Ihre Hand schmerzte und in ihren Schläfen stach es. War sie eingeschlafen? Draußen war es bereits dunkel. Ihr Kiefer war verspannt und knackte. Die Haut um den Ring war rot und geschwollen. Lucy zog ihn ab. Sofort wurde es besser. Sie würde ihn nicht mehr tragen. Und wenn er zehnmal der schönste Schmuck war, den sie je gehabt hatte.

Wie spät mochte es sein? Der Blick zur Wanduhr jagte ihr einen stechenden Schmerz durch das Genick. Lucy versuchte, sich aufzusetzen. Jede Bewegung war eine Qual. Hatte ihr das der Arzt nicht angedroht? Holen Sie sich dann eine Spritze ab. Lucy musste lachen. Sie kam nicht mal bis zum Klo. Vorsichtig angelte sie nach dem Blackberry, ohne den Kopf zu drehen oder mit den Schultern zu zucken. Ethan musste ihr helfen.

„Lucy? Schön, dass du anrufst. Ich habe uns einen Tisch im LEscargot klargemacht. Danach warten stapelweise DVDs auf uns.“

„Ethan, ich hatte einen Unfall mit dem Rad und bin steif wie ein Brett. Ich brauche eine helfende Hand und die hängt an deinem rechten Arm.“

„Ist es schlimm?“ Die Besorgnis war ihm anzuhören.

„Wenn ich reglos auf dem Sofa liege, nicht. Ich darf mich nur nicht bewegen.“

Er seufzte. „Dann wird es halt nichts mit unserm schönen Abend. Meinst du, du kannst dich in meinen Mini falten?“

Es würde eine Tortur werden. „Klar. Kein Problem.“ Kaum hatte sie ihn weggedrückt, rief sie wieder an. Ein lächerlicher Sturz würde ihr nicht den Silberstreif eines miesen Tages verderben. „Ich schmeiß mich in Schale, lass mich in der Notaufnahme dopen und dann bin ich fit für den Abend.“

„Das ist mein Mädchen.“ Ethan lachte. „Bis gleich.“

Mit steifem Kreuz ging sie zum Bad. Es dauerte ewig, bis sie sich aus der Jeans geschält hatte. Mit den Pflastern an den Beinen würde sie in Nylons kaum eine gute Figur machen. Lucy tippte vorsichtig auf das Größte. Darunter tat nichts weh. Sie zog das Pflaster ab. Nur ein wenig Schorf und rosa, frischverheilte Haut. Pflaster für Pflaster landete im Mülleimer. Keine Schramme blutete mehr. Dann konnte sie wohl doch ein Kleid tragen. Sie bekam die Arme kaum hoch, um es sich überzustreifen und das Hochziehen der Nylonstrümpfe war eine Zumutung für ihren schmerzenden Rücken. Trotzdem sah sie in diesem Seidenhängerchen nur noch halb so elend aus.

Der Türklopfer donnerte ans Holz, als ob er durch die Tür brechen wollte.

„Ist offen! Komm rein!“

Ethan tauchte hinter ihr im Spiegel auf. Vorsichtig drehte sie sich zu ihm um und drückte ihm den Mascara in die Hand.

„Mach mal.“

Er rückte ihr Gesicht näher zum Licht. Gekonnt bürstete er die Härchen zu einem sanften Schwung. „Noch was?“

Sie tauschte Wimperntusche gegen Lippenstift. Nachdem Ethan sie kritisch betrachtet hatte, nickte er zufrieden.

„Fertig. Aber bist du sicher, dass du in diesem Nichts in die Winternacht willst?“ Er zupfte an dem Spaghettiträger ihres Kleides, dann verschwand er und kam schließlich mit einer transparenten Stola zurück. „Ist zwar auch nur ein Hauch, aber besser, als mit nackten Schultern durch die Gegend zu rennen.“

Zusätzlich bestand er auf einen Wintermantel und hohe Stiefel. Lucy drehte sich steif vor dem Spiegel. Ein interessanter Stilbruch.

Die Treppe war ein Hindernis, das sich noch nehmen ließ. Das Bücken in den Mini war eine Prüfung.

„An der Klinik zieh ich dich heraus. Keine Angst.“

Die Ahnung eines mitleidigen Lächelns überquerte die Handbreit zwischen ihren Gesichtern. Ethan hatte sie schon in weit schlimmeren Verfassungen erlebt.

„Glaubst du an Magie?“

„Hat dich Jade missioniert?“

„Ich glaube, mit dem Ring stimmt etwas nicht.“

„Das glaube ich auch.“ Mit zusammengezogenen Brauen starrte er auf den Straßenverkehr. „Wo ist der Ring jetzt?“

„In meinem Wohnzimmer.“

„Gut. Ich dachte schon, Aiden würde ihn dir abspenstig machen wollen. Was hattet ihr zu bereden?“ Nur ein Hauch Schuldbewusstsein schwang in seinen Worten mit.

„So dies und das. Vor allem ging es um Peter und seine Karriere im Institut und ob wir vorhätten, zu heiraten. Er würde Peter dann eine besser bezahlte Dozentenstelle vermitteln.“

Ethan starrte sie an, als ob ihre Lüge in seiner Kehle stecken würde. „Ich hatte keine Ahnung, dass Aiden so ein Menschenfreund ist.“

„Ist er. Er war sehr charmant. Wir haben noch etwas zusammen getrunken.“

„Und nach dem Ring hat er nicht gefragt?“

Lucy schüttelte den Kopf. Nach dem Ring würde er nie wieder fragen.

„Bevor wir essen gehen, holen wir das Ding, und dann verstecken wir ihn im Ofenrohr.“ Mit Entschiedenheit schlug Ethan auf das Lenkrad. „Dann müssen wir uns keinen Kopf mehr machen.“

Die restliche Fahrt schwieg er. Seine Stirn blieb gerunzelt und sein grübelnder Blick wurde immer finsterer. Als sie angekommen waren, musste er sie tatsächlich aus dem Wagen ziehen.

Platzwunden, dicke Knöchel, rote Gesichter, ein Arm in einer Schlinge. Der Warteraum war voll. Ethan verzog das Gesicht, als aus seiner Westentasche Greensleeves ertönte.

„Margaret? Was ist los?“

Die aufgeregte Frauenstimme klang bis zu Lucy.

„Kannst du nicht ein paar Kerzen anzünden?“

Die Stimme wurde noch lauter und aufgeregter und Ethan verdrehte die Augen. „Ist gut. Ich komme, bleibt ganz ruhig.“

„Sag nichts. Unser Dinner fällt aus.“

„Bei meiner Schwester ist der Strom ausgefallen. Er zuckte bedauernd die Schultern. Sie fürchtet sich zu Tode und vermutet in jeder Ecke Einbrecher, Plünderer und Vergewaltiger. Schaffst du es allein?“

„Kein Problem, ich ruf mir ein Taxi.“

Behutsam nahm er sie in den Arm, um sie einen Moment später auf einen der wenigen freien Stühle zu drücken. „Tut mir leid. Dabei hast du dich so hübsch aufgebrezelt.“ Ein letztes Winken und er ging.

Gab es grässlichere Tage?

 

*

 

Die Dunkelheit kroch über die Dächer der Backsteinbauten und trug den Lärm des Nachtlebens zu Daniel. Das Whiskyglas fühlte sich zu schwer in seiner Hand an.

Du sollst nicht töten.

Das Gesetz war reiner Hohn, hatte zu keiner Zeit Gültigkeit in einem seiner Leben besessen. Du sollst nicht lieben. Auch ein Gesetz unter den Meistern. Es wog schwer wie Blei.

Die Heiligen an den unverputzten Wänden starrten ihn teilnahmslos an. Er wollte Teilnahme. Er brauchte sie. Absolution für alles, was er jemals begangen hatte und noch tun würde. Er wollte längst aufgebrochen sein, hatte schon auf der Straße gestanden, war wieder zurückgegangen.

Der Lastenaufzug polterte. Sicher war es Ives, der ihn an seine Pflicht ermahnen wollte.

„Hi Daniel!“ Auf nadelspitzen Absätzen stöckelte Susanna unsicher auf ihn zu. Die Löcher ihrer schwarzen Netzstrumpfhose waren doppelt so groß wie bei ihrem letzten Besuch. „Mensch, Junge! Du bist nicht mal angezogen!“

Der schwarz bemalte Schmollmund schob sich Daniel fingerbreit entgegen. Susannas Kuss schmeckte nach Schminke, seiner nach Whiskey. Sie waren quitt.

„Du hast es versprochen, an meinem Geburtstag führst du mich edel aus.“

Mit saftigem Schmatzen zog sie ihren Kaugummi aus dem Mund und klebte ihn unter die Tischplatte. Ihr Geburtstag. Daniel hatte ihn völlig vergessen. Als er ihr das Versprechen gegeben hatte, war die Bruderschaft noch eine dunkle Erinnerung gewesen.

„Mach mal hin, es ist schon nach neun. Beste Ausgehzeit.“

„Ich kann nicht. Tut mir leid.“ Um elf hatte er einen Termin. Er würde bis zwölf dauern. Hatte er Lucy nicht eine ganze Nacht schenken wollen?

„Hörst du mir nicht zu?“ Susanna schnappte sich sein Kinn und hob es an. „Ich habe Geburtstag.“

„Herzlichen Glückwunsch.“

Eine Kunstlederstiefelette platzierte sich auf der rechten Stuhllehne, eine auf der linken. Der kurze Rock aus schwarzem Samt wurde hochgeschoben und verschaffte Daniel interessante Einblicke. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er sie genossen.

„In edlen Restaurants bevorzugen sie die Anwesenheit von Unterwäsche und das Fehlen jeglicher Löcher. Und zwar in sämtlichen Kleidungsstücken.“ Anscheinend hatte bisher niemand Susanna darüber informiert.

„Dafür habe ich mir die Haare frisch gefärbt.“ Pappharte grüne und schwarze Stacheln standen geometrisch angeordnet von ihrem hübschen Kopf ab. „Und George schläft unten in der Butterdose. Du siehst, ich war brav.“

„Fein, das ersetzt aber nicht makellose Kleidung.“

„Du bist halb nackt.“ Verträumt spielte Susanna mit dem Whiskeyglas. „Darf ich?“ Schon war es an den Lippen.

„Du bist minderjährig.“

„Das hat dir nie etwas ausgemacht.“

„Aber deiner Leber. Glas weg.“

„Komm schon, ich bin siebzehn!“ Ihr spitzes Knie schob sich durch eine gigantische Laufmasche.

„Heute geworden. Das gilt nicht.“ Er leerte das Glas mit einem Schluck. Seine Kehle brannte höllisch.

„Du siehst schrecklich aus, Daniel. Wie viel hast du getrunken?“

„Zu wenig.“ Er schenkte sich den Rest ein, sie nahm ihm das Glas aus der Hand. Hatte sie ihm nicht zugehört?

„Du hast Stoppeln im Gesicht, Süßer. Von dem Trübsinn, der dir aus dem Mundwinkel tropft ganz zu schweigen.. Was ist los?“

Daniel legte seinen Kopf auf ihr Bein. Er war plötzlich viel zu schwer. „Vertraust du mir?“

„Natürlich. Zärtlich zauselte sie seine Haare. Ohne dich hätte man mich eines Tages aufgedunsen aus der Themse gefischt.“

Ob sie das ernst meinte? Es wäre schade um ihr junges Leben gewesen.

„Erinnerst du dich noch daran, was ich dir von dem ältesten Syndikat der Welt erzählt habe?“

Susanna nickte. „Die anonymen Meister.“

„Sie haben mich gefunden.“

Unter dem weißen Make-up wuchsen rote Flecken. „Oh Gott.“

„Nein, der hat damit nichts zu tun.“ Die Bruderschaft unterstand nur sich selbst.

„Was wollen sie von dir?“ Ihr ängstlicher Blick verriet, dass sie die Antwort längst kannte.

„Ich soll ein Ziel eliminieren. Was sonst?“

„Verweigere dich ihnen.“

Sein Lachen klang selbst in seinen Ohren schauerlich. Das Handy klingelte. Keph war dran.

„Du weißt, dass dir nur ein paar Stunden bleiben?“

Daniel versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber alles in seinem Kopf schwamm hin und her. Er schnappte das Whiskeyglas, das wieder auf dem Weg zu Susannas Mund war.

„Daniel? Bist du noch dran?“

„Wo ist sie jetzt?“

„Wieder im Krankenhaus. Hast du was zum Schreiben?“

Daniel riss das Etikett von der Flasche und tat, als ob er mit einem unsichtbaren Stift in der Luft schrieb. Susanna tastete ihre Taschen ab und hielt ihm schließlich einen Kuli hin.

„Leg los.“

Eine Klinik in Marylebone. Es war so weit. Was hatte er gedacht? Dass ein Wunder geschah? Susanna sah ihn fragend an.

„Ein Freund.“ Er wischte das Glas vom Tisch. Es zersprang auf dem Steinboden. Warum auch nicht? Das war sein gutes Recht. Gläser hatten Rechte. Das Recht, ausgetrunken zu werden, das Recht, abgewaschen zu werden, das Recht, zerschlagen zu werden. Nur er hatte keine Rechte. Er hatte nichts. Hatte seinen Körper, seinen Geist und seine Seele Mahawaj für fremde Zwecke überlassen.

„Ich bin betrunken.“

„Ach.“ Susanna zog die Nase hoch, rutschte vom Tisch und balancierte über Scherben. „Wo ist das Kehrblech?“

„Lass die Scherben Scherben sein.“ Er stand auf, fühlte die scharfe Glaskante unter seinem Fuß und trat drauf. Zerbrochenes Glas bohrte sich in sein Fleisch. Er zog es heraus, das Blut tropfte auf die Steine.

Susanna kam zu ihm und besah sich die Wunde. „Du bist so blöd, wie du blau bist!“

Der Schmerz kroch langsam den Unterschenkel hinauf. Seltsam, dass ihm der Fuß nicht zu genügen schien. Seine Jacke landete in seinem Schoß.

„Anziehen. Du blutest wie Sau. Ich fahr mit dir in eine Klinik.“

Daniel reichte ihr das beschriebene Etikett.

 

*

 

Ab und zu kam die Schwester und lotste einen Patienten mit sich, ab und zu kam ein neuer. Die Luft wurde stickig und der Schweißgeruch penetrant. Lucy bereute, dass sie hier war. Vielleicht hätte ein Kirschkernkissen auch genügt.

„Du kannst gehen. Du hast Geburtstag und solltest feiern. Auch ohne mich.“

Daniel?

Er humpelte in den Warteraum. Eine junge Punkerin stützte ihn. Sofort begann Lucys Herz zu galoppieren. Er lächelte das Mädchen an, steckte ihm ein paar Scheine zu. Ihre Brauen zuckten überrascht und sie gab ihm einen Kuss, bevor sie ging. Die Enttäuschung schmerzte mehr als ihr Genick. Dieses Mädchen durfte nicht seine Freundin sein.

Lucy zwang sich, ihn anzulächeln. Aus rot geäderten Augen lächelte er zurück. Er war betrunken, unrasiert und stank nach Whiskey, als er sich neben sie setzte.

„Wie war es mit Peter?“ Daniel legte sein Bein auf sein Knie. Aus dem Schuh tropfte es rot auf das Linoleum.

„Aufschlussreich.“ Peter hatte sich von einer Seite gezeigt, die er bisher komplett vor ihr verborgen hatte.

Daniel nickte ernst. „Mein Grund, hier zu sein, ist offensichtlich, aber warum bist du hier?“

Die Sanftheit seiner Stimme war betörend. Sie klang nicht nach Alkohol. Sie klang nach dem Flüstern in Ethans Laden, als er sie an sich gezogen hatte, sie berührt und ihr Zärtlichkeiten ins Ohr gewispert hatte.

Wieder ging die Tür auf. Ethan stürmte den Warteraum. Irritiert sah er zu ihrem neuen Nachbarn. Dann nickte er knapp und beugte sich zu Lucy hinab.

„Der Ring. Ich will ihn aus deiner Wohnung holen. Gib mir den Schlüssel.“

Lucy fischte ihn aus der Handtasche. „Leg den Schlüssel ins Versteck.“ Wenigstens war der Blumentopf mit der Kunstpalme ein originellerer Ort für Schlüssel als der Platz unter der Fußmatte.

Ethan küsste sie auf die Wange und eilte davon. Bildete sie es sich ein, oder war er wirklich ungewohnt besorgt?

Daniel starrte Ethan hinterher. Dann lächelte er unsicher. „Und? Warum bist du hier?“

„Ich hatte einen Unfall.“

„Das tut mir leid.“

Unsichere Finger schoben ihre Stola zur Seite und streichelten über ihre verspannten Schultern. Lucy nahm seine Hand weg. Warum erklärte er ihr nicht, wer das Mädchen war?

Daniel legte die Hand in seinen Schoß, als ob er nicht mehr wüsste, was er jetzt damit anstellen sollte. Nacheinander betrachtete er die anderen Wartenden, dann seinen Fuß, dann sie. Er musste Schmerzen haben, aber er wirkte nicht wie ein Mensch, dem etwas wehtat. Er wirkte wie ein Mensch, der verloren gegangen war. Ein armer schwarzer Kater mit seidigem Fell, das ihm ständig vor die Augen fiel.

„Rede mit mir.“ Sein trauriger Blick schmolz ihren Zorn. Am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen. „Warum blutet dein Fuß?“ Die rote Pfütze wurde immer größer.

„Eine Unachtsamkeit meinerseits.“ Sein Blick blieb an ihren Lippen hängen. Er lehnte den Kopf an die Wand und sah sie weiter an. „Du zuckst zusammen, wenn du dich bewegst.“

„Wie gesagt, ich hatte einen Unfall.“

Sein träges Nicken schuldete er sicher den Prozenten, die durch seine Adern flossen.

„Ich kann dich auf eine Art lieben, bei der weder dein verspanntes Genick noch mein Fuß stören würden. Hast du Lust?“

Ihre Spucke wollte nicht geschluckt werden. Dabei war ihr Mund voll davon.

Ein Typ mit Knollennase lachte, aber Daniel sah sie aufrichtig an. Die Sehnsucht in seinem Blick verwandelte sich in etwas, das bereits Erfüllung gefunden hatte. Er stellte sich vor, sie zu lieben. Er verbarg seine Gedanken nicht vor ihr. Mit offenen Augen träumte er eine Liebesnacht mit ihr in ihren Kopf, in ihren Körper, der sich plötzlich schmerzlich nach Daniels Berührungen sehnte.

„Du brauchst dich nicht zu bewegen, nur zuzulassen und zu genießen. All deine Schmerzen, all deine Sorgen würde ich von dir nehmen.“ Seine Hand lag plötzlich nicht mehr in seinem, sondern in ihrem Schoß. Ganz entspannt, mit der Handfläche nach oben. „Sieh dir meine Lebenslinie an.“

Lucy fuhr mit dem Finger über warme Haut. Die Linie überzog die gesamte Fläche und wurde von zahllosen Falten gekreuzt.

„Glaubst du mir, dass ich schon oft gestorben bin?“

„Dafür hast du dich gut gehalten.“ Ihr Lachen geriet zu kieksig.

„Ich scherze nicht. Jede dieser kreuzenden Linien ist ein Tod, gefolgt von einem neuen Leben.“

Eine tiefe Traurigkeit rollte über sie hinweg. Es war nicht ihre, doch sie presste ihr Herz zusammen, wie an dem Tag, als die Nachricht vom Tod ihrer Eltern kam. Sie umschloss seine Hand. Mit Traurigkeit kannte sie sich aus. Dagegen half nur Trost. „Du bist betrunken.“

„Ich weiß, aber das ändert nichts an den Tatsachen.“

 

*

 

Lucys wunderschöne Augen versuchten, ihn empört anzufunkeln. Es gelang ihnen nicht. Sein Lächeln lockte ihr Lächeln. Es war überrascht, etwas verunsichert und er wollte es noch viele Male sehen, doch nach dieser Nacht wäre es für immer verschwunden.

„Mr. Levant?“

Die Krankenschwester sah müde aus. Sie blickte in die Runde und für einen Moment war die Vorstellung verlockend, zu schweigen und stattdessen mit Lucy an einen Ort zu verschwinden, an dem sie vor allem verborgen war. Diesen Ort gab es nicht. Außerdem würde er sie vollbluten. Das würde sie ablenken. Die Dinge, die er mit ihr tun wollte, vertrugen keine Ablenkungen. Er hob die Hand.

„Kannst du Blut sehen, Lucy?“

„Ich kann mit Leichen das Bett teilen.“

„Dann komm mit und halte meine Hand.“

Auch wenn die Krankenschwester die Augen verdrehte, Lucy ging mit. Sie lachte leise vor sich hin, als sie den Flur überquerten und ins Behandlungszimmer gingen. Er würde sie heute nicht mehr loslassen, bis sie in seinen Armen gestorben war. Danach würde er in der Finsternis ertrinken.

„Philippa Lucinde Violetta Sorokin!“

Lucy zuckte neben ihm zusammen, als der Arzt überrascht aufsah. „Ich dachte mir schon, dass wir uns bald wiedersehen.“ Verblüfft bemerkte er die Blutspur hinter Daniel. „Ich denke, wir sollten die Regel Ladys first für einen Moment ignorieren und mit dem Fuß anfangen.“

„Also gut. Zuerst mein Fuß und dann nichts mehr.“

Lucy trat ihm auf den anderen. „Ich habe ein steifes Genick und kann mich kaum rühren. Ich will eine Spritze!“

„Gute Wahl.“ Während der Arzt Daniels Fuß aus dem durchtränkten Schuh zog, schüttelte er den Kopf. „Was haben Sie gemacht?“

„Scherben bringen Glück.“ Daniel malte mit dem Daumen Kreise auf Lucys Handfläche. Sie sah ihn nicht an, aber um ihren Mund zuckte es. „Du brauchst keine Spritze. Du brauchst mich.“ Der dünne Stoff ihres Oberteils straffte sich über ihrer Brust. „Wir hätten die ganze Nacht.“ Es war eine seiner schwärzesten Lügen, doch der Köder hing. Gedanklich schnupperte sie daran. Ihre Augen leuchteten und das verträumte Lächeln wollte ihre Lippen nicht verlassen.

„Und du flüchtest nicht im letzten Moment?“

„Nicht, wenn auch du bleibst.“

Der Arzt sah hin und her wie bei einem Tennismatch.

„Ich habe die Ewigkeit vieler Leben. Ich könnte dich über den Tod hinaus lieben.“

Lucy schluckte, die Nadel stach in sein Fleisch, zog den Faden nach. Sie sah den Handgriffen des Arztes schweigend zu, während sie immer wieder über seine Handfläche streichelte.

„In einer Woche kommen Sie zum Fäden ziehen.“ Der Arzt wandte sich zu Lucy. „Nun zu Ihnen. Spritze oder nicht?“

Ihr Blick fragte Daniel. Er schüttelte den Kopf. „Betäube heute Nacht weder deine Sinne noch deine Nerven. Dir würde zu viel entgehen.“

Sie biss sich auf die Lippen. Ihre Hand in seiner verkrampfte sich und wurde feucht. Ein zarter Glanz überzog ihre Augen, die andere Dinge sahen als sterile Skalpelle und weiße Metallschränke. Ihr Mund öffnete sich, sog die Luft ein, die ihr schnell schlagendes Herz brauchte. Es gab keinen schöneren Anblick als eine Frau, die sich auf die Liebe freute.

„Keine Spritze.“

Der Arzt zuckte die Schultern. „Wie Sie möchten.“ Das Rezeptblatt, das er schon in der Hand hielt, nahm ihm Daniel ab.

„Ich brauche keine Schmerztabletten.“

„Noch nicht, aber die Betäubung wird nachlassen, dann brauchen sie sie garantiert.“

Gegen die Schmerzen, die nach dieser Nacht auf ihn lauern würden, wären sie nutzlos. Der Blick des Arztes kribbelte in Daniels Rücken, als er mit Lucy an der Hand hinausging. Die Krankenschwester reichte ihm zwei Krücken und tippte auf eine Zeile, wo Unterschrift stand. Eine der Krücken gab er ihr wieder zurück. „Eine Hand brauche ich frei. Für Philippa Lucinde Violetta.“ Die Namen waren Honig auf seiner Zunge. Er würde sie in Lucys Mund hauchen, bevor er ihr den Atem nahm.

 

*

 

Die Offenheit seiner Worte verführte sie ebenso wie sein sinnlicher Mund.

„Wer war das Mädchen vorhin?“

Nur ein Mundwinkel kletterte etwas höher. „Susanna. Eine Freundin.“

„So wie Grace?“ Lucys Wangen brannten. Sie war die Letzte, die ein Recht hatte, eifersüchtig zu sein.

„Nein. Eher wie eine Tochter. Es gibt nicht viele Menschen in ihrem Leben, denen sie vertrauen kann.“

„Und du gehörst dazu?“

Daniel nickte. Lucy konnte das Mädchen verstehen. Sie selbst hätte Daniel ihr Leben anvertraut.

„Hast du keine Angst, dass ich dich enttäuschen könnte? Ich bin eine Diebin.“ Sie wollte lächeln, aber stattdessen wuchs ein Tränenkloß in ihrem Hals. Hinunterschlucken ging nicht, wegräuspern auch nicht.

„Das wirst du nicht.“ Daniel zog sie vor sich, streichelte ihren Arm hinab. „Dein Blick verrät, was du haben möchtest.“ Sein Gesicht kam näher, seine Lippen streiften ihre. „Deine Stimme verrät mir, was du fürchtest und dein Mund will genau das, was meiner auch will.“

Zärtliche Küsse betupften ihr Kinn, wanderten zu ihrem Kehlkopf, der eingeschnürt in ihrem Hals die Luft daran hinderte, geatmet zu werden. Lucy legte den Kopf in den Nacken. Jeder Kuss löste den Druck etwas mehr, bis der Tränenkloß endlich in winzige Splitter zersprang. Sie stachen nur kurz, nur bis zum nächsten Kuss. Dann verschwanden sie.

„Wir werden einander nicht enttäuschen.“ Er sprach ruhig und besonnen und mit felsenfestem Vertrauen in seinen Worte.

Lucy wandte sich ab. In den Tiefen ihrer Handtasche musste ein Taschentuch sein. Ihre Tränen hingen schon an den Wimpern, und als sie zwinkerte, tropften sie in zartgrünes Satin.

„Lucy?“

„Alles gut. Achte nicht auf mich.“ Wenn er sie weiter mit diesem Mitgefühl ansah, würde sie ihre Handtasche fluten.

„Ich soll nicht auf dich achten, obwohl du weinst?“

„Ich weine nicht. Ich habe …“

„… Staub ins Auge bekommen.“

„Genau.“

Daniel zog mit seinem Zeigefinger einen unsichtbaren Strich über ihre Stirn bis zur Nasenspitze. „Wenn du lügst, wird deine Nase lang und spitz, Pinocchio.“

Das Letzte, was sie wollte, war lachen. Sie tat es trotzdem.

„Lass uns zu mir fahren und herausfinden, warum du weinen musstest.“

Der Sensor der Eingangstür erfasste sie und langsam schoben sich die Glastüren zur Seite. Vor dem Krankenhaus wartete eine lange Schlange Taxen geduldig auf potenziellen Inhalt. Lucy stolperte über ihre eigenen Füße. Daniel musste sie für tollpatschig, überspannt, wenn nicht gar hysterisch halten, was sie im Moment alles war.

Daniel blieb stehen. Sein intensiver Blick suchte etwas, das tief in ihr liegen musste. „Fürchte dich nicht.“ Er hob ihre Hand an seine Lippen und küsste sie, ohne Lucy aus den Augen zu lassen. „Und lass dich auf mich ein.“

Der Taxifahrer kam ums Auto und hielt ihnen die Tür auf. Daniel legte vorsichtig den Arm um sie und ließ sie auf die Rückbank gleiten. Er stieg von der anderen Seite ein, nannte dem Fahrer eine Adresse, die sie nicht kannte. Seufzend lehnte sich Daniel zurück und sah zum Dach des Wagens. Plötzlich wirkte er so unglücklich, wie man nur sein konnte.

„Heute Nacht brauche ich deine Gesellschaft. Wenn du dich von mir lieben lassen willst, wird es mir eine Freude sein. Wenn du mich lieben willst, werde ich jede deiner Berührungen bis zum Ende genießen.“

In ihrer Vorstellung kletterte sie auf seinen Schoß, legte sein Gesicht an ihre Brust und liebte ihn, bis er keinen Atem mehr hatte, um Worte wie Traurigkeit oder Resignation auch nur zu denken.

Seine Hand lag auf ihrem Schoß, verschlungen in ihrer. Seine Finger lösten sich und streichelten die Innenseite ihres Schenkels. Die Zartheit seiner Berührung löste ein Beben in ihr aus, dessen Epizentrum dicht an seinen einfühlsamen Fingerspitzen lag.

„Stell dir vor, es wäre meine Bestimmung, dich zu lieben und deine, dich von mir lieben zu lassen.“ Seine Stimme lockte sie an einen Ort, der dunkel und warm war und Geborgenheit versprach. „Dann wäre es gleichgültig, dass du eine Diebin bist. Dann wäre es gleichgültig, dass ich ein Auftragskiller bin. Nur deine Hingabe wäre von Bedeutung.“ Er küsste ihre Schläfen, ihre Wange und liebkoste ihren Mundwinkel mit der Zungenspitze. „Gib dich mir hin, Lucy. Ganz und gar. Ohne Bedenken, ohne Ängste, und ich werde dich an einen Ort führen, der dich für immer schützen wird.“

Die Verlockung war unendlich. Nicht nur die Worte, auch die Berührungen in ihrem Schoß. Lucy rutschte auf dem glatten Bezug weiter nach vorn. Berauschend langsam machte Daniel von den Möglichkeiten Gebrauch, die sie ihm dadurch eingeräumt hatte. Sein Tasten und Streicheln war ein zartes Versprechen. Allesamt durch glatte Stoffe gegeben. Lucy schloss die Augen und spürte dem Weg seiner verführenden Fingerspitzen nach. Sie musste sich auf die Lippen beißen, um dem Fahrer keinen Grund zu geben, nach hinten zu schauen.

 

*