Sechs klaffende Wunden überzogen Koljas Rücken und sein Vater holte erneut aus. Konstantin hielt sich die Ohren zu. Er durfte nicht eingreifen. Nicht helfen, nicht trösten. Ramuell Grigorjew liebte seinen jüngsten Sohn. Aber er brauchte ihn nicht. Kolja brauchte er. Deshalb strafte er ihn für sein Versagen in London.

Heute Morgen hatte Kolja vor dem Pferdestall auf ihn gewartet. Der Blick seiner Augen war seltsam fremd, als hätten die vergangenen Tage ihn zu einem anderen Menschen gemacht. Gefasst war er mit Konstantin zu Vater gegangen, keine Spur von Angst im Gesicht. Auch dann nicht, als er wusste, was ihm von Ramuell drohte. Er hatte nur um Konstantins Anwesenheit während der Bestrafung gebeten. Sein Vater hatte kalt lächelnd zugestimmt.

Ramuell betrachtete seinen sich am Boden windenden ältesten Sohn. Kolja wusste, dass der siebte Schlag drohte. Er hatte immer gedroht. Siebenmal durchhalten, siebenmal schweigend die eigene Existenz verfluchen, siebenmal sich nach Erlösung sehnen. Konstantin war nur ein einziges Mal von seinem Vater gezüchtigt worden. Er wollte es nie wieder erleben.

Die Gerte zischte durch die Luft. Sie gehörte ihm. Er nutzte sie nur für die Pferde, sanft, schmerzfrei. Nur, um ihnen die Richtung zu zeigen, wenn sie noch zu jung und unerfahren waren. Konstantin würde sie nie wieder in die Hand nehmen.

Kolja keuchte und blieb reglos liegen. Aus seinem Mund floss Blut. Er zerbiss sich die Lippen, um nicht wieder schreien zu müssen. Die Gerte fiel auf den Boden und Ramuell ging, ohne Kolja eines weiteren Blickes zu würdigen. Erst, als er die Schritte seines Vaters nicht mehr hören konnte, kniete sich Konstantin zu seinem Bruder.

Die schwarzen Locken waren nass vor Schweiß. „Es ist vorbei, Kolja.“ Wenn er mutiger wäre, wenn er stärker wäre, und sich diesem Mann entgegenstellen könnte. Nichts davon war er. Der jüngste Sohn der machtvollsten von allen alten Familien. Nephilim-Blut floss durch seine Adern. Nephilim-Blut verteilte sich über den ausgetretenen Steinplatten des Weinkellers. Er zog Kolja auf seinen Schoß. Bevor er Dr. Smirnow holen konnte, musste sich sein Bruder beruhigen. Das Gesicht war schmerzverzerrt, doch zeigte keine Spuren des Alters mehr. Konstantin streichelte die Hand, die seine umschlossen hielt. Der Ring fehlte. Kolja hatte ihm anvertraut, dass er eine andere Macht gefunden hätte, sein Leben zu schützen. Welche, hatte er ihm nicht sagen wollen.

 

*

 

Die Marmorwände hallten vom Klang seiner eilenden Schritte. Der Meister der Pforte hatte Kepheqiah ohne Weiteres passieren lassen, ebenso wie der wachhabende Gardist, der ihn sofort erkannte.

„Kepheqiah! Du warst lange nicht mehr in Rom. Wie war der Flug?“

„Stürmisch. Aus London kommt ein Gewitter auf uns zu. Ich muss Mahawaj warnen. Ist er allein?“

Der Mann nickte. „Er wartet auf dich. Die Nachricht hat ihn schwer getroffen.“

Nichts anderes hatte Kepheqiah erwartet. Der Raum war lichtdurchflutet. Mahawaj stand am Fenster, mit dem Rücken zu ihm. Weißblondes Haar floss über seine Schultern und die schmale Hand umklammerte das Amulett, das Kepheqiah ihm noch in derselben Nacht von Lucindes Dämonenangriff hatte zukommen lassen.

„Daniel kehrt sich ab?“

Er sah nicht auf, als Kepheqiah ihm die Hand auf die Schulter legte.

„Daniel hatte sich schon lange gegen die Bruderschaft gesträubt. Du weißt das. Roope Turunen schürt ein Feuer, das längst schwelt. Es wird auflodern und Daniel zum Erzfeind der Bruderschaft heranwachsen lassen. Es sei denn, du sagst ihm endlich die Wahrheit.“

Mahawaj schloss die Augen. „Er hasst mich.“ Jahrtausendealter Schmerz schwang in der glasklaren Stimme. „Mein erster Sohn, Kepheqiah. Geboren in einer Zeit, da Kinder schneller starben, als ihre Väter sie schützen konnten.“

„Du hast dem vorgebeugt, als du Daniels Seele dem Wind anvertraut hast. Leben für Leben hat er dir deinen Sohn zurückgebracht. Dich trifft keine Schuld.“

„Zu welchem Preis? Immer, wenn ich seine Seele aus den Tiefen der Zeit ans Licht gezerrt habe, wusste ich, dass ich ihm niemals begegnen kann. Sein erster Vater ist sein erster Tod. Wie sollte ich ihm je in die Augen sehen können?“

Als er sich am Schreibtisch niederließ, vor sich die Akte seines Sohnes, wirkte er wie ein alter, gebrochener Mann. Dabei war der ewig junge Mahawaj Baraqel seit ihrer ersten Begegnung nicht einen Tag gealtert.

„Ramuell fürchtet um die Seele seines Sohnes. Wegen des Frevels hätte er verdient, dass ich sie in Stücke reiße.“

„Und? Wirst du es tun?“ Kepheqiah schauderte bei dem Gedanken, wie der Dämon Lucinde zugerichtet hatte. „Er selbst hatte bereits einen Dämon beschworen und ihn auf Meister Lacroix angesetzt. Er ist nicht vertrauenswürdig. Wir sollten seine Taten sanktionieren.“

Mahawaj legte die Hände vors Gesicht. „Die Grigorjews, die Callahans, die Sanguinis; keiner von ihnen ist vertrauenswürdig. Wie sollten sie? In ihren Adern fließt das Blut der Nephilim. Ich hätte ihre Urväter in die Fluten zurückstoßen sollen, als sie bittend die Hände zu mir gereckt hatten.“

„Also lässt du die Freveltat ungesühnt?“

„Sein Sohn wird sterben ohne den Ring. Dass er noch lebt, gleicht einem Wunder. Ramuell ist genug gestraft.“

Ein hoher Piepton unterbrach ihn. Mahawaj runzelte die Stirn, als er auf seinen Kommunikator starrte. „Konstantin Grigorjew? Woher hat er diese Nummer?“ Mahawajs Miene versteinerte vor Kepheqiahs Augen. Er sagte kein Wort, als er die Verbindung trennte. „Kolja hat seinen Vater getötet und die Macht der Familie Grigorjew an sich gerissen. Er will sich dem Rat der alten Familien stellen und unter Umständen für sein Recht kämpfen.“

„Das klingt nicht nach einem Sterbenden.“

Mahawajs Augen wurden schmal. „Aber wonach klingt es dann?“

 

*

 

Roopes mächtige Hand strich behutsam über Lucys empfindliche Haut.

„Sieht gut aus. Hiermit erkläre ich dich offiziell für geheilt und wieder voll einsatzfähig.“

Er grinste über ihre Schulter Daniel an, der hinter ihr saß und sie im Arm hielt.

„Ich warte schon seit zwei Wochen auf diesen Satz.“ Zärtlich küsste Daniel ihren Hals, ihre Schulter und fing sich ein tadelndes Räuspern von Ethan ein.

„Wir sind auch noch hier und wollen feiern. Heb dir das Geschmuse für später auf.“

„Schade. Wollen wir sie nicht alle zum Teufel schicken?“

Daniels Wispern kitzelte an ihrem Ohr, wie bei ihrer ersten Begegnung auf dem Flughafen. Schon damals war die Ringenergie durch sie hindurchgeflossen. Doch es hatte sich schrecklich angefühlt. Jetzt verdankte sie dem Schmuckstück ihr Leben.

„Denkst du, ich kann ihn wieder abziehen?“

„Du bist gesund. Warum nicht, oder hast du Lust, dich wieder an mir zu entladen?“

Schon, aber nicht auf diese Weise. Daniel erriet ihre Gedanken. Seine Braue zuckte und in seine wunderschönen rabenschwarzen Augen schlich sich ein vielversprechender Glanz.

Jade hielt die Hand auf. „Gib ihn mir. Ich mag grün, und wenn du ihn noch mal brauchen solltest, kannst du ihn dir leihen.“

Lucy schnippte den Ring durch die Luft. „Zieh ihn nur nicht zu oft an. Er hat ein Eigenleben.“

Es war zu spät. Jade steckte ihn bereits auf den Daumen. „Fühlt sich doch gut an.“ Verzückt schloss sie die Augen. „Ich hab’s gern, wenn’s ein bisschen prickelt und ich könnte wetten, dass er meine Trefferquote für Zukunftsvorhersagen verdoppelt.“

Roope öffnete ihre Hand und ließ kleine Steine hineinfallen. „Versuchs mit denen. Die sind zuverlässiger als deine bunten Bildchen.“

Jade kreischte auf. „Runen? Von dir? Wie alt sind die?“

Steinalt.“ Grinsend ließ er sich von ihr umarmen und küssen.

Ives eröffnete das Buffet, das er unter Fluchen und Schimpfen mit Ethan vorbereitet hatte. Roope erhob als Erster das Glas.

„Auf gesprengte, geklaute und verloren gegangene Ketten! Möge keiner von uns ihre Kälte jemals wieder auf seiner Haut spüren müssen.“

Lucy gab sich und Daniel fünf Minuten. Dann nahm sie ihn zur Seite. „Ich habe dir noch nichts zu Weihnachten geschenkt.“ Weder davon noch von Neujahr hatte sie etwas mitbekommen. Es fühlte sich an, als hätte sie bis zum Ende ihres Lebens genug geschlafen. Daniel tauchte seinen Finger in den Champagner und zog damit sanft ihre Lippen nach.

„So? Und das willst du jetzt nachholen? In all dem Trubel?“

Das Gefühl, das seine Zungenspitze auf ihren Lippen auslöste, ließ sie für einen Moment vergessen, dass sie diesmal die Verführerin war. „Wenn du mich zu Atem kommen lässt, fahr ich dich an einen Ort, an dem wir ungestört sind.“ Mit der einen Hand hielt sie den Autoschlüssel hoch, mit der anderen den von ihrer alten Wohnung. „Da sind noch ein paar Dinge, die ich holen möchte. Außerdem wartet dort dein Geschenk auf dich.“

 

*

 

Während der Fahrt verließ das geheimnisvolle Lächeln nicht ein einziges Mal Lucys verführerischen Mund. Daniel musste sich zusammenreißen, um mit ihr die Treppe nicht nach oben zu rennen, sie aufs Bett zu werfen und all das zu tun, wofür sie seit heute wieder Roopes Genehmigung hatten.

Lucy nahm ihn an die Hand und führte ihn ins Badezimmer. Auf der Spiegelablage stand eine Cremedose. Lucy hielt sie ihm vor die Nase.

„Geh mal wühlen.“ Ihr Lächeln verwandelte sich zu einem unverschämten Grinsen.

Daniel tauchte den Finger in die Creme und fühlte etwas Hartes. Ein Ring. Lucy nahm ihn ihm ab und wischte ihn sauber.

„Der stammt von Callahan. Den war er mir schuldig. Ich scheine auf Nephilim-Schmuck magnetisch zu wirken.“

Der Rubin glänzte mit einer überirdischen Schönheit. Hatte Callahan einen Ring getragen, als er ihn getötet hatte?

Lucy strahlte. „Ich habe ihm den Ring vor deinen Augen vom Finger gezogen und du hast nichts bemerkt.“

„Du warst so gut wie nackt.“

Lucy grinste noch breiter. „Ich weiß. Willst du wissen, wo ich ihn versteckt hatte?“ Sie führte ihn rückwärts aus dem Bad aufs Bett zu. „Du kannst an mir suchen gehen. Kommst du dem Versteck nah, sage ich heiß, entfernst du dich, sage ich kalt.“ Ihre Stimme bebte vor Vorfreude.

Daniel hob sie hoch und legte sie aufs Bett. Den Ring küsste er aus ihrer Hand, um das Versteck zu finden, brauchte er ihn nicht. Mit dem Mund fing er an. Er würde sehr gründlich suchen. Als er ihre Lippen verführte, kam Lucy nicht mehr dazu, kalt zu sagen.