Um zwischen dem Schleppen und Schrauben Ruhe zu haben, hatte sich Kepheqiah in seine Privaträume zurückgezogen. Dem Poltern von unten nach demontierten sie gerade den Eliminator. Was hier herausgeschafft wurde, kam in ein Zwischenlager in Dover und wartete auf den Einsatz in einer neuen Filiale.
Das Notizbuch von Maurice lag vor ihm. Er hatte es aufgeklappt, gelesen, zugeklappt, wieder aufgeklappt und noch einmal gelesen und wieder zugeklappt. Vor hundertvierundzwanzig Jahren war Ramuell Grigorjew an die anonymen Meister herangetreten. Ein ungewöhnlicher Auftrag, das Hochzeitsgeschenk für seine junge Braut Sofia. Eine Blutgabe. Sieben Frauen, mit denen er sich während eines Londoner Aufenthalts die Zeit vertrieben hatte, sollten als Zeichen seiner Abkehr vom Junggesellenleben getötet werden. Ihr Blut diente als Grundlage des ewigen Treueschwurs, den er Sofia Callahan zu entrichten gedachte. Ohne ihn hätte ihr Vater, Aiden Callahan, einer Verbindung mit der verhassten, aber einflussreichen Familie Grigorjew niemals zugestimmt. Daniel war der beauftragte Meister gewesen. Einen Tag vor dem ersten Mord war er abgesprungen und hatte seinen Tod in Kauf genommen. Maurice’ wüste Beschimpfungen zogen sich über viele Seiten. Er hatte den Auftrag übernommen. Am Abend des Stichtages bekam er überraschenden Besuch von dem Klienten persönlich. Ein entspanntes Gespräch über die Hintergründe, ein Angebot zur weiteren Zusammenarbeit, Lob an die Bruderschaft. Nur ein Glas Wein hatte Maurice getrunken. Als er aufwachte, hatte die Welt eine andere Farbe angenommen. Blutrot.
Von Mord zu Mord hatte sich das Fremde in ihm mehr ausgebreitet, hatte ihn beherrscht und sich von den Zielen genommen, was es brauchte. Fleisch und Blut. Der Klient war entzückt und bestellte die besten Grüße seiner Braut. Dass die Polizei die Leichen in Verwahrung genommen hatte, nahm er der Bruderschaft nicht übel, was laut Maurice’ Eintragungen Baraq’els Misstrauen erregte, aber den modifizierten Bedingungen zuschulden war. Der Dämon hatte keinen des Cleaner-Teams in seine Nähe gelassen. Der klägliche Rest seines unterdrückten Geistes hatte Maurice’ sich wehrende Hand gezwungen, diese Zeilen zu schreiben. Die Schrift war dementsprechend. Worte waren verwischt, einzelne Seiten zerknüllt, als ob sie jemand hätte rausreißen wollen und über ganzen Passagen klebte geronnenes Blut. Es musste ein furchtbarer Kampf in Meister Lacroix’ Innerem stattgefunden haben.
Seiner Akte entnahm Kepheqiah, dass Maurice im Anschluss verschwunden war. Nach seiner Bewusstwerdung im nächsten Leben hatte er sich der Bruderschaft freiwillig wieder angeschlossen und kein Wort zu diesen Vorfällen verlauten lassen.
Ramuell Grigorjew hatte den Vertrag gebrochen. Seine Schuld verjährte nach hundert Jahren. Er kam trotz dieses furchtbaren Frevels straflos davon. Kepheqiah ballte die Fäuste. Er würde mit Mahawaj über die Sicherheitslücken in der Bruderschaft reden müssen.
Das zaghafte Klopfen hörte Kepheqiah nur, weil der Lärm aus dem Keller für einen Moment verstummte.
„Grigorjew hat kurz vor Maurice’ Angriff einen Anruf erhalten. Einer seiner Leute verfolgt die Sorokin aus der Stadt nach Westen.“
„Ein vierter Mann?“
Ives nickte. „Der Typ vom London-City-Airport sagt allerdings, dass in dem russischen Privatjet nur drei Passagiere mitgeflogen sind. Der Rest war Besatzung.“
Für die Bannung eines Dämons brauchte es ein Blutopfer und einen Wirt. Der Wirt könnte jeder sein, der das Pech hatte, Grigorjew über den Weg zu laufen. Was sollte den Sohn daran hindern, die Tat des Vaters zu wiederholen?
„Pack deine Sachen. Wir fahren zu Daniel.“ Während er Ives den Finger aus dem Mund zog, an dem er manisch den Nagel abkaute, wählte er Rubens Nummer. Die Cleaner hatten nichts mehr zu verlieren. Sie würden dem folgen, der sie gut behandelte und ausreichend bezahlte. Beides konnte sowohl er als auch Daniel gewährleisten. Rubens Leute wären für das, was vor ihnen lag, ein unschätzbarer Gewinn.
*
„Wie hast du das gemacht?“ Ethan betastete vorsichtig Daniels Nase.
„Ich werde an die Wand geklatscht sein, weil du unfähig warst, mich festzuhalten.“
„Nicht die Nase! Ich will wissen, wie du deinen Körper verlassen hast.“
Was der Wahrheit am Nächsten kam, war, dass es ihm sieben Jahre zu spät in die Wiege gelegt worden war. „Du würdest mir nicht glauben. Die Wahrheit klingt wie ein Märchen.“
Ethan sah ihn lange an. „Ich mag dich. Ich weiß nur noch nicht, warum. Also rede endlich.“
Susanna kniete auf dem Sessel und rieb sich die Rippen. Offenbar hatte sie einstecken müssen, als Daniel auf Reisen war. „Mich würde die Nummer auch interessieren.“
Sein Herz schlug schneller, als er Luft holte, um zum ersten Mal in seinen Existenzen einem Unbeteiligten den Beginn seines ungewöhnlichen Daseins zu offenbaren. „Vor etwas mehr als zwölftausend Jahren erlebte ich in einem Tempel in Göbekli Tepe meine erste Bewusstwerdung.“
Ethans Mund öffnete sich langsam, ohne dass ein Laut daraus hervorkam.
„Ich kann mich nur noch vage erinnern.“
„Echt? Ist mir völlig unverständlich.“ Ethan schüttete den Kopf, starrte Daniel an. Dann schüttelte er wieder den Kopf. „Soll ja ein schönes Land sein, die Türkei.“
„Ist es. Soll ich weitererzählen?“
Ethans Hand flatterte durch die Luft. „Nur zu, nur zu.“
Es war seltsam, nach so langer Zeit die Erinnerungen an seine Opferung hervorzuziehen. „Ich lag inmitten des Kreises der Tiergeister.“ Die Säulen schienen sich im Lichtschein der Fackeln zu bewegen, wie die Tiere, für die sie standen. Eidechsen, Tiger, Keiler, Skorpione. Daniel hätte sich fürchten müssen. Er war noch ein Kind. Dass er es nicht tat, lag an dem Trank, der ihm verabreicht worden war. „Ein Schamane in Federmantel und Rabenmaske schritt um mich herum. Er zitierte magische Formeln, die meine Seele bannen sollten.“ Schweiß war dem heiligen Mann in Strömen über die Brust geflossen und seine Stimme war heiser gewesen. Zu lange schon zog er seine Kreise, sprach und sprach, schrie, flehte, doch die Luft blieb ruhig wie Daniel selbst.
Ethan schüttelte sich und Susanna kam angerutscht, setzte sich neben ihn und starrte ihn ungläubig an.
„Die Nacht war sternenklar und windstill. Ich lauschte auf jedes Wort und wunderte mich, dass ich mich nicht bewegen konnte. Der Schamane zog immer schneller Kreise um mich. Plötzlich griff der Wüstenwind in seinen Mantel. Die schwarzen Federn bauschten sich auf. Ich dachte, er würde davonfliegen, doch ich war es, der fliegen sollte.“ Der Rabenschnabel, die schwarzen Augen des Mannes, die zwischen Federn hervorblitzten. Damals war Daniel sicher gewesen, einer Verwandlung beizuwohnen.
„Erzähl um Himmels willen weiter, wenn du nicht willst, dass meine Nerven zerreißen.“ Susannas Blick klebte an Daniels Lippen.
„Der Schamane lachte auf, stemmte sich dem Wind entgegen und forderte ihn auf, sich meiner Seele anzunehmen und sie über die Ewigkeit mit sich zu tragen. Der Rest ging schnell. Ich erinnere mich an eine geschliffene Steinklinge, dass mir plötzlich eiskalt wurde und ich zu zittern anfing, dann wurde es dunkel.“ Seltsam, wie alte Erinnerungen einen noch berühren konnten. „Glaubt ihr mir?“
„Jedes Wort.“ Ethan nickte voll Entschlossenheit, Susanna sah ihn an, als hätte er sie nicht mehr alle.
„Ich weiß, dass die Ikonen, die Lucy dir geklaut hat, von ein und demselben Künstler angefertigt wurden, obwohl zwischen ihren Entstehungsdaten Jahrhunderte liegen müssen. Genauso wie die anderen hier. Du hast deinen Stil perfektioniert, aber die Augen hast du immer auf dieselbe Weise gemalt, so lebendig, als ob sie gleich blinzeln oder weinen würden.“ Er ging zur Ostwand und betrachtete eine der Hieronymusikonen. Sie zeigte den Heiligen als jungen hübschen Mann. Ohne den Löwen zu seinen Füßen hätte niemand geahnt, um wen es sich handelte.
„Schenk mir den Hieronymus, quasi als Besiegelung unserer neu entstehenden Freundschaft.“
„Nimm ihn dir.“
Ethan grinste. „Bei Gelegenheit. Solange ich bei dir wohne, lass ich ihn hängen.“
„Erwartest du Besuch?“ Susanna sah zum Aufzug.
Zuerst erschien Kephs Kopf, dann Ives. Sein huschiger Blick verriet seine Angst. Beide hatten Taschen dabei und zuckten mit keiner Wimper, als drei Augenpaare auf sie starrten. Wie ein Tonbandgerät spulte Keph Nachrichten herunter, die Daniel nicht verstand. Mahawaj zog die Teams ab. Lucy auf der Flucht in einem Wagen, der Angriff auf Maurice, Lucy mit einem Dämon und Grigorjew im Nacken. Ethan duckte sich in Zeitlupe unter ihm weg.
„Du schamloser Verräter!“ Zu viel Wut, noch mehr Angst um Lucy. Alles staute sich, entlud sich an Ethan. Keph sprang auf ihn zu, riss ihn zu Boden und hielt Daniel umschlungen. „Lass mich los! Wenn der Dämon sie erwischt, ist es seine Schuld! Paris? Ha!“
„Bist du krank im Hirn?“ Ethan sprach an Ives vorbei, der sich vor ihn gestellt hatte. „Es gibt keine Dämonen! Aber es gibt Killer und du bist einer. Ein verrückter Killer mit verrückten Freunden!“
„Und wenn schon! Vergiss den Hieronymus!“
„Ich sehe, hier haben sich alle lieb. Wie früher.“ Ein blonder Hüne baute sich vor Keph und Daniel auf. Roope Turunen. Er musste durchs Treppenhaus gekommen sein. „Was macht der Verräter hier?“ Mit einem einzigen Wisch fegte er Keph von Daniel hinunter. „Jeden Dienst erweise ich dir, Daniel Levant, Meister einer zwielichtigen Bruderschaft, aber töte vorher diese Kreatur, die nur vorgibt, ein Mensch zu sein.“ Roopes Stimme dröhnte mit einem Bass, dass Daniels Inneres zitterte.
Keph senkte den Blick und schüttelte langsam den Kopf. „Du missverstehst mich, Finne. Du hast mich immer missverstanden.“
Roope donnerte brüllend einen Koffer auf den Boden, der groß wie ein Sarg war. „Sklaventreiber! Elender! Sippenloser Bastard!“
Daniel war zu erschrocken, um eingreifen zu können. Was geschah hier? Der Pelto-Pekka, den er kannte, war nie aus der Ruhe zu bringen.
„Ich habe dich lange gesucht, Kepheqiah. Ich wollte dir das kalte Herz aus der Brust reißen aber ich habe dich nicht gefunden. Jetzt bist du hier. Was für eine günstige Fügung.“ Glut loderte in den hellen Augen, als er sich Keph näherte.
Daniel sprang auf die Beine und stellte sich Roope in den Weg.
„Was du auch mit Keph auszutragen hast, es muss warten. Ein Dämon verfolgt Lucy. Ich muss zu ihr, sie warnen. Sofort.“
Roope schnappte sich Daniels Kinn und drehte sein Gesicht zum Licht. „Du siehst aus, als hättest du bei deiner letzten Geistreise genug abbekommen.“
Daniel streifte die Hand ab. „Du bist jetzt da. Du kümmerst dich. Aber vorher sagt dieser lügnerische Mann, wo sie ist.“ Ethan würde die Nacht nicht überleben, sollte Lucy etwas zugestoßen sein.
„Denkst du, ich verrate Lucy an geisteskranke Spinner?“
Roope musterte Ethan von oben nach unten. Dann ging er langsam auf ihn zu und Ethan flüchtete, bis er die Wand im Rücken hatte. In aller Ruhe tippte Roope auf die Würgemale an Ethans Hals. „Das hier waren geisteskranke Spinner. Beleidige weder mich noch einen meiner Freunde noch ein einziges Mal.“
„Tintagel.“ Ethan schluckte laut. „Etwas mehr als vier Stunden, wenn man schnell fährt.“
„Kein Problem.“ Susanna schnappte sich den Autoschlüssel. „Auf geht’s.“
„Wir können Grigorjew nicht mehr einholen.“ Keph zuckte zusammen, als Roope seine Pranke hob.
„Sag mir nicht, was ich kann und was nicht. Nicht, solange dein Pesthauch das Glück anderer Menschen zerstört.“ Mit einem Schritt war Roope bei ihm und packte ihn an der Kehle. „Sag mir lieber, wie dein Sippenname lautet, oder hast du keinen?“
„Roope, bitte. Ich hab’s eilig!“
„Still, Daniel. Oder du machst den Stunt wieder allein.“
Selbst Keph verdrehte genervt die Augen, obwohl er noch in Roopes Klammergriff hing. „Es würde nichts bringen, ihn dir zu nennen. Du könntest ihn nicht aussprechen.“
Roope lachte unheildrohend. „Ich bin Finne. Ich spreche jede Aneinanderreihung menschlicher Laute aus, die es gibt.“
„Das ist es ja! Es ist nicht menschlich!“
Zuerst kam Stille. Dann schnappte Ethan laut nach Luft. Roope zog die Brauen hoch und setzte Keph ab. „Nicht?“
Mit finsterem Blick rieb sich Keph die Kehle. „Nein. Kepheqiah muss dir reichen. Ich verstehe jetzt, warum Mahawaj Baraq’el nur aus Hochkulturen rekrutiert hat.“
Roope sah Keph immer noch ungläubig an, dann fiel sein Blick auf Daniels Brust und er pfiff durch die Zähne. „Wo ist deine Hundemarke?“
Bevor Daniel es verhindern konnte, hatte ihm Roope das Hemd hochgezogen. Er pfiff noch mal. „Tatsächlich. Du hast sie nicht.“
„Lucy hat das Amulett geklaut.“
„Bestens. Versprich mir, dieses Drecksding nie wieder umzulegen.“
„Hast du gern Golems in deinem Freundeskreis?“ Zu etwas Ähnlichem würde er werden, sollten ihn Baraq’els Häscher erwischen. Roope sah unbeeindruckt an ihm hinab. „Ich nenne dir jetzt die Bedingungen für meine Hilfe, Daniel Levant. Nimm sie an oder kümmer dich allein um deine Katastrophen.“ Er zeigte auf Ethan, Susanna und Ives. „Kehr Baraq’el den Rücken und führ dein eigenes Team ins Rennen.“
„Mein Team?“ Etwas Großes, Warmes breitete sich in Daniels Brust aus.
Roope nickte bedächtig. „Du, ich, diese Igelfrau mit bunten Stacheln, der hier und Lucy, von der du ohnehin nicht wirst lassen können.“ Er legte Daniel die Hände auf die Schultern und sah ihm in die Augen. „Du warst lange genug ein überbezahlter Sklave im Dienst eines Teufels. Schüttle das Joch ab, bevor es dich unter sich begräbt. Um deine Seele zu fangen, muss dich Baraq’el erst mal in die Finger bekommen. Das kann er nicht, wenn ich vor dir stehe.“
„Können wir zum Plan Wie-retten-wir-Lucy zurückkommen?“ Ethan hatte hektische rote Flecken im Gesicht. „Mir wird schlecht, wenn ich mir vorstelle, dass dieser Grigorjew ihr im Nacken sitzt. Ich weiß, wozu er fähig ist.“
„Du weißt nicht genug.“ Alle Blicke wandten sich zu Keph. „Er wird nicht sofort agieren können. Der Alterungsprozess ist weit fortgeschritten. Er wird Pausen brauchen, um für Lucinde Kraft zu haben, aber dann …“
Kraft haben für was? Verdammte Angst. Sie sprang Daniel an und krallte sich in sein Herz.
„Roope, du schnappst meinen Körper und fährst ihn nach Tintagel. Meinen Geist schicke ich vorweg. Ich muss wissen, wie es ihr geht.“
„Sonst geht’s noch, was?“ Mit Schwung zog ihn Roope auf die Beine. „Schuhe an, Mantel an und nimm etwas zum Töten mit, oder willst du Grigorjew zu Tode lieben?“
Susannas Augen wurden weit. „Du kannst so was? Wahnsinn!“
Bei Lucy hatte er es nicht gekonnt. Die Sorge um sie breitete sich immer weiter in ihm aus.
Roope hob gebietend die Hand. Dann klappte er seinen Koffer auf. In etwas, das wie ein grob gestrickter, geringelter Schal aussah, steckte ein Schwert. Gerade, zweischneidig und als sich Daniel über den Stahl beugte, konnte er sein Gesicht wie in einem Spiegel betrachten.
„Norischer Stahl.“ Zärtlich streichelte Roope über die Klinge. „Was den Römern zu Siegen gereicht hat, hat auch mich nie enttäuscht.“
Ethan sah Roope über die Schulter. „Willst du damit sagen, dass das Ding über 2200 Jahre alt ist?“
Roope grinste breit. „Theoretisch ist es über 2000 Jahre alt, praktisch kenne ich einen von uns, der schwört, ein Noriker gewesen zu sein, der schon Cäsar persönlich mit diesen Dingern beliefert hat. Ich werfe für ihn meine gezinkten Runen, er schmiedet für mich Waffen.“
Es war unendlich beruhigend, Roope an seiner Seite zu haben.
„Verrate mir, warum du dich immer in die falschen Frauen verliebst, Daniel?“ Das Öltuch glitt über die scharfe Schneide. „Wenn die Sache hier für Lucy mies endet, lege ich dich in Ketten und lass dich erst dann wieder frei, wenn ich sicher sein kann, dass du dich überlebst.“ Roope sah hoch, nur kurz, dann putzte er weiter an seinem Schwert.
Daniel kniete sich neben ihn. „Ich habe dir nie gedankt.“
„Das sollte unter Freunden auch nicht nötig sein.“ Seine Pranke legte sich schwer in Daniels Genick. „Ich hänge an dir. Das habe ich immer. Versprich mir nur, dass du mir im Ernstfall vertraust.“
Daniel nickte. Roope war der Einzige, dem er blind vertraute.
„Ich halte es für keine gute Idee, nach so kurzer Zeit wieder den Geist von dem Körper zu lösen. Es ist gefährlich, Daniel. Wir sollten ihr mit dem Wagen folgen und schneller sein als der Nephilim.“
„Was ist das für ein Gefasel von den Nephilim?“ Hektisch ging Ethans Blick zwischen Keph, Roope und Daniel hin und her. „Die Nephilim, die Tiere und Menschen fraßen, Kriege führten und das Land verwüsteten?“
„Kennst du noch andere?“ Kephs überheblich sonore Stimme entlockte Roope ein Schnaufen.
„Die Nephilim, die ertränkt wurden?“ Ein Hoffnungsschimmer glomm in Ethans Augen auf.
„Die Nephilim, die der Flut entkamen und sich weiter mit den Menschen fortgepflanzt haben. Wir haben es mit ihren Nachkommen zu tun, aber böses Blut ist böses Blut.“
Ethan nickte. Dann wurde seine Nase weiß. „Ihr seid irre. Alle miteinander.“
Sie redeten hier, während Lucy in Gefahr war. „Schluss jetzt. Susanna, du fährst. Roope, komm. Ihr anderen wartet hier auf Ruben und beantwortet keine Nachrichten von Mahawaj.“ Früher oder später würde er ein Spezial-Team schicken. Zum Eliminieren ungehorsamer Meister und ihrer Helfer. Bis dahin wollte Daniel Lucy in Sicherheit wissen. Die Angst schärfte seinen Geist. Auf Roopes Bedenken konnte er keine Rücksicht nehmen. Wenn er erst unterwegs war, musste sich der Finne um seinen Körper kümmern. Daniel zählte stumm bis drei, dann schoss er aus sich heraus. Er sah seinem zusammenbrechenden Körper zu, wie er von Roope aufgefangen wurde.
„Idiootti!“ Roope brüllte, aber es war zu spät.
Es war anders als letztes Mal. Besser. Roope half beim Fokussieren, seine Stärke versprach Sicherheit. Für einen Moment schwebte er unentschlossen über ihm, dann raste er davon. Er fühlte, wie Roope die Muskeln anspannte, wie es eng um seine Brust wurde. Dann spürte er nichts mehr, was seinen Körper betraf. Nur noch Freiheit.
Lichter unter ihm. Ein gewundenes Band. Die Straße, Felder, einzelne Autos. Daniel hielt sich dichter über der Erdoberfläche, als bei seiner Reise nach Tampere. Würde er Grigorjew fühlen, wenn er an seinem Auto vorbeiflog? Würde er den Dämon spüren? Lautlos schwang er sich höher, streifte die Wolken, ließ sich fallen, streifte die Nebelschwaden über dem Moor, ohne ihre kalte Nässe zu fühlen. Aus der Ferne brüllte eine Bassstimme. Daniel hörte sie über Kanäle, die dort zusammenliefen, wo sein Herz hätte sein müssen, aber das quetschte Roope ein. Er hatte seine Eskapaden auffangen müssen. Er konnte nicht erwarten, dass Daniel die Gelegenheit zu Loopings ungenutzt verstreichen ließ. Sollte der Finne zeigen, wie stark er war.
Noch schneller. Ein Sog nach vorn, der nicht enden wollte. Am Horizont glitzerte das Meer.
Lucy. Wo bist du?
Es zog ihn zu dem Ort an der Küste, dicht an der Halbinsel musste es sein. Ein Wäldchen am Stadtrand. Er umkreiste die Bäume. Auf einem hockten eine Handvoll Raben auf einem Bein, den Kopf unter dem Flügel. Daniel zog den Kreis enger. Einer der Vögel krächzte und flatterte. Daniel fuhr in ihn hinein und der Schwung riss den Raben in die Luft. Er taumelte, fing sich wieder. Der Rabengeist machte Platz, überließ Daniel die Führung.
Der Fußweg lag unter ihm. Nur Moos, Felsen und Stein. Keine Hütte. Er kreiste höher. Lucys leuchtende Augen, der Spott auf ihrer Zunge, ihr Liebesblick, als sie sich ihm ergab. Das Rabenherz zitterte in seiner Brust. Er musste vorsichtig sein, durfte ihm nicht schaden. Er brauchte es noch. Für solch starke Emotionen war es nicht geschaffen.
Da! Eine Bruchsteinmauer, ein Dach, dicht an die Felswand geschmiegt, ein weiteres Dach. Aus den Fenstern schien Licht. War sie noch wach?
Als er sich flügelschlagend auf dem Mauervorsprung am Fenster niederließ, streiften die Flügel die Scheibe. Lucy saß vor dem Kamin, die Beine angezogen, das Kinn auf die Knie abgelegt und starrte in die Flammen. Sie hörte das Geräusch am Glas und sah auf. Daniel saß ganz still. Zögernd kam sie zu ihm. Sie öffnete das Fenster, Daniel blieb, wo er war. Wie müde sie aussah.
„Hast du dich verflogen?“
„Lucy!“ Was hätte er jetzt für eine menschliche Stimme gegeben.
Sie lächelte über sein motiviertes Krächzen. „Mutiger Rabe. Hast du keine Angst vor mir?“
Langsam öffnete sie auch den anderen Fensterflügel. Daniel blieb sitzen, obwohl der Rabeninstinkt ihn warnte. Er musste sich stärker konzentrieren, um den Tiergeist noch weiter zurückzudrängen.
„Lust auf einen Plausch? Ich bin furchtbar einsam.“
Der Rabe sperrte sich bei der menschlichen Nähe. Er wollte fliehen. Daniel zwang ihn zur Ruhe, während Lucy die Hand nach ihm ausstreckte. Daniel musste fort. Blödes, hirnloses Rabenvieh! Konnte es sich nicht zusammenreißen? An der Mauer schaffte er es, den Tierinstinkt zu bezwingen. Lucy sah zu ihm, dann schloss sie das Fenster.
Immerhin war sie noch in Sicherheit. Weit und breit nichts Auffälliges, was sie hätte bedrohen können. Er umflog das Gelände, segelte ein paar Meilen über die keltische See und den Weg zurück nach Tintagel. Alles war ruhig. Der Vogel wurde müde und versuchte, seinen Schnabel unter sein Gefieder zu stecken. Daniel musste ihn in Ruhe lassen und sich einen anderen Wirt suchen.
Was war das für ein Geräusch? Ein Motor? Daniel flog auf, der Rabe wehrte sich, drehte immer wieder in Richtung der Baumgruppe ab, wo er schlafen wollte. Ein dunkler Offroad rollte über den holprigen Weg. Ohne Licht. Einer von Grigorjews Männern? Dann hatte er keine Zeit mehr. Lucy war in Gefahr. Mindestens die Augen konnte er dem Kerl aushacken. Das würde ihn aufhalten. Der Rabe weigerte sich, auf den Wagen zuzufliegen. Mistvieh! Komm schon! Es war nichts zu machen, der Vogel drehte ab, krächzte wie verrückt, taumelte.
Sein Geist starb, dann sein Vogelkörper. Er fiel vom Himmel wie ein Stein. Daniel musste aus dem toten Tier heraus. Ein lebendiger Geist durfte sich nicht im Tod aufhalten. Bevor der Rabe aufschlug, schwebte Daniel schon über ihm. Hinter seinem Brustbein begann das Ziehen, das ihm sagte, dass er zurückmusste. Nicht jetzt!
Es war zu spät. Es riss ihn nach London mit einer unfassbaren Intensität. Dunkelheit, ein Stern zwischen den Wolken, Großstadtlärm, und eine Limousine, die nach Westen raste. Susanna saß am Steuer. Auf der Rückbank war Roope, Daniels zuckenden Körper im Arm. Er massierte seine Brust und brüllte auf ihn ein. War er zu lange in dem toten Vogel geblieben? Es war nur ein Augenblick gewesen. Sein Körper, er musste noch hineinkönnen.
Der Aufprall war hart, erschütterte seinen Geist, aber er lebte.
„Daniel?“
Seine Zunge klebte am Gaumen. Er brachte keinen Ton heraus. Er wollte die Hand heben, aber sie gehorchte ihm nicht, flatterte nur sinnlos vor seinen Augen herum wie ein Flügel. Roope stemmte ihn auf und hielt ihn an den Schultern. Sein Gesicht war aschgrau vor Anstrengung.
„Sag was. Was ist geschehen?“
Er krächzte fast so heiser wie der Rabe. Bei Daniel war es noch schlimmer. Warum kam kein vernünftiger Satz von seinen Lippen? Nur Geräusche, sinnloses Gebrabbel. Daniel konzentrierte sich, versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Roope holte aus und klatschte ihm die Hand ins Gesicht. Noch etwas fester und Daniels Kopf wäre weggeflogen.
„Lass das!“
Roope atmete auf.
„Sie wird beobachtet. Ein Jeep …“ Sein Magen krampfte sich zusammen. Er hatte kaum noch Luft. Er war zu schnell zurückgekommen.
„Noch drei Stunden. Mindestens.“ Susanne trat das Gaspedal durch.
Daniels Geist war noch nicht richtig verankert. Sein Körper fühlte sich an wie ein zu großer Anzug. Es war krank, sich noch einmal von ihm zu lösen. Aber er musste es tun.
„Hol mich zurück, wenn wir bei Lucy sind.“
Roope starrte ihn an. „Denk nicht einmal dran.“
Daniel riss sich aus sich selbst hinaus. Es ging zu leicht. Das war nicht gut.
*
„Der Dämon wartet auf Anweisungen.“ Ilja sah Kolja aus den Augenwinkeln an. „Sie ist in einem Steinhaus, nahe der Küste. Coole Kulisse für einen Racheakt.“
Grinsend hielt er Kolja das Handy hin, aber er winkte ab. Die Stimme des Dämons konnte er jetzt nicht ertragen. „Er soll warten.“ Sorokin sollte sich in Sicherheit wähnen. Die Nacht war lang. Kolja musste sich ausruhen. Seine knotigen Finger umkrampften ein Taschentuch. Es war voll roter Sprenkel. Seine Lunge verrottete ebenso wie der Rest von ihm.
„Wie willst du den Dämon aus Saschas Körper herausbekommen, wenn es so weit ist? Freiwillig wird er nicht gehen.“
„Was wir auch tun, keiner von uns darf in seine Augen sehen, wenn der Körper stirbt. Sonst öffnen wir ihm ein Tor in uns selbst.“
Ilja schüttelte sich. „Ich hätte mich niemals hierauf einlassen sollen. Wenn wir nicht aufpassen, ergeht es uns wie Lew.“
„Wage es nicht, zu versagen.“ Angst führte zu Fehlern und die konnten sie sich nicht leisten. „Du tötest den Dämonenwirt. Es ist mir egal, ob du dabei vor Angst den Verstand verlierst.“ Sofia hatte ihm anvertraut, dass der Ring schützte. Was half es ihm? Er hatte diesen verdammten Ring nicht und keiner wusste, ob er ihn je wiedererlangen würde. Nur kurz zuckte der Gedanke durch sein Hirn, Konstantin um seinen zu bitten. Nur so lange, bis er genesen war oder bis er selbst seinen eigenen gefunden hatte. Er könnte ihn auch behalten. Könnte zusehen, wie Konstantin vor seinen Augen zerfiel. Er würde mit ihm leiden, sicherlich. Aber andere Tode waren leichter zu ertragen als der eigene.
*
Der Offroad parkte an der Zufahrt des Feldweges. Hinter den verdunkelten Scheiben erkannte Daniel schemenhaft die Gestalt eines Mannes. Er saß vollkommen bewegungslos hinterm Steuer. Nur die Augen leuchteten in einem unheimlichen Licht. Es konnte unmöglich der Schein der Armaturen sein. Die Lichter waren aus, das Wageninnere war dunkel. Daniel umkreiste den Wagen. Wehe, der Kerl würde auch nur einen Schritt nach draußen wagen.
Er flog vor zum Cottage. Nur das Feuer im Kamin leuchtete. Lucy lag zusammengerollt auf einem Sessel und schien zu schlafen. Wenn nur Susanna bald Roope herbrächte. Auch wenn sich dieser Rabe besser fügte als sein unglücklicher Artgenosse, Daniel konnte mit einem Vogelkörper nicht allzu viel ausrichten. Er flog zurück und hockte sich auf die kläglichen Reste einer verwitterten Mauer. Der Mann im Wagen wandte sich zu ihm um und starrte ihn an. Kreischend schwang sich der Vogel in die Luft. Das Rabenherz bebte vor Angst. Es hatte den Dämon erkannt.
*
Welch unheimliche Nacht. Draußen krächzte ein Rabe so laut, dass Lucy ihn bis in ihren Traum gehört hatte. Von den hell lodernden Flammen waren nur noch einzelne Zünglein zu sehen. Lucy legte ein weiteres Scheit auf. Dunkelheit ging gar nicht. Am liebsten hätte sie alle Lampen im Haus gleichzeitig eingeschaltet.
Lucy rutschte näher ans Feuer. Der Wind pfiff durch die Ritzen der alten Mauern und es wurde nicht warm. Sie schlang die Decke fester um sich, aber auch das brachte nichts.
In was für eine kranke Situation war sie geraten? Ihr einziges Problem war Kolja. Wäre er weg, würde sie zu Daniel fahren, um Verzeihung flehen und ihm unter tausend Küssen und Tränen das Amulett um den Hals hängen. Sie betrachtete es im Feuerschein. Sie würde es niemals wieder ablegen.
Daniel. Der Killer, den sie liebte. Mit einem Satz sprang sie auf. Sie hatte Geld. Warum engagierte sie ihn nicht? Bei Callahan hatte er keine Sekunde gezögert. Sie hatte das Blackberry schon in der Hand, als ihr einfiel, dass sie seine Nummer nicht besaß. Dann Ethan? Er musste Daniel ausfindig machen, musste seine Nummer herausfinden und ihr mitteilen. Für einen Profi wie Daniel wäre es ein Klacks, sie von Kolja zu befreien.
Was war das für ein Brummen? Ein Auto? Lucy hielt den Atem an. Das Motorengeräusch kam näher. Ein Wagen parkte vor dem Haus. Die Scheinwerfer waren aus. Lucy rannte zur Tür und kontrollierte, ob der Riegel vorgeschoben war. Wagentüren schlugen zu, knirschende Schritte näherten sich.
„Wo ist dieser verdammte Rabe?“ Die tiefe Stimme klang wütend, vermischte sich mit Rabenkrächzen. „Bleib da, Vogel. Du hast etwas, was dir nicht gehört.“
Lucys Herz schlug hart in ihrer Brust. Kolja war es nicht. Immerhin. Sie tastete nach dem Schürhaken am Kamin und schlich hinter die Tür. Wer auch immer dieses Haus betreten würde, sollte es bitter bereuen. Vor dem Fenster flatterte etwas. Es krächzte lauter, dann ein heiserer Schrei. Das war nicht auszuhalten. Lucy riss die Tür auf, den Haken zum Angriff erhoben. Ein Mann kniete über einer reglosen Gestalt, schlug ihr ins Gesicht, seine Miene angstverzerrt. Dahinter stand das Punk-Mädchen, das bei Daniel wohnte. Sie versuchte, den Riesen davon abzuhalten, noch einmal zuzuschlagen. Auf dem Boden lag Daniel. Bleich und hohlwangig.
„Sein Geist steckt in diesem Vogel. Seit Stunden. Er wacht nicht mehr auf.“ Er winkte sie näher, nahm ihre Hand und legte sie Daniel aufs Herz. „Mach, dass er aufwacht. Es ist gefährlich, zu lange von seinem Körper getrennt zu sein.“
Was geschah hier? Ein Rabe hüpfte auf der Bruchsteinmauer auf und ab. Der Mann sah zu ihm, flehte etwas in einer fremden Sprache. Oder war es ein Fluch?
„Daniel, kannst du mich hören?“ Sie strich ihm die Haare aus dem Gesicht aber er zeigte keine Regung. Der Rabe krächzte, hob ab, flog vor ihre Füße.
„Lucy, glaub mir.“ Das Mädchen setzte sich neben sie. „Ich habe es selbst erlebt. Daniel kann seinen Geist auf Reisen schicken. Mithilfe eines Vogels. Aber irgendwie kann er nicht mehr zurück.“
Lucy kniff sich in den Arm. Das konnte nur ein Traum sein. Der Mann schüttelte den Kopf.
„Du bist wach, Lucy Sorokin. Daniel nicht. Hilf ihm und zwar schnell, da hinten steht ein Wagen. Er ist leer. Wer immer dort drin war, ist gefährlich.“ Er hob Daniel hoch und trug ihn ins Haus. Der Rabe flog hinterher und setzte sich auf den Rand des Ascheeimers.
„Ich bin Roope Turunen. Daniels Freund.“ Vorsichtig legte er Daniel vor dem Kamin ab und massierte dessen Brust. „Ich habe dich erschreckt, das tut mir leid.“
Was machte das? Daniels Geist steckte in einem Vogel fest und der Vogel sah sie an, war zahm, und benahm sich nicht ansatzweise wie ein normaler Rabe.
„Sein Herz schlägt zu langsam.“ Roope fühlte den Puls, Lucys eigener raste. „Dieser Nephilim-Bastard ist auf dem Weg hierher. Daniel wollte dich warnen, dir nah sein.“
„Welcher Nephilim?“ Ihr wurde eisigkalt. Die Geschichte des Ringes berührte die Geschichte der Sintflut. Und die verschmolz mit der der Nephilim. Koljas Ring. Kolja war ein Nephilim. Ihr wurde schlecht.
„Du weißt, wer?“
Sie nickte. Roope sah aus wie ein König der Vorzeit. Die langen Haare, die Zöpfe, seine Art, trotz Angst ruhig zu sprechen. „Wir sind hier, um dich in Sicherheit zu bringen. Ich kann dich auch allein schützen. Dich und Daniel und das Igelmädchen Susanna. Du brauchst keine Angst zu haben, nur lass dir etwas einfallen, dass er die Augen aufschlägt.“
Lucy kroch näher an den blonden Riesen und Daniel heran.
Roope nahm ihre Hand, legte sie wieder auf Daniels Brust. „Lock ihn zurück in seinen Körper.“ Er strich mit ihrer Hand über Daniels kalte Haut. „Besser du schaffst es, bevor der Russe hier auftaucht. Er hat Gesellschaft.“
Er stand auf, ging zum Wagen und als er wiederkam trug er ein Schwert wie aus einem Ritterfilm in der Hand. Jede Feuchtigkeit vertrocknete in ihrem Mund, während Roope Geschichten von Zauberringen, gefallenen Engeln, anonymen Meistern und Daniels Auftrag, sie für Kolja zu töten, erzählte. Sein Entschluss, sich zu verweigern, seine Fähigkeit, seinen Geist Raben anzuvertrauen und der Gefahr, in der sie jetzt steckten. Die Sätze schwirrten haltlos in ihrem Kopf und die Übelkeit wuchs mit jedem Wort.
Irgendwann, als Roope gestand, dass Daniel und er Wiedergeborene waren, die seit Ewigkeiten die Welt durchwanderten, stand sie auf, ging ins Bad und umklammerte die Kloschüssel. Es kam nichts. Trotzdem traute sich nicht mehr ins Zimmer nebenan. Das Puzzle passte. Jedes Stück. Nur das Motiv war vollkommen unmöglich. Sie konnte in keiner Welt leben, die Engel, Dämonen und Menschen wie Daniel und Roope barg. Sie bewohnte einen Planeten, in der Flugzeuge abstürzten, alte Männer junge Frauen erpressten und auf die Lücke zwischen U-Bahn und Gleis aufmerksam gemacht wurde. Da war kein Platz für Himmelsstrafen, Engelskinder und geheimnisvolle Bruderschaften.
Roope kam, half ihr auf und hielt sie einen Moment fest.
„Lucy, er bleibt eine leere Hülle, wenn du nichts tust. Er liebt dich. Deshalb ist er hier.“ Er winkte Susanna zu sich. „Ich bin draußen und pass auf. Lass dir nicht zu lange Zeit.“
„Sie werden dich erschießen.“
Kam ein Schwert gegen Kugeln an?
„Dann sehen wir uns alle im nächsten Leben wieder.“ Zärtlich strich er mit dem Finger über die Klinge. „Daniel wird dich schon finden und dafür sorgen, dass du dich wieder in ihn verliebst. Er ist gut in so was.“
Er legte Susanna den Arm um und nahm sie mit nach draußen. Lucy kniete sich zu Daniel. Sein Gesicht war kühl, sein Herz schlug schwach, seine Hand griff nicht zu, als Lucy sie an ihre Wange legte. Sie öffnete die Schnürung seines Hemdes, streifte es über seine Schultern. Die Ärmel waren weit, die Manschetten bis zu den Ellbogen gekrempelt. Seine Unterarme waren feucht vor kaltem Schweiß, seine Brust ebenso. Er musste frieren.
„Ich liebe die Wärme in deinen Körper.“ Sie küsste reglose Lippen. „Ich wärme deinen Geist, dein Leben und gebe dir all das zurück, was du für mich hergegeben hast.“
Sie legte drei Scheite auf die zischenden Flammen. Sie schlugen hoch, leckten über das Holz, ließen es knacken und knistern. Sie zog ihre Sweatjacke aus, streifte die Jeans ab. Der Rabe krächzte leise, schlug mit den Flügeln. Er war gleichgültig. Wenn er Daniels Geist hergab, würde sie ihm freies Geleit an Roope vorbei in die Nacht gewähren.
„Fühl mich.“ Im ersten Moment fror sie, als sie sich nackt auf Daniel legte. Dann wurde es besser. Sie strich über seinen Körper, küsste seinen Mund, seine Lider, biss ihn zärtlich in die Brust. Sein Herz schlug kaum noch. Keine Angst. Die Liebe ihres Lebens starb unter ihr, ein Nephilim trachtete nach ihrem Leben und ein Rabe sah ihr zu. Die Panik, die auf sie lauerte, musste sich gedulden. Daniel brauchte sie. Verrückt werden konnte sie später.
Als er sie geküsst hatte, war eine Flut von Empfindungen über sie hereingebrochen. Sie hatte sich lebendig gefühlt wie nie vorher in ihrem Leben. Sie würde ihm alles zurückgeben.
Als sie seine Lippen berührte, ließ sie ihre unbändige Angst um ihn frei. Sie küsste sie in seinen Mund. Wie würde sie schmecken? Bitter, herb, nach Tränen und Tod. Sie krallte sich in seine Haare. Seidig umschmeichelten sie ihre Finger. In seinem Arm hatte sie sich geborgen gefühlt. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und hob seinen Kopf an. Er war furchtbar schwer. Hing schlaff in ihrem Griff. Wie ein Toter. Der Gedanke schwemmte nackte Angst in ihr Herz. „Wach auf!“ Ihre Zeit war zu kurz gewesen, viel zu kurz. Lucy schlug ihm ins Gesicht. Er musste aufwachen. Für sie, für dieses Leben, was lag er hier herum? „Daniel!“ Hörte er ihr Schreien nicht? Sie schüttelte ihn, schlug wieder, schrie lauter. „Fühle mich!“ Sie kratzte ihm über die Brust, quer über den Bauch bis zu seinen Lenden. „Lebe!“
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