13
Die Collins-Brüder
mussten bald feststellen, dass sie den Neid der Männer auf sich
zogen, die auf der Straße nach Adelaide unterwegs waren. Von Burra
aus machten sich so viele Bergleute auf den Weg, dass nur wenige
Glückliche einen Platz in einer Postkutsche fanden. Die Mehrheit
ging zu Fuß und nahm wenig mehr mit als Kleidung und ein paar
Lebensmittel. Die ersten ein oder zwei Tage schritten die, die zu
Fuß gingen, mit forscher Begeisterung aus, angefeuert von dem
trügerischen Vertrauen auf die Reichtümer, die sie in Victoria
erwarteten. Wenn die erwartungsvollen Horden Gawler erreichten, von
wo aus es immer noch mehr als zwanzig Meilen Fußmarsch waren, war
die Begeisterung einer müden, verbissenen Entschlossenheit
gewichen. Obwohl sie, lange bevor sie am ersten Abend Halt machten,
wund geritten und müde waren, begriffen Hal und Tommy Collins doch
allmählich, warum ihr Bruder auf Pferden und Wagen bestanden hatte.
Reiten war auf jeden Fall besser, als zu Fuß zu gehen, besonders da
sie auch um einiges schneller vorankamen als die anderen.
»Hoffentlich machen wir in Adelaide ein paar Tage Pause.« Hal
lümmelte dicht an dem kleinen Kochfeuer an einem Sattel. Tommy
rührte einen Eintopf aus Kartoffeln, Kohl und Pökelfleisch. Er
runzelte über seinen ersten Kochversuch die Stirn. »Wäre nett, zur
Abwechslung mal was Anständiges zu essen. Schätze, das kommt auf
Will an.« »Was kommt auf mich an?« Will, der von einem dringenden
Bedürfnis aus dem Busch zurückkehrte, hockte sich neben Hal. »Ein
paar Tage Pause in Adelaide. Die Stadt genießen, bevor wir uns auf
den Treck rüber nach Victoria machen.« Will gab nach. »Vielleicht
ein oder zwei Tage. Ich würde gerne mit Leuten reden, die das Land
kennen, um rauszufinden, welchen Weg wir am besten nehmen.« »Übers
Meer«, erklärte Hal. »Das ist schneller und sicherer.« »Eine
Passage für uns drei kostet Geld, das wir nicht haben.« »Wir hätten
jede Menge Geld, wenn wir bis Melbourne gewartet hätten, bevor wir
uns mit Pferden und Wagen ausstatten.« Von den Brüdern war Hal
derjenige, der sich auf dem Pferderücken am wenigsten wohl fühlte.
»Und du wärst begeistert den ganzen Weg bis Adelaide zu Fuß
gegangen«, erwiderte Will. Hal zuckte die Achseln. »Ich wette, du
hättest uns Plätze in der Postkutsche besorgen können. Wo du doch
so gut organisieren kannst.« Seine Verdrießlichkeit überraschte
Will. »Was ist denn in dich gefahren?« Tommy kicherte. »Frag
lieber, wo er nicht reingefahren ist. Wenn er nicht bald eine Frau
findet, wird er unerträglich.« Will stieß ein angewidertes
Schnauben aus. »Wenn das, was zwischen deinen Beinen ist, so
verdammt wichtig ist, sollten wir dich vielleicht besser in
Adelaide lassen.« »Vielleicht finde ich eine Frau, die mit mir
kommt. Sie könnte für uns kochen und waschen.« »Gute Idee«,
erklärte Tommy und wies mit einer Grimasse auf die unansehnliche
Pampe, die er jetzt auf die Teller verteilte. »Es wird keine Frau
mit uns kommen.« Will nahm seinen Teller. »Essen ist Essen. Mir ist
es egal, wie es schmeckt. Du gewöhnst dich besser gleich an den
Gedanken, dass es ohne gehen muss, Hal. Oder«, er sprach so
langsam, dass seine Brüder wussten, dass er es ernst meinte, »ich
zahle dir deinen Anteil aus, und du kannst uns gleich verlassen,
wenn du willst.« Schweigen breitete sich aus. Tommy schaute von
Will zu Hal und dann wieder zu Will, dessen Blick unverwandt auf
Hals Gesicht gerichtet war. Hal wandte zuerst den Kopf ab, und die
Röte in seinen Wangen war das einzige Eingeständnis, dass er die
Rüge seines Bruders eingesteckt hatte. »Ich bleib bei euch.«
Adelaide war überfüllt, in allen Unterkünften warteten Menschen
darauf, eine Passage auf einem Schiff nach Melbourne zu bekommen.
Die meisten gingen an den drei jungen Männern mit ihren Pferden und
ihrem Wagen vorbei, ohne sie eines zweiten Blicks zu würdigen.
Einige jedoch betrachteten den Wagen mit so viel Interesse, dass
Will sich hüten wollte, ihn unbeaufsichtigt zu lassen. »Es ist
sicherer, wenn einer von uns immer beim Wagen bleibt. Wir müssen
einen Platz finden, wo wir für eine oder zwei Nächte kampieren
können.« Sie setzten den Weg die Straße hinunter fort. Will und Hal
ritten, Tommy fuhr den Wagen. Sie kamen nur langsam voran, doch das
gab ihnen die Gelegenheit, sich umzusehen. Die Gebäude waren so
unterschiedlich wie die Menschen. Solide Gebäude standen neben
Bauten, die kaum mehr waren als Schuppen. Gut gekleidete Männer und
Frauen gingen zwischen schlicht gekleideten Arbeitern und den von
der Reise staubigen Goldsuchern umher. Zerlumpte Aborigines, deren
Gesichter nicht verrieten, was sie über die Weißen dachten,
lungerten in Gruppen herum. Zwei Männer in Moleskinhosen und
breitrandigen Palmbasthüten kamen aus einem Hotel. Nur Hal nahm
Notiz von ihnen, und das auch nur beiläufig, bis einer von ihnen
aufschaute und er sein Gesicht sah. »Das gibt’s doch nicht«, rief
er. »Da sind Joshua und Adam Winton.« Will schaute zu den Männern
hinüber. »Tatsächlich.« Er hob die Hand zum Gruß, denn die Wintons
hatten sie offenkundig auch erkannt. »Will Collins, Hal, Tommy, was
für eine Überraschung!« »Ebenso. Wie geht’s euch, Adam, Joshua?«
»Könnt nicht besser sein. Ich glaub’s nicht, euch drei vor mir zu
haben.« Adam betrachtete den Wagen. »Ihr seid nicht zufällig
unterwegs nach Victoria?« »Doch, sind wir. Und ihr?« »Ha! Unser Pa
würde uns bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren ziehen, wenn
wir ihm mit so einer Idee kämen. Hey! Aufgepasst!« Der Fahrer einer
Kutsche, die sich den Weg durch die verstopfte Straße bahnte, rief
den Männern Beschimpfungen zu, weil sie die Durchfahrt blockierten.
Das Zugpferd wollte sich vom Wagen entfernen, und Will zog die
Leine an, um es wieder zum Stehen zu bringen. »Wir können unmöglich
mitten auf der Straße stehen bleiben, um zu reden. Wohin wollt ihr?
Können wir uns irgendwo treffen?« »Wir suchen im Augenblick nach
einer Bleibe, wo wir auch den Wagen sicher unterstellen können.«
»Da habt ihr Glück, dass wir euch getroffen haben. In unserem Hotel
ist gerade ein Zimmer frei geworden. Und euren Wagen könnt ihr in
der nächsten Straße bei unserem lassen.« »Ist er da auch sicher?
Ich hab gesehen, dass einige großes Interesse an dem bekundet
haben, was wir mit uns führen.« »Euer Wagen wird vollkommen sicher
sein. Und es gibt Ställe für eure Pferde.« So wurde es verabredet.
Joshua Winton ging zurück zum Hotel, um das Zimmer zu sichern,
während Adam neben Will auf den Wagen stieg, um ihm den Weg zu dem
Mietstall zu zeigen. Obwohl Will zufrieden war, dass der Ort sicher
war, verzog er innerlich das Gesicht bei dem Preis, den man ihm für
das Einstellen des Wagens und der Pferde abknöpfte. Und da das
Hotelzimmer zusätzliche Ausgaben bedeutete, würden sie nicht allzu
lange in Adelaide bleiben können. Später saßen die fünf jungen
Männer in dem Hotelzimmer, Joshua und Adam auf einem der schmalen
Betten, Will und Hal auf dem anderen und Tommy auf der Matratze,
die man für ihn noch auf den Boden gelegt hatte. Nachrichten
darüber, was die Familien in den Jahren, seit sie zusammen als
Auswanderer ins Land gekommen waren, gemacht hatten, waren bereits
ausgetauscht worden. »Und jetzt wollt ihr Gold schürfen, statt
Kupfer abzubauen«, bemerkte Adam. »Erwartet ihr, reich zu werden?«
»Die Geschichten, die wir in Burra gehört haben, lassen erwarten,
dass wir mehr verdienen als beim Kupferbergbau«, antwortete Will
ernst. »Wir gehen allerdings davon aus, dass wir hart arbeiten
müssen. Klar hoffen wir, reich zu werden.« »Warum nehmt ihr den
Landweg und nicht das Schiff?«, fragte Joshua. »Das war Wills
Idee«, sagte Hal. »Er fand es besser, die Ausrüstung schon in Burra
zu kaufen.« »Der Meinung bin ich immer noch. Durch Melbourne ziehen
so viele, da ist das Angebot knapp, und die Preise sind hoch. Ich
hoffe, in Adelaide kann mir jemand einen Rat geben, welche
Reiseroute wir am besten wählen.« »Das können wir euch sagen. Bis
Riverview – wo wir wohnen – ist der Weg gut. Dort könnt ihr aber
den Murray nicht überqueren, denn der Fluss ist viel zu breit,
selbst die Pferde schaffen das schwimmend nicht. Etwa auf halbem
Weg nach Riverview, in der Nähe der Mündung des Murray River in den
Lake Alexandria, wendet ihr euch nach Süden, um runter nach
Wellington zu gelangen. In Wellington überquert ihr den Fluss auf
der Fähre. Wie die Reise auf der anderen Seite in Victoria
weitergeht, weiß ich nicht.« »Wann wollt ihr nach Hause zurück?«
Ȇbermorgen. Wir waren eine Woche in der Stadt. Morgen laden wir
all unsere Vorräte auf, um am nächsten Tag früh loszukommen.«
»Würde es euch etwas ausmachen, wenn wir euch begleiten?« Bei Adams
freundlichem Lächeln bildeten sich Fältchen um seine Augen. »Das
wollte ich gerade vorschlagen.« »Aber dann können wir nur einen Tag
in der Stadt bleiben«, beschwerte sich Hal. »Das sind immerhin zwei
Nächte«, meinte Joshua. »Du bist wohl auf ein bisschen Spaß aus,
was?« Er zwinkerte Hal zu. »Komm mit mir, ich zeig dir, wo man sich
richtig amüsieren kann.« Er zwinkerte Hal noch einmal zu und
schenkte ihm ein schiefes, lüsternes Grinsen. Hal grinste zurück.
Joshua und er hatten, wie es schien, dieselbe Vorstellung davon,
was ein richtiges Vergnügen war. Die jungen Männer aßen im
Speisesaal des Hotels zusammen zu Abend, und danach verabschiedeten
Joshua und Hal sich für eine Nacht in der Stadt. Will und Tommy
schlenderten eine Stunde die Hindley Street und die Randall Street
hinunter und kehrten dann zum Hotel zurück. Joshua und Hal bekamen
sie nicht mehr zu sehen.
Die beiden waren froh, den strengen Blicken ihrer älteren Brüder
entkommen zu sein, und hatten es eilig, ein Hotel aufzusuchen, wo
die Bardamen als gefällig galten. Reichlich betrunken verließen die
jungen Männer das Hotel wieder. »Warst du schon mal mit einer
Schwarzen zusammen?«, fragte Joshua Hal. »Ist das anders als mit
einer Weißen?« »Such dir’ne nette Junge, dann ist es sogar noch
besser. Und billiger als eine Hure obendrein. Den Schwarzen
bedeutet Geld nichts. Gib ihnen ein bisschen Grog, und sie sind zu
allem bereit.« Bei Hals leicht schockierter und doch neugieriger
Miene stieß er ein geiles Lachen aus. »Komm, wir holen uns ein
bisschen schwarzen Samt. Am Fluss kampieren bestimmt ein paar von
ihnen.« Die beiden machten sich trunken taumelnd auf den Weg an den
Stadtrand. Als Joshua einen Polizisten, der zu Fu? auf Wachrundgang
war, die Stra?e herunterkommen sah, zog er den stolpernden Hal
hinter ein Geb?ude. »Du willst doch nicht den Rest der Nacht auf
der Polizeiwache verbringen, alter Kumpel.« Er stolperte noch ein
wenig weiter in den Schatten hinein und öffnete seine Hose, um zu
urinieren. Auch Hal nutzte die Gelegenheit. Er sah die junge
Aborigine, die sie beobachtete, zuerst. Er stieß Joshua an und
fummelte gleichzeitig an seiner Hose herum, um sie wieder in
Ordnung zu bringen. Joshua, der noch nicht fertig war, ging auf die
junge Frau zu. »Willst du?«, fragte er. »Schätze, sie will«, sagte
er über die Schulter zu Hal. Er nahm ein Kopftuch aus der Tasche,
hielt es ihr verführerisch vor die Nase und schwenkte es hin und
her, während er mit seinem Glied wedelte, um ihr zu bedeuten, was
sie tun müsse, um sich das Kopftuch zu verdienen. Die junge Frau
verzog keine Miene. Sie stand nur schweigend da. Joshua hielt es
selten für nötig, sein hitziges Temperament in Schach zu halten. So
auch jetzt. »Gib schon ein Lebenszeichen von dir, du dummes
schwarzes Flittchen. Ich will keine verdammte Statue bumsen.« Er
schlug der jungen Frau mit dem Handrücken ins Gesicht und warf sie
dann zu Boden. Er war sofort auf ihr und hielt ihr mit einer Hand
den Mund zu, um sie am Schreien zu hindern. Sie wehrte sich, und es
gelang ihm kaum, sie festzuhalten. Sie fuchtelte mit den Armen und
trat mit den Beinen aus. »Das verdammte Flittchen ist wie eine
Krake«, knurrte er wütend, »ich kann sie nicht gleichzeitig halten
und bumsen.« Er schwang sich hinter sie, um ihre Arme mit den Knien
zu Boden zu drücken. »Du darfst zuerst, Hal, während ich mit ihren
Titten spiele. Ich schätze, sie beruhigt sich bald.« Dass das, was
sie da taten, eine Vergewaltigung war, kam dem betrunkenen Hal dort
noch nicht in den Sinn, besonders, nachdem die junge Frau aufgeh?rt
hatte, sich zu wehren. Tage sp?ter w?rde er sich fragen, ob Joshua
bewusst war, dass sie eine junge Frau vergewaltigt hatten. Sie lie?
es teilnahmslos und stumm ?ber sich ergehen, dass sie nacheinander
in sie eindrangen. Joshua verlor bald die Lust. Er kam wankend auf
die F??e und zog Hal weg, als der die junge Frau noch einmal
besteigen wollte. »Lass sie. Sie taugt nichts mehr, und ich hab’nen
ziemlichen Durst bekommen.« Die beiden stolperten zurück zur
Straße, ohne noch einen Gedanken an die junge Frau zu verschwenden,
die sie in der Dunkelheit liegen gelassen hatten. Gerade als sie um
die Ecke des Gebäudes gehen wollten, schrie Hal auf und stolperte.
Ein faustgroßer Stein hatte ihn mit schmerzhafter Wucht an der
Schulter getroffen. »Verdammt!« Joshua hievte Hal auf die Füße und
lief los. »Lass uns bloß hier abhauen.« Erst als sie in das Hotel
stolperten, das auf ihrem Weg lag, konnte Hal keuchend fragen: »Was
ist passiert?« »Ein Schwarzer hat Steine nach uns geworfen. Weiß
nicht, wo der herkam.« »Glaubst du, er hat mitgekriegt, was wir
gemacht haben?« »Wahrscheinlich.« Joshua zuckte die Achseln. »Der
kommt jetzt nicht mehr hinter uns her.« Davon war Hal keineswegs
überzeugt, er hatte Angst. »Und was ist, wenn wir wieder rausgehen?
Vielleicht wartet er auf uns und ist mit mehr bewaffnet als mit
Steinen.« Bei dem Gedanken an einen geräuschlosen Speer, der seinen
Körper traf, krümmte er sich vor Angst. Joshua blieb vollkommen
unbesorgt. »Die sind beide inzwischen zurück in ihr Lager gegangen,
aber wir können ruhig noch eine oder zwei Stunden hier rumhängen,
um ganz sicherzugehen, dass uns nichts passiert. Sieht so aus, als
würde hier Karten gespielt. Hast du je Karten gespielt, Hal? Nicht?
Na, dann wird?s aber Zeit, dass du?s lernst.? Hal entdeckte bald,
dass er weder Talent zum Kartenspiel besaß noch Glück beim
Austeilen hatte. Innerhalb einer Stunde war er blank. Zuerst schlug
er Joshuas Angebot, ihm etwas zu leihen, aus. Was, wenn er das auch
noch verspielte? Joshua winkte seinen Protest beiseite. »Niemand
verliert dauernd. Noch ein paar Runden, und du hast den Dreh raus.
Du bekommst dein Geld zurück. Komm, ich hab grad’ne Glückssträhne.«
Leider änderte Hals Geschick sich nicht, und Joshuas Glückssträhne
setzte sich auch nicht fort. Als sie in den frühen Morgenstunden
zurück zu ihrem Hotel taumelten, hatten beide Schulden. Dort fanden
sie die Tür verriegelt. »Mist!« Joshua trat gegen die Tür. »Man
sollte doch denken, ein Mann könnte in seinem eigenen verfluchten
Bett schlafen. Ich wecke den verdammten Scheißkerl auf.« Seine
Stiefeltritte gegen die Tür wurden begleitet von obszönem Gebrüll.
Hal setzte sich einfach neben die Tür und stützte den Kopf in die
Hände. Er fühlte sich zu nichts mehr fähig, außer dort
einzuschlafen, wo er saß. Dass andere, strenge Stimmen anfingen,
Joshuas Flüche zu kontern, drang kaum noch in sein Bewusstsein. Als
er hochgehievt wurde, protestierte er halbherzig. Der feste Griff
des Polizisten an seinem Arm und der erzwungene Fußmarsch zur
Polizeiwache schienen mit ihm gar nichts zu tun zu haben.
Als Will am nächsten Morgen wach wurde und feststellte, dass Hal in
der Nacht nicht zurückgekommen war, wollte er gerade voller Unruhe
Adam suchen gehen, als der an die Tür klopfte und eintrat. Sein
Blick ging geradewegs zu dem unbenutzten Bett. »Hal ist also auch
nicht zurückgekommen.« »Ich bin froh zu hören, dass Joshua auch
nicht da ist.« Adam schüttelte mit grimmiger Miene den Kopf. »Aber
ich habe so eine Ahnung, wo er sein könnte.« Die Resignation und
die Verachtung in Adam Wintons Stimme ließen Will vermuten, dass
Joshua nicht zum ersten Mal nicht nach Hause gekommen war. Will
wusste genau, was für eine Art von Unterhaltung Hal gesucht hatte.
»Glaubst du, Joshua hat die Nacht in einem Bordell oder sonst wo
verbracht?« »Vielleicht, aber ich vermute, er ist eher auf dem
Polizeirevier gelandet. Und Hal auch.« »Was!« Dass Adam das so
ruhig sagte, machte es für Will umso schockierender. Tommy, der von
den Stimmen wach geworden war, setzte sich auf seiner Matratze auf
und blinzelte verschlafen. »Hab ich richtig gehört, Hal ist auf dem
Polizeirevier?« »Wenn dem so ist, wird er sich vor mir zu
verantworten haben.« Will wandte sich wütend an Adam. »Hat Joshua
es sich zur Gewohnheit gemacht, sich einsperren zu lassen?« »Das
letzte Mal, als wir in der Stadt waren, wurde er wegen Trunkenheit
und Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet. Ich habe ihn
gewarnt, diesmal nicht wieder in Schwierigkeiten zu geraten.« »Was
machen wir denn jetzt mit den beiden?« »Ich habe nicht vor,
irgendetwas zu machen, bevor ich nicht gefrühstückt habe. Dann gehe
ich zum Polizeirevier und schaue, was zu tun ist. Hoffentlich
müssen wir nicht auf sie warten, weil sie vor einem Friedensrichter
erscheinen müssen. Mit ein wenig Glück können wir nur ihre
Geldstrafe zahlen und sie rausholen.« »Geldstrafe!«, rief Will.
»Wir haben doch fast nichts mehr!« Adam hob die Hände in einer »Was
soll ich machen?«-Geste. »Hal könnte mit einer Verwarnung
davonkommen, besonders da ihr nur auf der Durchreise seid. Joshua
wird sich glücklich schätzen, wenn er nicht vor den Friedensrichter
geschleift wird.« Adams Vorhersage erwies sich als richtig. Hal
wurde unter der Bedingung entlassen, dass er sich für den Rest
seines Aufenthalts in Adelaide des Alkohols enthielt. Joshua wurde
dem Friedensrichter vorgeführt und bekam dort gesagt, er könne sich
die Zeit bis zum nächsten Morgen im Gefängnis vertreiben. »Hal
hilft dir, eure Vorräte aufzuladen«, sagte Will zu Adam. »Tommy
kann mir helfen, das, was wir brauchen, zu besorgen.« Hal stöhnte.
Er wollte nur irgendwo sitzen und sich seinen pochenden Kopf
halten. Er wollte sich nicht einmal hinlegen, denn dann wurde das
Pochen nur schlimmer. Das Letzte, wonach ihm war, war, einen Wagen
mit Vorräten zu beladen. Doch er stritt nicht mit Will. Obwohl
seine Erinnerungen nicht allzu deutlich waren, wusste er, dass er
in der Nacht zuvor Dinge getan hatte, von denen er hoffte, dass
niemals jemand davon erfuhr. Am Abend war ihm der Gedanke an Essen
immer noch zuwider, und er war froh, sich auf sein Bett plumpsen
lassen zu können. Niemals, schwor er sich, würde er je wieder so
viel trinken. Die nachfolgende Strafe war das ursprüngliche
Vergnügen nicht wert. Er wünschte sich von ganzem Herzen, er hätte
sich nie mit Joshua Winton eingelassen. Wenigstens versicherte sich
Hal als Letztes, bevor er einschlief, dass sie am nächsten Morgen
früh abreisen würden. Mit ein wenig Glück würde Will nie etwas von
den Schuldscheinen erfahren, die er unterzeichnet hatte. Wenn er
Adelaide erst einmal den Rücken gekehrt hatte, würde niemand hinter
ihm herkommen und die Einlösung verlangen. Er hatte das Gefühl,
gerade erst eingeschlafen zu sein, als er von jemandem
wachgerüttelt wurde, der ihn nicht besonders sanft in eine sitzende
Position zog. Das Zimmer drehte sich um ihn. Er stöhnte und
versuchte, die Hand abzuschütteln, die seinen Arm gepackt hielt.
Mit einem gemurmelten Protest wollte er sich wieder hinlegen.
Stattdessen spürte er, wie zwei Hände ihn weiter hochzogen, bis er
stand. Er schwankte, blinzelte zweimal und starrte seinem älteren
Bruder ins Gesicht. »Wassis los?« »Das hier.« Zwei kleine
Papierfetzen wurden Hal dicht vor die Nase gehalten. Zuerst
runzelte er die Stirn, weil er nicht begriff, was das für Papiere
waren und warum Will so wütend war. Er schob den Kopf zurück, um
erkennen zu können, was auf den Zetteln stand. »Oh«, war alles, was
er herausbrachte. Und er konnte seinem Bruder auch nicht ins
Gesicht sehen. Er ließ sich auf die Bettkante plumpsen und legte
den Kopf in die Hände. Das konnten unmöglich die Schuldscheine
sein, die er unterschrieben hatte. Entsetztes Leugnen kämpfte gegen
die Wahrheit. Diese Burschen konnten doch unmöglich so bald ihre
Forderungen anmelden. Er hatte ihnen gesagt, innerhalb einer Woche
bekämen sie ihr Geld. Er stöhnte. Das alles konnte unmöglich
passiert sein. Er spürte, dass Will vor ihm stand und auf eine
Erklärung wartete. Und da er wusste, wie zwecklos das Leugnen
seiner Schuld war, ließ er die Hände neben den Knien hängen,
schaffte es aber immer noch nicht, Will anzusehen. Ein Blick zur
Seite zeigte ihm, dass Tommy in der Tür stand und gleichzeitig
besorgt und enttäuscht aussah. »Es war Joshuas Schuld.« Die
Bockigkeit, die er in seiner Stimme hörte, ließ ihn innerlich
zusammenfahren. »Das ist nicht Joshuas Unterschrift, Hal.« »Joshua
hat vorgeschlagen, Karten zu spielen.« Jetzt war er defensiv. »Das
war dumm von dir. Du kannst nicht Karten spielen«, erwiderte Will
beißend. Von Schuld genährter Zorn wühlte Hal auf. Er sprang auf
die Füße, um seinem Bruder ins Gesicht zu sehen. »Glaubst du, das
wüsst ich verdammt noch mal nicht?« »Du meinst, du hast es zu spät
rausgefunden?« »Oh, Himmel!« Der Zorn war so schnell verraucht, wie
er aufgeflackert war. Hal setzte sich wieder aufs Bett. Will hatte
jedes Recht, auf ihn w?tend zu sein. ?Ich war betrunken, Will. Es
tut mir leid.? »Es tut dir leid? Und das soll reichen?« Will
wirbelte herum; er fürchtete sich vor dem, wozu er fähig wäre, wenn
er in Reichweite seines Bruders blieb. Der Anblick von Tommys
verletzter und besorgter Miene heizte seine Wut noch an. Er ging
wieder hinüber zu Hal. »Glaubst du wirklich, du könntest zu diesen
Männern hingehen und sagen: ›Tut mir leid, ich wollte das Geld
nicht verlieren‹, und von ihnen erwarten, dass sie es vergessen und
uns unserer Wege ziehen lassen?« »Ich dachte, wir wären längst
weg.« Die Worte waren nicht mehr als ein defensives Gemurmel. »Was!
Was hast du gesagt?«, brüllte Will ungläubig. »Du hast es gehört.«
»Willst du etwa behaupten, du hast diese Schuldscheine
unterzeichnet und hattest nie die Absicht, sie zu bezahlen?« Hal
nickte wie betäubt. Er hörte Will fluchen, zwei harte Schritte
Richtung Fenster machen und dann zurückkommen. Daran, dass Will in
einen kornischen Tonfall zurückgefallen war, erkannte er, wie
wütend sein Bruder war. Er spürte Wills Anspannung und welche Mühe
es ihn kostete, vor Wut nicht ganz außer sich zu geraten.
Schattenhafte Bilder der anderen schlimmen Sache, die er in der
Nacht zuvor getan hatte, gingen ihm durch den Kopf. Wenn Will das
herausfand … Hal stützte die Unterarme auf die Oberschenkel, ließ
den Kopf hängen und weinte. Er weinte aus Reue, aus Scham und aus
Angst vor Entdeckung. Er weinte, weil Will so wütend war und weil
er gesehen hatte, wie enttäuscht Tommy von ihm war. Er weinte auch,
weil er sich so verdammt schrecklich fühlte, dass er sich wünschte,
der Boden würde sich unter ihm auftun und ihn verschlingen. »Was
würden Ma und Pa sagen, wenn sie das wüssten?« Hal schüttelte den
Kopf, bei der Erwähnung ihrer Eltern wurden aus den Tränen laute
Schluchzer. Er brachte kein Wort mehr heraus. Und es gab auch
nichts, was er h?tte sagen k?nnen, um die Situation zu verbessern.
Will ließ die Reue seines Bruders ungerührt. Das Geld war weg. »Ich
habe deine Schulden bezahlt, Hal. Aber verstehst du, was das
bedeutet?« Diesmal nickte Hal. O ja, er wusste ganz genau, was das
bedeutete. »Wir haben keine zwei Pfund mehr. Was glaubst du, wie
weit wir damit kommen?« Er schniefte und rieb sich mit dem Ärmel
wütend über die Augen. »Haben wir unsere Vorräte nicht schon?«
»Nicht genug für die fünf oder sechs Wochen, die wir
schätzungsweise bis nach Ballarat brauchen.« »Was sollen wir
machen?«, meldete Tommy sich zu Wort. »Wir können nur versuchen,
unterwegs ein bisschen Arbeit zu finden. Selbst wenn es Arbeit
gegen Essen ist.« Will hatte seine Wut zwar unter Kontrolle, aber
sie war noch nicht verraucht. Hal wusste, dass Will noch sehr lange
wütend auf ihn sein würde. Und was für einen Schaden hatte er mit
seinem dummen Betragen der engen Beziehung zu dem kleinen Tommy
zugefügt? Die Enttäuschung seines Bruders schmerzte ihn mehr als
alles andere. Er stieß einen tiefen, aufrichtigen Seufzer aus. »Ich
weiß, dass es nicht viel bedeutet, wenn ich sage, dass es mir
leidtut, Will, Tommy. Aber es tut mir wirklich leid, dass ich so
ein Dummkopf war. Ich versprech auch, dass ich alles tun werde, was
ich kann, um es wiedergutzumachen.« »Oh, das wirst du«, versicherte
Will ihm, »verlass dich drauf. Und jetzt sollten wir zusehen, dass
wir noch eine Mütze Schlaf bekommen. Wir brechen früh am Morgen
auf.« »Mit Adam und Joshua?« »Nein. Die bleiben mindestens noch
einen Tag. Adam kann erst fertig aufladen, wenn Joshua entlassen
wurde. Abgesehen davon m?chte ich dich von Joshua Winton
fernhalten. Er war dir kein Freund.? »Ich will ihn auch gar nicht
zum Freund.« Hal war überrascht, wie erleichtert er war. »Ich bin
froh, dass wir nicht mit ihnen reisen.«
Im weichen grauen Licht der verblassenden Nacht waren alle Farben
zu Schatten gedämpft. Die Menschen, die schon auf den Beinen waren,
achteten kaum auf diejenigen, die meist mit gesenkten Köpfen dahin
gingen, wo sie den ganzen Tag arbeiten würden. Die Brüder Collins
gingen schweigend, grüßten niemanden und sprachen auch nicht
miteinander. Sie waren aufgestanden, hatten ohne viele Worte ihre
Habseligkeiten zusammengepackt und das Hotel verlassen. Auch am
Mietstall sprachen sie nur das, was notwendig war, um die zwei
Reitpferde zu satteln und das dritte Pferd anzuspannen. Als sie
bereit waren, ihre Reise fortzusetzen, tauchte die Morgendämmerung
die Stadt Adelaide in ein rosagoldenes Licht. Die erste Pause des
Tages machten sie nach mehr als drei Stunden. Danach übernahm Will
das Führen des Wagens und ließ seine Brüder so weit vorausreiten,
dass er ihre Stimmen nicht mehr hörte. Was auch immer Hal gegenüber
Tommy als Entschuldigung vorbringen wollte, Will wollte davon
nichts mitbekommen. Er machte sich mehr Sorgen darum, wie sie das
Geld zurückerlangen konnten, das Hal vergeudet hatte. Will würde
seinem Bruder diese Dummheit erst verzeihen, wenn Hal jeden
einzelnen Penny zurückgezahlt hatte. Sobald sie Ballarat
erreichten, würde er Hal losschicken, damit er sich eine bezahlte
Arbeit suchte. Sein Anteil an dem Gold, das sie fanden, würde im
Verhältnis zu den Stunden stehen, die er für die Goldgräberei
erübrigen konnte. Die Straße in die Hügel hinein war gut
ausgefahren, genau wie die von Burra nach Adelaide, und Pferde und
Wagen kamen gut voran. Mehrere kleine deutsche Siedlungen in den
Adelaide Hills fesselten die Br?der, denn sie waren anders als
alles, was sie je gesehen hatten. Die h?bschen Giebelh?user mit
ihren kleinen Fenstern und gro?en Dachb?den standen inmitten
bl?hender G?rten. Alte Frauen sa?en in der Sonne vor der T?r und
waren mit Stricken besch?ftigt. Kinder in ihrer Nationaltracht
spielten zusammen, die M?dchen trugen bunte Taschent?cher auf den
K?pfen. M?nner, Pfeife im Mund, bestellten die Felder oder
k?mmerten sich um Ziegen und K?he. M?nner, Frauen und Kinder
winkten den drei jungen Reisenden l?chelnd zu. Die Collins-Brüder
wussten, dass die Straßen und Wege immer schlechter werden würden,
nachdem sie die Vorgebirge mit ihren freundlichen deutschen
Siedlungen hinter sich gelassen hatten. Am ersten Abend kampierten
sie in den Mount Lofty Ranges. Will ging davon aus, dass sie
weitere zwei Tage brauchen würden, um die steile Bergkette zu
überwinden. Wenn sie sich nicht völlig verausgaben wollten, würden
Pferde und Männer häufigere Pausen brauchen. Die ersten
Schwierigkeiten begannen, als sie einsehen mussten, dass der Wagen
zu schwer war, um von einem Pferd allein über die Passhöhe gezogen
zu werden. Unerfahrenheit und die Tatsache, dass sie kein
anständiges Geschirr hatten, führten dazu, dass sie lange
herumprobieren mussten, bis alle drei Pferde vor den Wagen gespannt
waren. Der Abstieg war glücklicherweise etwas sanfter, unterbrochen
von einer Reihe von mehr oder weniger steilen kürzeren Anstiegen.
Das Gelände, das sie in den nächsten Tagen passierten, war manchmal
sanft gewelltes, manchmal hügeliges Land, doch hier brauchten sie
nicht mehr als die Kraft eines Pferdes, um die Höhen zu schaffen.
Die drei Männer nahmen sich die Zeit, die Landschaft, durch die sie
reisten, zu genießen. Häufig sahen sie kurz vor sich Wallabys über
den Weg hüpfen. Gelegentlich deutete nur ein schweres Dröhnen an,
dass eines in der Nähe war und durch den Busch davonhüpfte. »Diese
Wallabys sind im Busch schwer zu erkennen«, bemerkte Hal. »Wenn sie
unerwartet aufspringen, können sie einem richtig Angst einjagen.«
Seine Worte sollten sich als prophetisch erweisen, denn plötzlich
sprang ein staubig-graues Wallaby fast direkt unter der Nase des
Kutschpferds aus dem Busch. Erschrocken wich es rasch seitwärts
aus, ohne jedoch langsamer zu werden. Das Kutschpferd scheute vor
Angst, und Tommy brauchte all seine Kraft, um es unter Kontrolle zu
bringen. Zunächst gelang ihm das, auch wenn sein Herz aus Angst
schneller pochte, doch dann folgten mehrere Wallabys in rascher
Folge dem ersten. Das Pferd machte einen Satz und brach in einen
Galopp aus. Tommy zog mit aller Kraft an der Leine und rief: »Hüh!
Hüh!« Er hörte Hal und Will rufen und merkte, dass Will neben ihm
galoppierte. »Zieh die Bremse an«, schrie Will. Dann war Will an
ihm vorbei und beugte sich herüber, um das Zaumzeug des in Panik
geratenen Kutschpferds zu packen. Doch er bekam es nicht zu fassen.
Tommy spürte, wie er durch die Luft flog. O Gott, nein, dachte er
bei sich. Bitte nicht. Will schaffte es gerade so, mit seinem
eigenen Pferd dem durch die Luft fliegenden Wagen auszuweichen,
bevor dieser auf der Seite landete. Vollkommen verängstigt setzte
das angeschirrte Pferd seinen ungestümen Galopp fort, bis der Wagen
seitlich über den Rand des Weges rutschte und das Gewicht des
Wagens das Pferd zum Straucheln brachte. Das Tier stürzte
unglücklich und wurde von dem Wagen, der weiter bergab rutschte,
mitgeschleift. Bestürzt und hilflos sah Will dem Wagen noch etwa
zehn Sekunden lang hinterher, bevor er rasch zurück zu Hal ritt,
der sich über Tommy beugte. »Lebt er noch?«, fragte er, noch bevor
er aus dem Sattel stieg. »Ich glaube schon.« Will beugte sich über
seinen jüngsten Bruder. Tommy atmete, r?hrte sich aber nicht.
Gesicht und H?nde waren voll Blut, und auch das rechte Hosenbein
war mit Blut getr?nkt. Das Bein war zwischen Knie und Kn?chel
grotesk verdreht. Will legte Tommy sehr vorsichtig eine Hand auf
das Bein. Er sp?rte, wo der Knochen gebrochen war. Hal kniete auf
der anderen Seite seines Bruders und sah Will verstört an. »Was
machen wir jetzt? Er ist böse verletzt, nicht wahr?« Wills Miene
war grimmig, ihm schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf.
»Ich hab Angst, ihn zu bewegen.« »Soll ich Hilfe holen? Schauen, ob
ich einen Arzt finden kann?« »Aber wo? Den ganzen Weg zurück nach
Adelaide?« »Was ist mit den deutschen Siedlungen?« »Das ist fast
genauso weit.« »Dann sollte ich weiterreiten. Vor uns liegt sicher
auch noch eine Siedlung.« Es musste noch eine Siedlung geben, das
blasse Gesicht seines jüngeren Bruders gefiel ihm gar nicht. »Am
besten versuchen wir zuerst, es Tommy bequem zu machen.« Will zog
seine Jacke aus und faltete sie zusammen, um ein Kissen zu machen,
das er Tommy vorsichtig unter den Kopf schob. »Leg ihm eine Jacke
über, Hal, um ihn warm zu halten, und bleib bei ihm. Ich gehe
schauen, was mit dem Pferd und dem Wagen ist, dann entscheiden wir,
was wir am besten machen.« Will nahm sein Gewehr aus der Halterung
am Sattel seines Pferds, bevor er den Hügel hinunterkrabbelte,
-rutschte und -glitt. Das Pferd, das schwer verletzt war, jedoch
noch lebte, lag auf der Seite, die Zugriemen um seine gebrochenen
Beine verheddert. Will, der wenig Übung im Umgang mit Waffen hatte,
hielt dem Pferd den Lauf an den Kopf. Der Rückstoß riss an seinem
Arm und an seiner Schulter, der Knall dröhnte ihm in den Ohren. Das
Pferd hatte ein dunkles rotes Loch im Schädel. Es lag still, denn
jetzt litt es nicht mehr. Will ließ die Schulter kreisen, um sich
von dem R?cksto? zu erholen. Ihm war ?bel von dem, was er da hatte
tun m?ssen. ?Du armes Vieh, mehr konnte ich nicht f?r dich tun.?
Der Wagen war arg demoliert, die Ladung war auf dem ganzen Weg den
Hügel hinunter und um den Baum herum, wo der Sturz geendet hatte,
verteilt. Ein Blick genügte, um Will zu verraten, dass der größte
Teil ihrer Vorräte an Mehl, Reis und Zucker weit verstreut war.
Abgesehen von diesen Lebensmitteln jedoch konnte der größere Teil
der Dinge, die auf dem Wagen gewesen waren, gerettet werden. Er zog
unter Schaufeln und Keilhauen einige Decken hervor und kletterte
wieder hinauf zum Weg. Nachdem sie Tommy in Decken eingewickelt
hatten, erklärte er Hal, was sie seiner Meinung nach tun sollten.
»Ich denke, wir sollten weiterfahren. Hoffe, dass wir an einer
weiteren Siedlung vorbeikommen.« »Ich reite sofort los.« Hal stand
auf. »Nein. Wir gehen alle zusammen. Ich will nicht, dass wir uns
trennen. Wir müssen Tommy ein paar Minuten allein lassen. Ich will,
dass du mitkommst, um ein paar Bretter und Seile vom Wagen zu
holen.« »Wofür?« »Wir müssen eine Art Schlitten bauen, der von
einem der Pferde gezogen werden kann. Wir müssen Tommy irgendwie
transportieren. Und ich glaube, wir sollten versuchen, sein Bein zu
richten. Ich weiß«, sagte er, als Hal aufkeuchte, »mir ist dabei
auch nicht wohl zumute. Aber es scheint mir das Beste zu sein, es
zu richten und mit einem Brett zu fixieren, statt es so zu lassen,
wie es jetzt ist. Solange er bewusstlos ist, spürt er hoffentlich
die Schmerzen nicht.« Die Brüder machten sich rasch daran, die
Dinge, die sie brauchten, den Hang hinaufzutragen. Mit einer Axt
spaltete Will das bewegliche Rückbrett des Wagens, um für Tommys
verletztes Bein eine Schiene zu machen. Er riss ein Hemd in
Streifen, um die Schiene am Bein zu fixieren. Dann wappnete er sich
f?r das, was er tun musste. »Du hältst ihn am besten fest, Hal,
falls er zu sich kommt.« Hal kniete sich in Kopfhöhe neben seinen
jüngeren Bruder und hielt dessen Schultern. Ihm war übel vor Sorge.
Tommys von den vielen blauen Flecken rasch anschwellendes Gesicht
war ein schrecklicher Anblick. Mit einem Messer schnitt Will das
blutgetränkte Hosenbein ab. Er spürte, wie sich auf seiner Stirn
Angstschweiß bildete und ihm in die Augen tropfte. Mit dem Ärmel
wischte er ihn weg. Er hatte Angst – verdammt große Angst. Einen
Augenblick hob er den Blick, um Hal anzusehen. Die offene Angst in
Hals Miene war der Ansporn, den er brauchte, um das zu tun, was
getan werden musste. Er packte Tommys Bein oberhalb und unterhalb
der Bruchstelle. Sie hörten das Knirschen von Knochen auf Knochen.
Tommys Körper zuckte. Ein rascher Blick auf Hal zeigte, dass der
die Lippen zusammenbiss, als kämpfte er gegen das Bedürfnis, sich
zu übergeben. Auch in Wills Magen rumorte es ziemlich. Er holte
tief Luft und wischte sich noch einmal mit dem Ärmel die
Schweißperlen von der Stirn. »Ich hoffe um Tommys willen, dass ich
das richtig gemacht habe.« Er verband das gerichtete Bein so fest,
wie er konnte. Hal half ihm, die provisorischen Schienen auf beiden
Seiten des Beins festzubinden. Die beiden blieben noch mehrere
Minuten an der Seite ihres Bruders sitzen, bis Will sich davon
überzeugt hatte, dass es Tommy nach der primitiven Behandlung nicht
schlechter ging. »Dem Burschen scheint’s gut zu gehen. Wir beide
machen uns jetzt am besten daran, den Schlitten zu bauen.« Sie
schnitten Schösslinge, die sie als Querstreben verwendeten, um die
Seitenbretter der Kutsche miteinander zu verbinden. Die Querstreben
wurden an kräftigere Stämmchen gebunden, die ein wenig länger waren
als die Bretter. Die Enden dieser provisorischen Kufen w?rden der
einzige Teil des Schlittens sein, der den Boden ber?hrte. Will
hoffte, dass diese Konstruktion Tommy die Weiterreise einigerma?en
ertr?glich machen w?rde. Aus dem Geschirr des toten Kutschpferds
fertigten sie ein Geschirr, um den Schlitten zu ziehen. Als die
behelfsm??ige Trage fertig war, hoben sie Tommy auf ein Bett aus
Decken, deckten ihn mit weiteren Decken zu und zurrten ihn f?r den
Transport an der Trage fest. Jetzt mussten sie nur noch den Rest
des Wassers, der nicht verschüttet war, holen. Ihre übrigen Sachen
mussten auf dem Hügel zurückbleiben, und die Brüder konnten nur
hoffen, dass nicht alles gestohlen wurde, bevor sie zurückkehren
konnten. Wenn der Weg bergan führte, gingen Will und Hal zu Fuß und
führten die Pferde. Sobald sie flacheres Land erreichten und die
Anstrengung für die Pferde nicht mehr so groß war, ritten sie. Am
späten Nachmittag waren beide Brüder erschöpft und voller Sorge.
Tommy atmete zwar noch, zeigte jedoch keinerlei Anzeichen dafür,
dass er das Bewusstsein wiedererlangte. Hal betrachtete verzweifelt
die Landschaft um sie herum. Sie waren in ein Gebiet gekommen, wo
die Bäume weniger dicht standen und man eigentlich hoffen konnte,
auf die Hütte eines Siedlers zu stoßen. »Wir finden sicher bald ein
Haus. Wir müssen jemanden finden.« Hals Stimme stockte, und dann
schluchzte er auf. »Tommy darf nicht sterben.« Will antwortete
nicht. Er war todunglücklich und gab sich die Schuld. Sich in
Südaustralien komplett auszustatten und dann auf dem Landweg nach
Ballarat zu reisen war seine Idee gewesen. Wären sie per Schiff
gereist, wäre Tommy jetzt nicht in so einem ernsten Zustand. Will
konnte seine Schuld nicht in Worte fassen. Er konnte nur beten und
wiederholte Worte und Wendungen, die er bei seiner Ma immer gehört
hatte. Er, der Gott nie viel Zeit gewidmet hatte, wünschte sich
jetzt, er stünde auf besserem Fuße mit dem Herrn. Plötzlich stieß
Hal einen Schrei aus. »Will, schau! Da drüben, das sieht nach Rauch
aus. Endlich Menschen.« Will schaute in die Richtung, in die Hal
zeigte. »Du hast recht.« Vielleicht hatte Gott seine Gebete erhört.
Obwohl er sich noch nicht erlaubte, sich erleichtert zu entspannen.
»Reit voraus, Hal. Sag ihnen, dass ich mit Tommy komme.« Hal trieb
sein Pferd mit den Knien zu einem kurzen Galopp an und folgte dem
Weg, bis er um ein Dickicht aus Sträuchern außer Sicht geriet.
Wenige Augenblicke später war er wieder da und ritt schneller als
vorher. Will zügelte sein Pferd. »Was ist passiert?« »Der Rauch
kommt von einem Lager von Schwarzen, nicht von einem Haus.« Will
wunderte sich, warum sein Bruder so beunruhigt war. »Hast du etwa
Angst vor denen? Du hast doch in Burra und auch in Adelaide viele
Aborigines gesehen. Ist es ein Kampftrupp?« Er sah, dass Hal
zitterte und im Gesicht aschfahl war. Hal kämpfte gegen seine
wachsende Panik an. Ein Kampftrupp, ja, das sollte er Will sagen,
damit der umkehrte. Als er der Gruppe ansichtig geworden war, hatte
er sich mit Übelkeit erregender Deutlichkeit daran erinnert, was er
an dem Abend in Adelaide mit Joshua abgesehen vom Kartenspiel noch
getrieben hatte. Von den Aborigines war bekannt, dass sie Rache
nahmen. Was, wenn er wiedererkannt wurde? Ein Laut drang an seine
Ohren, der ihm ein angstvolles Frösteln über den Rücken jagte. Erst
als Will aufschrie und sich rasch vom Pferd schwang, wurde ihm
klar, dass der Laut von Tommy gekommen war. »Schnell, Hal, in
meiner Satteltasche ist eine Flasche Whisky.« Hal stieg behände ab.
»Ist er bei Bewusstsein?« »Nur teilweise. Aber ich glaub, ich gieß
ihm ein bisschen Whisky die Kehle runter. Wenn es sonst nichts
hilft, dann wärmt es ihn wenigstens ein wenig.« Sehr vorsichtig
brachte Will Tommy dazu, winzige Schlückchen Whisky zu schlucken.
Der Bursche st?hnte ein paarmal und schien dann wieder in
Bewusstlosigkeit zu versinken. »Wir gehen zu dem Lager der
Schwarzen.« »Die können uns auch nicht helfen.« Sämtliche Nerven in
Hals Körper warnten ihn, sich von dort fernzuhalten. »Aber sie
können uns wahrscheinlich sagen, wo das nächste Haus ist.« »Du
sprichst ihre Sprache nicht.« »Wir können uns in Zeichensprache
verständigen. Sie sehen bestimmt, dass Tommy einen Arzt braucht.«
Hal, der noch mehr Argumente vorbringen wollte, sah aus dem
Augenwinkel eine Bewegung. Er sprang rasch auf und wollte sich
schon auf das Gewehr stürzen, doch Will packte ihn fest am Arm und
hinderte ihn daran. »Nein, Hal. Sie sind friedlich.« Wenigstens
hoffte er, dass die beiden Männer friedlich waren, obwohl sie
Speere, Kriegskeulen und Bumerangs bei sich trugen. Ein Mann trug
ein ziemlich großes Wallaby, der andere zwei große Eidechsen. Sie
waren barfuß und nur in Umhänge aus Opossumfell gekleidet, die
ihnen von den Schultern hingen und bis zu den Knien reichten. Ob
sie überhaupt schon einmal Weiße gesehen haben?, überlegte Will. In
ihren Mienen lag, soweit er das sagen konnte, weder Aggression noch
Neugier. Die beiden Aborigines traten an die Trage und schauten
schweigend auf Tommy hinunter. Einer sagte in ihrer gutturalen
Sprache etwas zu dem anderen. Der zweite, jüngere Mann nickte und
schaute Will an. »Sehr krang Bursche.« Will staunte. Er hörte Hal
nach Luft schnappen. Hatten sie wirklich so viel Glück? »Sie
sprechen Englisch? Er, mein Bruder, hat sich das Bein gebrochen.«
Er tat mit den Händen so, als breche er einen Zweig entzwei. Der
jüngere Mann nickte. »Kommen mit.« Die beiden entfernten sich.
»Willst du wirklich mit denen gehen?«, flüsterte Hal. »Natürlich
folgen wir ihnen. Der Jüngere hat Englisch gesprochen, oder? Er
muss wissen, wo es Weiße gibt.« »Aber sie tragen nur Opossumfell.
Schwarze, die Kontakt zu Weißen haben, tragen normalerweise
anständige Kleidung.« »Vielleicht tragen sie im Busch keine
Kleider. Ich weiß es nicht. Mir ist nur wichtig, dass wir uns
verständlich machen können. Wir müssen alles tun, was wir können,
um Hilfe für Tommy zu kriegen.« Er schluckte seine Angst vor
Vergeltung und seine schuldbewusste Panik herunter. Diese Menschen,
sagte er sich, gehörten ohne Zweifel einem anderen Stamm an. Selbst
wenn sie versuchen sollten, ihm etwas zu tun, konnte er sich immer
noch mit seinem Gewehr verteidigen. Der arme Tommy war hilflos.
Sein Leben war in größerer Gefahr. Schweigend folgten die weißen
Männer den beiden Aborigines in ihr Lager. Die Gruppe war eine
kleine Familie, eine alte Frau, zwei jüngere Frauen, ein halbes
Dutzend Kinder verschiedenen Alters und ein Jugendlicher von etwa
sechzehn Jahren. Der jüngere der beiden Männer sagte schnell etwas
in ihrer Sprache. Die alte Frau stand auf und ging zur Trage. Sie
starrte auf Tommy hinunter, nickte weise und sagte etwas zu dem
Mann. Er wandte sich an Will. »Ihr bleiben, heute Abend.« Will
schüttelte den Kopf. »Mein Bruder braucht einen Arzt. Können Sie
uns zu Weißen bringen?« »Weiße weit weg. Alte Frau kennt Medizin.«
»Weiße Medizin?« »Medizin unsere Volk.« Hal sprach Will leise ins
Ohr, damit der Aborigine ihn nicht hören konnte. »Frag ihn, wie
weit es bis zur nächsten Weißensiedlung ist. Der Gedanke, dass die
alte Frau etwas mit Tommy macht, behagt mir nicht.? »Mir auch
nicht, aber ich glaube, wir haben keine andere Wahl.« Mit lauter
Stimme fragte er den Aborigine: »Wie weit ist es zum Haus der
Weißen?« »Vielleicht ganze Nacht.« »Was ist mit einem Arzt – einem
weißen Medizinmann?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Schwarze
Medizin gut.« Die alte Frau wandte sich in einem raschen Redefluss
erst an die Männer, dann an eine der jüngeren Frauen. Diese
antwortete kurz und verließ dann das Lager. »Mirritji gehen Medizin
suchen.« Er wies auf Tommy. »Bringen Junge Feuer.« Zusammen lösten
Will und Hal das Geschirr, an dem Tommys Schlitten hing. Mit Hilfe
der beiden Aborigines trugen sie ihn näher ans Feuer. Schon lag die
Kühle der heranrückenden Nacht in der Luft. Will bat Hal, sich um
die Pferde zu kümmern, und knüpfte die Seile auf, mit denen Tommy
an der Trage festgebunden war, während die alte Frau sich neben ihn
hockte und das gebrochene Bein aufdeckte. In Wills Kehle stieg
Galle auf. Die Wunde eiterte schon. Die alte Frau nickte ernst.
Dann kratzte sie ein wenig Holzkohle vom Rand des Feuers, nahm die
Blätter, die die junge Frau ihr gebracht hatte, und ließ sie in den
Feldkessel fallen, der im Feuer stand. Wills Sorge um seinen Bruder
war im Augenblick von der Neugier verdrängt, wie die Aborigines
wohl Wasser erhitzt hatten, bevor der weiße Mann mit seinen
Blechbehältnissen gekommen war. Aus dem dampfenden Feldkessel, der
vom Feuer genommen worden war, um abzukühlen, stieg der an Minze
erinnernde Duft von Eukalyptus auf. Will erinnerte sich, dass er
gehört hatte, das Extrakt der Eukalyptusblätter besäße reinigende
Fähigkeiten. Er fragte den Mann, der ein wenig Englisch sprach. Der
Aborigine nickte. »Gute Medizin. Reinigt gutt.« Hal, der nach den
Pferden gesehen hatte, kehrte jetzt zurück. Als er Tommys Bein sah,
keuchte er auf. »Gütiger Himmel! Wenn wir nicht bald Hilfe für ihn
holen, wird Tommy sterben oder, wenn’s nicht ganz so schlimm kommt,
das Bein verlieren.« »Wir bekommen Hilfe. Es ist vielleicht nicht
die Medizin, die wir kennen, aber es ist doch Medizin.« Im Stillen
betete Will, dass er recht behielt. Die alte Dame machte sich
daran, den Eukalyptustee über die offene Wunde zu gießen, bis das
Fleisch sauber und roh aussah. Dann mischte sie aus den Blättern
und der Holzkohle einen Brei und schmierte ihn um die Wunde. Will
und Hal sahen einander an, und in ihren Augen stand dieselbe Frage.
Würde dieser primitive Brei heilen oder schaden? Sie konnten nur
still bei sich beten, dass er half. Dann nahm die Frau ein Stück
Rinde, befeuchtete die Innenseite und legte sie Tommy auf die
Stirn. »Rinde hilft aufwachen«, erklärte der Aborigine. »Du bleiben
hier, bis Sonne kommen.« Die Aborigines teilten großzügig ihr Essen
mit ihnen. Auch wenn ihnen das rohe Kängurufleisch nicht besonders
zusagte, wollten Will und Hal ihre Gastgeber nicht beleidigen,
indem sie sich weigerten, es zu essen. Will unterhielt sich mit dem
Mann, der sich Jerry nannte. »Name hat Weißer mir gegeben.« »Wo
haben Sie Englisch gelernt, weiße Sprache?« »Arbeit für Boss
Harvey, lange her. Schafe.« »Jetzt kümmern Sie sich nicht mehr um
die Schafe.« Das war eine Feststellung und eine Frage. »Jetzt
Walkabout. Bald zurück.« »Wenn morgen die Sonne aufgeht, müssen wir
meinen Bruder zur nächsten Weißensiedlung bringen. Zeigen Sie uns
den Weg?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Nicht gehen. Bleiben hier,
bis Boss Harvey kommen.« »Sie rechnen damit, dass Ihr Boss in Ihr
Lager kommt«, rief Will. »Wann?« »Bald. Junge bringen Boss Harvey
Nachricht.« Will schaute sich in der Gruppe um und sah, dass der
Jugendliche nicht mehr unter ihnen war. Er hatte nicht mitbekommen,
wie er fortgegangen war. Tiefe Dankbarkeit erfüllte sein Herz.
Entweder hatte Gott ihre Gebete erhört, oder das Schicksal hatte
beschlossen, freundlich zu ihnen zu sein. Er überlegte, was er den
Aborigines geben konnte, um seine Dankbarkeit zu bezeigen. Ob der
Mann wohl beleidigt war, wenn er ihm ein Geschenk machte? Während
Will mit dem Mann sprach, war sich Hal, der neben Tommy saß,
unbehaglich der geschmeidigen Anmut der beiden jungen Frauen
bewusst und der Art, wie das Feuer auf ihren Körpern schimmerte.
Die Verunsicherung, die er empfand, seit sie das Lager betreten
hatten, war durch das gelegentliche Kichern und die scheuen Blicke,
mit denen die jungen Frauen die weißen Männer betrachteten, noch
gewachsen. Doch ihre anziehende Halbnacktheit erregte Hal nicht.
Vielmehr war ihm fast körperlich übel vor Schuld und Reue. Wenn
diese Menschen von seinem Verbrechen in Adelaide gewusst hätten,
hätten sie sie wahrscheinlich alle drei umgebracht, statt ihnen zu
helfen. Beschämt wandte er den Blick von den jungen Frauen ab. Hal
hoffte von ganzem Herzen, dass er nie im Leben mehr mit Joshua
Winton zusammentraf.
In den kältesten Stunden der Nacht, die der Morgendämmerung
vorausgingen, rührte Tommy sich und schlug die Augen auf, immer
noch halb in dem Traum von Cornwall gefangen, den er geträumt
hatte. Doch das hier war nicht Cornwall. Er hatte keine Vorstellung
davon, wo er war. Sein Kopf schmerzte scheußlich, genau wie sein
rechtes Bein. Als er versuchte, sich zu rühren, schrie er auf vor
Schmerz. Er hörte Hals Stimme, die nach Will rief, und sah dann,
wie sich das Gesicht seines ältesten Bruders über ihn beugte.
»Tommy. Gott sei Dank, dass du wach und wieder bei Bewusstsein
bist.« »Wie geht’s dir?« Auch Will beugte sich über ihn. »Mein Bein
… was ist passiert?« »Erinnerst du dich nicht?« Tommy wollte den
Kopf schütteln, zuckte jedoch vor Schmerz zusammen. »Das Letzte,
woran ich mich erinnere, ist, wie ich mit dem Wagen einen Hügel
raufgefahren bin.« »Das Pferd ist durchgegangen, es hat sich über
ein Wallaby erschrocken, das vor ihm über den Weg gehüpft ist. Du
wurdest vom Wagen geworfen. Und du warst bewusstlos und hast dir
ein Bein gebrochen.« »Wann war das?« »Gestern Nachmittag.« »Wo sind
wir jetzt?« »Im Lager einiger Aborigines. Die alte Frau hat dich
mit ihrer Buschmedizin behandelt.« »Wie spät ist es?« »Kurz vor der
Morgendämmerung, glaube ich. Lieg einfach still und versuch zu
schlafen, bis es hell wird.« Will stand auf, um sich einige
Schritte vom Lager zu entfernen. Als er an Jerry vorbeiging, sah er
das Weiße in dessen Augen im Dunkeln glimmen. Ohne dass ein Wort
gesprochen wurde, drückte der eine aus, wie zufrieden, und der
andere, wie dankbar er war. Will ging zu den Bäumen, wo er einen
Platz fand, um sich zu erleichtern. Jetzt, wo er sich körperlich
wieder wohl fühlte, spürte er auch, dass die Anspannung erheblich
nachgelassen hatte. Ob Tommy ohne die Hilfe der Rindenarznei wieder
zu Bewusstsein gekommen wäre, würde er nicht hinterfragen. Was
jetzt zählte, war nur die Gewissheit, dass Tommy den Unfall
überleben würde. Vor Tagesanbruch hatten die Frauen schon das Feuer
neu entfacht und einen Kessel mit frischem Wasser aufgestellt.
Sobald es kochte, nahm eine der Frauen einen kleinen Beutel und
schöpfte daraus eine Handvoll Teebl?tter in das kochende Wasser.
Dann nahm sie den Feldkessel vom Feuer und r?hrte den Tee dreimal
mit einem Stock. Will erinnerte sich daran, dass er gehört hatte,
die Aborigines wären wild auf Tabak und Tee. Die Collins-Brüder
rauchten nicht, doch in der Satteltasche war eine Packung Tee. Er
konnte ihnen den Tee und vielleicht noch einen zweiten Feldkessel
schenken, denn die Aborigines schienen nur den einen zu haben. Als
er sah, dass die Frau Zucker holte, um ihn in den Tee zu tun,
beschloss er, ihnen auch ihr Paket Zucker zu geben. Der Tee war
stark und fast Übelkeit erregend süß. Die Aborigines tranken aus
zerbeulten Blechtassen. Die Collins-Brüder holten ihre Becher aus
den Satteltaschen. Aus den Sätteln bauten sie eine Stütze, mit
deren Hilfe sich Tommy halb aufsetzen konnte. Obwohl er den Becher
mit beiden Händen halten musste, trank er den ganzen Tee. »Hast du
Hunger?«, fragte Hal. »Ein bisschen. Ich glaub, ein bisschen was zu
essen würd meinen Magen ein wenig beruhigen.« Hal holte die
Keksdose heraus. Er nahm einige für Tommy heraus und reichte die
Dose dann den Aborigines. Die Hände der Kinder griffen begierig
nach der süßen Speise, und auf ihren dunklen Gesichtern machte sich
ein breites, vergnügtes Grinsen breit. Doch die alte Frau erlaubte
nicht, dass sie sich satt aßen. Als Kinder und Erwachsene einige
Kekse genommen hatten, schloss sie die Dose und reichte sie Hal
zurück. Sie zeigte auf Tommy, und Hal wusste, dass sie ihm
bedeutete, er solle den Rest der Kekse für seinen Bruder aufheben.
Die Stunden vergingen nur langsam. Als der Tag allmählich wärmer
wurde, bewegte sich die Gruppe in den Schatten der Bäume an einem
nahe gelegenen Wasserloch. Die Frau bereitete ein Gebräu aus
verschiedenen Pflanzen zu und gab es Tommy gegen seine Schmerzen.
Die Kinder spielten am Rand des Wassers, und die wei?en M?nner
beobachteten interessiert ihre Spiele. Jerry und der ?ltere Mann
hatten ihre Speere genommen und waren jagen gegangen, w?hrend die
beiden jungen Frauen mit ihren aus Bast gekn?pften Beuteln
loszogen, um im Busch nach Essbarem zu suchen. Bei ihrer Rückkehr
hatten sie die Taschen voller Knollen und wilder Beeren. Kurze Zeit
später kehrten die Männer mit einer Schlange und einer Eidechse
zurück. Beide Reptilien wurden so, wie sie waren, auf die Kohlen
geworfen. Wieder wurde das Essen freigebig mit den Weißen geteilt.
Die Brüder zögerten zwar, die Reptilien zu probieren, doch der
Hunger war stärker. Zu ihrer großen Überraschung stellten sie fest,
dass die gekochte Schlange einem Huhn nicht unähnlich schmeckte.
Die Beeren erinnerten im Geschmack an Himbeeren. Wieder einmal
wurde der Feldkessel aufgesetzt, um Tee zu kochen. Jerry grinste,
als Hal ein Stück Eidechse nahm. »Schwarzenfutter gut, was?« Hal,
der sich unter den Aborigines inzwischen wohler fühlte, erwiderte
das Grinsen. »Ziemlich gut. Was meinst du, Will? Jetzt brauchen wir
uns keine Sorgen mehr zu machen, dass uns die Lebensmittel
ausgehen. Wir können uns einfach eine Schlange oder eine Eidechse
fangen.« Zu seiner ungeheuren Überraschung brach Jerry in
schallendes Gelächter aus. Die Worte, die er in seiner eigenen
Sprache sprach, lösten in der Gruppe ausgelassene Fröhlichkeit aus.
Hal sah Will an. »Was sagt er? Was ist so witzig?« Jerry schaffte
es, sein Lachen unter Kontrolle zu bringen. »Lustig ist, dass
Weißer versuchen, Eidechse fangen. Eidechse läuft verdammt
schnell.« Nun stieß Will ein leises Kichern aus. »Ich glaub, Jerry
hat recht, Hal. Wir sollten besser von den Frauen einiges über
Buschnahrung lernen.« Worauf Jerry mit offensichtlicher
Schadenfreude grunzte. »Weißer denken ziemlich klug, aber Schwarzer
auch klug.« »Sie haben recht.« Will wurde augenblicklich ernst.
»Ohne Ihre Hilfe wäre Tommy womöglich nicht mehr am Leben. Und wir
wären zweifellos sehr hungrig.« Um die Mittagszeit ruhten alle. Die
alte Frau, der alte Mann und einige Kinder schliefen. Tommy und Hal
schliefen ebenfalls. Will konnte nicht einschlafen. Er setzte sich
mit dem Rücken an einen Baum und lauschte auf alles, was die
Ankunft von Jerrys Boss Harvey ankündigen konnte. Erst am späten
Nachmittag, als die Männer in der Hoffnung, noch ein Wallaby zu
fangen, wieder ihre Jagdwaffen genommen hatten, hörte er das
unmissverständliche, doch immer noch ferne Geräusch eines näher
kommenden Wagens. Er sprang auf, um zu dem Weg zu laufen, dem sie
gefolgt waren. Und tatsächlich näherte sich von Osten ein von zwei
Pferden gezogener kleiner Wagen. Er lief zurück ins Lager, um sein
Pferd zu holen. »Was ist los?«, fragte Hal alarmiert. »Es kommt ein
Wagen. Ich reite ihnen entgegen. Sag’s Tommy.« Hastig sattelte er
sein Pferd, stieg auf und galoppierte dem herannahenden Wagen
entgegen. Der Wagen hielt, als er ihn erreichte. Auf dem leichten,
vierrädrigen Wagen saßen zwei Männer, in die Moleskinhosen und
Flanellhemden der Siedler gekleidet. Der junge Aborigine hockte auf
der Ladefläche. Will vergeudete keine Zeit mit einer formellen
Begrüßung. »Ich bin wirklich froh, Sie zu sehen, Mr. Harvey.« Er
sprach den dicken Mann an, der die Leine hielt, den Mann, der
aussah, als gäbe er die Befehle. »Ich bin Will Collins. Wie viel
hat der Junge Ihnen erzählt?« Zum ersten Mal überlegte Will, ob der
junge Aborigine Englisch sprach. Er musste wohl, denn Hilfe war
gekommen. »Ich habe gehört, dass es einen Unfall gegeben hat und
dass Sie einen bewusstlosen Mann mit einem gebrochenen Bein hier
haben.« »Zum Glück ist er nicht mehr bewusstlos. Ich mache mir
trotzdem noch Sorgen um ihn. Ich wünschte, wir könnten ihn zu einem
Arzt bringen.« »Auf dieser Seite von Adelaide gibt es keinen Arzt.
Hier draußen kümmern wir uns selbst um uns. Hier, Sie fahren am
besten mit mir, dann können Sie mir alles erzählen, was passiert
ist. Jack kann Ihr Pferd nehmen.« Der Mann namens Jack tauschte mit
Will den Platz. Sobald Harvey den Wagen wieder in Bewegung gesetzt
hatte, erzählte Will ihm alles, von da an, als ihnen die ersten
Wallabys über den Weg gehüpft waren. »Wir hatten Glück, dass wir
die Aborigines getroffen haben. Ich weiß nicht, was der
Breiumschlag der alten Frau für Tommys Bein tun kann. Ich weiß nur,
dass das, was sie ihm zu trinken gegeben hat, seine Schmerzen
gelindert hat.« »Sie wären wahrscheinlich überrascht, aber ich habe
öfter, als ich zählen kann, erlebt, wie wirksam die Medizin der
alten Mary ist.« Er nahm die Leine in die linke Hand, um mit der
rechten den Ärmel seines Hemds hochzuschieben. Über den Unterarm
vom Ellbogen bis zum Handgelenk lief diagonal eine tiefe weiße
Narbe. »Das hat sie für mich gerichtet.« »Wie ist das passiert?«
»Bei einem Unfall, beim Holzsägen. Ich habe schrecklich viel Blut
verloren, bis Jerry seine Mutter geholt hat. Ich schätze, ich
verdanke ihr mein Leben.« »Die Frau ist Jerrys Mutter? Was ist mit
dem älteren Mann?« »Ein Onkel. Der Bursche hintendrauf ist sein
ältester Sohn. Eine der jüngeren Frauen ist seine Frau, die andere
irgendeine Cousine. Welches Kind zu wem gehört, dahinter bin ich
noch nicht gekommen. Bei den Aborigines übernimmt der ganze Stamm
die Aufzucht der Kinder. Da scheint es nicht so wichtig zu sein,
wer die Eltern sind.« »Jerry sagte, er kümmert sich um Ihre Schafe.
Was ist mit den anderen?« »Ich lasse sie am Bach wohnen. Der kleine
Billy«, er wies mit dem Kopf auf die Ladefläche des Wagens, »hilft
auf dem Hof.« Sie hatten das Lager erreicht. Harvey ging sofort zu
Tommy hinüber. »Wie geht es Ihnen, junger Mann?« »Mir geht’s schon
besser.« »Hmm. Soweit Ihr Bruder mir das erzählt hat, hatten Sie
verdammtes Glück, dass Sie nicht umgekommen sind. Nun, wir laden
Sie am besten auf den Wagen und bringen Sie zum Haus? Wir haben
eine Matratze auf den Wagen gelegt, damit Sie nicht zu sehr
herumgeschleudert werden. Ah, hier kommt Jerry. Wie ich sehe, hat
er auch etwas zu essen.« Jerry trug ein kleines Wallaby, das er auf
den Boden legte. »Tag, Boss.« »Sind Sie jetzt fertig mit dem
Walkabout, Jerry? Kommen Sie zurück zum Haus.« »Wir kommen zurück,
Boss. Vielleicht wir reiten in Wagen.« »Vielleicht nicht. Hab nicht
genug Platz für euch alle. Aber ich nehme Mary mit. Sag ihr, sie
soll mit mir kommen.«
Obwohl die Männer vorsichtig waren, bereitete es Tommy große
Schmerzen, als sie ihn zum Wagen trugen, und er schrie mehrmals auf
vor Pein. Als sie ihn auf der Matratze gelagert hatten, standen ihm
Schweißperlen auf der Stirn. Will machte sich Sorgen, dass er
wieder ohnmächtig werden könnte. Obwohl das vielleicht nicht das
Schlechteste war. Die Reise, die ihnen bevorstand, würde für Tommy
nicht einfach werden, auch wenn die dicke Matratze das Holpern
abfederte. Will und Hal banden ihre Pferde hinten an den Wagen,
luden die Sättel auf und kletterten neben Tommy. Die alte Mary
kletterte hoch und setzte sich im Schneidersitz nach hinten. »Wie
lange dauert es?«, fragte Tommy mit einer Stimme, die schwach und
vor Schmerzen rau war. »Ich schätze, wir sollten vor Mitternacht zu
Hause sein. Zum Gl?ck ist Vollmond, und wir k?nnen unseren Weg gut
erkennen.? Er schnalzte mit der Leine. ?Setzt euch in Bewegung, ihr
faulen Biester, wir m?ssen den armen Kerl nach Hause bringen.?
Harvey lenkte den Wagen über einen kaum erkennbaren Weg Richtung
Norden. Als die Pferde ein gleichmäßiges Tempo eingeschlagen
hatten, schaute Harvey über die Schulter zu Will. »Was machen
Burschen wie Sie überhaupt hier draußen? Hatten Sie vor, eine Farm
zu gründen?« »Wir wollen, ich meine, wollten, nach Ballarat auf die
Goldfelder.« Harvey schnaubte. »Ha, hätt ich mir doch denken
können. Dasselbe wie bei allen andern Männern in der Kolonie. Jack
hier ist der einzige Weiße, der noch für mich arbeitet. Wie gut,
dass Jerry und zwei andere Schwarze bereit sind, als Schäfer zu
arbeiten.« »Sind sie gute Schäfer?« »Kann mich nicht beschweren,
außer wenn sie auf Walkabout gehen. Das ist verdammt lästig. Egal,
erzählen Sie mir von sich.« Ohne in Einzelheiten zu gehen, erzählte
Will, wie es gekommen war, dass die Familie nach Australien
ausgewandert war, um in der Grube in Burra Burra zu arbeiten.
Keiner der Brüder, sagte er, hatte sich über die Arbeitsbedingungen
in der Grube oder über das Leben, das sie abseits der Grube lebten,
beschweren können. Es war nur so, dass die Lust auf Veränderung sie
umtrieb und die Goldgräberei sie gereizt hatte. Sie wussten, dass
sie hart arbeiten mussten, um sich ihren Lebensunterhalt zu
verdienen. Genug, um behaglich zu leben, mehr wollten sie gar
nicht. Keiner von ihnen erwartete, ein Vermögen zu machen. »Freut
mich, dass Sie ein bisschen Verstand in der Birne haben. Schätze,
jetzt müssen Sie Ihre Pläne ändern.« »Ja.« Nichts konnte
entschieden werden, bevor Tommys Bein nicht geheilt war, und das
konnte mehrere Wochen dauern. Falls Harvey bereit war, sie bei sich
wohnen zu lassen, überlegte Will, konnten sie bei ihm bestimmt auch
arbeiten. Finanziell waren sie jetzt noch mehr unter Druck als bei
der Abreise aus Adelaide. Dann war da die Sorge, dass das Bein
nicht ordentlich zusammenwuchs und Tommy sein Leben lang ein
Kr?ppel bleiben k?nnte. »Mr. Harvey …« »Harvey tut’s auch.« Ein
krächzendes Kichern war zu hören. »Harvey Ignatius Harvey wurde ich
getauft. Je einen lächerlicheren Namen gehört?« Da die Frage keine
Antwort zu erfordern schien, fuhr Will mit seiner Frage fort.
»Harvey, ich würde gerne irgendwann zurückreiten, um die Reste
unserer Habseligkeiten zu holen. Denken Sie, das wäre möglich?«
»Schätze schon. Heute Abend kümmern wir uns erst mal um Ihren
Bruder. Wenn Sie bereit sind, ihn allein zu lassen, kann Jack Sie
morgen zurückbringen. Er kennt eine Abkürzung, sodass Sie an einem
Tag hin- und zurückkönnen.« Jack, der praktisch die ganze Zeit noch
kein Wort gesagt hatte, schaute sich um und nickte. »Könnten wir
irgendein Beförderungsmittel mitnehmen, um alles zu transportieren?
Es wäre mir lieber, ich müsste nicht zu oft reiten.« »Die Abkürzung
können Sie nicht mit einem Wagen nehmen. Glauben Sie, zwei
Packpferde tun’s auch?« »Vielleicht. Tiere und Vögel werden sich
sicher an unseren verstreuten Lebensmitteln gütlich getan haben,
außer an den Dosen.« »Richtig. Gütiger Himmel, heute Nacht wird’s
aber verdammt kalt. Wenn der Mond scheint, kommt’s mir immer kälter
vor. Wie geht’s Ihnen da hinten?« »Verdammt kalt«, wiederholte Hal.
Er zog ihre Decken heraus, um Tommy zuzudecken und sich eine um die
Schultern zu legen. Will suchte die Whiskyflasche und reichte sie
herum. Ein oder zwei Schlucke halfen vielleicht, das Fr?steln aus
den Knochen zu vertreiben. Harvey nahm dankbar an. »Hätte selbst
dran denken sollen. Es geht doch nichts über ein bisschen Schnaps,
um die Eingeweide zu wärmen.« Die alte Mary hatte ihnen den Rücken
zugewandt. Will überlegte, ob er ihr auch einen Schluck anbieten
sollte. Harvey, der nach hinten schaute, schien Wills Gedanken
lesen zu können. »Besser nicht, junger Mann. Sobald die Schwarzen
ein bisschen Alkohol intus haben, sind sie zu nichts mehr zu
gebrauchen. Bei den Frauen kann es so schlimm sein wie bei den
Männern. In Neusüdwales habe ich gesehen, welchen Schaden der
Alkohol anrichten kann. Was ich im Haus hab, halt ich gut unter
Verschluss.« »Vertrauen Sie ihnen nicht?« »Das ist keine Frage des
Vertrauens, sondern eine Frage, sie richtig zu behandeln. Der
Alkohol tut ihnen nicht gut. Besser, man versorgt sie reichlich mit
Tee und Zucker. Und ich möchte nicht das Risiko eingehen, dass ein
betrunkener Schwarzer, der nicht weiß, was er tut, mir mitten in
der Nacht mit einem Handbeil den Schädel spaltet.« »Ich hatte den
Eindruck, Sie trauen Jerry.« Will war verdutzt, Harveys barsche
Reden schienen etwas anderes anzudeuten. »Das tue ich auch. Er ist
ein guter Mann, genau wie der junge Billy. Verstehen Sie mich nicht
falsch, Bursche. Die Aborigines sind gute Leute, solange man sie
richtig behandelt und ihnen nicht ihre Selbstachtung nimmt.« »Ich
kann nicht leugnen, dass sie sehr gut zu uns waren.« »So sind sie.
Solange man nicht so dumm ist, ihnen mit einer Waffe vor der Nase
rumzufuchteln, sind sie ein friedliches Volk.« Will sagte nichts
mehr. In seine Decke eingehüllt überlegte er, wie wenig er im
Grunde über die Aborigines wusste. In Burra waren sie einfach da
gewesen, Teil des Landes. Niemand hatte besonders auf sie geachtet.
In Adelaide schien es im Großen und Ganzen genauso zu sein. Obwohl
die Umstände sehr bedauerlich waren, war er froh, jetzt ein wenig
mehr ?ber ihre Lebensweise zu wissen. Hals Gedanken nahmen einen
ähnlichen Verlauf. Er war sich jetzt fast sicher, dass die Frau,
die er so brutal behandelt hatte – ein anderes Wort zu denken
verbot ihm sein Gewissen -, nach Alkohol gerochen hatte. Nicht dass
ihr Zustand sein Verhalten in irgendeiner Weise gerechtfertigt
hätte. Es gab keine Möglichkeit, das, was er der Frau angetan
hatte, wiedergutzumachen, selbst wenn er sie je wiedersah und
überhaupt erkannte. Nur durch Taten, beschloss er in diesem Moment,
konnte er das Böse, das er begangen hatte, tilgen. Nur durch seine
Haltung konnte er den Aborigines danken, die ihnen so bereitwillig
geholfen hatten. Von diesem Abend an, schwor er sich, würde niemand
in seiner Gegenwart einen Aborigine schlecht behandeln oder
schlecht über sie reden.