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Der Tag, an dem
Meggan den weißen Hasen sah, begann wie jeder andere Sonntag. Dann,
am selben Tag, sah sie ihre Schwester Caroline in den Armen von
Rodney Tremayne. Am Sonntag wurde in der Grube nicht gearbeitet,
und wenn Meggan nach der Kirche im Haus ihre Pflichten erledigt
hatte, war sie frei, ihrer Wege zu gehen. Diese Wege führten sie
oft an den Wäldern von Tremayne Manor vorbei und dann hinauf zu den
urzeitlichen Steinen im Moor, von wo sie, wenn sie zurückblickte,
über ihre ganze Welt schauen konnte. Der Mittelpunkt war das Dorf.
Reetgedeckte, weiß getünchte Cottages schmiegten sich an die
Flanken des kleinen Tals, das sich zum Meer hin absenkte. An der
Küste standen eng zusammengerückt die Cottages der Fischer, und die
roten und blauen Fischerboote waren bunte Farbtupfer auf dem
Kiesstrand. Links von da, wo Meggan saß, führte die Straße nach
Helston den Hügel hinunter, an der Kirche vorbei, um den Fuß des
Dorfes herum und dann wieder hinauf, am Haus der Familie Collins
vorbei, und dann noch eine Meile weiter zur Grube. Hinter dem Dorf,
wo das Maschinenhaus die Klippen überragte, waren die
zusammengewürfelten, hässlichen roten Backsteingebäude von Wheal
Pengelly zu sehen, der Erzgrube von Pengelly. Jenseits von alldem,
jenseits des zerklüfteten Steilufers, das im Sommer von einem
prächtigen Teppich von Wildblumen gekrönt wurde, ließ eine
freundliche Brise weiße Schaumkronen munter über die graugrünen
Wellen tanzen. Ganz weit drau?en am Horizont schien ein
Dreimasterschoner reglos zu verharren. Direkt unter ihr lag
Tremayne Manor mit seinen vier verzierten Schornsteinen, die mit
den Bäumen in der Nähe um die Höhe wetteiferten. Diese mächtigen
Eichen und Ebereschen bildeten einen Schild, der die Quelle ihres
Wohlstands den Blicken der Familie Tremayne entzog. Ohne diese
Bäume hätten die Bewohner des Herrenhauses direkt über das obere
Ende des Dorfes auf die Grube geschaut. Für Meggan Collins war das
Leben an diesem Sonntag Ende August 1844 voller Versprechungen. Mit
ihren zwölf Jahren würde sie sich bald ihren größten Wunsch
erfüllen können, und so war sie, als sie vom Cottage aufbrach, vor
Aufregung ganz hibbelig. Sommerfarben kleideten noch das Moor, denn
weißgelber Stechginster und purpurrotes Heidekraut warfen
Farbtupfer zwischen die Cottages im Tal. Der Tag hätte nicht
schöner sein können: Die Hitze des Sommers ließ allmählich nach,
und die Sommerblumen zeigten sich in ihrer letzten duftenden
Pracht. Es war ein Tag, den man lieben musste. Und einer zum
Laufen, Herumwirbeln und Tanzen – ein Tag, an dem man als Kind
genau das mit unbeschwerter Zügellosigkeit tat. Meggan sang den
Vögeln etwas vor und lachte begeistert auf, als sie als Antwort
trillerten und zwitscherten. Sie sah einige Hasen, die
auseinanderstoben, als sie versuchte, sich an sie
heranzuschleichen. Am Abend würde es Hase zum Abendessen geben, mit
Karotten und weißen Rüben so lange gedünstet, bis er so zart war,
dass einem das Wasser im Mund zusammenlief. Meggan erreichte die
aufrechten Steinkolosse und ließ sich ins Gras fallen. Sie war den
letzten Teil des Weges gelaufen und deshalb angenehm außer Atem.
Den Kopf auf die Hände gestützt, beobachtete sie eine einsame
Schäfchenwolke, die gemächlich über den Himmel zog. »Ich glaube, du
bist da oben ganz allein sehr glücklich, kleine Wolke, genauso
gl?cklich wie ich hier unten. Ob ich noch gl?cklich bin, wenn ich
nicht mehr so frei sein kann wie du?? Ihre Ma ermahnte sie stets,
daran zu denken, dass sie allmählich erwachsen wurde, dass sie kein
Kind mehr war, das frei durchs Moor streifte wie eine Zigeunerin.
In mancher Hinsicht wollte Meggan nicht erwachsen werden, besonders
seit ihr Körper sie vor zwei Monaten mit dem unwiderlegbaren Beweis
für das Ende ihrer Kindheit konfrontiert hatte. Und bei den
Veränderungen, die es in ihrem Leben schon gegeben hatte und bald
noch geben würde, verweilten jetzt auch ihre Gedanken. Sie schaute
gerade einem Rotkehlchen hinterher, das über die Heide flatterte,
da fiel ihr ein weißer Blitz ins Auge. Er huschte so schnell
vorbei, dass sie zuerst nicht erkannte, was für eine Kreatur es
war, der das weiße Fell gehörte. »Ein weißer Hase?«, flüsterte sie
und drückte sich vorsichtig auf die Ellbogen hoch. »Sehe ich
Gespenster?« Meggan kannte niemanden, der schon einmal einen weißen
Hasen gesehen hatte. Sie verharrte ganz still und wartete auf das
erneute Auftauchen des Tieres. Als dies nicht geschah, kroch sie
vorsichtig auf Händen und Knien um den nächsten Monolith. Sie
linste dahinter und konnte ein lautes Keuchen gerade noch
unterdrücken. Keine drei Meter von ihr entfernt hockte ein Hase,
weißer als Meeresschaum. Sobald er ihre Gegenwart spürte, ließ er
kurz seine langen Ohren fliegen und huschte außer Sichtweite.
Meggan bekam Gänsehaut, und ein Frösteln zog ihr über den Rücken.
»Das ist ein Omen.« Sie erinnerte sich an die Sage und an all die
Geschichten, die man ihr über die Katastrophe von 1836 erzählt
hatte, als neun Bergleute umgekommen waren. Viele behaupteten,
damals sei ein weißer Hase gesehen worden. Und obwohl es hieß, der
Mann, der wirr vom Anblick des Vorboten der Tragödie geschwätzt
hatte, sei doch ein rechter Einfaltspinsel gewesen, waren
abergläubische Geister überzeugt, dass es da einen Zusammenhang
gab. Hatten sie nicht just am nächsten Morgen, nachdem der
Schwachkopf in den Gasthof gestolpert war, um allen von dem wei?en
Hasen im Moor zu erz?hlen, angefangen, den eingebrochenen Gang
freizugraben, um die Leichen der toten Bergleute zu bergen? Meggan
war nicht weniger abergläubisch als andere junge Mädchen in
Cornwall, doch mit gesundem Menschenverstand beruhigte sie sich
nach dem anfänglichen Schock. Sie stand auf und ging in die
Richtung, in die der Hase verschwunden war. Solange sie das Tier im
Blick behielt, konnte sie sich sicher sein, dass es ein Geschöpf
aus Fleisch und Blut war. Wäre es das mythische Vorzeichen einer
Katastrophe, so redete sie sich vernünftig zu, würde es sich in
Luft auflösen. Echte Hasen gruben sich flache Kuhlen in die Erde.
Meggan war wild entschlossen, die Sasse des weißen Hasen zu finden.
Eine ganze Weile blieb Meggan dem Tier auf der Spur; sie schob sich
durch Brombeersträucher, kletterte über Felsbrocken und folgte so
seinem Pfad. Zuweilen verschwand er, um wenige Augenblicke später
wieder aufzutauchen, die langen Ohren aufgestellt, als spürte er
ihre Gegenwart. »Es ist, als wolltest du, dass ich dir folge«,
flüsterte sie bei sich, und die Neugier hatte alle abergläubischen
Ängste vollkommen verscheucht. Jedes Mal, wenn der Hase weiterlief,
folgte Meggan ihm so heimlich, wie sie es vermochte. Doch dann
blieb sie mit dem Rock in einer Brombeerhecke hängen, und da sie
fürchtete, ihn zu zerreißen, nahm sie sich die Zeit, den Stoff
vorsichtig loszuzupfen. Wenn sie den Rock zerriss, würde sie nicht
nur Ärger mit ihrer Ma bekommen, sie würde ihn auch eigenhändig
flicken müssen. Und wenn es eine Aufgabe gab, die Meggan über alle
Maßen zuwider war, dann das Nähen. Als sie ihren Rock endlich von
den Dornen befreit hatte, schaute Meggan wieder auf und sah, dass
der Hase in den Wäldern von Tremayne Manor verschwand. Doch Meggan
war noch nicht bereit, ihre Suche aufzugeben, und lief in den Wald,
ohne darauf zu achten, dass sie Privatgrund betrat. Als sie einen
Blick auf einen stillen wei?en Fleck erhaschte, schlug ihr Herz
schneller. Heimlich wie ein J?ger kroch sie, tief am Boden geb?ckt,
vorsichtig weiter. Der Hase r?hrte sich nicht. Meggan bewegte sich
besonders leise, um das Tier nicht noch einmal aufzuschrecken, und
schob sich sachte n?her. Als sie ganz nah war, sah sie, dass sie
nicht auf den Hasen zugekrochen war. Das Weiße war Carolines
Unterrock, ihr bester Sonntagsunterrock, auf dem Boden
ausgebreitet, zusammen mit ihrem Kleid. Daneben lagen
Männerkleider. Meggan sah schnell, dass das nackte Paar das tat,
was nur Ehemann und Ehefrau im Ehebett tun sollten. Sie drückte
sich rasch die geballten Fäuste auf den Mund und konnte so gerade
noch ein Japsen verhindern, das ihre Gegenwart verraten hätte. Den
jungen Mann, dessen Körper sich über Carolines bewegte, dessen
Rücken die Arme ihrer Schwester umklammerten und an dessen Lippen
sich ihr Mund presste, erkannte sie sofort. Blonde Menschen waren
in Pengelly selten. Rodney Tremaynes Haar hatte fast dieselbe
weizengelbe Farbe wie Carolines. Noch während Meggan diesen Schock
verarbeitete, schrie Rodney bebend auf. In Carolines Schrei lag
fast ein Anflug von Schmerz. Sie drängte sich an ihren Liebsten,
und sie hielten einander mit einer Inbrunst umklammert, die
irgendwo in Meggans Bauch ein äußerst seltsames Gefühl
hervorlockte. Ein Gefühl, das sie so noch nie gehabt hatte. Sie
spürte, dass ihr Herz wild pochte und dass sie am ganzen Leib
zitterte. Die Fäuste immer noch auf den Mund gepresst, um jeglichen
Laut, der ihr sonst womöglich entfahren wäre, zu unterdrücken, zog
Meggan sich still und leise zurück, während sie gegen eine
plötzliche Übelkeit ankämpfte. Dann lief sie, so schnell sie
konnte, weg von dem weißen Hasen, weg von Caroline und ihrem
Liebhaber, zurück über das offene Moor, über das holprige Gelände
zwischen Tremayne Manor und dem Dorf, um in verwegener Hast den
Klippenweg hinabzuklettern. Die winzige sandige Bucht war ihre
Zuflucht, ein Ort, an den sonst niemand kam. Von dort ging es
weiter über die Felsen zu ihrem ganz speziellen Versteck hinter
einem großen Stein, wo der Sand warm war, wo sie die Augen
schließen und nur das Schlagen der Wellen hören konnte. Doch sosehr
sie sich auch bemühte, sie konnte das Bild der Liebenden nicht aus
ihren Gedanken vertreiben. Meggan wusste genau, was sie gemacht
hatten, wenn auch erst seit kurzem. Lange Zeit hockte sie einfach
nur da, die Hände auf den Mund gepresst, um die Übelkeit in Schach
zu halten, die Augen fest zugekniffen, um das, was sie nicht wissen
wollte, auszublenden. Doch es wollte nicht verschwinden, genauso
wenig wie ihre Angst, dass es da irgendeine Verbindung gab zwischen
ihrer Beobachtung des weißen Hasen und der anschließenden
Entdeckung der Liebenden. Doch es war nicht Angst allein, die sie
diesen Zufluchtsort hatte aufsuchen lassen. Hier in ihrem
besonderen Asyl zwischen den Felsen, wo das wilde Meer ihr nichts
anhaben konnte und wo im Donnern der Wellen das Klopfen ihres
Herzens widerhallte, drehte Angst ihren Magen zu einem festen
Klumpen zusammen. Hier am Strand war sie womöglich mehr in Einklang
mit der Natur als auf ihren Streifzügen über die Moore. Vielleicht
entsprach das urzeitliche Donnern der Wellen auf die grauen Felsen,
begleitet vom Anstürmen und Zurückziehen des Wassers auf dem Sand,
an diesem Tag auch mehr ihren aufgewühlten Gedanken. Die Sonne
wärmte die Felsen, zwischen denen Meggan saß, genauso wie sie das
weiche Gras gewärmt hatte, auf dem sie vor kurzem gelegen hatte.
Doch Meggan zitterte trotz der Wärme. Die Knie eng an die Brust
gezogen, die Arme darumgeschlungen, das Kinn auf der grauen Serge
ihres Rockes abgestützt, bemühte sie sich mit aller Kraft zu
vergessen, was sie eben gesehen hatte, während sie sich doch
gleichzeitig lebhaft in allen Einzelheiten daran erinnerte. Als sie
jetzt erneut an Caroline und Rodney Tremayne dachte, überkam sie
wieder dasselbe seltsame Gefühl. Es sorgte dafür, dass sie die Hand
zwischen die Beine drücken wollte, wo sie sich noch nie zuvor
berührt hatte. Doch das war falsch. So falsch wie der Anblick
Carolines neben einem Mann. Besonders neben Rodney Tremayne. Warum
tat ihre Schwester das, überlegte Meggan, wo doch alle wussten,
dass sie Tom Roberts heiraten würde? Genauso wie jeder wusste, dass
wohlhabende Grund- und Grubenbesitzer wie die Tremaynes nicht in
arme Bergarbeiterfamilien einheirateten. Meggan kauerte sich noch
enger zu einem elenden Häuflein zusammen. Aus so einem heimlichen
Stelldichein, so einer Hurerei im Unterholz, konnte nichts Gutes
erwachsen. Tom wäre sicher sehr wütend, wenn er es erführe. Jeder
wusste, wie hitzig Tom war. Er war ein stolzer Mann. Konnte er auch
gewalttätig werden, wie sein Vater? Hatte der weiße Hase sie
deswegen warnen wollen? Meggan zitterte erneut vor Angst. Tom
durfte niemals von Carolines Betrug erfahren. Doch was sollte sie,
Meggan, tun? Caroline darauf ansprechen? Es ihren Eltern erzählen?
Sollte sie überhaupt jemandem von dem weißen Hasen erzählen? Meggan
wünschte sich, sie wäre älter und klüger und wüsste, was tun. Sie
wünschte sich, sie hätte den weißen Hasen nicht gesehen. Und ganz
besonders wünschte sie sich, sie hätte Caroline und ihren Geliebten
nicht entdeckt. Vor allem aber wünschte sie sich, sie könnte
aufhören, dieses Bild zu sehen, aufhören, diese seltsamen Gefühle
zu fühlen, an einer Stelle, an der sie überhaupt keine Gefühle
haben sollte. Caroline hatte Meggan am Tag ihrer ersten Blutung
ruhig erklärt, was es damit auf sich hatte. »Ma hat nie mit mir
darüber gesprochen. Ich will nicht, dass du törichte Ängste hast,
weil du nicht weißt, warum du blutest.« Die stets neugierige Meggan
hatte weitere Erklärungen darüber verlangt, wie Männer und Frauen
Babys machten. Caroline war tiefrot angelaufen. »Du weißt, was mit
deinem Körper geschieht und warum, und mehr erzähle ich dir nicht.
Du bist sehr schön, kleine Schwester. Nimm dich vor Männern in
Acht, die dir süße Worte ins Ohr flüstern, ohne dass sie dich
heiraten wollen.« All das hatte Caro gesagt, und doch hatte sie mit
Rodney Tremayne im Gras gelegen. Und auch noch Spaß gehabt dabei,
vermutete Meggan. Der Gedanke, was passiert wäre, wenn jemand
anderer die beiden erwischt hätte, schnürte Meggan die Kehle zu.
Sie selbst hätte auf jeden Fall darunter zu leiden. Die Schmach,
die Caroline über die Familie brachte, würde bestimmt dazu führen,
dass Meggan nicht mehr ins Herrenhaus arbeiten gehen durfte – und
dass sie nicht mehr singen durfte. Wie konnte ihre Schwester so
dumm und selbstsüchtig sein? Und was war mit Tom Roberts, der in
den vergangenen zwölf Monaten mehr als deutlich gemacht hatte, dass
er Caroline zur Frau begehrte? Er hatte die Zustimmung ihrer Eltern
und wartete nur auf Carolines Einwilligung. Meggan wusste jetzt,
warum ihre Schwester nicht Ja gesagt hatte. Das Gezänk zweier Möwen
unterbrach Meggan in ihrer Grübelei. Normalerweise hätte sie über
die Vögel gelacht, doch sie hatte das Gefühl, von ihnen verspottet
zu werden. Zornig schrie sie sie an, sie sollten verschwinden,
während ihr heiße Tränen in den Augen brannten. Alles, was sie
wollte, war, vollkommen allein zu sein. Sie drückte die Fäuste fest
auf die Augen und kauerte sich wieder zusammen. Eine ganze Weile
hockte Meggan trübselig da und weinte leise, bis ihre Gedanken sich
zu einem unentwirrbaren Knäuel verheddert hatten. Krank vor
Erregung wusste sie nur, dass sich alles verändern würde – zum
Schlimmeren. Meggan hob den Kopf von den Knien, um ihn an den Fels
zu lehnen, und begann ganz leise bei sich zu summen. Das Summen
ging allmählich in die Worte eines Liedes über. Sie liebte die
sehns?chtige Melodie von Greensleeves,
die in diesem Augenblick ganz ihrer Stimmung zu entsprechen schien.
Singen half. Ihre Verwirrung flog mit dem Lied davon, die Freude,
die das Singen ihr stets brachte, half, ihre aufgewühlten Gedanken
zu beruhigen.
Die Reinheit und Klarheit der jungen Stimme wehte über die Felsen
und verzauberte die Ohren des Mannes, der bis zu diesem Augenblick
tief in Gedanken versunken am fernen Ende der Bucht entlanggegangen
war. Auch er wusste von dem Stelldichein seines jungen
Pflegebruders mit der Tochter des Obersteigers. Man erwartete von
jungen Männern, dass sie sich die Hörner abstießen, doch Con
Trevannicks größte Sorge war, dass sich der empfindsame junge Mann
von neunzehn Jahren bei seinem ersten amourösen Abenteuer
einbildete, er erlebte eine tiefe und beständige Liebe. Dann war da
Caroline Collins selbst. Im Gegensatz zu anderen Grubenmägden war
sie keine, die ihren Körper freizügig herschenkte. Con hielt um die
Grube herum stets die Ohren offen. Aus unflätigen Scherzen wusste
er, dass sie Tom Roberts gesagt hatte, sie werde ihm erst nach
ihrer Eheschließung ihre Gunst gewähren. Caroline war, soweit Con
wusste, eine ruhige, liebenswürdige junge Frau. Der perfekte
Mensch, um Tom Roberts’ bessere Qualitäten zum Vorschein zu bringen
und seine weniger wünschenswerten zu unterdrücken. All das warf in
Cons Kopf beunruhigende Fragen nach der Beziehung zwischen Rodney
und Caroline auf. Das Grübeln über die richtigen Antworten auf
diese Fragen hatte ihn so beschäftigt, bis er den Gesang hörte.
Zuerst dachte er, seine Fantasie spielte ihm einen Streich. Er
blieb stehen und lauschte. Gesungen mit ehrlichen Gefühlen und mit
der reinsten Stimme, die er je gehört hatte, wurde er sich gewahr,
dass die betörende Weise ihn tief bewegte. Con Trevannicks einzige
Erinnerung an seine Mutter war die, wie sie sang. Während ihr
Gesicht in seiner Erinnerung kaum mehr war als ein Schatten, wusste
er doch, dass sie immer gesungen hatte. Er stand eine Weile wie
verzaubert da und lächelte, und alle Gedanken an das junge
Liebespaar waren aus seinem Kopf vertrieben. Con suchte den Strand
ab, um einen Blick auf die Sängerin zu erhaschen. Sie war nirgends
zu sehen, und das natürliche Amphitheater der Klippen verlieh dem
Lied eine zusätzliche ätherische Qualität. Von Neugier getrieben,
ging er über den Strand auf die Stimme zu. Ob unsterbliche Elfe
oder Mensch, er wünschte das Wesen zu sehen, dessen Stimme die
Reinheit eines Engels besaß. Als er ausgemacht hatte, dass das Lied
von irgendwo hinter den Felsen kam, ging er, um die Sängerin nicht
zu erschrecken, mit leisen Schritten darauf zu. Er fand sie, den
Kopf rücklings am Felsen ruhend, die Arme um die hochgezogenen Knie
geschlungen. Sie hatte die Augen geschlossen, was darauf schließen
ließ, dass sie sich vollkommen ihrem Lied überlassen hatte. Ihre
Jugendlichkeit erstaunte ihn. Dieses Mädchen besaß eine Reife, die
weit über ihr Alter hinausging. Überrascht über die Entdeckung,
dass sie noch ein Kind war, überlegte er, wer sie wohl war. Er
nutzte die Gelegenheit, solange sie seiner Gegenwart nicht gewahr
war, und setzte sich in der Nähe auf einen Felsbrocken, um sie zu
betrachten. Con kannte sie nicht. Soweit er wusste, gab es in der
Grube keine Grubenmagd, die so glänzend schwarzes Haar besaß. Das
Mädchen war zweifellos sehr begabt. Eine Stimme von solcher
Reinheit war in der Tat selten. Doch am meisten fesselte ihn die
Tatsache, dass ein so junges Mädchen fähig war, dem Liedtext so
viel Gefühl zu unterlegen. Die Götter, sinnierte er, hatten sie
zweifellos begünstigt. Mit ihrem schweren schwarzen Haar und ihren
vollkommen proportionierten Zügen würde sie zu einer wahren
Schönheit heranwachsen. Eine leidenschaftliche Schönheit, wenn man
nach ihrem Gesang gehen konnte. Er überlegte noch, welche Farbe
ihre Augen wohl hatten, als diese, vielleicht weil das M?dchen
seine Gegenwart sp?rte, pl?tzlich aufgerissen wurden und das Lied
auf ihren Lippen erstarb. Braune Augen. Fast schwarz. Unter
dichten, schrägen Brauen. Ausdrucksstarke Augen, die ihn mit einer
Mischung aus Groll und Misstrauen anschauten, während ihre Wangen
von einer leichten Röte überzogen wurden. Con lächelte. Das Mädchen
erwiderte sein Lächeln nicht. Ihre Miene änderte sich in dem
Augenblick, da sie ihn augenscheinlich erkannte. Dass sie rot
wurde, konnte er verstehen, doch die Besorgnis, die er jetzt in
ihren Augen sah, verstand er nicht. Er lächelte noch einmal, um ihr
die Befangenheit zu nehmen. Er wollte sie weiter singen hören.
Seine Worte waren leicht neckend und enthielten eine versteckte
Frage. »Ich dachte, ich würde eine Meerjungfrau finden oder
zumindest einen Meergeist. Und stattdessen finde ich eine
bezaubernde kleine Grubenmagd.« »Ich bin keine Grubenmagd. Ich bin
Sängerin.« Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet. Die
dunklere Röte ihrer Wangen war zweifellos Zorn zuzuschreiben. »Und
eine äußerst begabte«, versicherte Con ihr rasch, da er spürte,
dass er sie beleidigt hatte. Das Mädchen faszinierte ihn mit jedem
Augenblick mehr. Offensichtlich stammte sie aus dem Dorf.
Vielleicht war sie die Tochter eines Fischers. Er versuchte, ihren
Zorn mit einem beruhigenden Lächeln zu beschwichtigen. »Bitte, sing
weiter. Ich habe dein Lied sehr genossen.« Ein Kopfschütteln und
ein störrisches Zusammenpressen der Lippen mussten Con als Antwort
genügen. »Erzählst du mir dann, wer du bist?«, fragte er in einem
freundlichen, beruhigenden Tonfall, um ihr zu versichern, dass er
nichts Böses im Schilde führte. So wie sie die Lippen öffnete und
ihre Augen blitzten, dachte er einen Augenblick lang, sie würde ihm
sagen, es ginge ihn nichts an, wer sie sei. Stattdessen presste sie
die geöffneten Lippen wieder fest zusammen. Ein Sturkopf. Con, den
das schwierige Kind am?sierte und gleichzeitig noch mehr
faszinierte, versuchte es noch einmal. ?Wei?t du, wer ich bin?? Das
Mädchen nickte, und in ihrem Gesicht zeigte sich ein Wechselspiel
der Gefühle, bevor sie den Blick senkte. Im Gegensatz zu dem Feuer,
das sie vor wenigen Augenblicken an den Tag gelegt hatte, wurde
ihre Stimme jetzt weich. »Du bist … Sie sind … Mr. Trevannick.« Con
bemerkte, dass sie bewusst ihre Ausdrucksweise korrigierte. Sie war
nicht ungebildet. Noch faszinierender. »Woher kennst du mich, wenn
du nicht in der Grube arbeitest?« »Mein Vater ist der Obersteiger.«
»Ah, natürlich.« Allmählich dämmerte es ihm. »Du bist die kleine
Meggan Collins.« Das freche Kinn wurde gehoben. Die dunklen Augen
blitzten entrüstet. »Ich bin nicht klein. Ich … bin … zwölf!«
»Verzeih mir«, sagte Con, konnte ein Lachen jedoch nicht ganz
unterdrücken. Was für ein wunderbar ausdrucksstarkes Gesicht dieses
Mädchen besaß. So viel Leidenschaft, und dabei war sie noch ein
Kind. Mit ihrem Temperament und dem Versprechen einer seltenen
Schönheit wollte er jede Wette eingehen, dass sie in wenigen Jahren
einen veritablen Schwarm von Verehrern haben würde. Sie erwiderte
unverwandt seinen Blick und machte keinen Versuch, ihren Groll zu
verbergen. »Ich wollte dich nicht kränken, Meggan. Jenny ist ein
Jahr älter als du, und trotzdem betrachte ich sie noch als Kind.«
Bei der Erwähnung seiner Pflegeschwester wurde der Groll in dem
jungen Gesicht augenblicklich von Stolz und Neugier verdrängt. »Ich
werde Miss Tremaynes Gesellschafterin. Ist sie wirklich nett?«
»Jenny ist sehr nett. Freundlich und gutmütig. Du wirst sie mögen.«
»Ich hoff’s.« Con betrachtete das Mädchen einen Augenblick. Es
bestand kein Zweifel, dass sie sich über die Veränderung freute,
die sich in ihrem Leben ergeben würde. »Wie kommt es, dass du im
Herrenhaus als Jennys Gesellschafterin angestellt und nicht zur
Arbeit in die Grube geschickt wirst?« »Das war der Wunsch meines
Vaters.« »Tatsächlich?« Con war überrascht. Bei aller Zuneigung für
seine Pflegeeltern konnte er sich doch nicht vorstellen, dass
Phillip Tremayne sich überreden ließ, den Wünschen seines
Obersteigers nachzukommen. Phillip wusste sehr genau, wie die
Tremaynes zu den Familien standen, die auf ihrem Gut und in ihrer
Grube arbeiteten. Es sei denn, hinter der Vereinbarung steckte
mehr, als an der Oberfläche sichtbar war. »Glaubt dein Vater, dass
du eine bessere Zofe abgibst?« Diesmal reckte sie das Kinn vor
Stolz. »Ich mach …« Sie unterbrach sich, und ihre Wangen glühten
vor Verlegenheit. Sie senkte die Augenlider und kaute auf der
Unterlippe herum. Dann sprach sie langsamer und achtete wieder
sorgfältig auf ihre Grammatik. »Ich werd an Miss Tremaynes
Musikunterricht teilnehmen. Mein Pa glaubt, dass ich begabt bin.«
»Ich glaube auch, dass du großes Talent hast. Du wirst Jenny weit
in den Schatten stellen. Sie hat eine recht hübsche Stimme, doch du
bist mit einem seltenen Geschenk gesegnet.« Das Gesicht des
Mädchens glühte vor Freude. »Vielen Dank, Sir. Ich freu mich auf
nächste Woche, wenn Miss Tremayne zurück ist und ich ins Herrenhaus
geh.« Con lächelte. Was für ein entzückendes Kind. »Ich glaube,
jetzt freue ich mich auch auf dein Kommen.« Er stand auf und machte
einen Schritt auf sie zu. »Du bist ganz und gar nicht wie deine
Schwester, nicht wahr?«, bemerkte er und erinnerte sich an die
Sache, die ihm bis eben noch Kopfschmerzen bereitet hatte. Obwohl
er wusste, dass er die Stirn gerunzelt hatte, war er doch verblüfft
über die Reaktion der jungen Meggan. Er ließ die Hand, die er
ausgestreckt hatte, sinken, denn sie drückte sich gegen den Fels,
und in ihren Augen stand unverkennbar Angst. Con blieb stehen. »Ich
wollte dich nicht erschrecken, Meggan. Ich wollte dir nur die Hand
reichen, um dir aufzuhelfen.« »Ich brauch Ihre Hilfe nicht«,
erklärte sie und stand auf, um es zu beweisen. »Ich geh jetzt nach
Hause.« »Warte. Ich begleite dich nach Hause. Damit dir nichts
passiert.« Meggan wandte sich noch einmal um. »Ich brauch auch
nicht Ihren Schutz.« In ihren Worten lag so viel Gift, dass sie von
den Felsen geklettert war und auf den Klippenweg zulief, bevor Con
sich von seiner Überraschung erholt hatte. Er hatte keine Ahnung,
womit er sie in die Flucht geschlagen hatte, und schaute ihr
hinterher, wie sie flink den Pfad hinaufstieg, während die Sonne
auf ihrem Haar schimmerte wie auf einem Rabenflügel. Er überlegte,
ob unter ihren Vorfahren, wie unter seinen eigenen, spanische
Invasoren gewesen waren. Ihre Augen waren viel dunkler als seine,
und ihr Haar war von einem seltenen echten Schwarz. Dieses hitzige
Kind war also angestellt worden, um Jenny Gesellschaft zu leisten.
Vielleicht war sie genau die richtige Person, die seine
Pflegeschwester brauchte, um aus der Reserve gelockt zu werden. Er
überlegte, wie lange das Mädchen im Herrenhaus bleiben würde, und
ertappte sich dabei, dass er sich wünschte, es möge eine lange Zeit
sein. Er wollte sie besser kennenlernen. Dann ertappte er sich bei
dem Gedanken, dass er, wenn Meggan Collins siebzehn sein würde,
dreißig war.
Oben am Pfad blieb Meggan stehen, und ihr Herz pochte heftig im
Einklang mit dem Donnern der Wellen an die Klippen unter ihr. Ihr
Atem ging schwerer als sonst, wenn sie hier oben ankam. Doch
normalerweise hastete sie den steilen Weg auch nicht in solcher
Eile herauf. Als sie sich umschaute, sah sie, dass der Mann, Con
Trevannick, ihr immer noch hinterherblickte. Verwirrt und
aufgebracht wandte sie sich schnell um und eilte weiter. In
Sichtweite des Dorfes zwang ein Stechen in der Seite sie, langsamer
zu gehen. Meggan wusste, dass sie, wenn sie in so einem Zustand
nach Hause kam, Schelte von ihrer Mutter zu erwarten hatte, und
setzte sich auf einen Stein, um zu Atem zu kommen und sich so weit
zu beruhigen, dass man ihr ihren inneren Aufruhr nicht mehr
anmerkte. Ihr besonderer Nachmittag, der so schön angefangen hatte,
war unwiederbringlich ruiniert. Wenn sie erst einmal
Gesellschafterin von Miss Tremayne war, durfte sie nicht mehr wild
übers Moor streifen. Deswegen hatte sie das Beste aus diesem
speziellen Nachmittag machen wollen, solange sie noch die Freiheit
hatte zu gehen, wohin es ihr beliebte. In nur zwei Wochen würde sie
von ihrem freundlichen Cottage in die, wie sie sich ausmalte,
strenge Pracht von Tremayne Manor ziehen. Die Pläne, die man für
ihre Zukunft gemacht hatte, erfüllten Meggan wohl mit
hochfliegenden Erwartungen, hatten für sie aber immer noch etwas
von einem Traum. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, wie es
zu dieser Vereinbarung gekommen war. Sie, die zweite Tochter von
Henry Collins, mittleres von fünf Kindern, sollte Gesellschafterin
von Miss Jenny Tremayne werden, der einzigen Tochter des Besitzers
von Wheal Pengelly. Des Mannes, für den ihr Vater, ihr älterer
Bruder und ihre ältere Schwester arbeiteten und der eines Tages
auch den Lohn ihrer jüngeren Brüder zahlen würde. Meggan wusste
nicht recht, was sie wirklich von der in Aussicht stehenden
Veränderung ihrer Situation halten sollte. Die Tochter des
Herrenhauses hatte sie bislang nur aus der Ferne gesehen. Sie hatte
nur eine äußerst vage Vorstellung von ihrer unterschiedlichen
gesellschaftlichen Stellung und nahm an, dass das Mädchen sehr
affektiert und förmlich sein und die Tochter eines Bergarbeiters
eher als Magd denn als Gefährtin betrachten würde. Meggan hatte
nicht die geringste Lust, nach jemandes Pfeife zu tanzen, und der
Gedanke, Dienstbotin zu werden, war ihr äußerst unbehaglich. Sie
hatte Probleme genug, sich mit ihrem freien Geist den von den
Eltern aufgestellten Verhaltensregeln zu fügen. Steckte sie nicht
ständig wegen irgendetwas in Schwierigkeiten? Besonders bei ihrer
Ma. Sie hätte ihren Vater gebeten und angefleht, sie nicht
wegzuschicken, wenn sie nicht … Wenn sie nicht – o ja – wenn nicht
die Aussicht auf Teilnahme am Musikunterricht von Miss Jenny
Tremayne bestünde. Sie würde Klavier spielen lernen. Aber das Beste
war, dass sie Stunden bei einem richtigen Gesangslehrer nehmen
würde. Sie würde lernen, das Geschenk ihrer Stimme richtig zu
benutzen. Für eine solche Gelegenheit, ihren Traum, eine große
Sängerin zu werden, zu verwirklichen, schwor Meggan, sittsam allen
Anordnungen Folge zu leisten, die man ihr erteilte. Angenehme
Wunschbilder von ihr selbst, wie sie im Herrenhaus vor Gästen sang
und wie man ihr applaudierte, verdrängten die beunruhigenderen
Gedanken. Wen scherte es schon, wie es gekommen war, dass sie so
viel Glück hatte? Das Einzige, was zählte, war, dass sie dieses
Glück hatte, selbst wenn ihre Ma nichts davon hielt. Doch ihr Pa
hieß es gut, und Meggan zweifelte nicht daran, dass er bei der
Planung ihrer Zukunft die Hand im Spiel gehabt hatte. Er hatte oft
erklärt, dass seine Meggan niemals in der Grube arbeiten würde,
obwohl Caroline Grubenmagd geworden war und zusammen mit den
anderen das geförderte Erz per Hand aus dem tauben Gestein klaubte,
seit sie im Alter von zwölf Jahren von der Schule abgegangen war.
Henry Collins hatte darauf bestanden, dass seine Kinder alle eine
Schulbildung erhielten, und er wollte nichts davon hören, dass sie
die Schule verließen, bevor sie zwölf wurden. Meggan fand mehr
Gefallen am Unterricht als ihre Geschwister. Sie würde nie
zufrieden damit sein, ihr Leben in einem kleinen kornischen Dorf zu
verbringen, wo es doch in der Welt so viel zu sehen gab. Ein großer
brauner Hase huschte vorbei und entriss Meggan die angenehmen
Tagträume, mit denen sie sich getröstet hatte. Wieder musste sie an
Caroline, Rodney Tremayne und den weißen Hasen denken. Sie wusste
einfach nicht, ob sie etwas unternehmen sollte, und wenn ja, was.
Sie wusste auch nicht, warum sie, als Mr. Trevannick auf sie
zugekommen war, an die Dinge gedacht hatte, die Männer mit Frauen
machten. Einen Augenblick lang hatte sie richtig Angst gehabt, und
jetzt überlegte sie, warum ihr so etwas überhaupt in den Sinn
gekommen war. Sie hoffte wirklich, dass sie während ihres
Aufenthalts in Tremayne Manor nicht zu viel Zeit in seiner
Gegenwart verbringen musste. Meggans erwartungsvolle Vorfreude auf
ihre Zukunft war schmählich geschwunden. Mr. Trevannick schüchterte
sie ein. Rodney Tremayne nutzte Caroline aus, und Meggan redete
sich jetzt ein, Miss Jenny Tremayne könnte nicht anders als
vollkommen verzogen und durch und durch gemein sein. Schließlich
war Meggan nur die Tochter eines Bergmanns, egal wie gut sie singen
konnte. Aus einem verwegenen Impuls heraus wünschte sie sich
inbrünstig, dass etwas passieren würde, was ihren Umzug ins
Herrenhaus verhinderte. Sie konnte auch ohne die Wohltätigkeit der
Tremaynes eine große Sängerin werden – ganz genau! Mit einem tiefen
Atemzug verankerte sie diese Absicht fest in ihrem Herzen und
machte sich dann auf den Heimweg.
Henry Collins saß in seinem Lehnstuhl in dem winzigen Wohnzimmer
und las eine Lokalzeitung aus Truro. Obwohl er durch Geburt und
Erbe dazu bestimmt war, das Leben eines Bergarbeiters zu leben,
hatte Henry sich oft gewünscht, er hätte in der Jugend den Mut
gefunden, sich seinem Vater zu widersetzen und wegzulaufen, um zur
See zu fahren. Es war ihm immerhin gelungen, lesen und schreiben zu
lernen, sodass er in dem geschriebenen Wort eine Flucht aus den
Fesseln seiner Herkunft finden konnte. Er wollte, dass seine Kinder
eine gute Bildung erhielten, denn er hoffte, dass sie dann für sich
ein besseres Leben fanden. Die Jungen schienen, obwohl sie alle
fleißig waren und das Lesen und Schreiben erlernten, zufrieden mit
der Aussicht auf ein Leben als Bergleute. Caroline hatte sich
schwergetan mit dem Lernen, sie hatte lieber ihrer Mutter geholfen,
statt mit ihrem Pa zu lesen. Nur Meggan hatte eifrig gelernt, denn
sie war sich dessen bewusst, dass es in der Welt viel mehr gab als
das Dorf Pengelly mit seiner Grube. Als sie in den Salon trat,
schaute er mit einem Lächeln auf. Es war ein besonderes Lächeln,
mit dem er nur sie bedachte. Obwohl er dieses Eingeständnis nie in
Worte gefasst hätte, wusste Meggan, dass sie der Liebling ihres
Vaters war. Zwischen ihnen schien es eine besondere Bindung zu
geben, wie sie sie mit ihrer Mutter nie erlebt hatte. Caroline war
diejenige, die ihrer Mutter am nächsten stand. Caroline, und dann
der kleine Tommy. Die Älteste und der Jüngste. Vielleicht war dies
so, weil die beiden das blonde Haar ihrer Mutter hatten, während
Meggan, Will und Hal so dunkel waren wie ihr Vater. »Warst du
wieder draußen im Moor, Liebes?« »Ja, Pa. Wenn ich mal in Tremayne
Manor wohn, kann ich das nicht mehr.« »Du hast alle vierzehn Tage
einen halben Tag frei.« »Dann komme ich dich besuchen.« Ihre
Trennung war das Schlimmste daran, dass sie ihr Zuhause verlassen
musste. Ihre Lippen zitterten, und sie senkte den Blick auf ihre
Hände, die einander fest umklammerten. »Komm her, Liebes.« Henry
klopfte auf sein Knie, auf dem er seine kleine Meggan oft
geschaukelt hatte. Seit sie zu groß war zum Schaukeln, hatte sie es
sich angewöhnt, neben seinem Sessel auf dem Boden zu sitzen, die
Hände auf seinen Knien, und zu ihm aufzublicken, während sie sich
unterhielten, oder in geselligem Schweigen den Hinterkopf an sein
Knie zu lehnen oder ihm zuzuhören, wenn er von den Tr?umen seiner
Jugend sprach. ?Komm, erz?hl mir, was du heute gemacht und was du
erlebt hast.? Das war eine ganz harmlose Bitte, denn Meggan fand
immer etwas Interessantes, von dem sie erzählen konnte, selbst wenn
es nur die Possen der Zaunkönige in den Sträuchern waren, eine
Eidechse, die über den Boden gehuscht war, oder eine Ameise, die
sich abgemüht hatte, einen Grassamen in ihr Nest zu schleppen.
Einen Augenblick lang war Meggan versucht, mit allem
herauszuplatzen und ihrem Pa alles über Caroline zu erzählen, über
Rodney Tremayne und besonders über den weißen Hasen. Sie hätte es
so gerne jemandem erzählt, den Kummer geteilt, der so schwer auf
ihrem Herzen lastete. Stattdessen hockte sie sich zu seinen Füßen
und lehnte die Wange an seinen Oberschenkel. So konnte er ihr nicht
ins Gesicht schauen und dort keinen verräterischen Gesichtsausdruck
entdecken. Denn die Erinnerungen an den Nachmittag ließen sich
einfach nicht verscheuchen. »Pa, erzähl mir …« Sie unterbrach sich.
»Was soll ich dir erzählen, Liebes?« »Warum hat Mr. Tremayne mich
als Gesellschafterin für seine Tochter ausgewählt? Warum nicht Sara
Merton oder Jenna Gribble? Die Tochter des Pastors wäre doch sicher
passender. Jenna ist still und gehorsam, und Sara ist klüger als
wir alle zusammen. Sie näht sogar ganz wunderhübsch.« Dieses
Klagelied entlockte Henry Collins ein leises Lachen. »Meine liebe
Meggan, setz dich nicht herab. Du bist den Mädchen im Dorf absolut
ebenbürtig und um einiges intelligenter als die meisten. Und du
hast mit deiner Stimme eine seltene Begabung. Wir haben schon
darüber gesprochen, Liebes. Du besitzt das Talent, eine richtig
große Sängerin zu werden.« »Ein Talent, das ich von deiner Ma
geerbt habe.« »Ja. Sie war eine wunderbare Sängerin.« »Erzähl mir
von ihr.« »Du kennst ihre Geschichte doch.« Er hielt einen
Augenblick inne, und Meggan wusste, dass sie beide das Bild einer
schönen Frau vor Augen hatten, die ihre Zuhörerschaft mit ihrer
Stimme in Bann gehalten hatte, während in Cornwall ein verbitterter
Mann mit einem kleinen Jungen zurückgeblieben war. »Erzähl mir noch
mal, wie du nach London gefahren bist.« »Das ist lange her. Ich war
jünger als du jetzt. Sie kam nach Helston und schickte nach mir.
Mein Pa wollte nicht, dass ich ging, aber ich wollte sie sehen. Ich
war erst drei Jahre alt, als sie Cornwall verließ.« »Hast du dich
an sie erinnert?« »Ja. Sie trug feine Kleider, und ich fand, sie
war die schönste Person, die ich je gesehen hatte. ›Ich bin
gekommen, um dich mit nach London zu nehmen‹, sagte sie. ›Dein
Vater ist einverstanden.‹ Ich glaubte ihr nicht, aber ich war ganz
aufgeregt bei dem Gedanken, bis nach London zu reisen.« »Wolltest
du wirklich nicht in London bleiben, Pa?« »Ach. Es war sehr
aufregend dort, und ich war sehr stolz auf meine Ma. Die ganze Zeit
war sie von einem Schwarm von Menschen umgeben. Ich dachte an
meinen Pa, so ganz allein in Cornwall und verbittert, weil seine
Frau ihn verlassen hatte. Er hatte doch auf der Welt nur noch mich.
Er brauchte mich mehr als meine Ma.« »Warst du traurig, als sie
starb?« »Traurig, dass eine so wunderbare Stimme so jung verloren
ging.« »Ist meine Stimme genauso gut?« »Deine Stimme ist noch
reiner. Und deswegen gehst du ins Herrenhaus. Mr. Tremayne ist ein
kultivierter Mann, auch wenn einige ihn für stolz und barsch
halten. Er hat eine große Liebe zur Musik, Meggan. Seine Tochter
war die letzten drei Jahre ohne Mutter. Er findet es wichtig, dass
sie eine Gesellschafterin in ihrem Alter hat.« »Aber ist es nicht
ungewöhnlich, dass eine Gesellschafterin am Gesangsunterricht und
an den Tanzstunden ihrer Herrin teilnimmt? Du hast gesagt, ich
würde mit Miss Tremayne auch Französisch lernen.« »Das stimmt. Ich
hoffe, später lernst du auch Italienisch und Deutsch. Um die großen
Opern zu singen, brauchst du diese Sprachkenntnisse. Ihr werdet
London besuchen. Wenn du älter bist, reist ihr vielleicht sogar auf
den Kontinent.« »Solche Träume, Pa. Sie kommen mir«, fügte sie
hinzu, weil sie plötzlich Panik bekam, was das Auftauchen des
weißen Hasen wohl bedeuten mochte, »viel zu fantastisch vor, um
wahr zu werden.« »Verlier diese Träume nie aus den Augen, Meggan.
Was auch immer das Leben für dich bereithält, welche Prüfungen auf
deinem Weg liegen, bleib dir immer treu. Gib deine Träume nicht
auf, nur um etwas zu sein, was jemand anders von dir erwartet.«
»Wie du es getan hast, Pa?« »Ja.« »Hast du es je bereut, dass du in
Cornwall geblieben bist, um Bergmann zu werden, statt um die Welt
zu reisen?« »Manchmal vielleicht, bevor du auf der Welt warst.« Er
strich ihr übers Haar. Meggan spürte die große Liebe, die zwischen
ihnen herrschte, und allmählich hob sich die Last von ihrer Seele.
Ihr Pa würde sie verstehen. Er würde wissen, was sie tun sollte.
Sie würde es ihm erzählen. Jetzt gleich. »Pa, heute Nachmittag hab
ich …« Ihre Mutter kam herein, rote Flecken auf den Wangen vor
Verärgerung. »Du hast dir heut Zeit gelassen, Kind.’n bisschen
später, und ich hätt mir Sorgen gemacht. Weißt du, wo deine
Schwester ist? Es ist fast Abendbrotzeit, und sie is’ noch nicht
daheim. Wenn sie nicht bald auftaucht, kriegt sie von mir aber was
zu hören. Na, komm, Mädchen, ich brauch deine Hilfe beim
Abendessen.« Meggan stand rasch auf. Ihre Mutter hatte noch nie
Verständnis aufgebracht f?r die enge Bindung zwischen Vater und
Tochter. Zuweilen hegte Meggan sogar den Verdacht, dass sie es
ihnen ver?belte. In dem w?tenden Blick, den sie ihrem Mann jetzt
zuwarf, lag Missbilligung, und die m?de Resignation, mit der er
dies hinnahm, weckte in Meggan den Wunsch, ihn irgendwie zu
tr?sten. Ihre Ma fand, Lesen sei Zeitverschwendung, und hielt es
auch nicht f?r notwendig, dass ihre T?chter mehr lernten, als ihren
Namen zu schreiben. Meggan kam es stets so vor, als herrschte
zwischen ihren Eltern sehr wenig echte Zuneigung. Dann spürte sie,
wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, denn das Bild der Liebenden war
wieder da, und sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ihre
Ma und ihr Pa je so zusammen waren. Doch sie mussten sich so
geliebt haben, sonst gäbe es weder sie noch ihre Brüder noch
Caroline. Rasch verscheuchte sie diese Gedanken aus ihrem Kopf.
»Tut mir leid, Ma, ich war unten am Strand.« »Hast du deine
Schwester irgendwo gesehen?« Meggan schüttelte den Kopf und hoffte
inständig, dass ihre Miene sie nicht verriet. Als Caroline wenige
Minuten später in die Küche kam, kostete es Meggan große Mühe, ein
ausdrucksloses Gesicht zu machen. »Wurd aber auch Zeit«, erklärte
Joanna. »Wo warst’n den ganzen Nachmittag? Ich hoff bloß, dass du
vor der Hochzeit nich’ schon mit Tom Roberts rumschäkerst.«
»Natürlich nicht, Ma. Du müsstest mich eigentlich besser kennen.«
Wenigstens besaß sie so viel Anstand, rot zu werden, bemerkte
Meggan, die vom Kartoffelschälen aufblickte, um ihrer Schwester von
der Seite einen Blick zuzuwerfen. »Ich wollt Mary besuchen. Aber
sie war nich’ zu Haus, und der alten Mrs. Ryan ging’s nich’ gut,
und sie wollt Gesellschaft. Immer wenn ich gehn wollt, bat sie
mich, noch’n bisschen zu bleiben. Ich glaub, sie mag meine
Besuche.« »Lügnerin«, sagte Meggan stumm vor sich hin und blickte
finster auf die Kartoffeln hinunter. Oh, nicht dass Mrs. Ryan sich
nicht über Carolines Besuche freute. Jeder mochte Caroline, die
freundlich und gut war. Und doch brachte sie es fertig, ihre Mutter
vorsätzlich zu täuschen, die nie auf den Gedanken käme, an den
Worten ihrer ältesten Tochter zu zweifeln. Doch andererseits, was
hatte Meggan von ihrer Schwester erwartet? Sie würde ihrer Mutter
wohl kaum die Wahrheit sagen. Meggan jedoch kannte die Wahrheit,
und das würde sie Caro später wissen lassen. »Na, dann erledigt
jetzt eure Pflichten, ihr zwei. Euer Pa und eure Brüder wolln ihr
Abendessen.«
Die beiden Mädchen machten sich an die Arbeit, und Joanna seufzte.
Mit Töchtern hatte man doch nichts als Sorgen. Sie hoffte, dass
Caroline, die mit ihren blonden Haaren und blauen Augen ihr selbst
so ähnelte, bald unter die Haube kam. Tom Roberts war ein
anständiger Kerl, bei dem man sich darauf verlassen konnte, dass er
gut für seine Frau sorgen würde. Wenn Caroline doch nur Ja sagen
würde. Joanna verstand nicht, warum das Mädchen zögerte. Wohl wahr,
Caroline würde Toms Heim mit seiner Mutter und seinen drei jüngeren
Schwestern teilen müssen, doch so war eben der Lauf der Dinge.
Wollte Caro etwa auf die Liebe warten? Na, die Flausen wollte
Joanna ihr bald austreiben. Joanna hatte Henry Collins nicht
geliebt, als sie ihn vor achtzehn Jahren geheiratet hatte. Er war
ein verlässlicher, großzügiger Ehemann gewesen, und über die Jahre
hatte sie eine gewisse Zuneigung zu ihm gefasst, selbst wenn sie
seine Begeisterung für das Lernen einfach nicht verstand. Joanna
schätzte sich glücklich, einen Mann zu haben, der nicht trank, ein
hübsches Cottage, die Mittel, ihre Familie satt zu kriegen und zu
kleiden, und dass die Geburt von fünf Kindern ihrem guten Aussehen
nichts hatte anhaben können. Es war nichts damit zu gewinnen, sich
mehr zu wünschen. Sie liebte jedes einzelne ihrer Kinder, und doch
hoffte sie, dass sie keine mehr bekommen würde. Tommy, der Jüngste,
der ihr nach Caroline am liebsten war, war schon neun. Joanna war
zwar noch keine sechsunddreißig, aber sie wäre froh gewesen, wenn
sie sich hätte sicher sein können, dass es keine weiteren Babys
mehr geben würde. Sie hatte ihre Töchter, und Henry hatte seine
Söhne, obwohl Meggan sein Liebling war, denn sie war ihm in mancher
Hinsicht sehr ähnlich. Ach, Meggan. Joanna seufzte. Sie hieß es
nicht gut, dass ihre jüngste Tochter zu den Tremaynes ins
Herrenhaus zog. Wenn Grubenmagd gut genug war für Caro, sollte es
doch auch für Meggan gut genug sein. Man musste sich nur anschauen,
was die Singerei mit Henrys Kindheit angerichtet hatte, die Mutter
ab nach London und der Vater von Jahr zu Jahr mürrischer, bis er
starb. Doch Henry hatte darauf bestanden, dass Meggan diese
Gelegenheit bekam. Und Joanna wusste quälend genau, womit Henry
Phillip Tremayne diese Vereinbarung abgerungen hatte. Nicht dass
Henry die Angelegenheit Joanna gegenüber je zur Sprache gebracht
hatte, doch das Wissen darum war immer da und stand als Schatten
zwischen ihnen.
Als die Familie sich in der Küche zum Abendessen versammelt hatte,
trug Meggan wenig zum familiären Geplauder bei, während die Jungen
munter von ihren Erfolgen beim nachmittäglichen Angeln erzählten.
Sie waren mit Joes Boot rausgefahren, und Hal ließ sich besonders
begeistert über die Freuden des Angelns aus. »Du wärst wohl lieber
Fischer als Bergmann?« »Ja, Pa. Joe wär jetzt bereit, mich zu
nehmen.« »Du bist erst zehn Jahre alt.« »Nächsten Monat werd ich
elf.« »Und du bleibst in der Schule, bis du zwölf bist.« »Aber, Pa
…« »Lass ihn doch von der Schule abgehn, wenn er will«, unterbrach
Joanna sie. ?Weder als Fischer noch als Bergmann braucht er mehr zu
lernen.? »Ich will auch Fischer werden«, meldete sich Tommy zu
Wort. Henry schaute seine jüngeren Söhne an und blickte dann über
den Tisch zu seiner Frau. Drei sehr entschlossene Gesichter. »Wir
reden später darüber, nachdem Meggan untergekommen ist.« Will
bemerkte, wie still seine jüngere Schwester war. »Was ist überhaupt
mit dir los? Du hast die ganze Zeit noch kein Wort gesagt.« Meggan
schaute zu Will hinüber. »Ich hab heute einen weißen Hasen
gesehen«, platzte es aus ihr heraus, bevor sie wusste, dass sie die
Worte sagen würde. Kaum etwas, was sie hätte sagen können, hätte
ihre Zuhörer so ergriffen. Mehrere Augenblicke herrschte Schweigen.
Ein so intensives Schweigen, dass selbst das Feuer im Herd sein
Knistern eingestellt zu haben schien. Sechs Augenpaare, blau, braun
und das ungewöhnliche Grau von Wills Augen, blickten sie an. Zuerst
zeigten alle Gesichter Schock. Meggan sah sie nacheinander an,
während ihr Herz in dem bangen Bewusstsein zu pochen begann, dass
sie nichts hätte sagen sollen. Auf Wills Miene machte sich fast
sofort Skepsis breit. Sowohl Hal als auch Tommy verharrten in
ängstlicher Scheu. Caroline und ihre Ma waren blass geworden. »Du
machst Witze«, erklärte Will, doch in seinem Tonfall lag eher eine
Frage. Meggan schüttelte langsam den Kopf. Könnte sie doch nur
sagen, es sei bloß ein Witz gewesen. »Das ist wieder ein Omen«,
flüsterte Joanna mit blassem Gesicht. »Genug.« Henry hatte für
solchen Aberglauben wenig übrig. Sein Blick, den er wütend auf
seine Frau gerichtet hatte, wanderte mit Strenge um den Tisch, bis
er auf Meggan ruhte. »Ist das wahr, Meggan?« »Ja, Pa. Ich habe
einen weißen Hasen gesehen.« Warum klang sie so in der Defensive,
als h?tte sie etwas Falsches getan und w?rde ihn anflehen, sie zu
verstehen? »Du hast dich doch von Pixies in die Irre führen
lassen«, höhnte Will und unterstrich seinen Unglauben damit, dass
er sich mit dem Finger an den Kopf tippte. »Das kommt davon, wenn
du die ganze Zeit ganz allein durchs Moor streifst.« Meggans
grollender, wütender Blick hatte keine Wirkung auf ihren Bruder.
»Ich hab mich nicht mehr von Pixies in die Irre führen lassen als
du, Will Collins. Ich sag wenigstens die Wahrheit«, fügte sie mit
einem kurzen Seitenblick auf Caroline hinzu. Ihr fiel auf, dass
ihre Schwester jetzt mehr als blass war. Caroline hatte Angst. Will
war Meggans Blick gefolgt, auf Caroline. »Schau nicht so ängstlich
drein, Caro. Die Kleine ist nur auf Beachtung aus, wie immer.« »Ich
bin nicht klein«, fuhr Meggan auf und wünschte, sie säßen nicht auf
gegenüberliegenden Seiten des Tisches. Es juckte sie in den
Fäusten, auf die Brust ihres Bruders einzuschlagen. »Genug.« Henry
Collins’ Befehl brachte sie beide zum Schweigen. »Ich weiß nicht,
warum ihr zwei ständig zanken müsst.« »Will fängt immer an.« »Ha!
Du regst dich doch immer gleich auf.« »Ich habe ›genug‹ gesagt.«
Bruder und Schwester wussten, dass es nicht ratsam war, den Zorn
ihres Vaters heraufzubeschwören. Meggan warf ihrem Bruder einen
giftigen Blick zu, der ihm sagen sollte, wie sehr sie ihn hasste,
und Will war deutlich anzusehen, dass er genauso schlecht auf seine
jüngere Schwester zu sprechen war. Innerlich fragte Meggan sich
jedoch, warum sie in letzter Zeit ständig zankten. Sie und Will
hatten sich immer sehr nahegestanden. Nach ihrem Vater war er
derjenige, den sie am meisten liebte, und der Einzige, der sie Megs
nennen durfte. Doch diesen Kosenamen hatte er lange nicht mehr
benutzt. »Ich denke, du könntest dir nächste Woche ein wenig Mühe
geben, Will, nett zu deiner Schwester zu sein. Wenn sie erst mal
nach Tremayne Manor gezogen ist, werden wir sie kaum noch zu sehen
kriegen.? Will nickte schweigend und fing sich einen weiteren
wütenden Blick von Meggan ein, die der Versuchung kaum widerstehen
konnte, ihm die Zunge herauszustrecken. »Oh, hört auf, ihr beiden«,
rief Caroline. »Falls Meggan wirklich einen weißen Hasen gesehen
hat …« »Hab ich.« »… kann das nur bedeuten«, fuhr Caroline fort,
ohne auf ihre Schwester zu achten, »dass etwas Schreckliches
passiert.« Caroline nahm, wie ihre Mutter, jeden Aberglauben, der
ihr je zu Ohren gekommen war, für bare Münze. »Das ist nur eine
alte Legende, Caroline.« »Und was ist mit letztes Mal, als ein
weißer Hase gesehen wurde, Pa? Ich war zwar erst neun, aber ich
erinner mich sehr gut daran.« Caroline steigerte sich immer mehr in
ihre Unruhe hinein. »Sie hat recht, Henry«, flüsterte Joanna und
legte Caroline einen Arm um die Schulter, um sie zu trösten. Sie
warf ihrer jüngeren Tochter einen Blick zu, in dem die Frage lag,
wie sie bloß so ein ungeratenes Kind in die Welt hatte setzen
können. Dann sah sie ihren Ehemann flehend an. »Vielleicht sollte
keiner von uns morgen in die Grube gehen«, scherzte Will. Nur dass
niemand es lustig fand. Henry seufzte und blickte seinen Sohn ob
seiner Leichtfertigkeit mit gerunzelter Stirn tadelnd an. »Darüber
macht man keine Witze. Glaubst du, ich hätte es vergessen? Es war
das Erste, was mir in den Sinn gekommen ist. Deswegen darf kein
Wort von dem, was Meggan gesagt hat, diesen Raum verlassen.« Er
schaute in die Gesichter seiner Familie. »Versteht ihr das?« »Warum
nicht?«, fragte Hal. »Weil Pa es gesagt hat«, fuhr Will ihn an, dem
der Spaß vergangen war. »Sachte, Sohn. Vielleicht ist es recht,
dass die Kleinen es erfahren. Wenn die Bergleute von Meggans weißem
Hasen hören, weigern sie sich wahrscheinlich, in die Grube zu
gehen.« »Warum?«, wiederholte Hal. »Vor acht Jahren, als du gerade
ein Würmchen von drei Jahren warst und Tommy noch ein Baby, hat es
in der Grube ein Unglück gegeben. Eine Woche, bevor es geschah,
lief der arme alte Davy Hallett herum und sagte, er hätte in der
Nähe der Grube einen weißen Hasen gesehen. Die meisten Leute haben
ihn ausgelacht, denn er war immer schon der Dorfdepp. Einige
bekamen Angst wegen des alten Aberglaubens, es bedeute, dass ein
Unheil geschieht. Andere spotteten, weil die Legende besagt, ein
weißer Hase mit einem schwarzen Hund, und das drüben Richtung
Breage, am Wheal Vor. Dann ist die Grube eingebrochen, und die
Männer sind alle umgekommen. Jetzt sagten die Leute, der Aberglaube
sei wahr, und seither haben sie wohl Angst davor, dass wieder ein
weißer Hase gesehen wird. Und deswegen wird keiner von euch ein
Wort darüber verlieren.« Meggan fing an zu zittern. In ihrer
lebhaften Fantasie sah sie sich als Vorbotin des Bösen. »Glaubst
du, es wird was Schreckliches passieren, weil ich einen weißen
Hasen gesehen hab, Pa?« »Nein, Kind, und du musst dir keine Sorgen
machen. Es ist ungewöhnlich, um diese Jahreszeit einen zu sehen,
das ist alles. Und es war weit weg von der Grube.« Henry Collins
schaute noch einmal in die Gesichter seiner Familie. »Habt ihr das
alle verstanden?« Er wartete, bis alle genickt hatten. »Gut. Und
falls einer in Versuchung gerät, etwas zu sagen, dann soll er
innehalten und daran denken, welche Panik unter denen entstehen
könnte, die den alten Aberglauben fürchten. Besonders unter denen,
die bei dem Unglück im Jahr sechsunddreißig Familienangehörige
verloren haben.« Er unterbrach sich noch einmal, um sich davon zu
überzeugen, dass er seiner Familie deutlich gemacht hatte, wie
wichtig es war, die Sache geheim zu halten. ?Und jetzt essen wir
fertig zu Abend.? »Und danach, Meggan«, sagte Joanna, »machst du
mit deiner Näharbeit weiter, schließlich wollen wir deine Kleider
nächste Woche fertig haben.« Meggan zog eine Grimasse. »Ich kann
Nähen nicht ausstehen. Kann Caro das nicht für mich machen, und ich
übernehm ihre Pflichten?« »Nein, kann ich nicht«, erwiderte
Caroline. »Du bekommst viel zu oft deinen Willen. Wahrscheinlich
musst du auch für Miss Tremayne nähen, wenn du ins Herrenhaus
ziehst.« »Das wird dem Gör aber nicht gefallen«, stimmte Will ihr
zu. Diesmal versetzte Meggan ihm einen festen Tritt gegen das
Schienbein, was ihr einen Schmerzensschrei von ihrem Bruder und
einen ordentlich festen Klaps aufs Handgelenk von ihrer Mutter
eintrug. »Ich weiß nicht, wo du dein Temperament herhast, Miss. Du
solltest lernen, es zu zügeln, sonst bezweifle ich, dass du im
Herrenhaus eine Woche überlebst. Und du wirst mit deiner
ausgelassenen Art keine Schande über deinen Vater und mich bringen.
Darüber kannst du beim Nähen nachdenken.« »Ja, Ma.« Ihre Demut
erwuchs nicht aus Reue über den gezielten Tritt. Für seine
Hänseleien hatte Will noch viel mehr verdient. Doch wenn sie aus
dem Herrenhaus hinausgeworfen wurde, würde dies – obwohl sie am
Nachmittag selbst mit dem Gedanken gehadert hatte – das Ende all
ihrer Träume bedeuten. Nirgendwo sonst konnte sie Gesangsunterricht
erhalten. Meggan versank in trotzigem Schweigen. Will sprach über
die Bergleute, die überlegten, Pengelly und Cornwall zu verlassen,
um zu den Kupferminen im weit entfernten Südaustralien
auszuwandern. Obwohl sie tief in ihre eigenen Gedanken versunken
war, fiel Meggan auf, dass sich weder ihre Mutter noch Caroline am
Gespräch beteiligten und dass Will zwischen den Antworten auf Hals
wiederholtes ?Warum?? immer wieder zu ihr her?berschaute. Sie
wusste, dass er sie, sobald sich die Gelegenheit ergab, nach den
Einzelheiten ihrer nachmitt?glichen Beobachtung fragen w?rde. Dazu
kam es an diesem Abend jedoch nicht. Sie hatten kaum ihr Abendessen
beendet, als ein kurzes Klopfen gefolgt vom Öffnen der Tür die
Ankunft von Tom Roberts ankündigte. Er wurde so herzlich empfangen
wie immer. Tom Roberts hatte weder dem Obersteiger noch seiner
Familie je einen Grund gegeben, etwas anderes als eine gute Meinung
von ihm zu haben. Carolines zurückhaltenden Gruß schrieben alle,
einschließlich Tom, ihrer natürlichen ruhigen Natur zu. Nicht so
Meggan, denn sie kannte den Grund für Caros Befangenheit. Sie
erfreute Tom mit einem besonders warmen Lächeln. Meggan mochte Tom
wirklich. War er nicht der stattlichste Mann im Dorf, und hofften
nicht alle Mädchen auf ein Lächeln von ihm und einen bewundernden
Blick aus seinen blitzenden dunklen Augen? Toms Haut war dunkler
als die von Meggan und Will. Auch viel dunkler als die von Mr.
Trevannick, dachte Meggan und wurde dann rot vor Verwirrung, dass
sie überhaupt an diesen Mann dachte. »Guten Abend, Tom«, grüßte
Henry Collins den abendlichen Besucher. »Wir reden gerade über den
Plan, nach Südaustralien auszuwandern. Euer Jack geht also
bestimmt?« Tom nickte. »Ende des Monats, obwohl seine Mary besorgt
ist, das Baby mit aufs Schiff zu nehmen. Sie hat Angst, es könnte
ihm was passieren.« »Es ist ihr Erstgeborenes«, sagte Joanna, »und
dazu noch ein Sohn. Nur natürlich, dass sie sich Sorgen macht.«
»Also, sie hat sich so aufgeführt, dass Ma die Geduld mit ihr
verloren hat. Sie hat vierzehn zur Welt gebracht und sieben davon
beerdigt und hat Mary gesagt, es sei Gottes Wille, ob ein Baby lebt
oder nicht.« »Joseph war aber kein Baby mehr«, mischte Will sich
ein, was ihm einen zornigen Blick von seinem Vater eintrug. »Hat
keinen Zweck, das zur Sprache zu bringen. Das ist alles lange her.«
»Im Herbst sind es acht Jahre«, stimmte Tom ihm zu. »Joseph war
achtzehn. Es war hart für Ma, Joseph und Pa zur gleichen Zeit zu
verlieren.« In der kurzen Stille, die dem folgte, warf Henry Meggan
einen strengen Blick zu. Sie verstand. Die Roberts-Männer waren bei
dem Unglück ums Leben gekommen, das sich ereignet hatte, kurz
nachdem der alte Davy Hallett allen erzählt hatte, er hätte einen
weißen Hasen gesehen. »Es wird Zeit, dass die Kleinen ins Bett
gehen«, sagte Joanna in die Stille hinein. »Meggan, mach dich jetzt
an deine Aufgaben.« Meggan stand auf, um das Geschirr vom
Abendessen abzutragen und in die Spülküche zu bringen. Heute Abend
wurde von Caro nicht erwartet, dass sie half. Nicht, wenn Tom
Roberts zu Besuch war. Ihre Ma würde mit aller Raffinesse dafür
sorgen, dass ihre ältere Tochter erkannte, was für ein Glück sie
hatte, dass ein Mann wie Tom um ihre Hand anhielt.
Joanna warf ihrer älteren Tochter in der Tat einen spitzen Blick
zu, bevor sie Tom freundlich anlächelte. Wenn Caro seinem Werben
nicht bald nachgab, würde ein anderes Frauenzimmer dies sicher tun.
Tom war nicht nur eine stattliche Erscheinung, er war auch ein
guter Arbeiter. Es war ein Segen, dass die Härte der Natur, die aus
seinem Vater einen brutalen Mann gemacht hatte, dem Sohn nur
männliche Stärke geschenkt hatte. Hätte Joanna auch nur im
Geringsten befürchten müssen, Tom könnte dem Vater nachschlagen,
hätte sie sein Werben nicht unterstützt. Die arme Mrs. Roberts war
wegen der Prügel ihres Mannes und ihrer fast ununterbrochenen
Schwangerschaften weit über ihre Jahre hinaus gealtert. Es gab nur
eine Sache, in der Joanna Gewissheit brauchte. »Dann bist du
glücklich, in Pengelly zu bleiben, Tom?« »Ein oder zwei Jahre
vielleicht. Jeder weiß, wie schwer es in Zukunft wird, Kupfer zu
gewinnen. Es heißt, in Südaustralien ist die Bezahlung besser und
der Bergbau leichter. Selbst ein gewöhnlicher Bergmann kann ein
gutes Leben haben. Ich hab auch gehört, dass ein Mann, der bereit
ist, schwer zu arbeiten, in Australien etwas aus sich machen kann.«
»Ja«, sagte Henry, »diese Geschichten habe ich auch gehört.
Vielleicht tun manche recht daran, zu gehen. Aber ich denke, du
nicht, Bursche.« »Wenn Jack sein Glück tatsächlich in Australien
macht, bräuchte ich gute Gründe, hierzubleiben.« »Es wird gute
Gründe geben. Joe Griggs Lunge wird ihm bald nicht mehr erlauben,
zur Arbeit zu gehen, und dann wird Tremayne einen neuen Obersteiger
brauchen. Ich lege ein gutes Wort für dich ein.« »Ich danke dir,
Henry, aber das wäre nur ein Grund, zu
bleiben.« »Wenn du heiratest, bleibst du vielleicht gern hier«,
drängte Joanna mit einem Lächeln für Tom und einem weiteren spitzen
Blick auf Caroline. Die stummen Befehle wurden nicht
missverstanden. Caroline stand mit einer gemurmelten Entschuldigung
von wegen Kopfschmerzen auf und verließ, bevor jemand sie fragen
konnte, den Raum. Sie huschte aus der Hintertür und stieß bei ihrer
Rückkehr vom Abort in der Küche auf ihre Mutter, die auf sie
wartete. »Was für eine Dummheit hast du im Sinn, Tochter? Tom wird
noch denken, du wollest ihn nicht heiraten.« »Ich will ihn auch
nicht heiraten«, erwiderte Caro. »Es war deine Idee, Ma, nicht
meine.« Befremdet packte Joanna ihre Tochter bei den Schultern und
drehte sie so, dass das Licht der Lampe dem Mädchen ins Gesicht
fiel. ?Und warum nicht? Einen besseren Mann als Tom bekommst du
hier in der Gegend nicht.? »Ich heirate Tom nicht, wenn er so wird
wie sein Vater, dauernd betrunken und gewalttätig.« »Tom ist nicht
wie sein Vater.« »Ich will auch nicht in dem beengten Loch der
Roberts’ leben.« Joanna seufzte. Da hatte Caroline den, soweit
Joanna sagen konnte, einzigen Haken an dieser Ehe zur Sprache
gebracht. Wollte sie wirklich, dass ihre ältere Tochter in ein Haus
zog, das bei weitem nicht so behaglich war wie ihr eigenes? Joanna
stellte sich jedoch wie immer der Realität. Sie verlor sich nicht
in Träumen über Dinge, die unerreichbar waren. »Die Hütte ist
klein«, räumte sie ein, »aber du könntest sie schön machen. Mrs.
Roberts hat sicher nichts dagegen, wenn du den Haushalt übernimmst.
Wenn Jack mit seiner Familie wegzieht, sind nur noch die Zwillinge
und die kleine Agnes zu Hause. Und wenn Tom Obersteiger wird,
bekommt ihr euer eigenes Cottage. Du wirst es gut haben.«
»Vielleicht ist gut für mich nicht gut genug«, erklärte Caro mit
einem ungewohnten Hochmut, der Joanna verzweifelt aufschreien ließ.
»Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, Mädchen. Tom wird nicht
ewig warten. Es gibt manch eine, die nicht Nein sagen würde, seine
Frau zu werden.« »Ja. Milly Jones zum Beispiel, und sie kann ihn
gerne haben. Ich liebe Tom nicht, und er ist nur scharf darauf, mit
der Tochter des Obersteigers verheiratet zu sein.« Mit dieser
Erklärung schob sie sich an ihrer Mutter vorbei, um in die
Wohnküche zu gehen, wo die Männer noch um den Kamin saßen. Sie
wünschte ihnen kurz angebunden eine gute Nacht und eilte die
schmale Treppe hinauf in das Dachzimmer, das sie sich mit Meggan
teilte. Meggan nahm den letzten gescheuerten Topf aus dem Wasser
und stellte ihn zum Abtropfen hin. »Ich würd Tom heiraten, wenn ich
Caro wär. Nur weil sie sich für was Besseres hält als die anderen
Mädchen, will sie mehr als das Leben als Frau eines Bergmanns.«
Weiter mochte Meggan nicht gehen, um das Geheimnis ihrer Schwester
nicht preiszugeben. Joanna war nicht in der besten Stimmung. »Hast
du nicht selbst hochfliegende Pläne? Du mit deinem Vater?« Meggan
spürte, wie der Zorn ihr die Hitze in die Wangen trieb. Warum
wollte ihre Ma einfach nicht einsehen, wie viel ihr die Musik
bedeutete? »Aber ich kann singen. Du weißt, dass ich singen kann.
Eines Tages werd ich eine große Sängerin sein, du wirst sehen.«
»Ja«, räumte Joanna ein, auch wenn sie Meggans Leidenschaft für das
Singen genauso wenig verstand wie die Tatsache, dass ihr Mann die
Ambitionen des Mädchens auch noch unterstützte. »Leute wie wir
sollten uns nicht unter bessere Leute wie die Tremaynes mischen.«
»Bitte, überleg es dir nicht noch einmal anders, Ma. Ich sterbe,
wenn ich nicht singen darf.« »Hm. Das wird nicht passieren, genauso
wenig wie ich deinen Vater dazu bringe, es sich anders zu
überlegen. Und jetzt ab in dein Zimmer. Nimm eine Kerze mit und
mach vor dem Schlafengehen die Näharbeit fertig. Und ärger deine
Schwester nicht.« Meggan gab sich nicht die geringste Mühe, keinen
Krach zu machen, als sie das winzige Dachzimmer betrat, das sie
sich mit ihrer Schwester teilte. Sie kaufte Caro die Kopfschmerzen
nicht ab und ging davon aus, dass sie noch wach war. Und
tatsächlich saß ihre Schwester auf dem Bett, die Knie an die Brust
gezogen, die Arme um die Knie gelegt und die rechte Wange
daraufgestützt. Caro starrte aus dem Fenster in den dunkler
werdenden Tag. »Ich finde, du bist dumm«, erklärte Meggan, ging zu
ihrem Bett und setzte sich, um ihre Stiefel auszuziehen. Als Caro
sich weder r?hrte noch ihr antwortete, stellte Meggan ihre Stiefel
sorgf?ltig neben das Bett und ergriff noch einmal das Wort. »Ich
weiß, warum du Tom nicht heiraten willst.« »Gar nichts weißt du«,
antwortete Caro, ohne den Kopf zu heben. »Ich weiß mehr, als du
denkst.« Bei dieser selbstgefälligen Erklärung streckte Caro sich
tatsächlich und stellte die Füße auf den Boden. Sie warf ihrer
Schwester einen forschenden Blick zu. »Was soll das heißen,
Meggan?« Meggan zuckte die Achseln. »Warum hattest du so Angst, als
ich von dem weißen Hasen erzählt hab?« »Du hast uns mit der
Geschichte Angst eingejagt, du dummes Kind.« »Es war keine
Geschichte, und ich bin kein Kind.« »Wenn du kein Kind genannt
werden willst, dann solltest du dich auch benehmen wie eine
Erwachsene.« »Und wie wär das?«, wollte Meggan wissen. »Wie du mit
Rodney Tremayne?« Mit grimmiger Genugtuung bemerkte Meggan, wie
sehr sie ihre Schwester mit dieser Frage schockiert hatte.
Sämtliche Farbe war aus Carolines Gesicht gewichen. Sie schnappte
nach Luft und sah sich ängstlich um, als hätten die Wände Ohren. Da
das Zimmer ihrer Brüder nebenan lag und die beiden jüngeren im Bett
waren, hatte Meggan leise gesprochen. Carolines Stimme war kaum
mehr als ein Flüstern. »Was hast du gesagt?« »Ich hab dich gesehen.
Heut Nachmittag.« »Mich gesehen?« Caroline hatte sich so weit
gefangen, dass sie jetzt so tat, als ginge es sie nichts an,
während Meggan doch den Argwohn in ihren hübschen blauen Augen sah.
»Ich bin dem Hasen in den Wald gefolgt und hab dich mit Rodney
Tremayne gesehen.« »Was hast du gesehen?« »Genug, um zu wissen,
dass du dich mit ihm triffst.« »Du fischst doch nur im Trüben. Du
lügst, wahrscheinlich auch, was den Hasen angeht.« Sie wandte den
Kopf ab, um wieder aus dem Fenster zu starren. »Du bist diejenige,
die lügt, Caro. Du lügst Ma an, warum du Tom nicht heiraten willst.
Du liegst mit Rodney Tremayne im Wald.« Caroline schnappte nach
Luft. So leicht ließ Meggan ihre Schwester nicht davonkommen. »Was
hast du vor, Caro? Du sollst doch Tom heiraten.« »Ich hab Tom nie
gesagt, ich würd ihn heiraten.« »Alle denken, du heiratest ihn.«
»Die sollen sich doch alle um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.
Ich heirate Tom nicht.« »Vielleicht wollte Tom dich auch gar nicht
heiraten, wenn er es wüsste.« »Was soll das heißen, Meggan?« Sie
wandte sich um, um ihre Schwester wieder anzusehen. »Ich hab euch
gesehen, Caroline. Ich weiß, was ihr gemacht habt.« Caroline stieg
rasch aus ihrem Bett und kniete sich an das Bett ihrer Schwester,
und ihre Stimme wurde zu einem zarten Wispern. »Meggan, Meggan. Es
ist nicht so, wie du denkst. Bitte, sag’s niemand.« »Ich sag
nichts. Aber wie kannst du nur?« »Nicht irgendeinem. Rodney und ich
lieben uns.« »Aber …« »So zeigt man jemandem auf ganz spezielle
Art, wie sehr man ihn liebt.« »Ich versteh’s trotzdem nicht.« »Du
wirst es verstehen. Wenn du erst selbst eine Frau bist.« »Ich bin
schon erwachsen. Du weißt genau, dass ich vor zwei Monaten meine
Blutung bekommen hab.« »Um eine Frau zu sein, braucht es mehr als
einen Monatsfluss. Wenn du einen Menschen liebst, willst du mit ihm
so zusammen sein. Ich kann?s nicht erkl?ren. Ich wei? nur, dass ich
so nie mit Tom oder irgendeinem anderen Mann zusammen sein k?nnte.
Nur mit Rodney.? »Und er? Bist du die Einzige, mit der er so
zusammen ist?« Wieder schnappte Caroline empört nach Luft. »Wie
kannst du so was Grässliches sagen, Meggan? Rodney liebt mich
wirklich.« »Er wird dich nicht heiraten.« »Das hat er aber gesagt.«
»Hah! Und du nennst mich ein dummes Kind. Ich hab genug Verstand,
um zu wissen, dass Mr. Tremayne seinem Sohn niemals erlauben wird,
dich zu heiraten.« »Er hat auch erlaubt, dass du Gesellschafterin
seiner Tochter wirst.« »Das ist ja wohl kaum dasselbe, Caro.
Menschen wie die Tremaynes heiraten nur ihresgleichen. Abgesehen
davon sind Ma und Pa damit einverstanden, was ich mache. Wenn sie
hören würden, was du so treibst, wären sie zutiefst schockiert.«
Caroline ließ die Schultern hängen und fing leise an zu weinen.
»Bitte, sag nichts. Bitte.« Voller Reue, dass sie ihrer Schwester
so zugesetzt hatte, beugte Meggan sich vor und legte Caroline
tröstend einen Arm um die Schultern. »Wein nicht, Caro. Ich erzähl
nichts. Versprochen.« Sie machte eine Pause. »Ich war ganz schön
durcheinander, als ich euch so gesehen hab.« »Arme Meggan.«
Caroline umarmte ihre Schwester. »Es tut mir leid, dass du es so
rausgefunden hast.« »Wie konntest du nur, Caro? Du hast gesagt,
anständige Mädchen würden so was nicht machen. Du erwartest doch
nicht wirklich, dass er dich heiratet.« »Doch. Rodney liebt mich
wirklich, Meggan, so wie ich ihn liebe. Wir heiraten, und wenn sein
Vater ihn verstößt.« »Und dann bist du genauso arm, als würdest du
Tom heiraten.« »Ich heirate ihn nicht wegen Geld, Meggan. Wir
hätten wenigstens einander und unsere Liebe.« »Du redest dir da was
ein, weil du gern hätt’st, dass es so wär. Ma ermahnt uns immer:
Auch wenn Pa Obersteiger ist und wir besser dran sind als die
meisten, sind und bleiben wir eine Bergmannsfamilie. Leute wie die
Tremaynes, Grubenbesitzer, werden sich immer für was Besseres
halten als wir.« »Rodney ist anders. Er ist freundlich und sanft.
Wir sind füreinander bestimmt. Wir wissen sogar, was der andere
denkt. Zwischen uns herrscht ein besonderes Gefühl. Er wird mich
heiraten, Meggan. Ich hab keinen Grund, an ihm zu zweifeln. Du
glaubst doch nicht, ich würd mich so auf einen Mann einlassen, wenn
ich ihn nicht wirklich lieben würd, oder?« »Nein.« Meggan kämpfte
noch mit der Vorstellung, dass ihre Schwester und Rodney Tremayne
ein Liebespaar waren. »Dann sagst du wirklich niemandem etwas?«
»Natürlich nicht. Ich will nach Tremayne Manor. Aber wenn ich euch
gesehen hab, Caro, wissen andere womöglich auch über euch Bescheid.
Ich mag mir gar nicht ausmalen, was Tom tut, wenn er es erfährt.«
»Tom erfährt gar nichts. Nicht, bevor Rodney und ich verheiratet
sind.« »Du glaubst das wirklich, nicht wahr?« »Ich muss, Meggan.
Ich muss glauben, dass er mich heiratet.« »Ich hoff’s für dich.
Aber ich hab auch Angst um dich, Caro.« »Warum?« »Weil«, sagte
Meggan ganz langsam, »der weiße Hase mich zu euch geführt hat.«