Erstaunlich, wie viel Widerstand dieser dünne Kerl geleistet hatte. Über eine Stunde hatte er sich widersetzt. Dann hatte er Kolja alles ins Gesicht geschrien, was er wissen wollte. Die Kooperation hatte ihm freilich nicht geholfen. Wie hätte er Igor Wolkow am Leben lassen können, nach dem, wie er ihn zugerichtet hatte? Nein, es war gnädig gewesen, ihn von seinen Qualen zu befreien. Gnade walten zu lassen war ein ungewohntes Gefühl. Die Grigorjews waren dafür nicht bekannt.
„Scharr ihn zusammen und entsorge ihn.“
Lew nickte. Es hatte Momente gegeben, in denen Ilja und er diesen kleinen Bastard trotz Klebeband am Stuhl festhalten mussten.
Lucy Sorokin wohnte in London. Baker Street 126, Marylebone. Sie war liiert mit einem Peter Ainsworth, Epigrafiker und Altphilologe an der University of London, arbeitete zwischenzeitlich in einem Antiquitätengeschäft in Clerkenwell, war fünfundzwanzig, skrupellos und hinreißend schön, wovon er sich in vierundzwanzig Stunden selbst überzeugt hatte, und hatte ihre kriminelle Karriere als Kind mit Taschendiebstählen begonnen. Igor kannte sie, seit sie zusammen im Kinderheim gewesen waren. Eine Frau ohne Wurzeln mit einer erfrischend unkomplizierten Einstellung zu Recht und Ordnung. Würde dieses leidige Familientreffen nicht anstehen, würde er sich persönlich um die Sache kümmern. Aber es stand an und bis dahin musste er den Ring am Finger tragen. Der älteste Sohn und Nachfolger Ramuell Grigorjews durfte nicht mit nackter Hand in Petersburg erscheinen. Wie ein apokalyptischer Reiter würde sein Vater über ihn herfallen.
Wolkow hatte nichts von einem Ring gewusst. Nur von dem anderen Tand, der bereits bei der Post war. Dass Lucy auch nach seiner Breitling gegriffen hatte, grenzte an Erbärmlichkeit. Wohl noch ein Echo aus ihrer traurigen Kindheit. Wertvolles konnte verzockt werden. Ob sie sich oft bei Älteren hatte freikaufen müssen? Nach diversen Fluchtversuchen aus den Heimen hatte sie das Los der Straßenkinder geteilt. Diese Frau barg ein emotionales und kriminelles Potenzial, das Kolja liebend gern genutzt hätte. Welche Spiele hätte er mit ihr spielen können, bei der Vergangenheit? Die Liste war lang und inspirierend. Dennoch hatte sie es gewagt, den Pulsschlag seiner Existenz zu rauben. Dafür musste sie sterben.
Aber nicht durch seine Hand. Er konnte Russland nicht verlassen. Die Zusammenkunft der Familien fand in fünf Tagen statt. Vorbereitungen mussten getroffen werden. Sein Vater erwartete seine Anwesenheit. Bis dahin musste der Ring wieder an seinem Finger sein.
Es gab viel Seltsames auf der Welt. Kolja selbst gehörte dazu. Waren ihm vorerst die Hände gebunden, konnte er das Problem nur an jemanden weiterleiten, der ebenso seltsam war. Er eilte hoch in sein Apartment.
In blutroten Fluten ertranken Wesen, von deren Existenz nur Wenige wussten. Schwarze Wolken türmten sich über ihnen und der Himmel sah kaltherzig zu, wie die Kinder seiner Kinder in den strafenden Wassern ihr Leben ließen. Kein Bitten um Gnade wurde erhört. Als er das Bild in einer Ausstellung in Heilbronn gesehen hatte, hatte er es kaufen müssen. Mirek Kuzniar hatte die Geschichte der Grigorjews in Acryl gebannt, ohne zu ahnen, dass eines Tages ein Nachkomme der alten Familien es ihm abkaufen würde. Der Preis war lächerlich gewesen angesichts der Dynamik der Farben und der unvergleichlichen Dramatik des Geschehens.
Das Gemälde schwang zur Seite. Der Safe, den es verbarg, war klein. Niemand, der denken konnte, bestahl einen Grigorjew. Die Naivität dieser Lucy Sorokin schrie zum Himmel. Kolja tastete nach dem Ziegenlederbüchlein, das jeden Erstgeborenen der Familie begleitete. Er musste nicht weit vorblättern. Die Initialen M. B. standen auf einer der ersten Seiten zusammen mit den Hinweisen, die nötig waren für eine Kontaktaufnahme. Die anonymen Meister. Wer sie suchte, fand sie. Wer sie fand, nutzte ihre Dienste. Wer ihre Dienste nutzte, wurde ärmer, entledigte sich aber gleichzeitig komplizierter oder dringender Probleme. Heutzutage war es nicht mehr notwendig, lange und beschwerliche Reisen in Kauf zu nehmen. Heute genügte es, wenn man Codeworte auf digitale Reisen schickte. Mahawaj Baraq’el würde es als Ehre empfinden, dem Sprössling einer der alten Familien zu Diensten sein zu dürfen.
*
Daniel tauchte die Arme in Eiswasser und wartete, bis die Kälte sein Herz erreicht hatte. Schneeregen klatschte an die Fensterscheiben und die schweren Tropfen trommelten auf den Zinkblechen.
Er umschloss das Amulett. Er hätte es abnehmen, es von sich werfen können. Und dann? Es gab genug Anwärter unter den Wiedergeborenen, die danach trachteten, in die Bruderschaft aufgenommen zu werden. Ruhm, Geld und das berauschende Wissen, zum ältesten Syndikat der Welt zu gehören, waren ein guter Anreiz, seine Seele zu verkaufen. Und Macht. Dieser Faktor war nicht zu unterschätzen.
Es war Mahawaj persönlich gewesen, der Pilatus die Kreuzigung nahegelegt hatte. Einflussnahme auf das Schicksal der Welt hatte zu keinem Zeitpunkt ohne die anonymen Meister stattgefunden.
Müde Augen sahen ihn aus dem goldumrandeten Spiegel an. Tiefe Schatten umlagerten sie. Eine Nacht, ein Tod. Es war gleich. Daniel schleuderte sich das kalte Wasser ins Gesicht. Die Erinnerungen an all die vergangenen Leben wollten nicht weichen. Es waren zu viele. Sie sprengten seinen Kopf.
Das Display seines Handys leuchtete auf. Es gab einen Job. Turner Street, so schnell es ging. Maurice wollte ihn persönlich einweisen.
Daniel zog den Rollkragenpullover über die nackte Haut. Er kratzte erbärmlich. Ein Büßerhemd, das ihn daran erinnerte, aus Fleisch und Blut zu sein. Stiefel, Mantel, der Rucksack für die Unterlagen. Und der Damaskus-Dolch. Sollte er eines Tages den Mut finden, die Eide, die er der Bruderschaft geschworen hatte, zu brechen, er würde zuerst Mahawaj und dann Maurice töten. Nicht sanft, nicht während der Liebe, sondern mit kaltem Stahl in kalte Herzen. Er würde geduldig warten, bis sie ihm im nächsten Leben wiederbegegneten und seine Tat wiederholen. Immer und immer wieder. Bis in alle Ewigkeit.
Vom Leicester Square bis nach Whitechapel ging es quer durch die Stadt. Hätte er Zeit gehabt, er hätte die Strecke statt mit der U-Bahn zu Fuß auf sich genommen. Mit jedem Schritt hätte er den Frieden des vergangenen Lebens von sich abstreifen können.
Ein eisiger Wind empfing ihn, als er aus der U-Bahn-Station ins Freie trat. Bis zur Durward Street waren es nur ein paar Schritte. Er war lange nicht dort gewesen. Daniel kehrte um, kaufte eine rote Rose an dem Blumenstand der Station und ging den Weg, der ihm stets schwergefallen war.
Das alte Fabrikgebäude dominierte den Straßenzug. Mittlerweile hatte man die Mauer, die sich anschloss, mit einem Stahlzaun erhöht. Dennoch war es derselbe Platz. Ein Mann blätterte in seinem Reiseführer. Seine Söhne sahen gelangweilt die Straße herauf und hinunter.
„Dad, wir sind falsch! Bucks Row, hat der Mann gesagt. Der Ripper hätte in der Bucks Row sein erstes Opfer gekillt.“ Die fleischigen Lippen schoben sich weit über das volle Kinn. „Hey, hier ist es voll öde. Nur Zäune und alte Mietshäuser und diese poplige Gasse.“
Damals hatte sich Daniel zum zweiten Mal verweigert. Es war sein Job gewesen. Alle sieben. Ein anderer war in die Lücke gesprungen. Daniel wusste nicht, welcher der Meister es gewesen war und er wollte es auch nicht wissen. Nach dem ersten grausigen Mord hatte er Mahawaj in unendlich vielen Briefen angefleht, den Job auf seine Weise beenden zu dürfen. Alle Ersuche wurden zurückgewiesen. Der Klient sei entzückt über die strikte Umsetzung seiner Anweisung und würde jegliche Zusammenarbeit mit einem anderen Meister ablehnen. Seit dem war Daniel untergetaucht. Jetzt hatten sie ihn wieder am Haken. Er würde keinen Job mehr ablehnen, die Konsequenzen waren für das Opfer zu qualvoll.
„Junge, trittst du bitte zur Seite?“
Der Knabe starrte ihn an, als ob Daniel ein Geist wäre, ging jedoch zögernd einen Schritt zurück.
„Hier steht es.“ Der voluminöse Bauch des Vaters streifte fast das Eisentor.
Damals war es aus Holz gewesen. Es hatte sich für Mary Ann Nichols nicht geöffnet, um sie zu schützen.
„1892 wurde die Bucks Row in Durward Street umbenannt.“ Seine kleinen Augen strahlten vor Glück. „Am 31. August 1888 killte Jack the Ripper sein erstes Opfer.“ Der Mann schüttelte sich und beobachtete mit Genugtuung das Größerwerden der Kinderaugen. „Insgesamt produzierte er fünf Leichen. Alle grässlich verstümmelt.“
„Es waren sieben.“
Der Mann zuckte zusammen, als er Daniel plötzlich neben seinen Söhnen stehen sah. „Wie auch immer. Jedenfalls waren es nur Huren. Allesamt.“
Ein unsicheres Lächeln huschte über das feiste Gesicht. Daniel wollte den Unterkiefer dieses Mannes vor den Augen seiner Söhne zertrümmern.
„Was sind Huren, Dad?“ Der kleinere der Jungen sah etwas blass zu seinem Vater auf. Der wechselte die Farbe.
Daniel schob den Mann beiseite und legte die Rose vorsichtig in den Mörtelstaub, der aus den Mauerritzen gebrochen war.
„Dad, was ist das für ein Kerl? Warum legt der eine Blume dahin?“ Wieder war es der kleinere von beiden, der gefragt hatte. „Und warum ist der schwarz angezogen? Und warum hat er …“
Das scharfe Zischen seines Vaters unterbrach ihn. Daniel blieb hocken, als er nach den klammen Fingern des Knaben griff.
„Gefällt dir London?“
Der Junge nickte brav.
„Warst du schon im Tower?“
Nicken mit strahlenden Augen.
„Ich bin einer, der sich an die Schreie der französischen Gefangenen noch erinnern kann, weil er selbst es war, der dort in rostigen Ketten mit ansehen musste, wie ihm das faulende Fleisch von den Knochen fiel.“
Der Kinderblick wurde weit vor Schreck.
„Lächerlich.“ Hektisch blätterte der Mann im Reiseführer. „Welche Franzosen? Es gibt dort schon lange keine Gefangenen mehr.“ Mit zusammengekniffenen Augen sah er Daniel vorwurfsvoll an. „Sie sind viel zu jung.“
Er war auch in diesem Leben zu jung gewesen, das sich schleichend und qualvoll von ihm verabschiedet hatte.
„Sie stutzen den Raben dort die Flügel, damit sie nicht fortfliegen können.“ Naseweis trat der ältere Bruder vor seinen Vater. „Die Raben bringen der Festung Glück.“
„So, tun sie das?“ Das Altkluge verschwand schlagartig aus der Miene, als sich Daniel aufrichtete und dicht vor den Jungen trat. „Damals musste man die Flügel nicht stutzen. Die Vögel blieben freiwillig dort. Weißt du, warum?“
Paralysiertes Kopfschütteln antwortete ihm gepaart mit der Sensationsgier eines naiven Gemüts. „Weil es dort, am Ort der Qual und der Verdammnis, genug für sie zu fressen gab. Augäpfel bleiben lange frisch. Auch wenn der restliche Körper bereits zu stinken anfängt.“
Die Gesichtsfarbe des Jungen wechselte ins Grünliche.
„Hören Sie auf, meine Kinder zu ängstigen.“ Der dicke Mann brachte es trotz entschiedener Worte nicht über sich, sich zwischen seinen Sohn und Daniel zu stellen.
„Es ist das Vorrecht der Wahrheit, zu ängstigen.“ Daniel drehte sich um und ging. Das ängstliche Gemurmel der Drei wurde leiser, als er auf die Brady Street abbog. Wenn er sich konzentrierte, konnte er das Blut und den Eiter riechen. Und den Verwesungsgeruch. Noch jetzt wurde ihm schlecht dabei. Er hatte seinen Geist unzähligen Raben aufgezwungen. Keiner war mit ihm davongeflogen. Stattdessen war er Zeuge geworden, wie er sich selbst ins Fleisch gehackt hatte. Als fremde Schreie sich in seiner Erinnerung mit seinen eigenen mischten, hielt er sich die Ohren zu. Es half nicht. Wie sollte es auch?
„Es ist vorbei!“ Er brüllte es aus sich heraus. Was starrte ihn ein Mann mit einem Aktenkoffer an? Er hörte nicht, was Daniel hörte. Es musste ein Segen sein, vergessen zu können.
Bis er vor der Filiale der Bruderschaft stand, hatte er sich so weit im Griff, dass niemand ihm die Gräuel ansah, die sein Inneres heimsuchten.
Von außen glich das Haus einer Vorzeigetaverne aus einem Bilderbuch-London. Bei seinem ersten Besuch hatte Daniel Whitechapel als Brutstätte für Armut und zugewanderte Kriminalität erlebt. Auf den Marktplätzen Schlamm bis zu den Waden, Hurerei in stinkenden Hinterhöfen, der Gestank von Vieh und Mensch, die starrten vor Dreck. Und Kinder mit Hungerbäuchen, die die dürren Arme bis zur Achsel in Abfallhaufen versenkten, um zwischen gärendem Saft, Kot und Fäulnis nach Nahrung zu suchen. Die Zeiten hatten sich geändert. Er nicht.
Das Eckhaus verbarg sich hinter dem Hospital, als ob es sich so vor den Strömen der Neugierigen schützen konnte. Bevor er den Messingring des Löwenkopfes berühren konnte, öffnete sich die Tür.
„Mr. Levant? Sie werden bereits erwartet.“
Die oberflächliche Höflichkeit verflog aus den himmelblauen Augen des Teenagers, als Daniel ihm seinen Mantel reichte.
„Nouel?“ Etwas in dem Blick des Jungen kam Daniel bekannt vor.
„Das war vor vielen Leben. Heute heiße ich Daniel. Woher kennst du mich?“
„Du bist es?“ Ein warmes Lächeln breitete sich auf dem hübschen Gesicht aus. „Dann kann ich dir danken. Nach so langer Zeit.“ Er legte den Mantel beiseite und nahm Daniels Hände in seine. „Als wir uns das letzte Mal sahen, ragte ein Speer aus meinem Rücken. Erinnerst du dich? Du hast mich vom Schlachtfeld getragen und die Totenwache übernommen.“
Es gab zu viele Totenwachen in Daniels Leben. Doch der Junge kam ihm immer vertrauter vor.
„Die Schlacht bei Auberoche. Du hattest einen Bart, der dir bei Gegenwind die Sicht nahm und dir fehlte ein Ohr. Du hast Witze darüber gemacht. Ich habe gelacht, obwohl es schmerzte.“
Die Gascogne. Es war eine der ersten Schlachten des Hundertjährigen Krieges gewesen. Als der Rückzug befohlen wurde, war Daniel über ein wimmerndes Häuflein Elend gestolpert.
„Pépin?“
Der Junge nickte glücklich.
„Du bist in meinen Armen gestorben. Du brauchst mir nicht zu danken.“ Nur für winzige Augenblicke hatte die Angst vor dem Tod die verzerrte Miene des Kindes verlassen. Er hatte dem Knappen aus seinen Leben erzählt, um ihm den Schmerz erträglicher zu machen. Daniel erinnerte sich an schwarze Haare, viele Pickel, ein bartloses Kinn und eine ständig zitternde Unterlippe.
„Der Tod ist wie ein tiefer, erholsamer Schlaf. Du hattest recht.“ Verlegen strich der Junge eine aschblonde Strähne hinters rot gewordene Ohr. „Dieses Mal heiße ich Ives. Für die anonymen Meister arbeite ich seit zwei Leben.“
„Und hast es nur bis zum Diener gebracht?“
Ives senkte den Blick. Er hatte ihn gekränkt. Das hatte Daniel nicht gewollt. Er fasste Ives am Kinn und drehte ihn zum Licht. „Wenigstens hast du in diesem Leben einen Grund, dich zu rasieren oder stammt der Schatten noch vom Marmeladenbrötchen?“
„Vermutlich. Ich bin in keinem meiner Leben alt geworden.“ Er nickte die Treppe hoch und ließ Daniel den Vortritt. „Ich bin ein Trottel. Vertraue den falschen Leuten, suche mein Glück an falschen Orten.“
„Wenn du für Maurice und die Bruderschaft arbeitest, wird sich dein Blatt nicht wenden. Du solltest gehen.“
Ives lachte. „Auch du bist hier, oder nicht?“
„Ich bin ein Meister.“
Der Trotz stand Ives gut. Ließ ihn männlicher aussehen. Hätte er diesmal mehr Zeit, würde er es in der Bruderschaft zu etwas bringen können.
„Geh lieber rein. Die warten schon. Gegen fünf landet eine Maschine aus Moskau. Du sollst eine Frau beschatten.“ Grinsend drückte er die Klinke. „Um sie dann zu töten. Viel Spaß dabei.“
„Du spionierst deinen Meister aus?“
Ives zuckte die Schulter. „Dich würde ich nicht ausspionieren.“ Das Grinsen verschwand, als er die Tür öffnete und Daniel mit höflich gedämpfter Stimme vorstellte.
„Daniel.“ Keph stand auf und kam ihm entgegen.
Der zierliche Mann am Schreibtisch musste Maurice sein. Daniel erkannte ihn nur an dem fanatischen Blick, der von einem Haarschopf eingerahmt wurde, der wie flüssige Schokolade aussah. Der Eindruck täuschte. Maurice war weder süß noch bekömmlich.
„Du hast deine Namen oft geändert. Doch Daniel Levant gefällt mir, du solltest ihn für die nächsten Leben nach deiner Bewusstwerdung wieder wählen. Das würde uns eine Menge Zeit und Arbeit ersparen, die wir sonst in deine Suche investieren müssten.“
Lässig wies er zu dem freien Platz neben Keph. Daniel blieb stehen.
„Wie du willst. Du hast ohnehin wenig Zeit.“ Maurice reichte ihm eine Akte. „Der Klient ist ein Russe. Er hat den Vertrag mit der Bruderschaft vor einer Stunde in Moskau unterschrieben. Überbringer und Zeuge war Meister Orlow. Das Ziel ist eine Engländerin russischer Herkunft. Sie hat mit dem Klienten geschlafen und ihn dann bestohlen. Er will ihren Tod und das Diebesgut um Mitternacht zur Wintersonnenwende.“
Lucinde Sorokin. Die Vergrößerung eines Reisepassfotos zeigte ein schönes Frauengesicht mit einer verspielten Hochsteckfrisur. Der eine Mundwinkel lag höher als der andere. Hatte das spöttische Lächeln dem Fotografen oder ihren Gedanken gegolten, die ihr in diesem Augenblick durch den Kopf gegangen waren? Laut Akte war sie fünfundzwanzig. Etwas in ihrem Gesicht ließ sie jünger erscheinen, etwas im Blick ihrer grünen Augen älter. Dieser Frau wären die meisten Männer erlegen. Es war schade um sie. Der Klient sollte ihr den Diebstahl verzeihen, statt sie töten zu lassen.
„Der Russe ist ein Klient der Klasse A. Baraq’el kennt einige seiner Vorfahren persönlich. Angeblich reicht der Stammbaum zurück bis ins babylonische Reich.“
„Wiedergeborene?“
Maurice schüttelte den Kopf. Für einen Wimpernschlag tauchte eine Schwärze in seinem Blick auf, die Daniel vertraut war.
„Genaueres erfahren wir erst, wenn du den Vertrag unterschrieben hast. Die Regeln haben sich nicht geändert, Levant.“
Er reichte Daniel den Stapel Papiere. Relevant war für ihn nur die erste Seite. Name des Ziels, Zeitpunkt des Todes. Bis auf die Ergänzung mit der Wiederbeschaffung eines Ringes handelte es sich um einen Standardvertrag.
Daniel hielt Keph die Hand hin. Keph entnahm einem Samtetui ein Silbermesserchen und schnitt in Daniels Daumen. Dann reichte er ihm eine Feder. Daniel tauchte den Kiel in sein hervorquellendes Blut und unterschrieb. Keph blies silbrigen Sand über die feuchten Buchstaben, der das überschüssige Blut aufsog.
„Du hast noch fünfzig Minuten, bis der Flieger in Heathrow ankommt. Studiere die Informationen unterwegs. Und ehe ich es vergesse …“ Maurice klappte einen schwarzen Koffer auf. „Peilsender, Earpiece, zwei Pick-Sets, Knopflochkameras und jede Menge Wanzen.“
„Was ist das denn?“
„Das Überwachungsequipment, mit dem du arbeiten wirst. Willkommen in der Gegenwart. Türschlösser knackt man nicht mehr mit einem selbst gebauten Dietrich.“ Maurice klappte ein Lederetui auf. „Picks, Spanner und Halter. Und bei Sicherheitsschlössern nimmst du den.“ Er hielt etwas hoch, das wie ein Akkuschrauber aussah. „In der Observierungsphase trägst du das Earpiece.“ Er tauschte den Minischrauber mit einem Funksender. „Es ist unauffälliger als ein Hörgerät. Trau dich nicht, es abzulegen.“
Daniel schnippte das Ding aus Maurice’ Hand. „Sei nicht naiv. Ich habe mich während der Arbeit nie bespitzeln lassen.“
„Die Regeln sagen, dass du das hier zu benutzen hast. Wir sind verpflichtet, auf Anfrage dem Klienten ein lückenloses Überwachungsprotokoll vorzulegen.“ Maurice presste die Worte zwischen seinen Zähnen hervor. „Und es wird Zeit, dass du dich an die Regeln der Bruderschaft hältst.“
Keph nickte Daniel unauffällig zu. Gut, dann würde er diesen Elektroschrot mitnehmen. Draußen warteten an jeder Ecke Mülleimer auf ihn.
Maurice schob die Hände in die Taschen und ein spöttisches Grinsen ließ sein Kinn noch länger werden. „Ist es nicht schön, wieder im Schoß der Familie zu sein? Freut dich die Aussicht nicht, wieder deinem Handwerk nachzugehen?“
Etwas krümmte sich in Daniels Magen zusammen, das Maurice ins Gesicht springen wollte. Keph hob beschwichtigend die Hand, doch Maurice übersah diese gut gemeinte Geste.
„Wir sollten uns für das, was wir sind, nicht schämen.“ Maurice sah hinter sich. An der Wand über seinem Schreibtisch kreuzten sich zwei Sarazenenschwerter. „Ich liebe meinen Beruf über alles. Solltest du moralische Bedenken hegen, sag mir Bescheid. Die Frau ist hübsch. Es wird mir eine Freude sein, ihr die diebischen Hände zu entfernen, bevor ich ihr verlogenes Herz herausschneiden werde.“
Die Faust ballte sich von selbst. Ob Maurice mit ausgerenktem Kiefer noch grinsen konnte?
Keph hielt Daniels Arm fest.
„Die Frau ist mein Job.“ Er würde sie nicht diesen Schwertern überlassen.
„Für den du fünf Tage Zeit hast. Das ist üppig bemessen und sollte selbst dir reichen.“ Wieder verzerrte das hämische Grinsen Maurice’ Gesicht. „Ich hörte, du seist ein Meister nicht nur im Töten, sondern auch im Lieben.“ Maurice kam ihm zu nah. „Vernaschst du jedes Opfer?“ Sein anzügliches Grinsen gehörte ihm aus dem Gesicht geschnitten. „Wahrlich, wenn ich dich so ansehe, muss ich die Ziele um ihr Glück beneiden, ein Rendezvous mit dir zu haben.“
„Es wird mir eines Tages eine außerordentliche Freude sein, dich meine Künste ertragen zu lassen. Doch niemand wird dich dann darum beneiden. Glaub mir.“ Keph versuchte, ihn festzuhalten. Wozu? Alles war getan, alles war gesagt. Seine Zeit würde kommen. „Lass mich los, Kepheqiah.“
Keph schüttelte unglücklich den Kopf. Tat es ihm leid, ihn ausfindig gemacht zu haben? Seine Hände sanken und Daniel verließ schweigend den Raum. Hinter der Tür wartete Ives auf ihn.
„Solltest du Verwendung für mich haben, lass es mich wissen. Mich binden nur Geld und Feigheit an Maurice. Weiter nichts.“
Er knöpfte sein Hemd auf und zeigte seine Brust. Kein Amulett beschwerte seine Atemzüge. Freiheit musste etwas Wunderbares sein.
*
Sie waren eben an den Gepäckbändern angekommen, als Peter schon sein Handy zückte.
„Mutter? Ja, wir sind gerade gelandet. Der Flug war furchtbar.“ Der erste Koffer erschien auf dem Rollband. Peter fuchtelte hektisch in die Richtung eines Trolleys. „Ja, die Konferenz war ein Erfolg. Wie immer. Doch Moskau ist erbärmlich. Ja, wird immer dreckiger.“
Woher wollte Peter das wissen? Lucy hatte nachts auf den Boulevards getanzt und roten Krimsekt aus überschäumenden Flaschen getrunken. Moskau war eine Perle, deren dunkle Einschlüsse Lucy bewusst übersehen hatte. Peter war aus dem Seminar nicht herausgekommen. Er wusste von den Städten, die er bereiste, nur das, was im Reiseführer stand.
Er klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Kinn und zog sie am Ärmel, als sein überdimensionierter Lederkoffer aus den Gummistreifen des Transportbandes hervorlugte. Mit spitzem Finger durchstocherte er die Luft.
„Ich weiß nicht so recht, Mutter. Meine Nase ist verstopft und mein Hals kratzt. Sicher habe ich mir während des Fluges etwas eingefangen. Verdreckte Klimaanlagen. Ja, ganz sicher.“
Lucy setzte sich langsam in Bewegung. Bis sie den Trolley geholt hatte, würde sein Koffer schon auf der zweiten Runde sein. Schon lief Peter panisch hinter seinem Gepäck her und zerrte es einhändig kurz vorm Verschwinden vom Band. Mit der Faust in der Seite suchte er über die Köpfe der Wartenden ihren Blick. Sie wich ihm aus. Wenn er mit kompletten Bibliotheken reisen musste, sollte er sich selbst kümmern. Peter funkelte noch zornig, als sie endlich neben ihm stand und er hielt es durch, bis sie die Eingangshalle erreicht hatten.
„Immer musst du trödeln, ständig kommst du zu spät.“ Missmutig sah er auf seine Armbanduhr. „Wenn ich so mit meiner Zeit umgehen würde, hätte ich es nie zu etwas gebracht.“
Ein Mann in schwarzem Ledermantel schlenderte dicht an ihnen vorbei. Sein Blick streifte Peter, dann sah er zu Lucy. Was für unglaubliche Augen. Dunkel, verlockend, erschütternd erst. Etwas zitterte in ihr. Als er sie anlächelte, entspannte sie sich wieder.
Er durchquerte die Halle, als würde es die Scharen gestresster Menschen um ihn herum nicht geben. Die Frauen sahen ihm irritiert nach. Einzelne Männer auch. Ein kleines Kind im Buggy reckte die Ärmchen nach ihm. Im Vorbeigehen streiften seine Finger die dicken Händchen. Die Mutter schob es schnell weiter. Lucy verstand das Kind. Diese schlanken schönen Hände hätte sie auch gern berührt.
„Hast du mir zugehört?“ Peters übernächtigte Augen starrten sie empört an. „Du kannst nicht immer so tun, als ob alle Zeit der Welt dir gehören würde. Mutter wartet.“
Der Mann war verschwunden. Lucy sah sich um. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Peter lamentierte über britische Tugenden und dem Schlendrian russischer Flugbegleiterinnen, während er sie weiter durch die Menge Richtung Ausgang schob. Als sie an einem Buchladen vorbeikamen, blieb er stehen.
„Ob ich Mutter ein paar Arztromane kaufe?“
Seriös blickende Herren in weißen Kitteln mit Stethoskop um den Hals verbreiteten eine Aura der Ehrenhaftigkeit auf den Wühltischen. Peters Eile war verflogen. Lucy unterdrückte ein Gähnen. Hinter der Kasse war ein Ständer mit internationaler Presse. Ob ein vergifteter Kunsthändler in Moskau wenigstens eine Randnotiz wert war?
„Warte hier, Peter. Ich will mir nur eine Zeitschrift kaufen.“ Sie strich über seine weiche Wange, die sich unter ihren Fingern nicht entschließen konnte, fest zu werden.
„Die Prawda bitte.“ Lucy überflog die Schlagzeilen.
„Ihr Freund irrt.“
Die Stimme streichelte über ihren Rücken. Neben ihr stand der Mann mit dem ernsten Blick. Das scharf geschnittene Gesicht umrahmten schwarze Haare und einzelne Strähnen reichten bis zu seinem Mund. Vorhin war ihr nicht aufgefallen, wie sinnlich diese Lippen waren, wenn sie, so wie jetzt, in leichtem Spott lächelten.
„Die Zeit dieser Welt steht Ihnen zu. Jede Sekunde.“
Der grob gestrickte Pullover, die abgetragene Jeans, der Mantel. Alles an ihm war dunkel. Nur in den Augen glomm ein Licht. Es war warm wie der erste Sonnenstrahl nach einem Gewitter. Lucys Mund wurde trocken. Warum hatte sie plötzlich solche Angst? Der Mann trat einen Schritt näher. Er sah über die Köpfe der Menschen hinweg zu Peter, der einen Fächer Heftromane mit konzentriertem Blick begutachtete.
„Er sollte Sie lieben.“ Das Bedauern verlieh seiner Stimme eine dunkle, weiche Note. „Jeden Moment seines Daseins sollte er Ihnen zu Füßen legen.“
Die Bücherstapel um sie herum begannen zu schwanken. Oder war sie es? Der Mann neigte den Kopf und beobachtete sie. Und wenn seine Augen noch so wundervoll waren, und diese Strähnen, die sie gern zurückgestreichelt hätte, und dieser Mund, der eine unheimliche Anziehungskraft auf ihre Lippen ausübte, er hatte kein Recht, sie derart aus der Fassung zu bringen.
„Woher wollen Sie wissen, was mein Freund mit mir zu tun und zu lassen hat? Sie kennen mich nicht.“
Sein Schmunzeln verschlug ihr den Atem. „Möchten Sie das ändern?“
Wie er sie ansah. Dieser Blick, der in ihre Seele glitt und nicht mehr hinaus wollte. Als ob er Widerhaken hätte. Lucy zwang sich zu einem hochnäsigen Augenaufschlag.
„Ich wüsste nicht, warum.“
Der Fremde zog eine schwarz glänzende Braue hoch. Ein dunkler Halbmond. Lucy träumte sich in eine verwunschene Nacht, in der sie auf feuchtem Sand lag und warme Meerwasserwellen über sie hinwegrollten. Als eine besonders mächtige Welle den Fremden nackt auf sie spülte, brach sie den Tagtraum ab. Es war zu spät. Ihre Wangen glühten bereits.
Er zahlte eine Packung Benson & Hedges und steckte sie in die Manteltasche. Ein Raucher. Wie schade. Doch es gab mehr Stellen als nur den Mund, die sie an seinem Körper gern geküsst hätte.
„Was denken Sie im Moment über mich?“ Ein amüsiertes Lächeln zuckte über seinen Mund und machte ihn noch verführerischer.
Lucy biss sich auf die Lippen. Unmöglich würde sie auch nur einen Bruchteil dessen sagen können, was ihr Hirn flutete. „Ich denke, dass Sie beim Küssen nach altem Aschenbecher schmecken.“ Dumm! Dämlich! Sie quälte sich ein überhebliches Lächeln ab, während sie sich geistig ohrfeigte.
Diesmal zuckte die andere Braue nach oben. „Sie stellen sich vor, mich zu küssen?“
Lucy schloss die Augen. Diese Stimme war nicht auszuhalten, ebenso wenig wie dieser Blick. Beides schlich sich in sie hinein und weckte Sehnsüchte, die sich mitten in der Empfangshalle eines Flughafens noch weniger aushalten ließen.
„Die Augen zu schließen, hindert die Realität nur in den seltensten Fällen daran, weiterhin stattzufinden.“
Er wisperte direkt in ihr Ohr. Nur mit Mühe unterdrückte sie ein Seufzen. Oh dieses fantastische, verführerische Timbre. Schwer und samtig und im Hintergrund klang es nach einer Melancholie, die Lucy nicht empfinden, doch immer wieder hören wollte.
Ein dumpfer Druck breitete sich in ihrem Kopf aus. Er sammelte sich in den Schläfen und wurde zu einem Stechen. Die innere Unruhe sprang sie an, wie im Flugzeug. Sie wollte nach der Zeitung greifen, aber ihre Hände zitterten zu stark. Sie fiel hinunter, Lucy bückte sich, doch der Fremde war schneller. Nur für einen Moment streifen ihre Finger über seine Hand. Es war wie ein Schlag. Etwas Heißes, Brennendes verließ sie und strömte in den Mann vor ihr.
Sein Blick weitete sich, er nahm ihre Hand. Lucy wollte sie wegziehen. Er sollte sich nicht an ihr verletzen. Doch er führte sie mit eisernem Griff an seine Brust und drückte sie darauf. Unter dem Stoff fühlte sie etwas Hartes, Rundes. Der Mann biss die Zähne zusammen. Er atmete tief, hielt ihre Hand weiter fest. Die Spannung wich. Es tat unendlich gut. Vor Erleichterung traten ihr Tränen in die Augen. Der Mann im Flugzeug war unter diesem, was auch immer es sein mochte, zusammengebrochen. Dieser hier hielt es mit ihr zusammen durch. Er hörte nicht auf, sie anzusehen. Erst nach einer gefühlten Unendlichkeit ließ er sie los.
„Was für ein außergewöhnliches Erlebnis.“
Seine Stimme klang belegt, sonst schien es ihm gut zu gehen. Lucys Handfläche brannte wie beim ersten Mal. Der Kopfschmerz war weg. Ebenso die Nervosität.
Jemand nahm sie am Ellbogen. Peter. Er zog sie ungeduldig mit sich. Der Mann sah ihr nach, auf eine Weise, dass sie sich am liebsten losgerissen und zu ihm zurück gerannt wäre.
„Musst du dich von jedem abgerissenen Kerl in ein Gespräch verwickeln lassen?“ Er sah zurück und schüttelte sich. „Unheimlich, wie der dir hinterherstarrt.“
Der Mann stand vor dem Buchladen und sah ihnen nach. Über die Distanz hinweg fühlte sie seinen Blick auf sich ruhen. Ihr Nacken kribbelte, als sie sich wieder zu Peter umdrehte. Draußen wehte ihr ein nasskalter Wind Schneeregen ins Gesicht. Peter klappte den Mantelkragen hoch und zupfte den Schal über den Mund, als er ein Taxi heranwinkte. Gab es keine Ausrede für sie, umzukehren? Sie könnte ihm danken, dass er ihr geholfen hatte. Wenn sie sich in dieses Taxi setzen würde, würde sie ihn nie wiedersehen.
„Ich bitte vielmals um Verzeihung, aber könnten Sie mir das Taxi überlassen?“
Lucys Herz hopste. Der Wind zerzauste die schwarzen Haare, die dunkler schimmerten als der Lack des Austins.
„Sie schon wieder!“ Empört baute sich Peter vor ihm auf. Peter reichte ihm knapp bis zum Kinn. „Warten Sie gefälligst auf das nächste Taxi.“
„Ich habe eben erfahren, dass meine Schwester einen schweren Autounfall hatte. Ich muss sofort ins Krankenhaus.“ Er sprach zu ihr, als ob Peter nicht existieren würde.
„Natürlich können Sie den Wagen nehmen.“ Peters Hand, die sich bereits um den Türgriff klammerte, pflückte sie wieder ab. „Bitte sehr.“
Doch der Mann stieg nicht ein. Er sah sie an und eine Gänsehaut lief Lucy über den Rücken.
„Genießen Sie Ihre Tage. Tun Sie nur Dinge, die Sie wirklich beglücken.“ Peters entsetztes Schnauben wurde unwichtig, als der Fremde seine Hände an ihre Wangen legte. „Das Leben ist zu kurz, um es mit Nichtigkeiten zu verschwenden.“
Er beugte sich zu ihr hinab. Lucy hielt den Atem an. Sein Blick berührte etwas in ihr, das sich erschrocken zusammenzog und sich trotzdem nach diesen schwarzen Tiefen sehnte. Zögernd streiften seine Lippen ihren Mund. Lucy hielt still, während ihr Herz explodierte. Sie musste die Augen schließen, als sein Kuss drängender wurde. Gefühle in einer nie gekannten Intensität fluteten durch ihren Körper.
„Wir werden uns wiedersehen.“
Sein Daumen streichelte sanft über ihre Lippen. Die zarte Berührung weckte eine Sehnsucht, die schmerzte, als er die Hand sinken ließ. Ohne ein weiteres Wort stieg er ein.
„Was für ein furchtbarer Mensch!“ Peter starrte hinter dem Taxi her. „Wie kann er es wagen, sich vorzudrängeln?“
„Und ich dachte schon, du machst dir Gedanken, weil er mich geküsst hat.“
„Was?“ Konsterniert sah Peter sie an. „Ach so. Ja, das war auch eine Unverschämtheit.“
Mit welcher Selbstverständlichkeit dieser Mann sie berührt hatte. Als würde sie ihm gehören. Sollte sie nicht empört sein oder wütend? Lucy hatte noch nie jemandem gehört. Nicht auf diese Weise. Der Schauder, der ihr über den Rücken jagte, fühlte sich gut an.
„Was hast du?“ Peters Stimme kippte ins Panische. „Hat er dich schon mit etwas infiziert?“ Automatisch rissen seine Finger ein Briefchen mit einem Desinfektions-Erfrischungstuch auf. Peter fuhr damit über seine Nase und seinen Mund, dann rieb er es zwischen den Händen. „In Tibet sind erst wieder Fälle von Lungenpest aufgetreten.“ Er faltete ein akkurat gebügeltes Taschentuch auseinander und schnäuzte sich ausgiebig. Dann sah er kritisch hinein, seufzte und steckte es zurück in die Hosentasche. „Halte die nächsten Tage etwas Abstand zu mir. Solche Typen sind total verkeimt. Wie konntest du nur zulassen, dass er dir nahe kommt?“
„Ich hätte noch viel mehr zugelassen, wenn ich clever genug gewesen wäre, mich zu ihm ins Taxi zu setzen.“
„Wie bitte?“ Er starrte auf ihre Lippen, die nur geflüstert hatten.
„Ach nichts, ich sagte nur, dass man einem Hilfesuchenden die Hilfe nicht verwehren darf. Du solltest dich was schämen, Peter.“
Er zuckte die Schultern und trat zwei Schritte von ihr zurück. „Solche Kerle brauchen keine Hilfe von unsereins, sondern einen Bewährungshelfer oder Drogenberater.“ Er winkte ein heranfahrendes Taxi herbei, hielt ihr die Tür auf und sie stieg schweigend ein. Er setzte sich nach vorn neben den Fahrer.
Sie hatte in nach Pisse stinkenden Ecken geschlafen und Kleinkindern beim Vorbeigehen den angesabberten Keks aus dem Fäustchen gestohlen. Manchmal war ihr von ihrem eigenen Geruch schlecht geworden und zweimal war sie freiwillig ins Heim zurückgekehrt, einfach, um heiß duschen zu können und das Gefühl eines vollen Magens zu haben. Auf dem Smithfield Market kam dann die Rettung. Der Mann sah nett aus. Etwas dandylike, aber sympathisch. Sie hatte sofort erkannt, dass er nachlässigerweise sein Portemonnaie in der Gesäßtasche trug. Als ihre Hand hineinglitt, packte er zu. Lächelnd zog er sie um sich herum. „Hunger?“ Und wie. Er spendierte ihr Tee mit Sandwiches. Nach dem Dritten gab sie unter Magenkrämpfen auf und ließ sich von ihm die Würmer aus der Nase ziehen. Seit diesem Tag lebte sie bis zu ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr sporadisch bei Ethan Scarborough über der Ladengalerie. Ethan hätte ihr Vater sein können. Außerdem hatte er keine Verwendung für Frauen. Egal, ob sie zehn, fünfzehn oder zwanzig waren. Nur, wenn sie ihm bei der Archivarbeit, beim Fälschen seiner Bücher und beim Beschaffen illegaler Ware halfen. Lucy hatte sich schnell unentbehrlich gemacht.
„Setz mich bitte in der Farringdon Road ab. Ich habe Ethan etwas mitgebracht.“ Im Dämmerlicht der Laternen tauchte das Haus mit den weißen Fensterbögen auf. Halbrund schmiegte es sich an den Straßenverlauf. Aus den blank geputzten Schaufenstern strahlte noch Licht.
Peter stieg aus, um ihr die Tür zu öffnen. „Geh sofort zum Arzt, wenn du dich matt fühlen solltest, hörst du?“
Sie wollte ihn umarmen, aber er wich erschrocken zurück. „Die nächsten Tage werde ich viel zu tun haben.“ Seine Hand näherte sich unentschlossen ihrer Wange, tätschelte aber nicht. „Es reicht, wenn wir uns nächste Woche sehen.“
Er stieg wieder ein, winkte und fuhr davon. Lucy schmeckte noch den Kuss des Fremden auf ihren Lippen. Er hatte gesagt, dass sie ihn wiedersehen würde. Ob er Diebinnen mochte? Nein. Nur Ethan mochte Diebe.
Lucy konnte jede Stufe spüren, auf der ihr Gefühl auf dem Weg zum Keller aufschlug. Bevor es unten ankam, brauchte sie was Schönes. Vor ihr leuchtete das Schaufenster von Ethans Laden durch Winterschmuddelwetter. Lucy probierte ein Lächeln. Es fühlte sich steif auf ihren Wangen an, aber es würde gehen. Sie wich den schmutzigen Pfützen aus, und als sich die Ladentür bimmelnd hinter ihr schloss, atmete sie auf.
„Lucy!“ Ethan sah über seinen Zwicker. Es war das erste Geschenk gewesen, das sie für ihn gestohlen hatte.
„Wie war Moskau?“
„Erfolgreich. Die Tage kommt interessante Post für dich.“ Sie fischte den Ring hervor und riss das Lederband vom Hals. „Hier. Nicht schlecht, oder?“
Ethan stutzte, drehte den Ring im Licht hin und her. „Keilschrift?“ Über die verschmierten Gläser musterten sie strenge Augen. „Wo hast du das her?“
„Du fragst nie. Warum jetzt?“ Konnte er sich nicht einfach freuen? Sie hätte das Ding auch behalten können.
„Das hier ist babylonisch oder phönizisch oder was weiß ich was. Jedenfalls steinalt. Kommt das Ding hier nicht aus dem Kaugummiautomaten, könntest du echte Probleme kriegen.“ Niemand konnte diesem Blick standhalten, der sich ernst und besorgt in ihr diebisches Herz schlich.
„Es kommt von dem Mittelfinger eines Russen, auf dem ich kurzzeitig mal gelegen habe.“
Ethan stützte sich auf dem Tresen ab. „Kurzzeitig?“
„Dafür öfter.“ Plötzlich bekam diese leidenschaftliche Nacht mit Kolja einen unguten Beigeschmack. Es war aufregend gewesen, befremdlich und manchmal unheimlich. Er hatte ihr nicht gestattet, sich fallen zu lassen. Wie ein Tanz auf dem Vulkan, bei dem man keine Sekunde unachtsam sein durfte. Wie würde der Mann mit den schwarzen Haaren lieben? So, wie er küsste? Er würde ihre bedingungslose Kapitulation fordern. Und sie würde es geschehen lassen. Die Vorstellung trieb ihr Hitze in den Körper. Sie hatte nie kapituliert. In keiner Situation ihres Lebens. Unter ihm musste es eine Offenbarung sein.
„Welcher Russe? Die Mafia?“
Nur mit Mühe verdrängte Lucy die Erinnerung an das Gefühl, das sein Kuss ausgelöst hatte. „Nein, ein altertumsbegeisterter Idiot wie du. Ein Buch von Fedorov und eine Ikone von Wassilijew hat er auch gehabt. Und eine der ersten Ausgaben der Komödie.“
„Dante?“ Ethan zuckte die Brauen. Für einen Moment blitzte Vorfreude in seinem Blick. Gier wäre ein zu hartes Wort für einen Mann wie ihn gewesen. „Schläfst du heute Nacht hier? Dann muss ich das Gästebett noch beziehen.“
„Kann ich selbst. Ich bin schon groß.“
„Bist du nicht. Du bildest dir das nur ein.“ Gedankenversunken betrachtete er den Ring. „Ein Prachtstück, wenn er echt sein sollte.“ Er kramte seine Digitalkamera aus dem hintersten Winkel einer Schublade und drückte Lucy den Ring in die Hand. „Halte ihn so, dass ich die Zeichen draufkriege.“ Er fotografierte den Schmuck aus allen Blickwinkeln. „Wer weiß, welcher Herrscher ihn getragen hat?“
„Sicher ein Tyrann und Menschenschlächter. Sind das nicht alle Herrscher gewesen?“
Ethan grinste sie an. „Die meisten. Aber je schlechter ihr Ruf, desto wertvoller ihr Schmuck.“
Dann gehörte dieser Ring Nero oder Caligula. Noch nicht einmal in Ethans ruhiger Hand wirkte das Schmuckstück unschuldig. Es lauerte. Auf was? Sie war überanstrengt, sah Gespenster.
„Am Telefon hast du etwas von einem Job erzählt. Was ist das für einer?“ Nach dem Coup war vor dem Coup und anspruchsvolle Arbeit würde sie von unsinnigen Sehnsüchten ablenken.
„Richtig!“ Ethan klatschte motiviert in die Hände. „Sagt dir der Name Oliver Everard noch was? Du hast ihm als Zwölfjährige sein Intimpiercing geklaut.“
Ein freundlicher Mann mit schiefem Grinsen und dünnen Haaren fiel ihr ein.
„Er schwört heute noch, dass dein Fingerspitzengefühl unübertrefflich war.“
„Danke für das Lob, aber du hattest ihn abgelenkt, wenn ich mich richtig erinnere.“ Den Hausschuh hatte Ethan nach ihr geschmissen, weil sie ihn beim Liebesspiel gestört hatte. Der Silberring mit der Perle steckte jetzt als Trophäe in Bedwyrs Teddy-Ohr.
Ethan wechselte die Farbe. „Wie dem auch sei, er hat sein Stadthaus einem flüchtigen Bekannten überlassen. Einem Deutschen, der damit prahlt, sein Geld in Reisetaschen mit sich zu schleppen. Oliver spricht von einer halben Million Pfund. Wenn du schwörst, im Haus nichts anzurühren, ist das Geld unser. Du musst nur zugreifen.“ Ein Sicherheitsschlüssel blinkte in Ethans Hand. „Ich habe Oliver gesagt, du hättest Interesse. Er ist extra wegen seines Alibis in Urlaub gefahren.“
„Wie hoch ist Olivers Anteil?“ Umsonst gab es keine guten Tipps und erst recht keine hervorragenden wie diesen hier.
„Mach dir darüber keine Gedanken. Oliver und ich regeln das untereinander.“ Ein sattes Katergrinsen kam und ging. „Eventuell könntest du einem Butler oder einem Mann der Security über den Weg laufen. Leg dir eine gute Ausrede zurecht.“
Oben im Schrank hing noch der zu enge Krankenschwesterkittel. Er war lange nicht zum Einsatz gekommen. Riss sie die roten Kreuze ab, würde er auch als Kluft einer Masseurin herhalten. Ambulante physiotherapeutische Anwendungen war eine ihrer Spezialitäten.
*
Der Mann mit dem schmalen Gesicht und den grau melierten Haaren breitete einen Plan vor Lucinde Sorokin aus. Sie beugte sich darüber und ihre Wangen glühten vor Eifer. Der Ring, den sie vom Hals genommen hatte, lag vor ihr auf dem Tisch. Als der Blick des Mannes zum Fenster schweifte, trat Daniel einen Schritt zurück in die Dunkelheit. Er hatte viele dankbare Lippen kosten dürfen, aber Lucindes hatten sich ihm in vollkommener Weise hingegeben. Sollte er den Zweck seines Auftrags verdrängen können, würde es ein Genuss sein, diese Frau an ihre Grenzen und weit darüber hinaus zu führen.
Er rief Keph an. „Sie ist in der Farringdon Road in einem Antiquitätenladen. Der Besitzer scheint sie gut zu kennen. Sollte sie den Ring an ihn verkaufen, wissen wir, wen wir verhören müssen.“
„Das muss warten. Komm ins Büro. Wir haben einen Dreißigminutenjob für dich, den wir dazwischenschieben müssen.“
„Und was ist mit der Sorokin?“
„Ich schicke einen von Rubens Leuten. Eine schlichte Observierung kriegen die hin.“
„Er soll ihr nur nicht nahe kommen.“
Keph schnaubte. „Wird er nicht. Beeil dich.“
„Wollten Sie nicht ihre Schwester im Krankenhaus besuchen?“ Der Taxifahrer lächelte verwirrt, als ihm Daniel die neue Adresse nannte.
„Schwestern, die es nicht gibt, kann man nicht besuchen.“
Diese Weisheit nickte der Fahrer lächelnd ab und hielt kurze Zeit später vor Maurice` Niederlassung.
Das hohe Quietschen verursachte Zahnschmerzen. Es kam aus dem Keller, ebenso wie der prägnante Geruch von Maschinenöl. Maurice war nicht in seinem Büro und an seine Privaträume würde Daniel nicht klopfen. Mit ein wenig Glück erhängte er sich in diesem Moment und Daniel würde sich krank und lahm ärgern, wenn er ihn dabei unterbrach.
„Daniel?“ Kephs volltönende Stimme begleitete ein martialisches Kreischen. „Komm runter. Der neue Eliminator ist da.“
Hatte es einen alten Eliminator gegeben?
„Er läuft noch nicht rund, aber das Wartungs-Team arbeitet daran.“
Die Stahltüren des Aufzugs schoben sich auseinander und mit leisem Summen fuhren sie in das dritte Untergeschoss. In dem weiß gekachelten Labor stand ein überdimensionierter Glasbehälter, dessen Schwenkarm gleichmäßig durch eine trübe Flüssigkeit glitt. Der Ölgeruch mischte sich mit beißendem Schwefelsäuregestank.
„Die Aufhängung ist geschmiert.“ Ein Mann in Blaumann wischte sich die Hände an einem Lappen ab. „Der Lärm müsste jetzt erträglicher werden.“
„Duran Glas.“ Kephs Augen leuchten. „Im Notfall können wir das ganze Ding erhitzen, um den Zersetzungsprozess zu beschleunigen.“
„Was schwimmt da drin herum?“ Daniel trat näher an den Behälter. Die Brocken sahen organisch aus.
„Die Filiale in Dublin hat uns zwei Stiegen abgearbeitete Aufträge zu Testzwecken zur Verfügung gestellt, bis wir selbst Nachschub liefern können. Manche Klienten legen auf die Übergabe der Leichen keinen Wert. Der Eliminator ist für diese Zwecke konstruiert worden.“
„Und ein schlichtes Krematorium hätte es nicht getan?“ Sehr viel ausladender als diese Glaskonstruktion wäre es nicht gewesen.
„Das hätte Ärger mit den städtischen Behörden gegeben. Anträge, Nachweise, die Typen vom Umweltschutz.“ Keph schaltete eine Stufe höher und der Schwenkarm beschleunigte um das Doppelte. Sanfte Schwefelsäure-Wellen platschten an die Glaswände. „Der Säuredampf wird abgezogen und separat entsorgt. Von diesem Vorgang merkt kein Mensch was.“
„Was ist mit dem Job?“
Keph hörte auf, zärtlich die Aufhängung zu tätscheln. „Richtig. Den Vertrag habe ich oben.“
In Kephs Büro lag ein zarter Jasminduft in der Luft.
„Tee?“
Daniel nickte, während seine Füße in bunten Teppichen versanken. „Wer ist es diesmal?“
„Ein Deutscher. Er entstammt einer alten Fürstenfamilie, hat sein Vermögen in den Kasinos dieser Welt durchgebracht und ist dabei, zum Entsetzen seiner traditionsreichen Verwandtschaft ins Drogengeschäft einzusteigen. Nimm Platz.“ Keph wies auf eins der zahlreichen Sitzkissen und reichte ihm eine Tasse Tee. „Unser Klient ist sein Onkel. Er hasst seinen Neffen abgrundtief. Bei den Verhandlungsgesprächen hat er ihn einen verkommenen Bastard genannt, was wahrscheinlich auch zutrifft.“
„Deutscher Adel kann sich einen anonymen Meister leisten? Warum beauftragt der Onkel keinen gewöhnlichen Killer?“
Keph zuckte die Schulter. „Die Familie hat zusammengelegt. Sie fürchtet nichts mehr als die Öffentlichkeit und verlässt sich auf unsere Diskretion. Außerdem hatte sie bereits mit uns zusammengearbeitet, als es im zwölften Jahrhundert Zwistigkeiten um den Kaiserthron gab. Wir waren so frei, diesen Streit zugunsten unseres Klienten zu entscheiden.“
„Gib mir die Akte des Mannes. Ich mache den Job.“
„Sie ist längst in deinem Postfach.“ Das amüsierte Zucken um Kephs Mund entfaltete sich zu einem Grinsen. „Der Zugangscode ist der Name deines letzten Lebens im Dienst der Bruderschaft; Abay Coskun. Alle Telefonnummern, Codes und Adressen, die du benötigst, findest du dort auch.“
Offenbar hatte Kepheqiah nicht einen Moment an seiner Zustimmung gezweifelt.
„Liefertermin für die Leiche ist morgen früh Punkt acht. Du siehst, es eilt. Das Ziel residiert unter dem schlichten Pseudonym Roger Hayman im Stadthaus eines Freundes. Es dürfte keine Probleme geben. Ein wenig Security, eine Handvoll Hauspersonal, das war’s. Wenn du den Auftrag ausgeführt hast, steht dir ein Cleaner-Team zur Verfügung. Du brauchst dir deine Hände nicht schmutzig zu machen.“
„Ein Anwärter auf den Eliminator?“
Keph lächelte.
„Gib mir ein knappes psychologisches Profil. Ich will wissen, womit ich bei ihm unter Stress rechnen muss.“ Auf den Abzug einer Waffe konnte jeder drücken.
„Laut Aussage seines Onkels war er als Kind zart und anfällig. Vor Krankheit und Schmerz fürchtet er sich immer noch. Auch vor dem Tod, doch das wirst du ihm sicher ausreden können.“
Als Daniel nicht darauf reagierte, zuckte Keph die Schultern. „Er ist obrigkeitshörig, was wohl der Grund für die gemeinsame Sache mit der Drogenmafia ist. Er liefert aus seinen Kreisen potenzielle Kunden und darf sich dafür in den Schatten eines Patrones ducken.“
„Hat er eine Frau, Kinder, einen Liebespartner?“
„Er hält sich einen Leguan, den er Florian nennt und der gemeinsam mit ihm die Mahlzeiten einnehmen darf. In seiner Studentenzeit war er in einer schlagenden Verbindung, die sich explizit gegen Homosexualität, Anglizismen in der deutschen Sprache und biologische Landwirtschaft ausgesprochen hat. Eine Freundin oder Frau hat es in seinem Leben nie gegeben.“
„Hast du seine Akte im Kopf?“
„Das meiste davon.“
Ein Exzentriker. Daniel würde leichtes Spiel haben.
„Hier drin ruht eine Möglichkeit, schmerzfrei und verhältnismäßig schnell aus dem Leben zu scheiden.“ Keph hielt ihm ein kleines Kästchen hin. „Die Kapseln müssen aufgebissen werden. Dann geht es am schnellsten. Schlucken funktioniert auch, dauert aber länger, das Ziel hat Zeit, in Panik zu verfallen, übergibt sich, exkrementiert auf den Teppich, Rubens Team muss das Zimmer reinigen und, und, und.“
Daniel hatte verstanden. Die Kapseln waren praktisch, vor allem, wenn das Ziel ein Mann und nur wenig Zeit zum Ausführen des Auftrags war.
„Leg dich noch ein paar Stunden aufs Ohr.“ Das mitschwingende Mitleid passte nicht zu Kephs Effizienz. „Du siehst völlig übermüdet aus.“
*
Lucy überredete ihre Augen, sich zu öffnen. Sie wollten nicht. Unter der Decke war es warm und gemütlich und im Zimmer war es kalt.
„Lucy?“ Ethan rief die Stiege hoch. „Komm runter, ich muss dir was zeigen.“
„Frühstück?“
„Erst nach getaner Arbeit.“ Wenigstens klang er nach Bedauern und schlechtem Gewissen.
„Gleich.“ Vorher musste sie wissen, was die Liga während ihrer Abwesenheit für Ränge vergeben hatte. Außerdem war es erst kurz nach sechs. Sie hatte noch Zeit.
Ihr E-Mail-Postfach war voll. Von Igor war nichts dabei. Sonderbar, er schrieb immer nach einem Treffen. Schon wegen der alten Zeiten und diesmal war ihr Wiedersehen außergewöhnlich gut gewesen. Dafür war üppig Protz-Post einiger Liga Mitglieder zu finden. Auf der internen Chartliste junger Londoner Taschendiebe stand Lucy auf Platz acht. Nach ihrem Coup in Moskau würde sich das ändern.
Princess of Dungeon hatte es nur auf vier Brieftaschen gebracht. In fünf Tagen. Lucy zog fünfzig Prozent Übertreibung ehrenhalber ab. Dann blieben zwei. Das war peinlich. Smoothy prahlte mit einer Rolex, einem Zehn-Zoll-Laptop samt Tasche und einem Cockerspaniel. Schon besser. Dann würde er in Zukunft auch Hundefutter klauen müssen. Earl of Humbug drohte, den Vogel abzuschießen. Neben zwei Theaterkarten und einem Satz Qi Gong Kugeln aus Orangenkalzit im Brokatkästchen konnte er den Autoschlüssel eines Jaguars vorweisen. Leider hatte er den passenden Wagen noch nicht ausfindig machen können und überlegte, ob er den Schlüssel im Fundbüro abgeben sollte. Blödsinn! Was man hatte, hatte man. Er würde die Karre schon noch finden.
Lucy sonnte sich in der Aussicht, sie alle zu toppen. Zwei magische Bücher, einen Heiligen und einen Zauberring von der Hand Caligulas. Klappern gehörte zum Handwerk. Die Breitling musste nicht erwähnt werden, das hätte nach Angabe ausgesehen. Über dieser Mail würden sie tränenüberströmt zusammenbrechen und Lucy freien Durchlauf auf mindestens Platz drei gewähren.
Zum Abschluss schrieb sie eine Nachricht an Jade, dass sie wieder im Lande war und sich auf einen Nachmittag Kräutertee, Räucherstäbchen und Tarotkarten freute. Jade und Ethan waren die einzigen Menschen auf der Welt, die Lucy durch und durch kannten. Es wäre eine Wohltat, mit ihr über kosmische Schicksalsfäden zu plaudern, auch, wenn nur Schwachsinn dabei herauskäme.
Lucy quetschte sich in den Schwesternkittel. Wenn sie zu tief atmete, würden ihr die Knöpfe über der Brust abspringen, aber der Ausschnitt war in jedem Fall ein hervorragender Ablenker für misstrauische Security-Männer-Blicke. Ihre Haare steckte sie zu einem Knoten. Das gab ihr einen Touch Strenge, der zu ihrem Kittel passte. Eigentlich fehlte noch ein Theraband, wenn sie das überdimensionierte Fieberthermometer schon nicht mitnehmen konnte.
Ethan saß am Rechner. Als er sie hörte, hob er nur kurz die Hand. „Macht es dir was aus, wenn ich die Bilder deines Ringes einem Freund maile? Er entziffert alles, was zwischen dem Neolithikum und dem Römischen Reich jemals in Stein gebannt wurde. Ein Hobby.“
„Klingt nach Peter.“
Ethan verzog das Gesicht. „Ein paar Jährchen älter und erfahrener.“
„Und wir können ihm trauen?“ Immerhin gab Ethan Hehlerware preis.
„Auf jeden Fall. Er vermittelt mir seit Jahren Kunden für Waren, die durch deine geschickten Hände gegangen sind. Jetzt zu deinem heutigen Tagwerk. Bist du bereit?“
Lucy steckte den Schlüssel ein. „Jetzt schon. Weißt du, ob der Kerl gruselig ist?“
Wortlos reichte Ethan ihr den Elektroschocker. Dann würde sie es wie immer machen, mit dem Schlimmsten rechnen und auf das Beste hoffen.
„Nimm den Minicouper. Ich brauche ihn nicht. Park nur nicht direkt vor Olivers Einfahrt.“
Grinsend warf ihr Ethan den Autoschlüssel zu. Lucy verließ den Laden durch den Hinterausgang. Neben dem Mini parkte eine Limousine. Der Fahrer sah von seiner Zeitung hoch und beobachtete sie, wie sie ihren Rucksack auf der Rückbank verstaute. Was für kalte Augen manche Menschen hatten. Lucy schauderte es.
*