotellobby betrat, sah sie, wie der Portier sie mit offenem Mund und hervorquellenden Augen anglotzte, bevor er rasch wieder eine Miene ungerührter Unterwürfigkeit aufsetzte. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«, fragte er Charles Winton, während es ihm schwerfiel, den Blick von der dunkelhäutigen jungen Frau zu lassen. »Ich bin Charles Winton. Ich habe Zimmer reserviert für meine Familie. Ein Zimmer für meine Frau und mich, eines für meine T?chter und ein Einzelzimmer f?r den Verlobten meiner Tochter. Er gesellt sich gleich zu uns.? »Ah … ähm«, der Portier lenkte seine Aufmerksamkeit rasch von den Frauen zum Reservierungsbuch auf dem Tisch. Nachdem er ungewöhnlich lange gebraucht hatte, um die Einträge zu studieren, sah er Charles stirnrunzelnd an. »Ah, ja, Ihre Räume sind für Sie bereit. Für Ihre Töchter haben wir ein sehr ruhiges Zimmer im hinteren Teil des Hotels reserviert. Haben Sie auch ein Dienstbotenzimmer bestellt, Sir?« »Nein, wir haben keine Dienstboten mitgebracht.« »Oh … ah … verstehe. Die schwarze Frau bleibt also nicht mit Ihnen hier. Sie haben Sie wohl irgendwo getroffen?« Der Portier war so erleichtert, dass die Frau nicht im Hotel wohnen wollte, dass er ganz und gar nicht auf die empörte Reaktion des Mannes vorbereitet war. »Diese beiden jungen Damen«, erklärte Charles in einem Tonfall, der seiner grimmigen Miene entsprach, »sind meine Töchter.« »Aber … sie kann nicht Ihre Tochter sein, Sir.« »Es ist mir vollkommen egal, was Sie denken, junger Mann. Sie ist meine Tochter, Jane Winton. Wir würden jetzt gerne in unsere Zimmer geführt werden, oder ist es Ihnen lieber, ich spreche mit dem Besitzer dieses Hauses?« Da der Portier nicht wusste, ob er von seinem Arbeitgeber für seine Abneigung, eine Schwarze als Gast in das Hotel aufzunehmen, gelobt oder gescholten werden würde, war er froh, Charles Winton darüber informieren zu können, dass der Besitzer derzeit nicht in der Stadt war. Und mit ein wenig Glück, fügte er bei sich hinzu, sind die Gäste wieder abgereist, bevor der Hotelbesitzer zurückkehrt. Der Hotelpage, ein Bursche von zehn oder zwölf Jahren, betrachtete Jane mit offener Neugier, die nichts von der Abscheu hatte, die der Portier bekundet hatte. Sobald die jungen Frauen in ihrem Zimmer allein waren, machte Jane ihrem Zorn Luft. »Hast du den Portier gehört, Anne? Sind die hier alle so? Glaubt niemand, dass wir Schwestern sind?« »Spielt es eine Rolle, was Fremde denken? Du bist meine liebe Schwester und wirst es immer bleiben.« Jane war das kein Trost. »Ich bin vielleicht als Mitglied eurer Familie aufgewachsen und weiß mehr über eure Lebensart als über die meiner Vorfahren, aber ich bin trotzdem eine Aborigine. Jetzt weiß ich auch, warum die Leute mich so angestarrt haben. Sie haben nur meine Hautfarbe gesehen.« »Sie haben deine Schönheit gesehen, Jane. Warte, bis wir zum Ball gehen. Die Männer werden sich um dich scharen, und alle Frauen werden dich beneiden.« »Ich weiß nicht, ob ich wirklich an dem Ball des Gouverneurs teilnehmen soll.« »Du bist eingeladen, warum solltest du nicht daran teilnehmen?« »Als Papa die Einladung angenommen hat, hat er da erwähnt, dass seine Adoptivtochter schwarze Haut hat?« »Ich habe keine Ahnung, und du bist nicht schwarz, Jane, deine Haut ist von einem hübschen, warmen Braun.« »Darüber, meine liebe Anne, lässt sich streiten. Ich bin nicht weiß. Ich habe den Eindruck, wir werden da, wo Aborigines normalerweise nicht gern gesehen sind, nicht willkommen sein.« »Nur Menschen ohne Verstand im Hirn und Nächstenliebe im Herzen würden dir das Gefühl geben, nicht willkommen zu sein. Die Meinung solcher Menschen ist sowieso nicht von Belang.« Sie legte den Arm um Jane. »Kopf hoch, meine Liebe. Es wird alles wunderbar, das verspreche ich dir.« Die nächsten Tage bestätigten eher Jane in ihrer Überzeugung als Anne. Die Überraschung in den Gesichtern der Menschen, die den beiden jungen Frauen das erste Mal begegneten, war verständlich. Das schockierte Zurückzucken und die Entrüstung, die dem folgten, waren unertr?glich. Nur selten wurde die urspr?ngliche ?berraschung von unkritischer Neugier abgel?st. In der Öffentlichkeit verbarg Jane ihren wütenden Groll. Nur Anne vertraute sie ihre Gedanken an. »Die fühlen sich alle Gott weiß wie überlegen. Hast du einigen dieser Frauen zugehört, Anne? Wir beide sind redegewandter als viele von denen, und doch behandeln sie mich, als gehörte ich in einen Zoo oder auf einen Jahrmarkt, als Kuriosum, das sie begaffen könnten.« »Du darfst dich von solchen Leuten nicht aus der Fassung bringen lassen, Jane.« »Ich bin eher wütend als bestürzt. Ich lasse mich nicht demütigen. Ich werde den Frauen in dieser Stadt beweisen, dass ich ihnen ebenbürtig bin.« Jane wusste, dass sie die Kunst des Gesprächs wohl beherrschte und dass sie hübsch war, auch wenn sie zögerte, sich schön zu nennen. Doch sie trug ihre Kleider mit Stil, und ihr gesellschaftliches Benehmen war tadellos. Ich werde nicht so tun, sagte sie sich, als wäre ich so wie sie. Ich werde allen zeigen, dass ich stolz darauf bin, Aborigine zu sein, und dafür sorgen, dass sie mich als das respektieren, was ich bin. Allmählich freute Jane sich auf den Ball. Mrs. Winton und die Mädchen sollten für den Ball neue Kleider genäht bekommen. »Wir werden nicht zu extravagant sein«, versicherte sie ihrem Mann. »Ich möchte die Mädchen nur nach der neuesten Mode kleiden.« »In diesen lächerlich langen Krinolinen? Äußerst unpraktisch, wenn du mich fragst.« »Ich weiß, mein Lieber, aber sie sind die neueste Mode. Die Mädchen müssen welche haben. Schließlich ist der Ball eine ganz besondere Gelegenheit.« Mrs. Winton machte am unteren Ende der Rundle Street eine Damenschneiderei ausfindig. Die Eigentümerin war in schlichtes Grau gekleidet, nur mit einem lilafarbenen Band besetzt. Das Kleid war so unscheinbar wie die ganze Person. Ein Stra?enkleid aus gr?nem Satin, dessen Volants mit Pannesamt verziert waren, hing als Beleg f?r ihre Schneiderk?nste an einem St?nder. Ihr ganzes Wissen um ihr Talent manifestierte sich in dem selbstherrlichen Anspruch, w?hlerisch zu sein, was ihre Kundinnen anging. Niemals w?rde sie ein Kleid f?r eine Frau entwerfen, deren k?rperliche Erscheinung dem Kleid nicht gerecht w?rde. Margaret Boyd war auf ihre ureigene Weise ein Snob. W?hrend sie f?r Mrs. Winton und Miss Anne Winton bereitwillig etwas kreieren wollte, weigerte sie sich entschieden, ein Kleid f?r eine Aborigine zu schneidern. »Obwohl ihre Eltern Aborigines waren, Miss Boyd, ist Jane als Annes Schwester aufgewachsen. Sie wird mit uns auf den Ball des Gouverneurs gehen und braucht ein Kleid.« Mary Winton fasste Jane am Arm, um zu verhindern, dass das Mädchen wütend aus dem Laden stürmte. Anne hatte ein entrüstetes Keuchen ausgestoßen. Die Schneiderin ließ sich weder von der einen noch von der anderen Reaktion aus der Ruhe bringen. »Es tut mir leid, Mrs. Winton. Vielleicht sollten Sie sich eine andere Schneiderin suchen. Es gibt andere in der Stadt, die nicht so auf ihren guten Ruf bedacht sind.« Mary Winton lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, doch eine Frau in einem überreich besetzten Kleid aus dunkelrotem Taft, die sich gebieterisch einmischte, kam ihr zuvor. Das Kleid, das sie trug, war eindeutig nicht nach der neuesten Mode geschneidert, ihr Gesicht wirkte wie gemalt, und ihre Finger waren mit Ringen überladen. Statt eines Huts trug sie die schwarze Spitzenmantilla und den hohen Kamm einer spanischen Dame. »Miss Boyd. Ich möchte mit Ihnen sprechen.« Bei dem Eifer, mit dem die Schneiderin reagierte, warfen die Winton-Frauen einander erstaunte Blicke zu. Keine von ihnen brauchte auszusprechen, was sie alle dachten. Wenn zu den Kundinnen der hochmütigen Schneiderin ein so seltsames Wesen gehörte, wie konnte sie dann etwas dagegen haben, ein Kleid für Jane zu n?hen? Alle waren bestrebt, das Gespr?ch von der anderen Seite des Raums mit anzuh?ren. »Sie haben eine Problem damit, für die dunkle junge Frau eine Kleid zu schneidern?« »Madame, sie ist eine Aborigine.« »Sie ist ein sehr anziehende junge Frau, die in Ihre Kleider viel besser aussehen wird wie die reizlose Ding, mit die sie hier ist.« »Aber sie ist schwarz, Madame. Wenn ich sie kleide, werde ich alle meine Kundinnen verlieren.« Die Zuhörerinnen hörten ein deutliches Schnauben. »Wenn Sie die junge Frau nicht einkleiden, werden Sie Ihre beste Kundin verlieren.« »Madame, das verstehe ich nicht.« Die Schneiderin klang schon nicht mehr ganz so selbstsicher. »Haben ich Ihnen nicht die berühmte Mrs. Westoby hergebracht? Haben Sie nicht schon jetzt viele neue Kundinnen, weil sie Ihre Kleider trägt?« »Wer ist diese Mrs. Westoby?«, fragte Anne ihre Mutter flüsternd. »Ich habe keine Ahnung.« Ihr Geflüster war belauscht worden. »Sie kennen die große Sängerin nicht?« Ein grimmiger, fragender Blick richtete sich auf die drei Frauen. »Wir sind nicht aus Adelaide, ähm … Madame.« Die Frau wandte sich mit einem dramatischen Achselzucken wieder der Schneiderin zu. »Erklären Sie es diese Damen.« Das Betragen der Schneiderin war inzwischen bar jeglicher Überheblichkeit. »Mrs. Westoby wird von der Gesellschaft so bewundert, dass ich durch sie viele neue Kundinnen gewonnen habe, die ebenfalls meine Kleider tragen möchten.« Madame breitete die Hände aus. »Sie werden also diese junge Dame hier kleiden. Ich denke, irgendetwas in einem Kupfer- oder Bernsteinton.« An dem Tag des Balls steckte James Pengelly Anne einen Saphirring an den Finger. Sie hatte den Ring selbst ausgesucht und ungeduldig darauf gewartet, dass er passend für ihren Finger umgearbeitet wurde. »Gefällt er dir?«, fragte sie Jane und hielt ihr stolz die Hand zur Begutachtung hin. Jane nahm die ausgestreckte Hand, um den tiefblauen Stein zu bewundern. »Er gefällt mir sehr gut.« Sie legte die andere Hand über Annes und drückte diese. »Du hast so ein Glück, Anne, mit einem Mann wie James verlobt zu sein.« »Deine Zeit kommt auch noch.« »Ich glaube nicht. Du hast ja gesehen, wie die Leute mich anschauen. Glaubst du wirklich, irgendein Mann möchte mich heiraten?« »Warum nicht? James schätzt dich sehr.« »James wird dich heiraten. Seine Wertschätzung zählt nicht.« »Du wirst jemanden finden, der dich noch lieber hat als James. Auf dem Ball heute Abend sind sicher viele akzeptable Männer.« »Wage es bloß nicht, die Heiratsvermittlerin zu spielen, Anne. Dann werde ich sehr ärgerlich.« »Also, ich sorge auf jeden Fall dafür, dass du nicht ohne Tanzpartner dastehst.« Jane konnte ein kleines Lachen nicht unterdrücken. »Liebe Anne, du bist die beste Schwester der Welt.« Sie wurde sofort wieder ernst. »Seit wir in Adelaide sind, war ich hin und wieder wütend und betrübt. Ich wollte unsere Eltern sogar schon bitten, nach Hause zu fahren, aber ich wusste ja, wie sehr du und Mama euch auf diesen Ball gefreut habt. Heute habe ich einen Entschluss gefasst. Ich gehe nicht zu dem Ball, als müsste ich mich für meine Hautfarbe schämen. Ich gehe mit erhobenem Haupt. Ich zeige allen, dass ich stolz auf das bin, was ich bin. Ich brauche niemanden mehr, um mich zu verteidigen. Von heute an will ich mich selbst verteidigen.« Ein dienstbarer Geist war angestellt worden, um den Winton-Damen bei der Toilette zur Hand zu gehen und ihnen in ihre Kleider zu helfen. Sie begeisterte sich über Janes glänzendes, schwarzes dichtes Haar und kam, wenn sie eine Strähne abtrennte, sie lockte und der jungen Frau auf dem Kopf feststeckte, nicht mehr aus dem Schwärmen heraus. Der geschickte Einsatz einer kleinen Schere schuf mehrere dünne Strähnchen, die Janes Gesicht rahmten. Modische Löckchen, erklärte die Frau, passten zu Anne, würden Jane jedoch nicht zu Gesichte stehen. Die jungen Frauen betrachteten ihr jeweiliges Spiegelbild mit Freude. Annes Kleid aus tiefblauem Chiffon betonte ihre helle Haut- und Haarfarbe. »Gott«, erklärte sie, »ich sehe ja fast schön aus. Aber du, Jane, du bist wahrlich schön.« Ja, dachte Jane, ich bin schön. Der glänzende bernsteinfarbene Satin war die perfekte Wahl für ihr Kleid gewesen. Ihre Haut glühte, ihr Haar schimmerte, und sie konnte nicht aufhören zu hoffen, dass James sie ebenfalls schön finden würde. Als die Familie sich in der Hotellobby traf, war sie zufrieden mit der Verwunderung in James’ Blick. »Du siehst wunderschön aus, Jane.« »Danke«, murmelte Jane, die merkte, dass er seine Augen nicht von ihrem Gesicht abwenden konnte. »Findest du mich auch schön?«, fragte Anne. »Wie könnte ich etwas anderes sagen?« Sein Lächeln löschte den eifersüchtigen Stich aus, den sie empfunden hatte. »Ihr seid beide ein Labsal für die Augen«, erklärte Charles Winton. »Ich sehe, dass ich meine Geschenke klug gewählt habe.« Vor dem Ankleiden hatte er den beiden jungen Frauen je ein Schmuckkästchen überreicht. In Annes war ein Saphiranhänger, in Janes eine Bernsteinhalskette. Die Stücke waren die perfekte Ergänzung zu den Kleidern der jungen Frauen. Janes Ankunft auf dem Ball war die erwartete Sensation. Als Mr. und Mrs. Charles Winton, Misses Anne und Jane Winton und Mr. James Pengelly angek?ndigt wurden, breitete sich im Saal zun?chst Schweigen aus. Dass Jane Winton als Tochter von Charles Winton eingef?hrt wurde, sorgte rasch f?r einen Wirbel gefl?sterter Spekulationen. Ihre Z?ge schienen denen der Aborigines zu ?hneln, die man an den R?ndern der Stadt sehen konnte. Doch die G?ste des Gouverneurs waren nicht bereit zu glauben, dass die junge Sch?nheit einem Volk angeh?rte, dem sie mit nichts als Herablassung begegneten. »Eine Aborigine könnte nie so hinreißend aussehen.« »Vielleicht ist sie eine Prinzessin von einer der pazifischen Inseln.« »Vielleicht kommt sie aus Neuseeland. Ich habe gehört, die Eingeborenen dort sind viel zivilisierter als unsere hier.« »Ist sie wirklich Charles Wintons Tochter? Wie kann seine Frau so etwas dulden? Die jungen Frauen scheinen im selben Alter zu sein.« »Nun, er wäre nicht der erste Mann, der sich woanders umsieht, wenn seine Frau in diesem Zustand ist.« »Wenn dem so war, dann ist die Mutter vielleicht eine Aborigine.« »Unsinn. Ich weiß mit Sicherheit, dass die Familie erst 1846 ins Land gekommen ist.« »Wer auch immer sie ist, sie ist auf jeden Fall überwältigend schön. Schauen Sie nur, wie sich die jungen Männer um sie drängen.« Jane war das Zentrum der neugierigen Bewunderung. Und auch Anne bekam ihren Teil Aufmerksamkeit. Sie flirtete glücklich mit den jungen Männern und hatte den größten Spaß dabei. James, der bei ihrem Vater stand, wurde wichtigen Leuten vorgestellt. Anne machte es gar nichts aus, in einem Kreis von Bewunderern allein gelassen zu werden. Während Anne flirtete, gab Jane sich reserviert und pflegte eine geheimnisvolle Aura. Die Kühneren unter ihren Bewunderern vermuteten, sie k?me aus einem exotischen Land. Jane leugnete es weder, noch best?tigte sie die absurden Spekulationen ?ber ihre Vorfahren. Sie beantwortete alle mit einem kleinen, geheimnisvollen L?cheln. Innerlich lachte sie, w?hrend ihre Verachtung f?r die wei?e Gesellschaft wuchs. Beide jungen Frauen waren bald für sämtliche Tänze des Abends versprochen. Den ersten Tanz hatte Anne allerdings für ihren Verlobten reserviert. »Macht es dir etwas aus, James, dass ich alle anderen Tänze versprochen habe? Dich sehe ich doch jeden Tag, und ich amüsiere mich so sehr.« »Amüsier dich nur, Anne. Es macht mir überhaupt nichts aus, wenn ich nicht jeden Tanz haben kann. Es ist eine Freude, euch beiden zuzusehen.« Doch das war gelogen. Er konnte lächeln und Annes Flirtereien mit Nachsicht betrachten. Doch warum war er so wütend auf die Bewunderer, die sich um Jane scharten? Irgendwann im Laufe des Abends wurde Anne aufs Tanzparkett geführt, und ihr Partner beugte sich zu ihr und sagte: »Da ist Mrs. Westoby. Ich frage mich, ob sie heute Abend etwas für uns singt.« »Ich habe ihren Namen schon gehört. Ist sie eine gute Sängerin?« »Gut? Sie ist großartig. Eine Frau, die vom Glück in jeder Weise begünstigt wurde: eine göttliche Stimme, ein schönes Gesicht und verheiratet mit einem der reichsten Männer Adelaides. Und es heißt, sie ist in einem Bergmanns-Cottage in Cornwall aufgewachsen.« »Wie interessant. Ich frage mich, ob … oh!« Anne sagte nicht, was sie sich fragte, denn sie hatte einen Blick auf das Gesicht der Sängerin erhascht. »Das ist Meggan. Oh, ich glaube es nicht.« »Sie kennen Mrs. Westoby?« »Nicht unter ihrem Ehenamen. Wir sind auf demselben Schiff nach Australien gekommen, aber ich habe sie seither nicht mehr gesehen. Oh, bitte, macht es Ihnen etwas aus, wenn wir nicht tanzen? Ich muss unbedingt mit ihr sprechen.? »Ich begleite Sie hinüber.« Meggan erkannte die junge Frau, die auf sie zukam, nicht sofort, doch als sie sie erkannte, freute sie sich umso mehr. »Anne, was für eine Überraschung!« »Allerdings. Ich hätte mir ja keinen Augenblick ausgemalt, wir würden uns im Haus des Gouverneurs treffen.« »Ich auch nicht. Du siehst gut aus, Anne.« »Es geht mir auch sehr gut, und du siehst bezaubernd aus. Wir haben uns sicher viel zu erzählen.« Ihren Begleiter hatte sie ganz vergessen, bis er das Wort ergriff. »Mrs. Westoby, darf ich die Gelegenheit nutzen, um Ihnen zu sagen, wie sehr ich Ihre Gesangskunst bewundere.« »Vielen Dank.« Meggan nahm das Kompliment mit dem Selbstvertrauen entgegen, das ihr jetzt ganz natürlich war. Der junge Mann schaute sie noch einen Augenblick bewundernd an, bevor er höflich vorschlug, die Damen allein zu lassen, damit sie ihre Bekanntschaft erneuern könnten. Die Frauen gingen zu einem leeren Sofa. »Dann bist du jetzt wohl berühmt. Du hast ja damals schon gesagt, du wolltest eine große Sängerin werden.« »Ja, habe ich. Ich bin sehr glücklich, dass mein Traum Wirklichkeit geworden ist. Was ist mit dir, Anne? Du hast immer gesagt, alles, was du vom Leben wolltest, sei, einen reichen und gut aussehenden Mann zu heiraten und viele Kinder zu bekommen.« Anne lachte. »Mein Traum ist auch Wirklichkeit geworden.« Sie streckte die linke Hand aus. »Ich bin mit einem gut aussehenden Mann verlobt. Er ist zwar nicht reich, aber er arbeitet bei meinem Vater als Buchhalter. Wenn wir heiraten, bekommen wir unser eigenes Haus auf Riverview, und ich kann immer in der Nähe meiner Eltern und Brüder und meiner Schwester sein.« »Schwester? Deine Eltern haben noch ein Kind bekommen?« »Nein. Jane ist meine Adoptivschwester. Sie ist bei unserer Familie, seit wir Adelaide verlassen haben. Du wirst überrascht sein, Meggan. Das da ist meine Schwester, die mit den beiden Männern da spricht.« »Das ist deine Schwester Jane? Ich glaube, sie hat ziemlich für Aufsehen gesorgt. Niemand scheint dahintergekommen zu sein, woher sie stammt.« »So sollte es auch sein.« Anne kicherte. »Ich erzähl’s dir, Meggan. Jane ist eine Aborigine. Wir haben Jane und ihre Mutter dem Tode nahe gefunden, kurz nachdem wir Adelaide verließen.« »Dann ist sie als deine Schwester aufgewachsen. Was ist aus der Mutter geworden?« »Hannah ist auch bei uns geblieben. Sie war meiner Mutter vollkommen treu ergeben. Sie ist leider letztes Jahr gestorben. Wir glauben, dass ihr Herz versagt hat.« »Deine Geschichte hat mich neugierig gemacht, Anne. Ich möchte Jane kennenlernen, und ich würde auch gerne die Bekanntschaft mit deinen Eltern erneuern.« »Natürlich. Und ich stelle dich meinem Verlobten vor. Er kommt auch aus Cornwall. Sein Name ist James Pengelly.« »Pengelly? Wie seltsam. So hieß unser Dorf.« »Ja, jetzt fällt’s mir wieder ein. Ich dachte doch, dass ich den Namen schon einmal gehört habe. Da kommt er.« Sie lächelte über Meggans Schulter jemanden an. Meggan drehte sich um und keuchte auf. »Rodney!« Sie sah, wie sein Gesicht blass wurde, und seine Augen verrieten, dass er zutiefst schockiert war. Es war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er sie nicht erkannte. »Sie müssen sich irren. Ich kenne Sie nicht.« »Ich irre mich nicht, denn ich kenne Sie gut. Ich bin Carolines kleine Schwester.« Die Bestürzung über das Wiedererkennen dämmerte in seiner Miene. »Meggan Collins.« »Jetzt Meggan Westoby. Und Sie nennen sich James Pengelly. Kein Wunder, dass sie Sie nicht gefunden haben.« »James, würdest du mir das bitte erklären?«, unterbrach Anne sie, die dem Wortwechsel nicht folgen konnte. »Ihr kennt euch? Warum nennt Meggan dich Rodney?« »Das erkläre ich dir später.« Annes Besorgnis wurde beiseitegewischt. »Wer hat mich gesucht, Meggan?« »Con und Jenny.« Anne unterbrach sie noch einmal. »Ich verlange, dass du mir erklärst, was hier los ist. Wer sind diese Leute?« Meggan hörte den Schmerz in ihrer Stimme. »Ich kann es dir nicht sagen, Anne.« »Warum nicht? James?« »Es tut mir leid, Anne. Bitte lass mich kurz allein mit Meggan reden. Ich erkläre dir später alles.« Alles andere als zufrieden, ging Anne zu ihren Eltern. »Eben ist etwas ganz Seltsames passiert, Mama.« »Was denn, meine Liebe?« »Meggan und James kennen sich, aber sie hat ihn Rodney genannt.« »Meggan?« »Du erinnerst dich sicher an Meggan Collins, Mama. Ihre Familie war mit uns auf dem Auswandererschiff.« »Ach ja, ich erinnere mich. Sie ist hier auf dem Ball?« »Nicht nur auf dem Ball. Kannst du dir vorstellen, dass Meggan die große Mrs. Westoby ist, von der alle reden?« »Tatsächlich? Wie erstaunlich.« »Ja, und ich wollte sie James vorstellen, und dann hat sie ihn Rodney genannt, und sie haben über Leute geredet, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Und jetzt sind sie irgendwohin zum Reden. Ich bin ziemlich durcheinander, Mama.« »Dazu gibt es sicher keinen Grund. James ist ein guter Mann. Wo ist Jane? Ich sehe sie nirgends.« »Sie war da drüben, mit zwei Bewunderern.« »O ja. Unsere Jane hat inzwischen mehr als zwei Bewunderer. Ich bin sehr froh, dass alles so gut gekommen ist. Ich hatte Angst um sie. Obwohl es mir nicht recht war, sie mit einer geheimnisvollen Aura zu umgeben, scheint es doch, als wäre der Plan aufgegangen.« Doch Jane hatte genug von der Farce. Während sie es zuerst amüsant gefunden hatte, dass alle über ihren Hintergrund rätselten, wäre sie jetzt am liebsten mitten in den Ballsaal getreten und hätte laut verkündet, wer ihre Vorfahren waren. Sie wollte diese Menschen herausfordern, sie nicht anders zu behandeln, weil sie nur eine Aborigine war und keine exotische Prinzessin. Sie hatte sich aus der Gruppe von Bewunderern gelöst und ging im Saal herum, ohne sich zu ihrer Familie zu gesellen. Einige Damen baten sie, sich zu ihnen zu setzen. »Ich bin Elizabeth Reilly«, stellte eine junge Frau sich vor. »Dies ist meine Mutter und dies unsere Freundin Mrs. Harrison. Bitte setzen Sie sich doch zu uns, Miss Winton. Meine Mutter und ich würden uns gerne mit Ihnen unterhalten.« Jane hatte nicht den Wunsch, sich hinzusetzen und zu reden. Sie wollte sich schon entschuldigen, doch etwas in der Miene der Frau, die Harrison hieß, ließ sie es sich anders überlegen. Sie will nicht, dass ich mich zu ihnen setze. Na, dann erst recht. »Erzählen Sie uns von sich«, sagte die junge Miss Reilly verzückt. »Alle sind neugierig, Ihre Geschichte zu hören.« »Elizabeth, du bist viel zu ungeniert. Bitte verzeihen Sie meiner Tochter ihren Mangel an Manieren, Miss Winton.« Jane lächelte die beiden Frauen an. »Ich bin nicht gekränkt, Mrs. Reilly. Ich weiß sehr wohl, dass manches Rätselraten die Gesellschaft beschäftigt, seit ich heute Abend hierhergekommen bin.« »Und das ganze Gerede macht Ihnen nichts aus?« »Ich amüsiere mich eher, obwohl ich es müde bin, mir die wilden Spekulationen anzuhören. Ich wurde von den Wintons adoptiert, als ich zehn Jahre alt war, nachdem sie meine Mutter und mich vor dem Hungertod gerettet hatten.? »Wie schrecklich«, rief Miss Reilly. »Ich meine, nicht schrecklich, dass Sie adoptiert wurden, schrecklich, dass Sie am Verhungern waren.« »Wo war das?«, fragte Mrs. Harrison. »In Indien? Oder in Afrika?« »Oder in Australien«, fügte Jane hinzu, der durchaus nicht entging, dass die Frau nicht einmal so höflich gewesen war, sie mit ihrem Namen anzusprechen. »Ich bin eine Aborigine.« Jane beobachtete die Reaktionen mit Zynismus. »Oh«, war alles, was Miss Reilly sagen konnte. Mrs. Reilly hatte es die Sprache verschlagen. »Na, so was«, erklärte Mrs. Harrison empört und wäre fast über ihre weiten Röcke gestolpert, so eilig hatte sie es, aufzustehen und davonzueilen. Auch Jane stand auf. »Bitte entschuldigen Sie mich, Miss Reilly, Mrs. Reilly. Ich muss zu meinen Eltern.« Sie war noch nicht weit gekommen, da drang eine durchdringende Stimme an ihr Ohr. »Darüber werde ich mit Gouverneur Fox reden. Eine Aborigine … Aborigine!«, wiederholte die Stimme mehrmals. »Und sie wagt es, sich herauszuputzen, als wäre sie eine vermögende Frau, und besitzt die Dreistigkeit, sich unter die weiße Gesellschaft zu mischen. Wenn sie von einem zivilisierten Volk wie den Indianern abstammte, wäre sie ja vielleicht noch akzeptabel, aber eine Aborigine! Was ist nur aus der Kolonie geworden?« Zustimmendes Gemurmel war zu hören, und dann wurde die Stimme eines Mannes laut. »Ich habe mit der jungen Dame getanzt. Ich fand sie sehr charmant.« »Daran zweifle ich nicht, Mr. Pearson. Damen, die so welterfahren sind wie ich, wissen genau, warum sich Männer für schwarze Frauen interessieren.« Jane trat zu der Gruppe. Ihre Wut war ein kalter, harter Stein in ihrem Herzen. »Oh, bitte, Mrs. Harrison, lassen Sie uns an Ihrem Wissen teilhaben. Es interessiert mich sehr, zu hören, was Sie dazu sagen.« Sie hielt den Blick auf das Gesicht der Frau gerichtet, denn sie spürte, dass die Gruppe wonniglich erpicht darauf war, einer Szene beizuwohnen. Mrs. Harrison war keineswegs beschämt. »Als wüssten Sie das nicht. Widerliche Flittchen, das seid ihr doch alle miteinander.« »Tatsächlich?«, fragte Jane mit frostiger Stimme, die den einen oder anderen Zuschauer aufkeuchen ließ. Mrs. Harrison schien es nicht zu bemerken. Sie wedelte sich mit der Hand Luft zu. »Oh, meine Liebe, die Luft ist ganz stickig geworden. Riecht jemand von Ihnen diesen Gestank? Nach ungewaschener Schwarzer.« »Der einzige Gestank, den ich wahrnehme, ist der saure Gestank von Grobheit, Intoleranz und Verbitterung. Achten Sie auf sich selbst, Mrs. Harrison, bevor Sie die kritisieren, die bessere Manieren haben als Sie.« Das Gesicht der Frau wurde knallrot. »Wie können Sie, Sie schwarze Parvenü, es wagen, so mit mir zu reden? Sie haben nicht das Recht auf einen Platz in der weißen Gesellschaft.« »Ich habe das Recht meiner Erziehung. Das Recht der Freundlichkeit und des gesellschaftlichen Schliffs. Und von beidem scheinen Sie nichts zu besitzen.« Damit drehte Jane sich um und ging davon. »Das ist ja unerhört!« Jane wahrte die Fassung, bis sie die Tür erreichte. In dem Augenblick, da sie hindurchtrat, fing sie an zu zittern. Trotz ihrer Wut liefen ihr Tränen der Demütigung über die Wangen. Sie konnte nicht mehr so tun, als spielte ihre Ethnie keine Rolle. Egal wie gebildet und wohlerzogen sie war, egal was für ein guter Mensch sie war, die Mehrheit ihrer Mitmenschen würde niemals ?ber ihre Hautfarbe hinwegsehen. Man w?rde sie nie akzeptieren, sie w?rde nie einen guten Mann heiraten. Doch das hatte sie schon begriffen, als der Mann, den sie liebte, die Schwester mit der wei?en Haut zu seiner zuk?nftigen Ehefrau erw?hlt hatte.  
Meggan und Rodney James Tremayne fanden einen Sitzplatz in der Halle, wo sie sich unterhalten konnten, ohne belauscht zu werden. »Erzählen Sie mir von Jenny und Con. Waren sie hier?« »Ja, vor ungefähr sechs Monaten. Ich habe sie getroffen, als sie auf der Suche nach Ihnen nach Burra kamen.« »Wissen Sie, warum sie den weiten Weg auf sich genommen haben, um mich zu finden?« »Ich glaube, Ihr Vater war schwer krank und hat den Wunsch geäußert, Sie vor seinem Tod noch einmal zu sehen.« »Mein Vater ist tot?« »Das weiß ich nicht. Es könnte auch sein, dass er sich wieder erholt hat.« Rodney James saß eine Weile nachdenklich schweigend da, den Blick auf den Boden gerichtet. Er hob den Kopf, um etwas zu sagen, da fiel sein Blick auf Jane. »Jane!« Meggan wandte sich um und sah, dass die junge Aborigine mit tränennassem Gesicht zum Ausgang eilte. »Entschuldigen Sie mich bitte, Meggan. Ich muss herausfinden, was Jane so aus der Fassung gebracht hat. Kann ich Sie morgen früh besuchen?« »Ja. Gegen elf würde gut passen.« Sie gab ihm schnell die Adresse, denn sie spürte, dass er besorgt war und Jane rasch folgen wollte. Jane ging entschlossenen Schrittes weg von den Lichtern und der Musik; sie wollte nur noch allein sein. Sie hatte das Gefühl, sie k?nnte es nicht ertragen, zum Ball zur?ckzukehren. Sie wusste aber auch, dass sie nicht einfach gehen konnte, ohne ihrer Familie gro?en Kummer zu bereiten. »Sie sind meine Familie«, sagte sie laut. »Anne ist meine Schwester. Joshua und Adam sind meine Brüder. Ihre Eltern sind meine Eltern.« Sie liebte sie alle. Nein, das stimmte nicht ganz. Joshua konnte sie nicht lieben. In seiner Gegenwart fühlte sie sich immer unbehaglich, denn sie konnte sich gelegentlich des Eindrucks nicht erwehren, ihm würde ihre Zugehörigkeit zur Familie missfallen. »Jane. Warte.« Jane blieb stehen, ihr Herz schlug ein wenig schneller. »Jane«, sagte er noch einmal, als er bei ihr war. »Was ist los? Warum weinst du?« »Ich weine, weil ich wütend bin.« Sie wischte sich energisch die Tränen aus den Augen. »Warum ist es so inakzeptabel, Aborigine zu sein, James?« »Jemand hat etwas zu dir gesagt.« »Ein Schwein von einer Frau. Sie hat mich ein widerliches Flittchen genannt.« Auch er wurde wütend, denn Janes Schmerz rührte ihn. »Wer war die Frau? Man sollte sie zwingen, sich bei dir zu entschuldigen.« »Glaubst du wirklich, irgendjemand könnte Mrs. Harrison zwingen, sich zu entschuldigen? Ich war so wütend, ich fürchte, ich habe ihr ins Gesicht gesagt, was ich von ihren Manieren halte.« Zu ihrer Überraschung lachte er. »Tatsächlich? Sie braucht bestimmt Wochen, um sich von dem Schock zu erholen. Nach allem, was ich von dieser Frau gesehen und über sie gehört habe, hat sie jedes Wort verdient, das du gesagt hast.« Sie erinnerte sich an die schockierte Empörung im Gesicht der Frau und fing an zu lachen. Dann vermengten sich der Schmerz der Beleidigung, das Gefühl, fehl am Platze zu sein, und die Angst um ihre Zukunft, und sie schluchzte in seinen Armen. »Ich kann da nicht mehr reingehen«, sagte sie schließlich. »Das musst du auch nicht. Ich bringe dich ins Hotel zurück. Warte hier auf mich, bis ich deiner Familie Bescheid gesagt habe.« Nach kurzer Zeit war er wieder da. »Ich habe ihnen gesagt, dass du dich nicht gut fühlst, Jane. Du musst entscheiden, wie viel du ihnen erzählen willst.« »Danke, James.« Sie wusste nicht, ob sie es ertragen würde, ihren Schmerz den Menschen zu offenbaren, die sie liebten wie eine Tochter. James mietete eine Kutsche, um sie zurück ins Hotel zu fahren. Sie sprachen erst wieder, als er sie in ihr Zimmer gebracht hatte. »Kommst du jetzt zurecht, Jane? Soll ich schauen, ob ich dir eine Tasse Tee oder heiße Milch besorgen kann?« »Ich brauche nichts zu trinken.« »Dann lasse ich dich jetzt allein.« »Bitte, bleib hier.« Sie sah seine Überraschung, die Frage in seinen Augen. »Ich will nicht allein sein.« »Was willst du?« »Ich will, dass du …« Doch wie konnte sie ihn bitten, sie zu lieben, wo er doch ihre Schwester heiraten sollte? Wie konnte sie ihn bitten, sie noch einmal zu umarmen? Es war jedoch nicht nötig, dass sie es aussprach. Er nahm sie in die Arme und wiegte mit einer Hand ihren Kopf an seiner Schulter. »Willst du wirklich, dass ich bleibe?« Sie hob das Gesicht. Einen langen Augenblick sahen sie einander an. Dann senkte er ganz langsam den Kopf, bis seine Lippen sich über ihrem Mund schlossen.  
Danach lag sie in seinen Armen. »Wirst du Anne immer noch heiraten?« Er erstarrte, was ihr verriet, dass er keinen Gedanken an Anne verschwendet hatte, als sie zusammen zum Bett getaumelt waren. Genauso wenig wie sie. Doch jetzt, übersättigt von den Freuden der Liebe, musste sie wissen, ob das, was sie gerade getan hatten, ihm genauso viel bedeutete wie ihr. Er rollte sich auf die Seite und streichelte ihr Gesicht. »Darauf kann ich dir jetzt keine Antwort geben, Jane. Ich brauche Zeit zum Nachdenken.« Jane rutschte von ihm weg. Mit den Füßen auf dem Boden langte sie nach ihrem Unterkleid und zog es sich über den Kopf. Obwohl sie wusste, dass er sie beobachtete, sagte sie nichts, bis sie zur Tür gegangen war und ihn anschaute. »Wenn du Zeit zum Nachdenken brauchst, dann liebst du mich nicht so, wie ich dich liebe, obwohl du mich bereitwillig genommen hast. Hast du mich zum Flittchen gemacht, James?« »Jane, nicht!« Er war aus dem Bett gestiegen und zog sich jetzt seine Kleider an. »Ich habe dich nicht benutzt. Ich habe Gefühle für dich. Aber ich weiß nicht, ob das, was ich für dich empfinde, Liebe ist.« »Weil ich schwarz bin.« »Nein. Die Farbe deiner Haut hat mir noch nie Sorgen bereitet. Jane, ich habe heute Abend Neuigkeiten von meiner Familie gehört. Morgen früh erfahre ich mehr. Was ich gehört habe, hat mich zutiefst erschüttert. Ich kann nichts entscheiden, bis ich mehr weiß.« Obwohl sie nicht reagierte, nahm er sie in die Arme, um sie noch einmal zu küssen. »Ich habe dich nicht leichtfertig genommen, Jane. Du bedeutest mir mehr als das. Ich bitte dich nur, Anne nichts davon zu sagen.« Nein, sie würde es Anne nicht sagen. Was wäre damit gewonnen, ihrer Schwester wehzutun? Selbst wenn James sie liebte, würde er sie nicht heiraten. Anne würde seine Frau werden.  
Um exakt elf Uhr am nächsten Vormittag klopfte Rodney James Tremayne an der Haustür des Hauses in der North Street. Nur eingefleischte Etikette hatte ihn in seiner Ungeduld daran gehindert, vor der verabredeten Zeit dort zu erscheinen. Er war seit acht Uhr auf den Beinen in der Hoffnung, beim Gehen w?rde sich das Durcheinander der Gef?hle, das ihn nicht hatte schlafen lassen, lichten. Das Wissen, dass sein schwer kranker Vater ihn ein letztes Mal hatte sehen wollen, bewegte ihn auf eine Art und Weise, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Die ersten zwölf Monate, nachdem er zornig aus dem Arbeitszimmer seines Vaters gestürmt war, waren seine Gefühle von der Trauer um Caroline und den Groll über den Betrug ihrer Eltern beherrscht worden. Er hatte wirklich geglaubt, er hasste seinen Vater. Die lange Seereise hatte ihm Zeit gegeben, das zu akzeptieren, was nicht mehr zu ändern war. Er würde Caroline nie vergessen. Und er würde seinem Vater und Joanna Collins nie verzeihen, dass sie ihr Geheimnis gehütet hatten, bis es zur unvermeidlichen Tragödie gekommen war. Was er tun konnte, war, dieses Leben hinter sich zu lassen. Wenn er in heißen tropischen Nächten über das Deck schlenderte und sich über die Reling lehnte, um das sanfte Heben und Senken des Meeres zu betrachten, konnte er sich eingestehen, dass er ein Schwächling gewesen war. Hatte sein Vater ihn nicht oft ermahnt, mehr wie Con zu sein? Rodney hatte seinen älteren Pflegebruder zwar bewundert, war es jedoch zufrieden gewesen, sich durch ein Leben treiben zu lassen, das wenig Anlass zur Sorge bot. Als das Schiff in Port Adelaide anlegte, war er immer noch fest entschlossen, ein anderer Mensch zu werden. Unbeeindruckt von der jungen Kolonie Südaustralien hatte er, als James Pengelly, ein Schiff nach Sydney genommen. Rodney Tremayne gab es nicht mehr. Meggan öffnete ihm die Tür. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Rodney. Kommen Sie herein, dann stelle ich Ihnen meinen Mann vor.« Er folgte Meggan in den Salon, wo ein distinguierter älterer Mann aufstand, um ihm die Hand zu geben. »Sie sind also der schwer zu findende Rodney Tremayne.« Rodney nahm die ausgestreckte Hand und schüttelte sie. »Ich bin, seit ich in Australien bin, James Pengelly, Sir. Ich hätte nicht gedacht, dass die Welt so klein ist und mich jemand aus Pengelly erkennt.« »Es haben sich schon seltsamere Zufälle ereignet. Möchten Sie lieber allein mit meiner Frau sprechen?« Meggan beantwortete Rodneys fragenden Blick. »Ich habe meinem Mann die ganze Geschichte erzählt.« Ihre Augen verrieten, dass sie ihm die Geschichte in allen Einzelheiten erzählt hatte. Rodney schenkte ihr ein kleines Lächeln, in dem, selbst nach so vielen Jahren, noch eine Spur Bitterkeit lag. »Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass man manche Geheimnisse besser nicht hütet.« Dazu wussten weder David noch Meggan etwas zu sagen. Als David erklärte, er würde sie allein lassen, damit sie sich unter vier Augen unterhalten konnten, war Meggan einerseits erleichtert, denn sie war sich nicht sicher, ob sie über Con sprechen konnte, ohne ihre Liebe zu verraten, und David sich vielleicht über den Klang ihrer Stimme wundern würde. Andererseits war sie besorgt, dass sie, in Abwesenheit ihres Mannes, versucht sein würde, Rodney die Wahrheit zu sagen. Einige Geheimnisse sollten besser nicht gehütet werden, hatte er gesagt. Einige Geheimnisse waren sehr schwer zu hüten. Plötzlich wollte sie am liebsten aus dem Haus gehen. Es war unerträglich, inmitten des Luxus zu sitzen, den ihr Mann ihr bot, und von dem Mann zu sprechen, mit dem sie ihn betrogen hatte. »Lassen Sie uns einen Spaziergang am Fluss machen.« Rodney war einverstanden. Er hatte immer noch das Gefühl, sich bewegen zu müssen und nicht stillsitzen zu können. »Erzählen Sie mir von Con und Jenny. Nein. Erzählen Sie mir zuerst von Jenny. Sie war das Einzige, was zur?ckzulassen ich bedauert habe, als ich Cornwall verlie?.? »Sie hätten ihr schreiben sollen«, tadelte Meggan ihn freundlich. »Jenny war durcheinander und bestürzt, weil Sie ohne jede Erklärung weggegangen sind.« »Ich weiß. Ich war außer mir vor Kummer und Zorn. Der einzige klare Gedanke, den ich fassen konnte, war der, so weit wie möglich von meiner Familie wegzugehen.« Er machte eine Pause. »Hat Jenny mir verziehen?« »Jenny hofft, dass der Tag kommt, wo Sie ihr erklären können, warum Sie weggegangen sind. Ich glaube, ein Schmerz ist geblieben. Sie war auch sehr traurig, dass sie Südaustralien verlassen musste, ohne Sie gefunden zu haben. Natürlich hat sie Rodney Tremayne gesucht und nicht James Pengelly.« Er nickte und schwieg eine Weile. Meggan ging schweigend neben ihm her. »Entnehme ich dem, was Sie gesagt haben, zu Recht, Meggan, dass Jenny nichts von Caroline weiß oder warum ich weggegangen bin?« »Jenny sagte, Ihr Vater habe sich geweigert, es ihr zu sagen. Genau wie Con, als sie ihn danach fragte.« »Aber Sie wussten es.« »Erst Jahre später. Unsere Familie spricht nur selten über Caroline. Da Jenny mich nicht nach ihr gefragt hat, glaube ich nicht, dass sie wusste, dass ein Mädchen namens Caroline je existiert hat.« »Ein Mädchen, das den Namen Caroline Tremayne hätte tragen sollen.« Meggan schaute rasch zu ihm auf. Seine Miene verriet ihr, dass er die grausamen Tatsachen akzeptierte. »Jenny sieht Caroline unglaublich ähnlich. Als ich ihr zum ersten Mal begegnet bin, habe ich einen ziemlichen Schock erlitten.« »Wie sind Sie sich begegnet? Das war doch sicher kein reiner Zufall?« »Eher eine Reihe von Zufällen, die genau hier begonnen hat.« Sie erzählte ihm, wie sie Barney Heilbuth gerettet hatte, und umriss dann die Ereignisse der folgenden Jahre, bis Jenny und Con nach Grasslands gekommen waren. »Sie wissen also nicht, ob mein Vater noch lebt?« Sein Schmerz rührte sie. Sie wollte ihm sagen, dass sein Vater sich von seiner Krankheit erholt hatte. Doch das konnte sie nicht, ohne zu verraten, dass Con nach Australien zurückgekehrt war. »Ich bin mir sicher, ich hätte Nachricht bekommen, wenn er gestorben wäre.« Wieder gingen sie schweigend ein Stück. »Sie haben von Zufällen gesprochen, Meggan. War es nur Zufall, dass wir uns gestern Abend begegnet sind? Oder gibt es eine stärkere Kraft – Schicksal -, die unser Leben beeinflusst?« »Ich weiß es nicht. Man hinterfragt zwangsläufig die Ereignisse, die den Weg des Lebens leiten.« »Spüre ich in Ihren Worten ein gewisses Maß an Wehmut, Meggan?« »Nein. Obwohl ich oft über das Schicksal nachdenke.« Sie durfte nicht an Con denken oder an das, was hätte sein können. »Was machen Sie jetzt? Gehen Sie zurück nach Cornwall?« »Ich glaube, ich muss. Es hat zu viele Zufälle gegeben …«, er lächelte, »… oder Eingriffe des Schicksals, um sie zu ignorieren. Seltsam, all die Jahre habe ich wenig an meinen Vater gedacht, und doch verspüre ich jetzt den dringenden Wunsch, mich mit ihm zu versöhnen. Ich hoffe, er lebt noch.« »Um Ihretwillen hoffe ich das auch. Ich glaube, Sie haben die richtige Entscheidung getroffen.« »Ich weiß es.« »Wann reisen Sie ab?« »Sobald ich eine Passage buchen kann.« »Nehmen Sie Anne mit? Dass Sie Anne kennen und mit ihr verlobt sind, ist auch einer der Zufälle, von denen wir gesprochen haben.« »Ich muss Mr. und Mrs. Winton alles erklären, bevor ich das überhaupt in Erwägung ziehen kann.« Doch er wusste, dass er Anne nicht mit nach Cornwall nehmen würde. Vielleicht lief er wieder davon. Lief vor seinem Versprechen gegenüber Anne und dem Begehren für Jane davon.  
In dem Augenblick, da er das Hotel betrat, wurde er vom Portier angesprochen. »Mr. Pengelly, Sir, Mr. Winton hat mich gebeten, Sie zu ihm zu bringen, sobald Sie zurückkehren.« »Sicher. Wo finde ich ihn?« Charles erwartete also eine Erklärung. »Die Familie speist im kleinen Salon zu Mittag, Sir.« »Vielen Dank.« Auf den wenigen kurzen Schritten durch die Halle zur Tür des kleinen Salons packte ihn einen Augenblick lang der panische Gedanke, dass Jane vielleicht nicht geschwiegen hatte über den vorangegangenen Abend. Er hatte auch Zeit zu überlegen, in welcher Stimmung sie ihn wohl begrüßte. Die Leidenschaft zwischen ihnen war sehr real gewesen. Er öffnete die Tür. »James!« Anne stand mit nicht sehr damenhafter Hast auf und eilte ihm entgegen. »Wo warst du? Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Oh, es war nicht nett von dir, meine Neugier letzte Nacht nicht zu befriedigen.« »Es tut mir sehr leid, Anne. Ich musste Meggan heute Vormittag aufsuchen, bevor ich mich berechtigt sah, etwas zu sagen.« »Wie kommt es, dass du Meggan so gut kennst? Du hast sie noch nie erwähnt.« »Ich werde es erklären, wenn du mir erlaubst, alles der Reihe nach zu erzählen.« »Setz dich, Anne«, sagte ihr Vater. »James, möchtest du mit uns essen? Wir werden uns anhören, was du zu sagen hast, nachdem wir gegessen haben.« Es herrschte Schweigen, während er am Tisch Platz nahm und sein Essen serviert bekam. Er saß Anne gegenüber neben Jane. Während dieser Platz den Vorteil hatte, dass er Jane nicht ansehen musste, war er sich ihrer körperlichen Nähe deutlich bewusst und überlegte, ob es ihr ebenso erging. »Jetzt«, erklärte Charles Winton, als das Mahl beendet war und das Serviermädchen das Geschirr abgetragen hatte, »würden wir gerne deine Erklärung hören, James.« Die Familie hatte sich vom Tisch erhoben und sich auf einem bequemen Sofa und Sesseln niedergelassen. Rodney James stand mit dem Rücken zum Fenster. »Ich nehme an, Charles, deine Tochter hat dir erzählt, wie überrascht ich war, als ich gestern Abend Meggan Westoby vorgestellt wurde. Wir kennen einander aus Cornwall.« »Warum hat sie dich Rodney genannt? Du warst schockiert, James, und das musst du erklären.« »Anne! Sei still und lass ihn in Ruhe erklären. Bitte fahr fort, James.« »Danke, Charles. Mein richtiger Name lautet Rodney James Tremayne. Als ich Cornwall verließ, war ich entschlossen, mich von meiner Familie loszusagen. Pengelly war der Mädchenname meiner Mutter. Vom Augenblick meiner Ankunft in Australien an habe ich mich James Pengelly genannt.« Charles Winton nickte. »Du bist nicht der Einzige, der in den Kolonien einen neuen Namen angenommen hat. Gibt es in deiner Vergangenheit etwas, worüber wir uns Sorgen machen müssen?« »Ich habe kein Verbrechen begangen und auch nichts getan, dessen ich mich schämen müsste. Ich glaubte damals, mein Vater habe so etwas getan. Heute tut mir das leid.« Er schnitt die Frage ab, die Anne und ihrem Vater auf der Zunge lag. »Mehr als das zu sagen habe ich nicht das Recht. Es sind noch andere Menschen betroffen.? »Meggan?« Rodney neigte den Kopf. »Ihre Familie«, sagte er ohne weitere Erklärungen. »Ich habe Meggan heute Vormittag besucht. Sie hat mich darüber informiert, dass meine Schwester und mein Pflegebruder letztes Jahr in Südaustralien waren und mich gesucht haben. Es sah so aus, als läge mein Vater im Sterben. Er hatte den Wunsch geäußert, Frieden mit mir zu schließen. Charles, Mrs. Winton, ich glaube, ich muss sofort nach Cornwall reisen. Mein Vater könnte noch am Leben sein.« Mary Winton stimmte ihm sofort zu. »Natürlich musst du zu deinem Vater, James. Ich kann dich nicht anders nennen. Für mich wirst du immer James sein.« »Wie bald möchtest du abreisen?«, fragte Charles. »In vier Tagen.« Er nickte, als er die Überraschung der anderen sah. »Nachdem ich mit Meggan gesprochen hatte, habe ich sofort eine Passage gebucht.« »Und was ist mit mir?«, jammerte Anne. »Wir wollten heiraten.« »Es tut mir leid, Anne. Unsere Hochzeit muss warten.« »Das ist nicht fair. Mama, ich sollte James begleiten.« »Ausgeschlossen, dass du mit James reist, Anne. Das ist undenkbar.« »Papa?«, flehte sie ihren Vater an. »Deine Mutter hat recht, Anne. Du kannst nicht ohne Begleitperson reisen. Und du kannst auch nicht unter James’ Schutz reisen, obwohl ihr verlobt seid. Nein.« Er hielt die Hand hoch, um weitere Einsprüche zum Schweigen zu bringen. »Keine Widerrede. Es ist keine Zeit zu heiraten, bevor James abreist, und deshalb wirst du auf seine Rückkehr warten müssen.« Das Letzte wurde mit einem forschenden Blick auf den Anverlobten seiner Tochter gesprochen. James spürte, dass man von ihm ein Versprechen erwartete, doch dazu war er nicht in der Lage. Er konnte nur versuchen, Anne zu trösten. Rodney James ging hinüber zu ihr. Er nahm ihre Hand und zog sie hoch. »Anne, du trägst meinen Ring. Ich habe dich nicht darum gebeten, ihn mir zurückzugeben.« »Aber kommst du auch wieder?« Sie ahnte, dass er nicht zurückkehren würde, dass die Versöhnung mit seinem Vater nicht der einzige Grund war, warum er Australien unbedingt den Rücken kehren wollte. Ihr kam der Verdacht, dass er vielleicht in Meggan verliebt war. Jetzt, wo er sie wiedergesehen und erfahren hatte, dass sie verheiratet war, wollte er weggehen. War der wahre Grund, warum er die Frau am Vormittag besucht hatte, ein Stelldichein gewesen? Sie sah, dass er den Blick auf Jane richtete, und ein neuer Verdacht keimte in ihr. James hatte Jane vom Ball nach Hause begleitet, und Jane war den ganzen Morgen ungewöhnlich still gewesen. Anne kaute nervös auf der Unterlippe herum, während sie die Augen schloss, sodass sie den kurzen Blickkontakt zwischen den beiden nicht sah. Sie atmete tief durch und schlug die Augen wieder auf. Wie lächerlich sie war. James hatte sie zur Frau gewählt, nicht ihre dunkelhäutige Schwester. »Du hast mir noch keine Antwort gegeben, James.« »Wenn ich nicht zurückkomme, schicke ich nach dir.« Vielleicht würde er tatsächlich nach Anne schicken. Es wäre viel leichter, mit Anne verheiratet zu sein und in Tremayne Manor zu leben, als mit ihr an seiner Seite in Riverview zu leben, wo Jane stets präsent war. Als er Jane noch einmal anschaute, lag in ihren Augen keine stumme Botschaft, sondern nur abgrundtiefe Verachtung. Er wusste, was sie dachte, und wünschte, er könnte es ändern. Die Familie verabschiedete ihn auf dem Dock in Port Adelaide. Er schüttelte Charles die Hand, erlaubte Mary, ihm einen Kuss auf die Wange zu geben, und umarmte die verdrießliche Anne. »Willst du Jane keinen Abschiedskuss geben?« »Das ist nicht nötig«, antwortete Jane schnell. Er wollte sie unbedingt noch einmal berühren, doch er fürchtete, wenn er dies tat, würde er sich verraten. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Pass gut auf dich auf, Jane.« Dann ging er die Landungsbrücke hinauf an Bord, wo er wieder zu Rodney Tremayne wurde, denn das war der Name, unter dem er seine Passage gebucht hatte.