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Hier sind wir
endlich, meine Liebe.« »Hier« war ein imposantes georgianisches
Wohnhaus, dessen Sandsteinfassade von der spätnachmittäglichen
Sonne in ein warmes, goldenes Licht getaucht wurde. Das Haus war
viel größer, als Meggan es in Erinnerung hatte. Sie konnte kaum
glauben, dass dies jetzt wirklich ihr Zuhause war. Genauso
ungewohnt war es, dass der Kutscher ihr den Kutschenschlag aufhielt
und sie mit der Hand respektvoll am Ellbogen stützte, um ihr beim
Aussteigen zu helfen. Sie dankte ihm mit einem zögerlichen Lächeln,
das, wie sie hoffte, nicht verriet, wie wenig sie es gewohnt war,
von einem Bediensteten umsorgt zu werden. David stieg hinter ihr
aus und trat neben sie. »Wie ist dein erster Eindruck von deinem
neuen Heim, meine Liebe?« »Ich habe noch einige flüchtige
Erinnerungen an das Haus von dem Tag damals, als Barney in den
Fluss gefallen ist.« Sie wandte sich halb um. »Da drüben.« David
Westoby lächelte seine Frau an. »Ein glücklicher Unfall. Für uns
beide, glaube ich zumindest.« Meggan war überrascht. »Nun … ja,
vermutlich.« Sie hatte oft über den günstigen Lauf nachgedacht, den
ihr Leben durch Barneys ungestümes Stolpern in den Fluss genommen
hatte. Und doch hatte sie nie überlegt, dass sie jetzt nicht mit
einem angesehenen Ehemann vor ihrem eigenen prächtigen Heim stehen
würde, wenn der kleine Junge damals nicht so wild gewesen w?re. Das
Schicksal webte zweifellos mit den F?den des Lebens der Menschen
einen Bildteppich. Die Haustür öffnete sich, und in der Tür stand
eine ganz in Schwarz gekleidete Frau, deren Proportionen fast so
imposant waren wie die des Hauses. Sie trägt ihr bestes Kleid,
dachte Meggan, um den Herrn und die neue Herrin zu Hause willkommen
zu heißen. »Ah, Mrs. Mills.« David führte Meggan am Ellbogen die
drei Stufen zur Veranda hinauf. »Erlauben Sie mir, Ihnen Mrs.
Westoby vorzustellen. Meggan, ich habe dir alles über Mrs. Mills,
meine – unsere – wunderbare Haushälterin und Köchin, erzählt.« »Wie
geht es Ihnen, Mrs. Mills?« Meggan schenkte der Frau ein
freundliches Lächeln. Das »Willkommen zu Hause, Sir. Willkommen,
Madam« der Haushälterin enthielt, wie Meggan fand, kein wirklich
warmes Willkommen für sie. Vielmehr glaubte sie in der Miene der
Haushälterin ein wenig Enttäuschung zu sehen. Warum, überlegte
Meggan, etwa wegen ihrer Jugend? Die Frau trat zur Seite, damit sie
die Halle betreten konnten. »Mrs. Mills«, sagte David, »wir
brauchen beide eine erfrischende Tasse Tee. Möchtest du, Meggan?
Oder würdest du lieber zuerst dein Zimmer sehen?« »Ich hätte sehr
gerne eine Tasse Tee.« »Sehr wohl. Wir nehmen den Tee im kleinen
Salon, Mrs. Mills.« »Ja, Mr. Westoby.« Die Frau warf Meggan noch
einen Blick zu und wandte sich dann ab. David hielt Meggan immer
noch am Ellbogen und führte sie jetzt auf eine Tür zur Linken zu.
Der Salon war ein Raum mittlerer Größe mit einer wohnlichen
Atmosphäre, was Davids Worte bestätigten. »Dies ist der Raum, den
wir am meisten nutzen. Es gibt einen größeren Salon und ein
Speisezimmer, die nur benutzt werden, wenn wir Gäste haben. Ich
zeige dir später das ganze Haus.« Meggan liebte den Raum sofort.
Sie stand in der Tür und sah sich um. An der Wand unmittelbar
gegenüber war ein riesiger Kamin. In einer Nische auf einer Seite
boten hohe Fenster einen Blick in Richtung der Stadt Adelaide.
Neben dem Fenster stand auf einem ungewöhnlich geformten kleinen
Tisch in einem Messingtopf eine Schusterpalme mit glänzenden
Blättern. In der anderen Nische stand eine hübsche Kommode. Mitten
auf dem Fußboden lag ein Perserteppich, und darauf standen zwei mit
grünem Samt bezogene Lehnsessel, einer auf jeder Seite des Kamins,
diesem leicht zugewandt. Meggan stellte sich vor, wie gemütlich es
sein musste, an einem Winterabend dort vor einem lodernden Feuer zu
sitzen. Rechts von der Tür stand ein kleiner, runder Tisch mit drei
Stühlen, auf der gegenüberliegenden Seite des Raums ein
Schreibtisch, daneben eine Standuhr. »Es gefällt dir.« David klang
erfreut. »Wie könnte es mir nicht gefallen?« Meggan lächelte ihren
Mann an, der lächelnd zuschaute, wie sie den Raum in Augenschein
nahm. »Ich verstehe, warum du diesen Raum so viel nutzt. Er hat
eine sehr behagliche Atmosphäre.« »Ich hoffe, du findest auch den
Rest meines Hauses behaglich.« »Ganz bestimmt.« Just in diesem
Augenblick betrat Mrs. Mills mit einem Tablett, auf dem ein
hübsches Teeservice stand, den Raum. Sie stellte es auf den Tisch.
»Ich habe auch etwas Kuchen gebracht. Ich dachte, Sie hätten
vielleicht ein wenig Hunger, und Abendessen gibt es erst in drei
Stunden.« »Wie aufmerksam von Ihnen«, sagte Meggan. »Ich habe
tatsächlich ein wenig Hunger.« »Wie gesagt, bis zum Abendessen sind
es noch ein paar Stunden. Soll ich einschenken, Sir?« Gütiger
Himmel, dachte Meggan, sehe ich wirklich so fehl am Platze aus, wie
ich mich f?hle? Glaubt die Haush?lterin etwa, ich w?sste nicht, wie
man Tee einschenkt? »Vielen Dank, Mrs. Mills, aber meine Frau wird
einschenken.« Beim Tee plauderten David und Meggan entspannt über
dies und das. Schon vor ihrer Heirat hatten sie entdeckt, wie gut
sie sich unterhalten konnten. Sie würden nie links und rechts
dieses Kamins sitzen und verkrampft nach einem Gesprächsthema
suchen müssen. »Edith hat den größten Teil des Tages in diesem
Zimmer verbracht.« David nahm die Tasse, die Meggan ihm reichte.
»Meine Schwester hat die feinsten Handarbeiten angefertigt. Stickst
du, meine Liebe?« Seine Miene verriet leichte Überraschung und
Nachdenklichkeit. »Mir ist gerade aufgegangen, dass es vieles gibt,
was ich von dir noch nicht weiß.« Meggan lachte. »Ich verabscheue
das Nähen. Ich hoffe, deine Edith, Gott hab sie selig, wird nicht
denken, du hättest eine schlechte Wahl getroffen. Eine Nadel nehme
ich nur zur Hand, wenn es absolut unumgänglich ist.« »Dort in der
Ecke, das ist Ediths Nähtisch.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf
den Tisch, auf dem die Schusterpalme stand. »Ich würde ihn gerne
dort stehen lassen. Aber wenn du es wünschst, lasse ich ihn
natürlich woanders hinstellen.« »David, ich habe nicht die Absicht,
dein Zuhause umzuräumen. Bitte, lass alles so, wie es ist.« Sie
stand auf und ging zu dem Nähtisch, fuhr mit der Hand über die
Oberfläche und beugte sich leicht vor, um den Bildteppich, der
darüber hing, genauer zu betrachten. »Gestattest du?« David trat
neben sie und stellte die Schusterpalme auf den Boden. »Jetzt
kannst du ihn aufmachen.« Meggan hob den Deckel und sah, dass alles
so war, wie Edith es zurückgelassen hatte. Das Garn, die Nadeln,
Scheren, Stoffe und halbfertige Stickereien in der Gobelintasche
sahen aus, als seien sie erst vor wenigen Stunden beiseitegelegt
worden. ?Ich habe noch nie so ein M?belst?ck gesehen. Du musst es
unbedingt hier stehen lassen, David, als Erinnerung an deine
Schwester.? Sachte schloss sie den Deckel. ?Ich w?rde jetzt gerne
den Rest des Hauses sehen.? »Bist du dir sicher, dass du nicht
zuerst ein wenig ausruhen willst?« »Noch nicht. Ausruhen kann ich
später.« »Gut, meine Liebe, dann zeige ich dir zuerst die unteren
Räume.« Er geleitete sie durch die Halle zu einer anderen Tür, die
sich in den Salon öffnete. Von dort führte eine Tür ins
Speisezimmer. Diese beiden Räume waren, wie Meggan sehen konnte, in
einem sehr viel formaleren Stil möbliert als der kleine Salon. »Ich
finde, wir sollten bald eine Abendgesellschaft geben, um dich
einigen von Adelaides angesehenen Bürgern vorzustellen«, sagte
David. »Nur eine kleine Soiree, so bald nach Ediths Tod. Einige
werden es zweifellos scharf kritisieren, dass ich so kurz danach
geheiratet habe. Ich hoffe, du machst dir nichts aus Klatsch. Ich
fürchte, in der Stadt wird nicht wenig geklatscht.« »Klatsch und
Tratsch haben mich noch nie gekümmert. Aber die Idee einer kleinen
Abendeinladung gefällt mir. Ich habe es nicht besonders eilig, in
die Gesellschaft eingeführt zu werden. Ich fürchte, ich muss noch
vieles lernen. Ich bin den feinen Lebensstil nicht gewohnt.« »Das
waren einige unserer inzwischen wohlhabenden Bürger auch nicht«,
bemerkte er mit leichtem Zynismus. »Du besitzt mehr Haltung und
hast bessere Umgangsformen als manche, die ich nennen könnte. Ich
kann Leute nicht ausstehen, die sich für etwas Besseres halten als
andere.« Meggan lächelte, denn sie war sich sicher, dass seine
Bemerkung auf eine bestimmte Person gemünzt war. »Darin, liebster
Ehemann, sind wir uns vollkommen einig.« Sie brachten die Tour
durch das Erdgeschoss zu Ende, ließen die Küche und die
Wirtschaftsräume jedoch aus. Mrs. Mills, sagte David, ziehe es
sicher vor, Meggan diesen Teil des Hauses am nächsten Tag zu
zeigen. »Dein Kutscher ist Mrs. Mills’ Ehemann?« »Ja, nur die Mills
wohnen im Haus. Und dann kommt jeden Tag ein Dienstmädchen, das
Mrs. Mills beim Putzen und Waschen hilft. Mills kümmert sich um das
Grundstück, die Pferde und die Kutsche und packt mit an, wenn
schwere Sachen zu schleppen sind.« »Wird von mir erwartet,
Anweisungen zu geben? Das ist alles so neu für mich, ich glaube, es
wird mir schwerfallen, mit Dienstpersonal umzugehen.« Sie waren auf
halbem Weg die Treppe hinauf. David blieb stehen. Seine linke Hand
lag auf Meggans Schulter, und mit der rechten hob er ihr Kinn,
damit sie ihm in die Augen sah. »Meine Liebe, du musst dir um
nichts, ich wiederhole, um gar nichts Sorgen machen. Mrs. Mills ist
eine äußerst fähige Haushälterin. Edith war Witwe, sie war es
gewohnt, ihr eigenes Haus zu führen, und sie hat sich regelmäßig
mit Mrs. Mills beraten. Du musst nur ganz du selbst sein. Wenn du
versuchen würdest, vornehm zu tun, was du, wie ich weiß, nie tun
würdest, aber wenn, dann würdest du rasch feststellen, dass du dir
die Haushälterin zur Feindin machen würdest. Such Mrs. Mills’ Rat,
und du wirst feststellen, dass alles glattläuft. Und jetzt lass
mich dir die obere Etage zeigen.« Im ersten Stock lagen mehrere
Schlafzimmer. »Selten genutzt«, erklärte David ihr, »außer wenn
George und Virginia Heilbuth oder andere Freunde die Stadt
besuchen. Unsere Räume liegen an der Vorderseite des Hauses. Aber
bevor du dein Schlafzimmer siehst, möchte ich dir dies zeigen.« Sie
waren den ganzen Flur hinuntergegangen, an dessen Ende er eine Tür
öffnete. »Ein Badezimmer«, rief Meggan aus. Und was für eines! Wie
sehr unterschied es sich doch von dem praktischen Bad in
Grasslands: Statt eines kleinen Fensters hoch in der nackten
Steinmauer hatte dieser Raum ein großes Fenster mit
Spitzenvorhängen und schweren Samtgardinen, die zugezogen werden
konnten, um Privatheit zu haben. Die klauenfüßige Badewanne stand
vor dem Fenster, davor lag auf dem Boden ein weicher Teppich. In
einer Ecke verhieß ein dickbäuchiger Ofen bei kühlem Wetter
behagliche Wärme. Es gab eine kleine Frisierkommode und einen Stuhl
und daneben einen Ständer, auf dem man seine Kleidung ablegen
konnte. An einem Regal an der anderen Wand stapelten sich saubere
Handtücher. »Wenn du ein Bad nehmen möchtest, meine Liebe, bitte
ich Mills, heißes Wasser raufzubringen.« »Ein Bad wäre wunderbar.«
»Dann kümmere ich mich darum, dass die Badewanne gefüllt wird. Und
jetzt dein Zimmer.« David führte sie den Flur zurück zu einem
Eckzimmer. »Das war Ediths Zimmer. Ich habe es für dich vollständig
renovieren lassen.« Meggan trat durch die offene Tür und keuchte
auf vor Entzücken. »Es ist wunderschön, David.« Der Raum war hell
und luftig, die Tapete an den Wänden hatte ein blasses,
cremefarbenes Muster mit winzigen rosafarbenen Blüten und grünen
Blättern. Hellgrüne Vorhänge passten zur Tagesdecke, und der
Betthimmel war mit feinen Spitzenvorhängen drapiert. Das übrige
Mobiliar bestand aus einem Frisiertisch, einer hohen Kommode und
einem Kleiderschrank aus Holz in einem warmen Farbton. Meggan
überlegte, ob es vielleicht Ahorn war. Ein Stuhl mit einem Kissen
aus rosafarbenem Samt stand am Fenster. Wasserkrug und Schüssel auf
der kleinen Kommode waren offensichtlich passend zu den Farben im
Raum ausgesucht worden. »Vorher war das Zimmer blau mit sehr
dunklen und schweren Vorhängen und Möbeln aus Walnussholz. Ich
glaube, es hat gut zu Edith gepasst, aber ich dachte, du würdest
hellere Farben vorziehen.« »Ich bin sehr gerührt. Vielen Dank,
David. Du hast sehr gut gewählt.« Sie unterbrach sich und kaute
leicht mit den Zähnen an der Innenseite der Lippen. »Du hast
gesagt, das wäre mein Zimmer …« Meggan ließ die Frage in der Luft
hängen, denn sie wusste nicht recht, wie sie fortfahren sollte.
David nickte. »Ich behalte mein eigenes Zimmer, Meggan. Ich war zu
lange Junggeselle, um noch meine Gewohnheiten zu ändern. Ich
versichere dir, an einem solchen Arrangement ist nichts
Ungewöhnliches, nicht bei den Wohlhabenden mit großen Häusern. Ich
habe dir versprochen, dass ich keine unwillkommenen Forderungen an
dich stellen werde, und ich habe vor, dieses Versprechen zu halten.
Ich bin stolz und glücklich, dich zur Frau zu haben, meine Liebe.
Lass uns unserer Ehe Zeit geben, von Tag zu Tag, von Woche zu
Woche.« Er beugte sich vor, um ihr einen zarten Kuss auf die Stirn
zu drücken. In diesem Augenblick hatte Meggan das Gefühl, sie würde
mit der Zeit lernen, ihren Mann zu lieben. »Und jetzt lasse ich
dich allein, damit du dich ausruhen kannst. Soll ich Alice rufen,
damit sie dir beim Auspacken hilft?« »Das ist nicht nötig. Ich bin
es gewohnt, solche Dinge selbst zu erledigen.« »Dann bitte ich
Mills, dir ein Bad einzulassen. Alice ruft dich, wenn es fertig
ist.« »Danke.« Allein gelassen trat Meggan an das Fenster an der
Vorderseite des Hauses, wo ihr Blick über den Torrens River zu den
Gebäuden auf der anderen Seite schweifte. Die Uferstreifen waren
mit Gras und heimischen Bäumen bewachsen. Sie wusste, dass dort
eines Tages Rasenflächen und Gärten entstehen würden, die an
englische Parks erinnerten. Vielleicht w?rde sie diese Verwandlung
im Laufe ihres Lebens noch miterleben. Der Blick aus dem anderen
Fenster ging auf Bäume und auf das dahinter fast ganz verborgene
Dach des Nachbarhauses. Sie wandte sich von diesem Ausblick ab und
ging langsam im Zimmer herum, berührte Dinge, bewunderte die
Verzierungen und Gemälde, die das Gefühl der Scheu noch
verstärkten. Vor dem dreiteiligen Spiegel blieb sie stehen, um ihr
Ebenbild zu betrachten. Die junge Frau, die sie sah, war dieselbe,
die stets ihren Blick erwidert hatte. Nichts hatte sich verändert,
bis auf den goldenen Ring, der ihr vor zwei Tagen an den Ringfinger
gesteckt worden war. Seltsam, dass dieses kleine Schmuckstück dafür
sorgen konnte, dass sie sich so anders fühlte.
Joanna zuliebe war die Eheschließung in der methodistischen Kirche
in Burra begangen worden. Die einzigen Anwesenden waren ihre
Eltern, Mr. und Mrs. Heilbuth, die ihre Trauzeugen waren, und die
Zwillinge gewesen. Meggan konnte sich sehr deutlich an jeden
Augenblick des Tages erinnern. Sie war in ihrem alten Bett im
Cottage der Eltern früh aufgewacht. Eine Weile hatte sie nur
dagelegen, und ihre Gedanken waren zwangsläufig zu Con gewandert.
Ihre Liebe zu ihm war nicht verblasst und würde auch nie
verblassen. Und ihr zukünftiger Ehemann würde nie erfahren, dass
ihr Herz bereits an einen anderen Mann vergeben war. Das hatte sie
sich geschworen, bevor sie David Westobys Heiratsantrag angenommen
hatte. Sie war von Natur aus nicht labil und hielt auch nicht in
vergeblicher Hoffnung an etwas fest, was sie nicht haben konnte.
Wenn sie das Kleid anzog, das im Schrank hing, und dann am Arm
ihres Vaters die Kirche betrat, würde auf ihrem Gesicht ein Lächeln
sein für den Mann, dessen Frau sie werden würde. Als sie sah, mit
wie viel Stolz David sie anschaute, wurde sie ganz bescheiden vor
Dankbarkeit. Die Heilbuths hatten ihr das Hochzeitskleid aus wei?em
Bar?ge geschenkt, dessen drei R?cke mit feiner Spitze ges?umt
waren. Ihr viereckiger T?llschleier wurde von einem Kranz aus
wei?en Satinrosen an Ort und Stelle gehalten. Sie sprach ihren
Schwur mit klarer Stimme, unterzeichnete das Kirchenbuch mit
sicherer Hand. Sie war ? fast ? gl?cklich. Nach der Zeremonie
gingen sie alle zu Fuß zum Burra Hotel, um ein Festmahl
einzunehmen. Henry hatte darauf bestanden, es zu bezahlen, und das
Angebot seines zukünftigen Schwiegersohns, für die Kosten
aufzukommen, vom Tisch gewischt. Dann war es auch schon Zeit, ein
Reisekleid anzuziehen und die Mietkutsche zu besteigen, die sie
nach Adelaide bringen würde. Sarah weinte, als Meggan sie zum
Abschied küsste. Barney hielt ihr stoisch die Hand hin, doch als
Meggan sich bückte, um ihn zu umarmen, weinte er genauso heftig wie
seine Schwester. Auch Meggan hatte Tränen in den Augen. »Wir werden
uns wiedersehen. Ihr könnt uns in Adelaide besuchen, oder wir
besuchen euch in Grasslands. Ich bin nicht weit weg.« Mrs. Heilbuth
umarmte sie wie eine Tochter. »Werden Sie glücklich, meine Liebe,
auch wenn wir Sie sehr vermissen werden.« Meggan wusste, auch ohne
viele Worte, dass Mrs. Heilbuth immer für sie da sein würde, falls
Meggan je eine verständnisvolle Zuhörerin brauchte. Als sie ihre
Mutter umarmte, war Meggan überrascht, wie fest die sie hielt, auch
wenn sie sich nie besonders nahegestanden hatten. An der Schulter
ihres Vaters vergoss sie Tränen. »Ich werde dich vermissen, Pa.«
»Na, na, Kind, du hast doch selbst gesagt, Adelaide ist gar nicht
so weit weg. Nicht so weit wie deine Brüder.« Das Fehlen ihrer
Brüder hatte den einzigen kleinen Schatten über Meggans Tag
geworfen. »Ich hätte mir so gewünscht, sie dabeizuhaben, besonders
Will.« »Ja, er wäre sicher gerne bei deiner Hochzeit dabei gewesen.
Du hast dir einen guten Mann zum Ehemann gewählt, mein Liebes.«
»Ich weiß, Pa. Ich weiß.« Dann sagte David, sie müssten sich auf
den Weg machen. Meggan lehnte sich aus dem Fenster und winkte, bis
die Kutsche um die Ecke in die Commercial Road bog und die hundert
Meilen weite Reise nach Adelaide begann.
Meggan hob die Hand, um ihren Ehering anzuschauen. Plötzlich
überfiel sie eine ganz unerwartete Panik. Ich bin die Tochter eines
Bergmanns, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Was mache ich hier, in
diesem prächtigen Haus, verheiratet mit einem Mann, den ich kaum
kenne? Ich habe keine Ahnung, wie ich mich als Herrin dieses Hauses
verhalten soll. Alles, was ich kann, ist, anständig zu sprechen und
eine Tasse Tee einzuschenken. Was ist, wenn ich ihn mit meiner
gesellschaftlichen Unwissenheit blamiere oder in Verlegenheit
bringe? Ein Klopfen an der Tür, gefolgt von der Stimme eines
Mädchens, das ihr Bescheid sagte, ihr Bad sei jetzt bereit, erlöste
Meggan aus ihrer Panik. Sie öffnete die Tür und sah ein molliges
Mädchen von etwa dreizehn Jahren vor sich stehen, ein Kopftuch um
den Kopf und eine Schürze um die Taille. Sie war offensichtlich
irgendwo im Haus mit Putzen beschäftigt gewesen. »Du musst Alice
sein.« »Ja, Madam. Man hat mir gesagt, ich soll Sie fragen, ob Sie
Hilfe brauchen.« Plötzlich strich Alice mit der Hand über die
Vorderseite ihrer Schürze, und ihr Blick schien irgendwo kurz über
dem Saum von Meggans Rock zu haften. Überrascht ging Meggan der
Gedanke durch den Kopf, dass das Mädchen genauso unsicher war, ob
und wie sie Meggan helfen sollte, wie Meggan darüber, wie man die
Hilfe eines Dienstmädchens in Anspruch nahm. »Vielen Dank, Alice.
Es ist nicht nötig, dass du bleibst. Du kannst zurück an deine
Arbeit gehen.« »Ja, Madam.« Das Mädchen eilte davon, und Meggan,
deren Gleichgewicht wiederhergestellt war, schaute noch einmal in
den Spiegel. Du bist nicht mehr Meggan Collins, sagte sie zu ihrem
Spiegelbild, du bist jetzt Mrs. David Westoby. Du hast ihn wegen
der Sicherheit geheiratet und wegen der Aussicht auf eine Karriere
als Sängerin. Sei dankbar, mein Mädchen, dass er bereit war, dich
zu nehmen, auch in dem Wissen, dass du ihn nicht liebst. Sie hatte
großes Glück mit der Ehelichung eines so freundlichen und
rücksichtsvollen Gentleman. Jetzt musste sie ihren Teil des Handels
einhalten. Meggan hatte sich selbst auch ein Versprechen gegeben.
Wenn David nach seinem Recht als Ehemann fragte, würde sie es ihm
nicht verwehren. Meggan sah ihren Mann erst wieder, als sie am
späten Nachmittag nach unten ging. Sie hatte ausgepackt und ihre
Kleider weggehängt, ihre wenigen persönlichen Besitztümer im Raum
verteilt und lange in der Badewanne gesessen, wo sie, zu ihrer
Überraschung, eingeschlafen war. Spürbar erfrischt, zog sie sich
an, bürstete sich die Haare und drehte sie zu einem verschlungenen
Knoten. Als sie ihr Zimmer verließ, lag ein Lächeln auf ihrem
Gesicht. Ihr Leben trat in eine neue Phase. Die erste war ihre
Kindheit in Cornwall gewesen, gefolgt von der Jugend in Burra und
den glücklichen Jahren in Grasslands. Jetzt war sie eine
verheiratete Frau, die bald in die Gesellschaft von Adelaide
eingeführt werden würde. Vor ihr schien wie ein Leuchtfeuer die
Erfüllung ihres Traums auf. In ein oder zwei Jahren, hatte David
gesagt, wenn sie ein wenig mehr Vortragserfahrung gewonnen hatte,
wollte er mit ihr nach Italien reisen, wo sie bei den besten
Lehrern der Welt Gesang studieren konnte. Meggan war so glücklich
wie schon lange nicht mehr. Am späten Nachmittag ging das Paar am
Ufer des Torrens River spazieren. Zwischen ihnen herrschte kaum
Schweigen, sie fanden immer ein Gespr?chsthema. Und wenn sie in
Schweigen verfielen, dann war es ein geselliges Schweigen. Beim
Abendessen erkl?rte David ihr, dass er sich am n?chsten Vormittag
um verschiedene gesch?ftliche Angelegenheiten werde k?mmern m?ssen.
»Es tut mir leid, dass ich dich so rasch allein lassen muss, meine
Liebe. Bis du Freundinnen gefunden hast, möchte ich nicht, dass du
dich einsam fühlst.« »Ich habe mich in meiner eigenen Gesellschaft
noch nie gelangweilt, David. Ich werde die Zeit damit verbringen,
alle Einzelheiten deines Heims kennenzulernen …« »Unseres Heims.«
Meggan lächelte. »… und meine Position gegenüber Mrs. Mills
festigen.« »Ist das notwendig?« Wieder lächelte Meggan. »Ich denke,
wir müssen einen Status quo finden. Ich bin schließlich nur eine
junge Frau ohne jegliche Erfahrung, wie man einen Haushalt führt.
Mrs. Mills ist eine erfahrene Haushälterin.« »Bald wirst du dich
mit allem wohl fühlen. Und morgen Abend gehe ich mit dir zu Madame
Marietta. Sie benutzt keinen anderen Namen. Ich glaube, sie hat
einst in den großen Opernhäusern Europas gesungen. Wie es sie nach
Adelaide verschlagen hat, weiß ich nicht. Sie ist eine etwas
exzentrische Person. Ich bin mir sicher, du wirst sie mögen.«
Als David am nächsten Morgen das Haus verlassen hatte, um in sein
Kontor zu gehen, begab Meggan sich in die Küche. Sie hatte
beschlossen, den direkten Weg zu wählen. »Mrs. Mills, ich weiß
nicht, ob Mr. Westoby Ihnen etwas über meinen Hintergrund erzählt
hat.« »Nein, Madam.« »Dann möchte ich es Ihnen, um jegliche
Missverständnisse zwischen uns auszuschlie?en, selbst erz?hlen. Ich
bin die Tochter eines Bergmanns, Mrs. Mills. Bis zum zw?lften
Lebensjahr habe ich in einem Bergmanns-Cottage in Cornwall gelebt.
Die letzten vier Jahre war ich Hausangestellte bei Mr. und Mrs.
Heilbuth in Grasslands. Sie haben mich behandelt wie eine Tochter.
Unter Mrs. Heilbuths Anleitung habe ich mir einiges angeeignet, was
mich in die Lage versetzt, in der Gesellschaft den Platz an der
Seite meines Mannes einzunehmen. Ich habe jedoch nicht die
geringste Ahnung, wie man einen Haushalt wie diesen hier f?hrt.?
Meggan überlegte, ob ihre Worte arrogant klangen, und senkte die
Stimme. »Mr. Westoby hat Ihre haushälterischen Fähigkeiten
ausdrücklich gelobt, Mrs. Mills. Ich würde Ihre Hilfe und Ihren Rat
wirklich sehr zu schätzen wissen. Ich könnte tun, was mein Mann
vorgeschlagen hat, und einfach alles Ihren fähigen Händen
überlassen. Und ich werde mich auf Ihr Wissen und Ihre Fähigkeiten
verlassen. Trotzdem würde ich gerne lernen, wie man das Haus führt.
Ich glaube, das ist meine Pflicht.« Meggan hoffte, dass sie die
richtige Mischung aus Autorität und Appell gefunden hatte. Mrs.
Mills schien über ihre Worte nachzudenken. »Sehr wohl, Madam. Ich
bin froh, dass Sie keine sind, die mir mit falschem, affektiertem
Getue kommt. Sie sehen aus und sprechen wie eine Dame. Mehr als
manche, die ich nennen könnte. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen die
Küche und die Wirtschaftsräume des Hauses. Und wenn wir fertig
sind, bringe ich Ihnen eine hübsche Tasse Tee in den Salon, und wir
überlegen, wie die Dinge zukünftig laufen können.« »Ich nehme an,
sie werden so laufen wie immer, Mrs. Mills, aber ich danke Ihnen
sehr für Ihr Verständnis.« »Ich schätze, wir kommen gut miteinander
zurecht«, erklärte die Haushälterin mit einer Zuversicht, die
Meggan das Gefühl gab, sie hätten ihre Rollen getauscht. Das Haus,
in das David Meggan an diesem Abend führte, war ein kleines
Steincottage, von der Straße aus fast gänzlich verborgen hinter
einem Wildwuchs, der als Garten galt. Durch eine Ansammlung
heimischer Pflanzen und importierter Sträucher schlängelte sich ein
gewundener Pfad. Rascheln in dem Laub, das unter den Sträuchern
lag, wies darauf hin, dass der Garten ein beliebter Tummelplatz für
wildlebende Tiere war. Ein Stück den Weg hinunter, zum Glück weit
über Kopfhöhe, huschte eine große Spinne mit goldenem Rücken auf
ein Insekt zu, das in ihrem komplizierten Netz gefangen war. »Ich
habe dich gewarnt«, murmelte David, als er Meggans leises
Aufkeuchen hörte. »Oh, die Spinne macht mir nichts aus. Ich habe
bloß noch nie so ein riesiges Spinnennetz gesehen.« »Wenigstens
weiß man, wo die Spinne hockt, nicht wie bei den anderen, die sich
verstecken oder in der Nacht herumhuschen.« Nach dem Garten war
weder Madame Marietta eine große Überraschung für Meggan, noch das
Durcheinander im Cottage. Der üppige Körper der Frau war mit einem
seltsamen Gewand aus dunkelrotem Samt drapiert – ein passenderes
Wort gab es schlichtweg nicht. Um die Schultern trug sie einen
gefransten Schal aus schwarzer Spitze. Lange rote Ohrringe,
möglicherweise Granate, hingen an ihren Ohren, am Dekolleté trug
sie eine schwarze Chiffonrose, und in ihrem unnatürlich schwarzen
Haar steckte nahe dem rechten Ohr eine rote Rose. Die Hand, die sie
Meggan hinstreckte, war schwer, denn sie war mit unzähligen Ringen
besteckt. »So …« Sie klatschte in die Hände und betrachtete Meggan
von oben bis unten. »… Sie sind den neue Schülerin. Können Sie
singen?« »Ich …« Die forsche Frage verdutzte Meggan so sehr, dass
ihr im Kopf ganz wirr wurde. Die Frau stieß ein ungeduldiges
Schnauben aus. »Kommen Sie, kommen Sie. Wenn Sie nicht sprechen
k?nnen, wie wollen Sie dann singen?? »Meine Frau hat eine
entzückende Stimme, Madame.« »Dann lassen Sie sie mich hören.
Worauf warten wir? Ziehen Sie die Mantel aus, Sie können doch nicht
singen, wenn Sie so eingepackt sind. Sie müssen frei sein, frei.«
Arme flogen weit durch die Luft, um ihre Worte zu unterstreichen.
Meggan knöpfte ihren Mantel auf und ließ ihn sich von David von den
Schultern nehmen. »Sie stehen da drüben«, wies Madame Marietta sie
an. »Ich sitze hier und sehe Sie nicht an.« Sie wedelte mit einer
beringten Hand in Richtung der Fenstervorhänge. »Was soll ich
singen, Madame?« »Sie singen, was Sie möchten. Sie brauchen den
Noten nicht.« Sie schaute Meggan wütend an. »Wenn Sie nicht ohne
Noten singen können, taugen Sie nichts.« Sie setzte sich auf einen
Sessel, der vom Fenster abgewandt stand. Eine Hand fuhr durch die
Luft. »Fangen Sie an.« Meggan schaute David hilflos an. Sie war
völlig verwirrt, fühlte sich heftig ausgescholten und dumm und
brachte keinen einzigen Ton heraus. »Ich warte.« David sagte stumm:
Over The Hills and Far Away. Meggan
holte tief Luft, um sich zu wappnen, sah David an statt Madames
Hinterkopf und begann zu singen. Wie immer legte ihre Nervosität
sich nach den ersten Worten ihres Lieds, um in dem Augenblick
wiederzukehren, da der letzte Ton verklang und Schweigen den Raum
erfüllte. Madame Marietta sagte nichts. Meine Stimme hat ihr nicht
gefallen, verzweifelte Meggan, die Zähne von innen fest gegen die
Lippen gedrückt. Ich darf nicht enttäuscht sein. Was spielte es für
eine Rolle, dass David anerkennend lächelte, wenn ihre Stimme nicht
gut genug war, um ausgebildet zu werden? Sie blickte ihren Ehemann
flehentlich an. »Madame«, setzte er an, um von einem weiteren
gebieterischen Wedeln mit der beringten Hand zum Schweigen gebracht
zu werden. »So.« Madame Marietta drückte sich mit den Händen auf
den Armlehnen des Sessels ab, um aufzustehen und Meggan anzusehen.
»So«, wiederholte sie. »Sie haben tatsächlich ein Stimme. Sie
kommen jeden Tag ein Stund hierher. Sie müssen den Arien von die
große Opern lernen. Wenn Sie die perfekt beherrschen, können Sie
sich als Sängerin bezeichnen.« Voller Erleichterung stieß Meggan
den Atem aus – den sie angehalten hatte, ohne es zu merken. »Vielen
Dank, Madame Marietta. Ich werde hart arbeiten.« »Natürlich werden
Sie hart arbeiten. Wenn nicht, unterrichte ich Sie nicht.«
Der Gesangsunterricht begann gleich am nächsten Tag. Mills fuhr
Meggan zu Madames Cottage, wo sie pünktlich um zehn Uhr ankam. Im
hellen Tageslicht besaß das Durcheinander im Garten weniger Zauber
als am Abend, denn jetzt sah man das Unkraut, das zwischen den
Bäumen und Sträuchern wucherte. Die Goldene Seidenspinne blieb in
der Mitte ihres großen Netzes hocken. An diesem Morgen trug Madame
Marietta ein wallendes Gewand, auch dieses in Rot. Meggan entdeckte
bald, dass Rot in allen Schattierungen die einzige Farbe war, in
die Madame sich kleidete. Die Rose, die sie im Haar getragen hatte,
war von einem goldenen Turban abgelöst worden. »Kommen Sie«, sagte
sie, als sie die Tür öffnete. »Wir fangen gleich mit die Arbeit
an.« Meggan folgte ihr in das unordentliche Vorderzimmer. »Legen
Sie Ihre Sachen hier ab.« Eine Hand, auch heute schwer von
unzähligen Ringen, zeigte auf einen geradlehnigen Sessel neben der
Haustür. Während Meggan Mantel und Handschuhe auszog, nutzte sie
die Gelegenheit, den Raum genauer unter die Lupe zu nehmen als am
Abend zuvor. Madame Marietta war offensichtlich viel gereist.
Gem?lde an den W?nden zeigten Szenen, die von einem ?berf?llten
Markt im Nahen Osten bis hin zu schneebedeckten Alpen reichten.
Eine spanische Mantilla war an die Wand geheftet, daneben ein
Bambusf?cher, der wohl aus einem Land am ?quator stammte. Regale
und Fl?chen waren voller Kuriosit?ten. Ein trompetender Elefant und
die Porzellanfigur eines Chinesen standen neben einer bemalten
alpinen Glocke. ?ber dem Klavier, das am Abend zuvor nicht einmal
erw?hnt worden war, hing eine grimmige primitive Maske. »Und
jetzt«, erklärte Madame und öffnete den Klavierdeckel, »will ich
Ihre Tonleitern hören.« Sie setzte sich auf den Klavierhocker und
ließ die Finger über die Tasten gleiten. »Sie fangen an.« Ein
ängstliches Beben beschleunigte Meggans Herzschlag. »Ich … ähm …
ich habe nie Tonleitern gelernt, Madame.« Ich werde wieder
weggeschickt, dachte Meggan, während sie zuschaute, wie Madames
Rücken ganz starr wurde vor … Empörung? Sie stotterte verzweifelt
eine Erklärung. »Ich hatte keinen Unterricht, Madame. Deswegen
möchte ich bei Ihnen studieren.« Bitte, sie muss mich verstehen.
»Madame Marietta, mein ganzes Leben lang habe ich mir gewünscht,
eine große Sängerin zu werden.« Was würde passieren? Hatten ihre
Worte in den Ohren dieser einschüchternden Frau genug
Aufrichtigkeit besessen? Mit großer Erleichterung sah sie, wie sich
der steife Rücken etwas aus seiner Starre löste. Der beturbante
Kopf drehte sich zu ihr um, um sie noch einmal von oben bis unten
zu mustern. »Egal, wir fangen an die Anfang an. Sie singen diese
Ton.« Ein Finger schlug eine Taste an, einmal, zweimal. Meggan sang
den Ton. »Noch einmal, bitte.« Eine halbe Stunde später wandte
Madame sich noch einmal an Meggan. ?Sie ?ben jeden Tag Ihre
Tonleitern. Selbst den gr??te S?nger muss stets Tonleitern ?ben.
K?nnen Sie Noten lesen?? »Nur wenig, Madame. Mrs. Heilbuth, meine
frühere Arbeitgeberin, hat es mir beigebracht.« Der goldene Turban
nickte. »Ein wenig ist gut für die Anfang. Was ist mit die
Sprachen?« »Sprachen?« »Italienisch und Deutsch? Sprechen Sie eine
davon?« »Nein, Madame.« »Sie müssen sie lernen. Signor Pirotti
kommt später, um Ihren Unterricht zu verabreden. Ah, hier kommt
meine liebe Freund Frederick, um für uns zu spielen.« Der Mann, der
das Cottage betrat, war so konservativ gekleidet, dass er in dem
exotischen Durcheinander, mit dem Madame Marietta sich umgab,
ziemlich fehl am Platz wirkte. Er küsste Madames beringte Hand und
wandte sich dann mit einer kleinen formellen Verbeugung Meggan zu.
»Ich nehme an, Sie sind unser neuer Singvogel.« Meggan machte einen
angedeuteten Knicks. Sein Benehmen schien einen zu verlangen.
»Meggan Col… Westoby, Sir.« »Entzückt.« Er nahm ihre Hand und zog
sie hoch. »Ich bin Frederick Albert George William
Smithington-Jones. Ich werde Sie Meggan nennen, und Sie müssen mich
Frederick nennen. Ich habe das Vergnügen, Sie bei Ihren Stunden zu
begleiten und Ihr Pianist zu sein, wenn Sie Ihr Debüt geben. Madame
Marietta, ich muss diese bezaubernde junge Dame singen hören.« Er
setzte sich an das Klavier, und seine Finger plätscherten über die
Tasten. »Was für Lieder kennen Sie, Meggan?« »Ich kenne sehr viele
Balladen und einfache Lieder. Die Opernarien muss ich noch lernen.«
»Kennen Sie das?« Er spielte mehrere Takte einer bekannten Ballade.
Während Meggan sang, wurde ihr klar, dass Frederick ein Pianist mit
betr?chtlichem Talent war. Sie hatte das Gef?hl, er w?rde genauso
ein anspruchsvoller Lehrmeister werden, als der Madame sich schon
erwiesen hatte. »Gut, gut. Unser Singvogel hat eine ausgezeichnete
Stimme, Madame. Sie wird es gut machen.« Der Turban nickte. »Sie
wird es gut machen, aber zuerst muss sie arbeiten, arbeiten,
arbeiten.«
David Westoby wollte alles über die Gesangsstunde seiner Frau
hören. Nichts durfte ausgelassen werden. Meggan gab alles lustvoll
wieder, und ihr Mann lachte herzlich über ihre Parodie von Madame
Mariettas Akzent. Meggan fiel in sein Lachen ein. »Welcher
Nationalität ist Madame? Sie spricht sehr seltsam, ein wenig wie
eine Französin.« »Ich glaube, Madame ist so englisch wie du. Der
Akzent ist Teil ihrer Exzentrizität. Sie wurde wahrscheinlich Mary
getauft. In Adelaide ist sie eine recht bekannte Figur.« »Und
Frederick? Frederick Albert George William Smithington-Jones?«
Wieder lachte David. »Ein großer Pianist. Längst nicht so anmaßend,
wie sein Name und sein beträchtliches Talent vermuten lassen. Magst
du ihn?« »Ja. Dann ist da noch Signor Pirotti. Er soll dreimal die
Woche am Nachmittag hierherkommen, zu uns ins Haus, um mich in
Deutsch und Italienisch zu unterrichten.« »Du wirst sehr
beschäftigt sein.« »Ja. Wenn ich daran denke, dass ich mir Sorgen
gemacht habe, wie ich damit zurechtkommen würde, eine müßige Dame
zu sein.« Sie legte ihrem Mann eine Hand auf den Arm. »Ich bin dir
sehr dankbar, David, dass du mir diese Gelegenheit bietest.« Ihr
Mann legte seine Hand auf ihre. »Die Freude, meine Liebe, ist ganz
auf meiner Seite. Glaubst du, du würdest noch Zeit finden, um
einige Tanzstunden zu nehmen?« »Tanzstunden? Ich will doch nicht in
einem Varietétheater singen!« David lachte. »So empört, Meggan,
meine Liebe. Ich meine Gesellschaftstanz. Wir werden zu vielen
gesellschaftlichen Festen eingeladen werden, wo auch getanzt wird.
Du möchtest doch kein Mauerblümchen sein, wenn auch ein sehr
schmückendes? Wir müssen uns auch darum kümmern, dass du für diese
Gelegenheiten und für jeden Tag neue Kleider bekommst. Schuhe,
Handschuhe, Hüte, was auch immer eine gut gekleidete Frau braucht.«
»Du bist sehr großzügig.« »Mhm.« Er schürzte die Lippen,
verschränkte die Hände, drückte dabei die Zeigefinger aneinander
und tippte sich damit an die Lippen. »Edith wäre mit dir zu den
Läden und Schneiderinnen gegangen, wenn sie noch bei uns wäre. Ich
muss überlegen, wer diese Aufgabe übernehmen kann, denn ich wüsste
nicht, wo ich anfangen soll.« »Vielleicht kann ich allein gehen.«
David sah sie an. »Das könntest du zweifellos, meine Liebe, aber
ich will, dass du das Beste bekommst. Ich kenne dich gut genug, um
zu wissen, dass du bei der Wahl eines Kleids eher auf der sparsamen
Seite bleiben würdest.« »Ich bin es gewohnt, kaum mehr als das
Notwendige zu besitzen. Ich habe mich nie nach mehr gesehnt.« »Ich
weiß, das hast du nie und wirst du auch nie. Bevor du es sagst, ich
weiß, dass du mich nicht des Geldes wegen geheiratet hast. Das ist
jedoch etwas, wovon ich recht viel habe. Erlaube mir die Freude, es
für dich auszugeben.« Meggan stand auf, trat zu ihm und gab ihm
einen Kuss auf die Stirn. »Du bist sehr gut zu mir, David. Ich
verspreche dir, dass ich alles tun werde, um dir zu gefallen,
alles, was eine Frau tun sollte.« Er schaute zu ihr auf und sah ihr
in die Augen, die ihn ruhig anschauten und seinem Blick nicht
auswichen, damit er verstand, was sie meinte. Er stand auf und nahm
sie in die Arme. ?Ganz sicher, meine Liebe?? »Ja, ganz sicher.«
David war kein anspruchsvoller Ehemann. An den meisten Abenden ließ
er sie allein zu Bett gehen. Bei den seltenen Gelegenheiten, da er
in ihr Zimmer kam, war er zärtlich und rücksichtsvoll. Meggan fand
den Akt nicht unangenehm. David unterhielt sich vorher und
hinterher mit ihr, und gerade in diesen Gesprächen lernte sie den
Mann, mit dem sie verheiratet war, besser kennen. Mit der Zeit
erwuchs daraus eine tiefe Zuneigung, und Meggan war sehr zufrieden
mit ihrem Leben. Morgens fuhr Mills sie mit der Kutsche zu Madame
Mariettas Cottage. Die erste Stunde arbeitete sie mit Madame, übte
Tonleitern, machte Atemübungen und lernte, ihren Stimmumfang zu
erweitern. Wenn Frederick kam, wiederholten sie Lieder, die sie
schon kannte. Beide waren kritische Lehrmeister. Wenn sie einen Ton
nicht absolut präzise sang, schlug Frederick mit beiden Händen auf
die Tasten, schaute beleidigt schweigend darauf und fing das Lied
wieder von vorne an. Madame warf zur gleichen Zeit die Hände hoch,
was für Meggan bald eine vertraute Geste der Verzweiflung war. Es
gab Zeiten, da rief Madame plötzlich aus: »Warum stehen Sie da wie
ein Statue? Wo ist das Leidenschaft?« Solche Ausrufe führten immer
dazu, dass Meggan mitten im Lied stockte. Und wenn das geschah,
hörte Frederick sofort auf zu spielen und wirbelte herum, um Madame
wütend anzustarren. »Würden Sie bitte nicht mitten im Lied
unterbrechen, Madame. Ihre Anweisungen können warten, bis wir
fertig sind.« »Warten?« Madame war schockiert und wedelte
dramatisch mit den Armen. »Wer sind Sie, dass Sie mir sagen, ich
solle warten. Ich bin die Sängerin. Sie sind nur die
Klavierspieler.« Frederick sprang auf und richtete sich voller
Entrüstung auf. ?Klavierspieler? Klavierspieler?? Seine Stimme
schraubte sich in die H?he. ?Wie k?nnen Sie es wagen, mein Talent
zu schm?lern. Ich bin ein gro?er Pianist, ein K?nstler.?
»Ich bin die große Künstlerin.
Ich habe die Stimme.« »Die Stimme«,
tönte es voller Sarkasmus, »taugt nichts ohne die Klavier.« »Jetzt
machen Sie sich über meine Akzent lustig.« Und so machten sie
weiter, bis der eine oder die andere sich plötzlich mit dem Befehl,
das Lied noch einmal von vorne zu singen, an die verwirrte Meggan
wandte. Nach den ersten verbalen Kabbeleien, bei denen Meggan vor
Angst zitterte, die Schärfe zwischen Pianist und Gesangslehrerin
könnte das vorzeitige Ende ihrer Gesangsstunde bedeuten, erkannte
sie mit der Zeit, dass weder Frederick noch Madame die
Beleidigungen, die sie einander an den Kopf warfen, ernst meinten.
Sie lagen, wie ihr schien, vielmehr insgeheim im Wettstreit darum,
wer die größere Beleidigung ersann. Wenn sie sich nicht gerade
stritten, harmonierten sie stets auf das Vollkommenste. Signor
Pirotti besaß nicht das künstlerische Temperament der anderen
beiden, und er war auch nicht der flamboyante Südländer, den Meggan
erwartet hatte. Er war von untersetzter Statur und hatte
hellbraunes Haar und blaue Augen, die durch eine Brille mit dickem
Rand blickten. Er sprach perfekt Englisch sowie Deutsch und seine
Muttersprache Italienisch. Später erfuhr Meggan, dass zu seinen
Sprachkünsten auch noch Französisch, Russisch und Spanisch
gehörten. Er wollte, wie er ihr erklärte, eine Studie über die
Sprache der Aborigines machen, was der Grund war, warum er nach
Australien gekommen war. Bei Signor Pirotti gab es keine
Unterbrechung der Stunden. Zuerst wurde Italienisch gelernt, und
die grundlegenden Konversationskünste fingen in dem Augenblick an,
in dem er den Salon mit »Buon giorno, Signora« betrat. Am ersten
Tag hatte er ihr ein Buch gegeben, in das eine große Zahl
alltäglicher Wörter und Wendungen geschrieben waren, in Englisch
mit der italienischen Entsprechung. Meggan sollte alle Fragen auf
Italienisch beantworten, und der Signor korrigierte ihre
Aussprache. Er war weder allzu kritisch, noch lobte er sie
besonders. Seine Aufgabe war es, ihr eine Sprache beizubringen,
ihre Aufgabe war es, diese Sprache zu lernen. Und nichts konnte ihn
von seinem Ziel ablenken. Beharrlichkeit und stetes Bemühen,
erklärte er, waren der einzige Weg zum Erlernen einer Sprache. Wenn
Madame Marietta entschied, welche Arien Meggan singen lernen
sollte, paukte Signor ihr die Verse ein. Die Sache mit Meggans
Garderobe nahm überraschend Madame in die Hand. Als sie erklärte,
sie werde Meggan auf einem Einkaufsbummel begleiten, reagierten
sowohl Meggan als auch David insgeheim mit Entsetzen auf das
Angebot. Leider wussten sie beide nicht, wie Meggan Madames Angebot
ablehnen sollte, ohne sie zu beleidigen. »Nun«, sagte Meggan, »wenn
sie etwas auswählt, was zu schrecklich ist, kann ich vielleicht
immer noch sagen, ich würde es mir überlegen.« »Du kannst nur
hoffen, dass die Verkäuferinnen in ihrer Ansicht, was passend für
dich ist, mehr Überzeugungskraft besitzen.« Er klang jedoch nicht
allzu hoffnungsvoll. »Mehr Überzeugungskraft als Madame? Die haben
vermutlich eher große Angst vor ihr.« Daher war Meggan äußerst
überrascht, als sie entdeckte, dass Madame Marietta trotz ihrer
exotischen Art, sich zu kleiden, einen unglaublich guten Geschmack
besaß. Sie wählte stets den Stil und die Farben, die Meggan am
besten standen. Und sie scheute sich auch nicht, David Westobys
Geld auszugeben, auch wenn sie es nicht vergeudete. An diesem Abend
führte Meggan ihrem entzückten Ehemann die drei Tageskleider und
das Abendkleid vor, die sie bereits mit nach Hause genommen hatte.
Mehrere andere Kleider für jede Gelegenheit wurden maßgeschneidert.
David äußerte sich begeistert über die Kleider. »Jetzt müssen wir
unbedingt eine kleine Abendeinladung geben, um dich in die
Gesellschaft einzuführen. Wenn die Leute dich einmal kennengelernt
haben, bekommst du sicher viele Einladungen.« »Bei meinen ganzen
Stunden weiß ich gar nicht, wie ich Zeit für das gesellschaftliche
Leben aufbringen soll.« »Du wirst wählerisch sein können, meine
Liebe. Nimm nur die Einladungen an, bei denen du das Gefühl hast,
du fühlst dich wirklich wohl. Wenn unsere Damen der Gesellschaft
dich singen hören, werden sie um deine Gesellschaft buhlen.«
»Werden sie mich singen hören?« »So hatte ich es mir stets gedacht.
Während du für die Oper ausgebildet wirst, musst du weiterhin
auftreten.« »Madame ist damit vielleicht nicht einverstanden.«
»Meggan, meine Liebe, Madame unterrichtet dich, aber ich bin
derjenige, der deine Karriere managt. Ich begleite dich morgen zu
deiner Stunde, um ein Programm für Vorführungen vorzubereiten.«
Die Zahl der Gäste für die Abendgesellschaft belief sich auf acht.
Drei der Paare waren in Davids Alter. Mr. und Mrs. Brown, beide
recht klein und von mächtigem Körperumfang, sahen eher wie Bruder
und Schwester aus denn wie Ehemann und Ehefrau. Beide hatten graues
Haar, waren in Braun gekleidet und trugen identische Stahlbrillen.
Sie beteiligten sich kaum am Gespräch, doch ihre Augen hinter den
Brillengläsern waren munter und aufmerksam, und sie erinnerten
Meggan an ein Paar vollgefressene, freundliche Mäuse. Mr. Brown war
Davids Steuerberater, Mr. Harrison der Bankdirektor und Mr. Reilly
der Anwalt. »Ich finde, du solltest zuerst die Leute kennenlernen,
mit denen ich geschäftlich zu tun habe«, hatte David gesagt. »Die
Frauen führen alle ein reges gesellschaftliches Leben.« Der
Bankdirektor und seine Frau passten schlecht zusammen. Mr. Harrison
war groß, dünn und von zurückhaltender Natur. Mrs. Harrison war
ebenfalls groß, lang und aufdringlich. Zudem war sie neugierig und
versuchte, Meggan jedes Detail ihres Hintergrunds aus der Nase zu
ziehen. Meggan gewährte der Dame wenig Befriedigung. Von den drei
Frauen empfand Meggan gleich eine Abneigung gegen Mrs. Harrison.
Die ständig verdrießliche Miene der Frau, die Art und Weise, wie
sie Meggan sorgfältig musterte, und ihr überhebliches Getue
gegenüber den anderen Frauen zeichneten sie als Mensch aus, der
stets kritisierte und irgendwo einen Fehler fand. Meggan hatte den
Verdacht, dass sie gerne boshaften Klatsch verbreitete. Die Reillys
waren vollkommen normal. Sie kamen in Begleitung ihrer frisch
verlobten Tochter und ihres zukünftigen Schwiegersohns Peter
Stanton. Mrs. Reilly und ihre Tochter besaßen beide eine offene,
großzügige Persönlichkeit. Meggan fiel es leicht, sich mit ihnen zu
unterhalten, und sie nahm die Einladung der beiden Frauen zu einem
Besuch gerne an. Sie waren fasziniert und interessiert, als sie
hörten, dass Meggan eine Ausbildung zur Opernsängerin machte. Mrs.
Brown schien nicht so recht zu wissen, was sie von einer
verheirateten Frau halten sollte, die eine Bühnenkarriere
anstrebte, während Mrs. Harrisons Miene unverhohlene
Geringschätzung ausdrückte. Als sie ihr Gesicht sah, war Meggan
dankbar, dass David in die andere Richtung schaute. Leise, damit er
es nicht hörte, fragte sie: »Gehen Sie gerne in die Oper, Mrs.
Harrison?« Die Verachtung wurde noch deutlicher. »Ich war einmal in
der Oper, als wir noch in London lebten. Ich habe nicht den Wunsch,
noch einmal eine zu besuchen. Ich nehme jedoch an, es gibt
Menschen, die Spaß daran haben, Liedern zuzuhören, die sie nicht
verstehen.« »Singen Sie uns heute Abend etwas aus einer Oper?«,
fragte Miss Reilly. »Ich würde zu gerne etwas hören.« »Ich habe
erst kürzlich mit der Ausbildung begonnen, Miss Reilly, und werde
noch eine ganze Weile keine Opernarien singen können. Bis Madame
Marietta ihre Zustimmung gibt, werden meine geselligen Vorführungen
aus den Liedern bestehen, die ich immer schon gesungen habe.«
Meggan sang an diesem Abend ohne Begleitung, stolz, dass sie mit
ihrer reinen Stimme keine musikalische Unterstützung brauchte. Als
sie ihren kurzen Vortrag beendete, erntete sie begeisterten
Applaus. »Großartig«, rief Mr. Harrison. »Bravo«, sagte Mr. Reilly.
»Oh, ich wünschte, ich könnte nur halb so gut singen«, ließ sich
Miss Reilly vernehmen. »Ist Mrs. Westoby nicht wunderbar, Peter?«
»Allerdings«, stimmte der junge Mann ihr zu. »Adelaide wird Sie
lieben«, fügte Mrs. Reilly hinzu. Die Browns lächelten und nickten
anerkennend. Mrs. Harrisons Miene verriet nichts als reine
Verwunderung. Sie schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte.
Später sprach sie Meggan dann doch darauf an. »Ich sehe mich
genötigt zuzugeben, Mrs. Westoby, dass Sie einiges Talent besitzen.
Ihr Vortrag war recht angenehm.« »Bitte, Mrs. Harrison, ich möchte
nicht, dass Sie sich zu irgendetwas genötigt fühlen, solange Sie
Gast im Haus meines Mannes sind.« Wie konnte die Frau es wagen, so
herablassend zu sein? Meggan gab sich keine Mühe, ihre Verärgerung
zu verbergen. Mrs. Harrison holte tief Luft, und ihre Schultern
wurden ob der Beleidigung ganz starr. »Ich habe Ihnen ein
Kompliment gemacht, Mrs. Westoby, das Sie dankbar annehmen sollten.
Ich verstehe Ihre Haltung nicht im Geringsten.« Sie stand auf und
ging durch den Raum zu ihrem Mann. Meggan schaute ihr hinterher.
»Nein«, murmelte sie leise, »das tun Sie wirklich nicht.« Und ich
hege keinen Zweifel daran, dass Sie diejenige sind, der die
Anspielung meines Mannes galt, als er das erste Mal von der
Abendgesellschaft sprach, f?gte sie in Gedanken hinzu. Nachdem die
Gäste sich verabschiedet hatten, fragte David Meggan sofort, ob sie
Vergnügen an ihrer ersten Abendeinladung gehabt habe. »Es hat mir
großes Vergnügen bereitet. Vor sechs Monaten hätte ich mir nicht
vorstellen können, dass ich einmal die Rolle der Gastgeberin
spielen würde.« »Eine Rolle, die du ausgefüllt hast, als wärst du
dafür geboren. Was hältst du von unseren Gästen?« »Ich mochte sie,
mit Ausnahme von Mrs. Harrison. Sie scheint eine etwas
unfreundliche Art zu haben.« »Damit schätzt du sie ganz richtig
ein, meine Liebe. Wegen der Stellung ihres Mannes in der Stadt wird
sie überall eingeladen, obwohl ich nicht glaube, dass sie irgendwo
besonders gerne gesehen wird.« In den folgenden Wochen erfuhr
Meggan, wie recht ihr Mann gehabt hatte. Vielleicht gab es im Leben
der Frau etwas, das Unzufriedenheit oder Bitterkeit ausgelöst
hatte. Kein einziges Mal hörte Meggan aus ihrem Mund ein
freundliches Wort über irgendjemanden. Die Frau schien anderen
alles zu missgönnen. Es bestand kein Zweifel, dass Mrs. Harrison
David Westobys junge Frau um ihr Talent und ihre Beliebtheit
beneidete. Die Reillys waren die Ersten, die Meggan einluden, an
einem geselligen Abend etwas zu singen. Madame bestand darauf, dass
sie dafür bezahlt wurde, wenn sie sang, und dass Frederick als ihr
musikalischer Begleiter ebenfalls engagiert wurde. »Wenn Sie
umsonst singen und irgendein Amateur Sie am Klavier begleitet,
denken die Leute, Sie wären ebenfalls eine Amateurin.« David war
ganz ihrer Meinung. »Madame hat recht, meine Liebe. Du musst dich
nicht nur bezahlen lassen, du wirst auch wählerisch sein m?ssen,
bei welchen Gelegenheiten du zusagst, etwas zu singen. Innerhalb
k?rzester Zeit werden s?mtliche Damen der feinen Gesellschaft stolz
darauf sein, wenn sie die gro?e Meggan Westoby ?berreden k?nnen,
ihre Gesellschaft zu zieren.? Meggan lächelte kläglich. »Ich bin
noch nicht groß, trotz meiner Stimme.« »Meine Liebe, das Urteil
musst du schon mir überlassen. Gouverneur Fox und seine Frau, Lady
Fox Young, geben gerne musikalische Abende. Madame wird dafür
sorgen, dass du eingeladen wirst, bei nächster Gelegenheit dort zu
singen. Glaub mir, meine Liebe, bald liegt dir ganz Adelaide zu
Füßen. Anfang nächsten Jahres möchte ich nach Melbourne reisen, um
dort meine Geschäftsinteressen auszudehnen. Ich würde diese
Gelegenheit gerne nutzen, dich in Melbourne auf die Bühne zu
bringen. Ich glaube, die Stadt ist seit der Entdeckung des Goldes
ein wenig vornehmer geworden. Und dann noch zwölf Monate, und ich
fahre mit dir nach England und Europa.« »Lieber David, du bist so
gut zu mir. Durch dich werden die Träume, von denen ich dachte, sie
würden nie mehr sein als Träume, Wirklichkeit. Wie kann ich dir das
je vergelten?« Er nahm sie in die Arme. »Als ob du mir das
vergelten müsstest. Du hast mich sehr glücklich gemacht, als du
eingewilligt hast, mich zu heiraten.«
In den nächsten Monaten entwickelte sich Meggans Karriere ganz nach
dem Plan ihres Mannes. Ihr Debüt im Haus des Gouverneurs wurde mit
stehenden Ovationen aufgenommen. In dem Augenblick, als sie den
Applaus mit einem Knicks entgegennahm, wurde ihr Hochgefühl
überschattet von einer aufblitzenden Erinnerung daran, wie sie das
erste Mal eine solche Berauschtheit erlebt hatte. In einer
unvergesslichen Nacht in Burra war Con Trevannick unter den
Zuhörern gewesen, und sie hatte das Lied gesungen, das bald ihr
ganz besonderes Lied geworden war. Weihnachten und Silvester mit
ihren vielen Gesellschaften kamen und gingen vorbei. David hatte
ihre Passage nach Melbourne für den fünfzehnten Januar gebucht.
»Ich habe Treffen mit mehreren Handelsschifffahrtsunternehmen und
Wollhändlern verabredet, die in den letzten Januarwochen in
Melbourne sind. Victoria ist wegen der Goldfunde im Aufschwung.
Viele, die auf die Goldfelder geströmt sind, werden zweifellos
Farmen gründen; einige große Schaffarmen gibt es bereits, und
weitere werden folgen. Die Mine in Burra zahlt ihren Aktionären
keine großen Dividenden mehr. Ich überlege, meine Grubenanteile zu
verkaufen und stattdessen in den Schiffsverkehr zu investieren.«
Meggans ausgelassene Vorfreude auf die Reise wurde gedämpft, als
sie zwei Tage, bevor sie lossegeln sollten, mit einem Brennen im
Hals aufwachte. Sie sagte ihre Stunde bei Madame ab und blieb im
Bett. Mrs. Mills bemutterte sie und brachte ihr Zitronengetränke
mit Honig. Doch ihrem Hals wollte es nicht besser gehen. Am Abend
hatte sie leichte Temperatur. David bestand darauf, dass sofort ein
Arzt gerufen wurde. Dr. McDermott, ein leutseliger Schotte
mittleren Alters, kam sofort. Er betrat Meggans Schlafzimmer,
stellte seine Arzttasche ab, trat ans Bett und legte ihr eine Hand
auf die Stirn. »Nun, was haben Sie gemacht, Mrs. Westoby? Ich
hoffe, nichts, was Ihrer wunderbaren Stimme schaden könnte. Dann
wollen wir uns Sie mal anschauen.« Seine Diagnose war schnell
gestellt. »Mandelentzündung. Ich habe schon schlimmere Fälle
gesehen, aber ich habe auch schon leichtere Fälle gesehen. Nun,
Mrs. Westoby, Sie werden eine Weile nicht singen können und müssen
das Bett hüten, bis Sie wieder vollständig genesen sind. Ich lasse
Ihnen einige Tabletten bringen, die Sie bitte einnehmen, und dann
komme ich morgen wieder, um nach Ihnen zu sehen.« Als David die
Diagnose des Arztes hörte, erklärte er, er werde seine Reise nach
Melbourne verschieben, um bei seiner Frau zu bleiben. Doch Meggan
bestand eisern darauf, dass er seine Pl?ne beibehielt. »Bitte,
David«, krächzte sie. »Mein Hals ist zu wund, um zu streiten.«
»Bist du dir auch ganz sicher, dass du allein zurechtkommst?«
Meggan nickte. »Trotzdem gefällt mir der Gedanke nicht, dich allein
zu lassen. Ich bitte Dr. McDermott, eine Krankenschwester zu
suchen, die bei dir bleiben kann.« Hannah Rigby war etwa dreißig
Jahre alt. Alles an ihrer Erscheinung war durchschnittlich. In
einer Menschenmenge hätte sie keinen zweiten Blick auf sich
gezogen. Ihr Betragen war ruhig und gemächlich und von freundlicher
Natur. Meggan mochte sie sofort, und während der langweiligen Tage,
die Meggan im Bett verbringen musste, wurde Hannah sowohl
Gesellschafterin als auch Krankenschwester. Nach der ersten Woche
erlaubte Dr. McDermott Meggan, das Bett zu verlassen, jedoch unter
der strengen Auflage, nichts Anstrengenderes zu tun, als in einem
Stuhl zu sitzen. Madame Marietta, Frederick und Signor Pirotti
kamen zu Besuch. Madame bestand darauf, dass ein Aufguss aus Salbei
in Essig, gemischt mit dem gleichen Teil Wasser, zum Gurgeln
vorbereitet wurde. Krankenschwester Hannah widersprach. »Mrs.
Westoby trinkt regelmäßig Zitronenwasser, um ihre Halsbeschwerden
zu lindern. Ich gebe ihr auch mit Honig gesüßte Zitronengetränke.«
»Dann können Sie auch das Gurgelmittel machen. Ich befehle es
Ihnen. Ich bin die Expertin.« Meggan, die den Schlagabtausch
zwischen Krankenschwester und Gesangslehrerin beobachtete,
unterdrückte ein Lächeln. Madame würde ihren Willen bekommen. Das
Gurgelmittel aus Salbei und Essig, so scheußlich es klang und
wahrscheinlich auch schmeckte, wurde Teil ihrer Behandlung. Ob das
Gurgelmittel oder die Zitronengetränke wirksamer waren, am Ende der
zweiten Woche fühlte sich Meggan fast wieder ganz gesund. Sowohl
Dr. McDermott als auch Madame bestanden darauf, dass sie ihren Hals
noch mindestens eine Woche schonte, bevor sie den Gesangsunterricht
wieder aufnahm. Langeweile lastete schwer auf ihr, nachdem Hannah
Rigby sich verabschiedet hatte. Sie spazierte durch den Garten,
schrieb einen langen Brief an ihre Eltern und einen zweiten an die
Heilbuths, dem sie einen besonderen Brief an die Zwillinge
beilegte. Den Brief an ihre Eltern beendete sie mit der Frage, ob
sie etwas von ihren Brüdern gehört hätten. David hatte ihr an Bord
des Dampfschiffs geschrieben und den Brief gleich bei seiner
Ankunft in Melbourne aufgegeben. Meggan bekam ihn, kurz nachdem sie
das Bett verlassen durfte. Ein zweiter Brief folgte zwei Tage
später. Meggan schrieb zurück, um ihrem Mann zu versichern, dass
ihr Zustand Fortschritte machte. Seither hatte sie zwei weitere
Briefe erhalten. Alle waren kurz, ermahnten Meggan, sehr gut auf
sich aufzupassen, und informierten sie darüber, dass die
geschäftlichen Verhandlungen zufriedenstellend verliefen. Jetzt saß
Meggan im Salon, um einen beruhigenden Brief an ihren Mann zu
schreiben. Mein lieber Mann,
Du wirst Dich freuen zu hören, dass ich wieder
ganz gesund
bin. Meine wunderbare Krankenschwester Hannah
Rigby hat
sich am letzten Sonntag von mir verabschiedet.
Ich folge den
Anweisungen von Dr. McDermott UND MADAME, mich
nicht
anzustrengen und jeden Tag mehrere Stunden zu
ruhen.
Morgen kann ich die Gesangsstunden
wiederaufnehmen. Ich
freue mich sehr darauf, wieder singen zu
können. Wenn Du in
zwei Wochen wiederkommst, bin ich wieder ganz
die Alte.
Deine Dich liebende Frau
Meggan
Madame begrüßte Meggan im Cottage mit übertriebener Freude, Frederick mit einer Umarmung und einem Kuss auf jede Wange. Meggan wurde angewiesen, ihre Stimme in dieser ersten Stunde nicht zu strapazieren. Wenn in ihrem Hals nur eine leichte Trockenheit oder ein Kratzen zu spüren sei, solle sie Madame sofort informieren. Zu ihrer Freude hatte Meggan keine Beschwerden, obwohl Madame darauf bestand, dass sie häufig mit der Mischung aus Salbei und Essig gurgelte. Und Meggan durfte auch nicht ihren ganzen Stimmumfang ausschöpfen. Als sie nach Hause kam, war sie sehr müde. Sie aß nur ein sehr leichtes Mittagessen und war froh, das Haus am Nachmittag für sich zu haben, denn es war Mrs. Mills’ freier Nachmittag. Dieses eine Mal war sie froh, nichts tun zu müssen und sich ausruhen zu können. Vielleicht war sie doch noch nicht so vollständig wiederhergestellt, wie sie gedacht hatte. Mitten am Nachmittag wachte sie aus einem tiefen Schlaf auf. Eine Weile lag sie auf dem Bett, bis Langeweile sie dazu trieb, etwas – irgendetwas – zu machen, und sie die Treppe hinunterging. Sie war auf halber Treppe, als sie es an der Tür läuten hörte. Sie erwartete keinen Besuch und wollte auch eigentlich niemanden sehen, und so war sie versucht, die Tür einfach nicht aufzumachen. Sie blieb auf der Stufe stehen, die Hand am Geländer, als es ein zweites Mal läutete. Unfähig, es wahrhaftig zu ignorieren, hoffte sie, dass der Besucher jemand war, den zu sehen sie sich freute. Doch als sie die Tür öffnete, wusste sie nicht, ob ihre Freude überwog oder ihre Verzweiflung. Zunächst empfand sie nichts als eine heftige Erschütterung.