Seine Lippen trennten sich von ihren, sein Griff um ihre Hüfte wurde schlaff. Wie ein Kartoffelsack fiel er zurück in die Kissen.

Süß, die schwarzen Locken. Lucy strich vorsichtig darüber. „Danke für wundervolle fünf Minuten, Kolja Grigorjew.“ Sie küsste seinen vollkommenen Mund. Er würde sich erst in den frühen Morgenstunden wieder bewegen können. Das Fläschchen mit den K.-o.-Tropfen stand auf der Louis-quinze Kommode neben dem üppig drapierten Bett, verborgen hinter dem Leuchter. Hatte sie zu viel davon in den Wodka getan? Sollte Kolja nicht mehr erwachen, würde sie es nie erfahren. Morgen schon war sie bei Ethan in London. Zusammen mit allen Kostbarkeiten, die sie aus diesem Zimmer entfernen würde.

Moskau war eine aufregende Stadt.

Koljas Hand lag entspannt auf seiner Brust, die sich eben noch unter schnellen Atemzügen gehoben und gesenkt hatte. Fünf Minuten Ekstase. Dann hatten seine Lider geflattert. Lucy zog eines seiner Augenlider hoch. Keine Pupille war zu sehen, alles war weiß. Von Koljas Brust strömte noch der herbe Geruch. Beinahe zu kräftig, aber im entscheidenden Moment hatte der Duft sie mitgerissen. Dieser Mann war extrem. Seine Ausstrahlung, seine Dynamik, seine Vorlieben im Bett.

Der Smaragd war in Gold gefasst und zierte Koljas Hand beinahe zu protzig. Behutsam zog sie den Ring vom Finger. Er würde Ethan reicher machen und damit ihr Gewissen beruhigen. Wie wunderschön er war und wie schwer er in ihrer Hand lag. Selbst wenn sie ihn über den Daumen zöge, wäre er zu weit. Haarfeine Zeichen zogen sich über das Gold. Symbole, die Lucy weder kannte noch kennen wollte, aber eines wusste sie mit hundertprozentiger Sicherheit. Der Ring war ein Vermögen wert. Mit oder ohne Striche, Zacken und Dreiecken.

Kolja war ein reicher Mann. Das Apartment quoll über vor Kostbarkeiten. Vor allem die bibliophilen Raritäten in den Regalen aus geschwärztem Eichenholz lockten ein freudiges Kribbeln in Lucys Finger.

Dantes Göttliche Komödie. Eine Ausgabe von 1472? Das konnte nicht sein. Ob ein Mann wie Kolja Grigorjew Verwendung für Dante Alighieris Werk hatte? Der zweite bis vierte Kreis der Hölle war für die Maßlosen reserviert. Maßlos war Kolja in jedem Fall. Er hatte sie an seine Lippen heben und austrinken wollen wie einen kostbaren Wein. Lucy hatte es für eine charmante Metapher gehalten. Das Gefühl von Gefahr saß ihr jetzt noch im Nacken und die Striemen, die seine Fingernägel auf ihrem Rücken und Hintern hinterlassen hatten, musste sie irgendwie vor Peter verbergen. Obwohl, vielleicht auch nicht. Peter sah ohne Brille kaum etwas, und wenn er sie in der Löffelstellung nahm, waren sämtliche Lichter aus.

Kolja hatte ein Faible für sakrale Kunst. Eine antike Marienfigur mit dem obligatorischen blauen Mantel und roten Kleid stand auf dem Kaminsims. Dahinter hing die kleinste Ikone, die ihr je untergekommen war. Wundervolle Blau- und Goldtöne, ein Hauch Rot und das Gesicht der Madonna wirkte dunkel, als hätte sie einen dreiwöchigen Urlaub in der Karibik hinter sich. Ethan würde begeistert sein. Ikonen, alte Seekarten, Aktienzertifikate der East Indien Companie. Es war leicht, ihn glücklich zu machen, wenn man eine talentierte Diebin war, die sich mit altem Plunder auskannte.

An einigen Stellen blätterte die Farbe bereits ab. Als ob es ein rohes Ei wäre, nahm Lucy das Heiligenbild von der Wand und legte es auf die Kommode. Was gab es noch? Igor hatte ihr diesen Grigorjew nicht umsonst vorgeschlagen.

Lucy schlenderte durch den Raum. Im Bücherregal neben der Anrichte standen in Leder gebundene Bibeln, bei denen der Rücken bereits klaffte. Wasserschaden oder Alter oder beides. Ethan besaß genug dieser Dinger. Auf dem zweituntersten Brett, kaum noch als Buch erkennbar, stand ein Epistolarium. Beim Umblättern brach ein Stück der ersten Seite ab. Verdammt! Das Werk kam aus Ivan Fedorovs Buchdruckerei. Sechzehntes Jahrhundert. Es hatte alle Rechte der Welt, in ihrer Hand zu zerbröseln. War Kolja irre, diese Kostbarkeit offen der ätzenden Luft Moskaus auszusetzen? Es gehörte unter Glas und nicht in Smog.

Kolja sog zischend Luft ein. Lucy erstarrte zur Salzsäule. Wenn jetzt die Schnappatmung einsetzte, wäre es um ihn geschehen. Sie wartete, doch nichts geschah. Kolja blieb ruhig. Wäre es Mord, Totschlag oder einfach nur ein Versehen, wenn er jetzt sterben würde? Ein Versehen. Sie würde das jedem Richter der Welt erklären können aber so weit durfte es nicht kommen. Lautlos schlich sie ins Bad. Dicke, weiche, purpurfarbene Handtücher stapelten sich auf einem zierlichen Tischchen mit Klauenfüßen und Marmorplatte. Sie wickelte die Bücher vorsichtig hinein.

Kolja lag in den Laken unschuldig wie ein Heiliger. Dass er keiner war, hatte ihr diese Nacht gezeigt. Ein Berserker, der nicht einmal seine Uhr abgenommen hatte. Einige der Kratzer stammten mit Sicherheit von dem Metallarmband und nicht nur von seinen Fingernägeln. Die Breitling war schick. Sie wäre das ideale Weihnachtsgeschenk für Ethan und hatte noch spielend Platz in ihrem Handgepäck.

„Ruhe süß, Kolja. Und danke für die unfreiwillige Gabe.“ Ein letzter Kuss, dann streifte sie das rubinrote Seidenkleid über, hüllte sich in den Kaschmirmantel und tauschte die nadelspitzen Stöckelschuhe gegen pelzgefütterte Winterstiefel. Die schmale Umhängetasche verschwand unter dem Mantel und barg Lucys Beute. Igors Tipp war Gold wert gewesen und Gold würde sie dafür empfangen. Und zwar viel davon.

Das verkohlte Scheit brach im Kamin zusammen. Es wurde Zeit, dass sie verschwand. Der Ring und die Uhr würden mit ihr fliegen, die Ikone und das Buch morgen in einem kleinen schlichten Paket das Land verlassen. Viele unscheinbare Pakete verließen Moskau. Jeden Tag. Dieses würde nicht weiter auffallen. Die Stichproben würde es unversehrt überstehen, und dann landete es da, wo es hingehörte; bei Ethan Scarborough, Clerkenwell, London. Dem absoluten Geheimtipp für alle antikbesessenen Artefakt- und Kunstjäger. Nur ein wenig Glück. Das hatte sie immer besessen. Sie hatte sich angewöhnt, damit zu kalkulieren.

Schlug sein Herz noch? Sie legte die Hand auf seine Brust. Irgendwo war da eine Bewegung, ein Puls. Das musste reichen. Armer Kerl. Er hatte eine Jana Kusnezow geliebt und wurde von einer Lucy Sorokin bestohlen.

Für Gewissensbisse war keine Zeit. Das Mikrofasertuch war weich. Ihre Fingerabdrücke mussten weg. Das Champagnerglas, die Flasche, die Schale mit Erdbeeren. Der Bettrahmen? Für einen Moment hatte sie sich daran festgeklammert. Was noch? Das Bad! Lucy huschte durch die Suite, wischte über alles, was ihr sonst einen Strick drehen konnte. Die Schuhe würde sie in den Müllschlucker werfen. Ebenso die rote Perücke und das leere Fläschchen. Der Witz von Barockspiegel zeigte ihr deutlich den elenden roten Strich, den das Klebeband auf ihrer Stirn hinterlassen hatte. Gut, dass die Haarpracht überhaupt sämtlichen Belastungen standgehalten hatte. Ab und zu war es knapp geworden.

Die kläglichen Reste des Scheites knackten in der Glut und dimmten das rot flackernde Halbdunkel noch dunkler. Lucy hauchte einen Kreis in die dicken Eisblumen der Fensterscheibe. Die Straße war leer. Träge vor Kälte schwappte die Moskwa an die Kaimauer. Komm schon, Igor. Lass mich nicht warten.

Um die Ecke rollte etwas, das in seinem früheren Leben ein Auto gewesen sein mochte. Igor verprasste sein ergaunertes Geld für alles und jeden, warum legte er sich nicht ein ordentliches Auto zu? Lucy fädelte den Ring auf ein Lederband und hing ihn sich um den Hals. Die grüne Glut tief in ihm pulsierte im Feuerschein. Vor dem Einchecken würde sie ihn Peter überziehen. Als Edel-College-Ring mochte er durchgehen. Auf ihrer Haut wurde er sofort warm. Ein letztes Mal sah sie sich um. Alles gut, sie würde spurlos verschwinden.

Über die Wände huschten Schatten, der Raum schwankte. Lucy blinzelte. Hatte sie zu wenig gegessen? Zu viel getrunken? Auf dem Weg zur Tür stolperte sie über die Teppichkante. Verfluchter Mist. Sie musste sich konzentrieren. Sie atmete ein paar Mal tief durch. Ihre Sicht wurde wieder klar und sie schlich aus dem Zimmer. Alle Utensilien, die sie verraten konnten, rutschten durch den Müllschluckerschacht und der Aufzug sauste mit ihr sechs Stockwerke nach unten.

Der Wachmann an der Eingangstür sah nicht hoch. Er spielte mit seinem iPhone, sonst hätte er bemerkt, dass die Frau, die an ihm vorbeihuschte, eine andere war als die, die vorhin am Arm von Grigorjew an ihm vorbeigeschritten war. Es war wundervoll, die Identitäten zu tauschen wie andere Frauen die Pumps.

Nicht zu schnell und nicht zu langsam ging sie bis vor zur Ecke. Igor wartete bereits mit laufendem Motor, dessen Abgase die gesamte Kotelnitscheskaja-Uferstraße verseuchten.

„Lohnend?“ Er beugte sich über ein Monster von Handbremsengriff und küsste sie zur Begrüßung nass auf den Mund. Seine Stoppeln kratzten über ihr Kinn. „Du riechst nach ihm, oder stammt die Moschuswolke von dir?“

„Sie stammt von ihm und sie hat mich ganz wuschig gemacht.“

Igor lachte. Es klang wie ein Bellen. „Typen wie er schneiden den Moschushirschen das Sekret eigenhändig aus der Bauchdrüse. Habe ich dir erzählt, dass er in Kasachstan regelmäßig Jagd auf die armen Viecher macht?“

Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken. Bevor sie ins Bett steigen würde, würde sie stundenlang duschen.

Schnüffelnd neigte sich Igor noch etwas weiter zu ihr. „Soll ich dich wirklich zu deinem langweilig distinguierten Briten karren?“

„Pass auf, was du sagst. Offiziell bin ich mit Peter liiert. Von meinem kleinen Ausflug zu Kolja hat er keine Ahnung.“ Und das sollte auch so bleiben. Vor allem, weil sie nicht vorgehabt hatte, es so weit kommen zu lassen, wie es gekommen war. Peter war ohnehin erstaunlich blauäugig, was ihre kriminellen Machenschaften anging. Seine Ignoranz allem gegenüber, das nicht in Stein gemeißelt war, machte ihn zum perfekten Alibi-Mann.

„Der Kerl hat keine Ahnung, dass du ihn schamlos ausnutzt?“ Igor sah sie ungläubig an. „Wie dämlich ist der?“

Das schlechte Gewissen schlich sich zwar langsam an, aber stetig. In London würde sie bei geeigneter Gelegenheit diese Zweckbeziehung beenden, von der nur Peter dachte, dass sie romantischen Ursprungs war.

„Fahr mich zu ihm. Ich bin müde.“

„Guter Witz.“ Igor grinste sie an, und als sie nicht reagierte, zuckte er die Schultern. „Dann hat der Kerl dich echt geschafft?“

Was auch immer Kolja geschafft hatte, ihr war schwindelig, ihre Haut glühte, als ob sie krank würde und ständig verschwamm ihre Sicht. Für Kreislaufschwächen war eine Flucht der gänzlich ungünstigste Zustand. Lucy legte ihm die eingewickelten Bücher und die Ikone auf den Schoß. „Schick das so schnell wie möglich zu Ethan. Es muss raus aus Moskau.“

Igor schenkte ihrer Beute nur einen kurzen Blick. „Mehr hast du nicht von dem Pfeffersack genommen? Der Kerl stinkt vor Geld.“

Igor durfte nicht misstrauisch werden. Sie hatte ihn bereits für seine Hilfe entlohnt, doch wenn er von dem Ring um ihren Hals wüsste, würde es eng und die Breitling würde auch unter seinem Weihnachtsbaum gut aussehen.

„Man soll nicht zu gierig sein. Wenn er zu viele Dinge morgen früh schmerzhaft vermisst, hetzt er nachher noch die Behörden auf mich.“ So würde er den Diebstahl verschmerzen können. Für eine kleine Diebin lohnte die Mühe nicht, russische Bürokratenmühlen anzustoßen. Sie würden zu viele Fragen stellen, die ein Mann wie Grigorjew niemals freiwillig beantworten würde. Igor hatte ihr versichert, dass Kolja Grigorjew ein Mann war, der selbst auf dunklen Pfaden zu Einfluss und Reichtum gekommen war.

„Genießt dich dieser stocksteife Peter auch noch oder bekommt der nicht mit, dass du erst zwei Sekunden vor ihm unter die Bettdecke schlüpfst?

„Gute Frage, Igor. Manchmal denke ich, dass Peter nichts mitbekommt, was mit mir zu tun hat.“

Er würde bis in die frühen Morgenstunden mit Gleichgesinnten über Fotografien alter Steininschriften hängen. Deshalb war er in Moskau.

„Peter ist Peter. Er ist nützlich.“ An seiner Seite reiste sie durch die Welt. Von Epigrafiker-Treffen zu Konferenzen diverser Altphilologen-Verbände. Er studierte, tauschte sich aus, war schlau und sie knüpfte Kontakte und stahl.

„So, bitte sehr. Du wolltest es nicht anders.“ Igor hielt vor ihrem Hotel. „Melde dich, wenn du in London bist.“ Noch ein flüchtiger Kuss und er fuhr davon. Abschiede gestaltete er nie übertrieben emotional.

Der Nachtportier lag auf einem Feldbett hinter der Rezeption und schlief tief und fest. Für ein drittklassiges Hotel wie dieses war sie overdressed bis zum Anschlag, doch er sah es zum Glück nicht und konnte keine neugierigen Fragen stellen.

Die Treppe musste sie sich am Geländer hochziehen. Was war nur mit ihr los? Ihr Körper glühte, ihre Beine gaben nach und trotzdem war eine Unruhe in ihr, die sie nicht von sich kannte.

Bevor sie aufs Bett fiel, streifte sie die Stiefel ab. Alles andere würde bleiben, wo es war.

 

*

 

Ein Lufthauch ließ die Flamme zittern. Daniel war zu erschöpft, um den Kopf grundlos zu heben. Ein Geräusch. Er hatte es am Rand seines Bewusstseins wahrgenommen. Es war unwichtig, rührte von dem Nachtwind, der sich durch das alte Backsteingemäuer wagte, um ihn um diese Nacht zu beneiden. Wieder ein Hauch. Die Flamme zischte und Wachs tropfte auf den ausgeblichenen Schädelknochen. Jemand war im Raum. Jemand, den er kannte.

„Wie ist das?“

Daniel fuhr hoch. Diese sanfte Stimme, die sich keine Mühe gab, den Spott zu verbergen, hatte er seit zwei Leben nicht mehr gehört. Am Fuß des Bettes, lässig an den Pfosten gelehnt, stand Kepheqiah. Die dunklen Haare waren zu einem strengen Brahmanenknoten geschlungen und die hagere Gestalt wurde von einem maßgeschneiderten Anzug umhüllt.

„Du steckst ihn rein, rührst herum und sie japst nach Luft?“

Jasmina lag entspannt quer über den Laken, den hübschen Kopf in ihre Armbeugen geschmiegt, und schlief. Die leise Stimme seines Gastes würde sie nicht wecken. Kepheqiah, ein Freund über Jahrhunderte, ein Verräter in einer einzigen Nacht. Daniel strich über Jasminas warmen Rücken. Sie wusste nicht, wem sie sich hingegeben hatte, doch es war belanglos, denn ihr würde nichts geschehen.

Kepheqiah trat an den Tisch, hielt das bauchige, sich nach oben weitende Glas ins Kerzenlicht und roch an dem letzten Tropfen des opalisierten Absinths.

„Du genießt ihn französisch?“ Er schloss die Augen und inhalierte das Aroma erneut. „Du tust gut daran. Die Penetranz des verbrannten Zuckers verdirbt seine Ursprünglichkeit. Obwohl die Flamme für mich einen ästhetischen Wert hat.“ Sein Blick glitt über den Schädel, der mehr und mehr unter dem Kerzenwachs begraben wurde. „Dich reizt der Tod?“

Die leeren Augenhöhlen klagten Daniel, nicht Kepheqiah an. Der Tod hatte ihn nie gereizt. Er war ein Job, den er perfekt beherrschte.

„Seit wann bist du da?“ Daniel richtete sich auf und gab Acht, dass die Decke Jasmina weiterhin wärmte.

„Zu lange.“ Kepheqiah sah konzentriert an Daniel vorbei. „Mir ist nichts vom dem hier erspart geblieben.“

Er hatte es nicht verdient, doch Daniel tat ihm den Gefallen, sich wenigstens die Jeans überzuziehen. Jede Bewegung war ein Kampf mit der Trägheit und dem zähen Schweiß, den ihm der lange und lustvolle Kampf mit Jasmina aus den Poren getrieben hatte. Auch sein Hemd war feucht. Bei dem Gedanken, den klammen Stoff auf der Haut zu fühlen, schüttelte es ihn. Kepheqiah würde den Anblick seines unbedeckten Oberkörpers ertragen müssen.

„Du hättest nicht hinsehen müssen, Keph. Du kennst mich. Was hast du erwartet?“

„Verzeih.“ Keph neigte leicht den Kopf. „Aber ich bin der Sensationslust eines Unbeteiligten zum Opfer gefallen.“ Sein teilnahmsloser Blick strich flüchtig über Daniel hinweg. „Du warst in dieser Frau.“

„Ja. Sehr lange, sehr oft. Warum fragst du?“

„Willst du dich nicht reinigen?“ Der schöne Mund verzog sich zu einer Wellenlinie. „Wir beide kennen Zeiten, in denen diese Unachtsamkeit den Tod nach sich gezogen hat.“

„Später.“ Die Nacht war noch nicht vorbei.

Keph kam ums Bett und setzte sich in den einzigen Sessel im Raum. „Hast du jetzt für mich Zeit?“ Die langen, schmalen Hände ruhten schwerelos auf den Lehnen. „Immerhin bin ich nur für dich nach London gereist.“

„Ich habe dich nicht gerufen.“

„Du hast dich lange vor mir und der Bruderschaft verborgen. Wir waren in Sorge um dich. Du bist einzigartig.“

„Das sind wir alle.“

„Du bist es auf eine besondere Weise, Daniel Levant. Übrigens ein schöner Name. Er passt zu deiner Passion. Trägt dich der Wind immer noch auf seinem Rücken?“ Der Blick seiner braunen Augen schweifte über die Rabenschwinge, die auf Daniels Schulter tätowiert war.

„Zuweilen. Was willst du von mir?“ Daniel setzte sich an den Tisch und zündete sich eine Zigarette an. Er schloss die Augen und wartete, bis der Rauch seine Lunge vollständig durchdrungen hatte.

„Du rauchst?“

„Nur nach der Liebe.“

„Liebe?“ Das Glühen in Kephs Blick wurde für einen Wimpernschlag intensiver. „Du wühlst im Dreck. Schämst du dich nicht?“

Emotionales Aufbegehren hatte Keph stets vermieden, also war auch sein Tadel gelassen. Er war der weltabgewandte Mönch geblieben, dem Daniel 1647 im Kloster zu Mont Saint Michel den Rücken gekehrt hatte. Das war schon viele Leben her.

„Sollte ich das? Mich schämen?“ Für die eigenen Sünden lohnte keine Scham. Nur für die, die andere einem aufzwangen. Daniels Existenz war eine einzige Schuld.

„Ja.“ Keph schlug die Beine übereinander und betrachtete Daniel wie einen ungezogenen Schüler, an den man trotz besseren Wissens sein Herz gehängt hatte. „Wir arbeiten für sie, wir töten sie, aber wir besudeln uns nicht mit ihnen.“

„Du hast es nie getan? In keinem deiner Leben?“ Die sich ständig wiederholende Existenz wäre ohne die Liebe für Daniel unerträglich gewesen.

„Nie. Meine Hingabe galt stets der Bruderschaft der anonymen Meister.“ Er beugte sich vor und sah Daniel aus schmalen Augen an. „Ihre Belange sind wichtig. Sie haben mich zu dir geführt.“

Ein Job. Weshalb sonst sollte Keph hier sein? „Ich habe lange nicht mehr getötet.“

„Dann wird es Zeit.“

„Hast du Angst, ich komme aus der Übung?“

„Nein.“ Beinahe war Kephs Lächeln liebevoll. „Einmal ein Meister, immer ein Meister. Ich bin sicher, du beherrscht nach wie vor alle relevanten Todesarten.“

Zwei Leben in Frieden reichten nicht, um jahrhundertealtes Können zu vergessen. „Wie hast du mich gefunden?“

Durch die Rauchschwaden verzerrte Kephs ebenmäßiges Gesicht. „Ich finde jeden Abtrünnigen früher oder später. Weißt du, wie mit Deserteuren umgegangen wird?“ Gelangweilt sah er sich im Raum um.

„Sie werden erschossen.“

„Das hättest du wohl gern.“ Versonnen strich sich Keph die Falten auf seiner Hose glatt. „Sie verlieren ihre Seele. Ohne Seele kannst du nicht leben. Ohne Seele kannst du nicht sterben. Wie wird sich das wohl anfühlen?“

Daniels Magen zog sich zu einem eisigen Klumpen zusammen. Mit den Erinnerungen an seine Taten zu leben, war eine tägliche Herausforderung. Doch ohne Seele durch den Trübsinn dieser Welt zu stolpern, würde die Hölle sein.

Keph schlenderte durch den Raum und betrachtete die Ikonen an den Wänden. Behutsam nahm er das Abbild eines Cherubim ab und strich mit dem Finger über den Dammarlack. „Die Ikonen sind fantastisch.“

Es war eine von Daniels ersten Arbeiten. Damals hatte er noch in der Kontemplation vor himmlischer Schönheit nach Rettung gesucht. Er hatte sie dort nie gefunden.

„Beeindruckend. Eitempera?“

Daniel nickte und blies den Rauch in seine Richtung.

„Zeichnest du mit Kratzer oder Aquarellstift vor?“

„Stift. Der Kratzer beschädigt den Grund.“ Mit schönen Dingen ging er behutsam um. Kunst war schön, lebendige Wesen waren schön. Wenn er es in der Hand hatte, waren auch Leichname schön.

Keph war ans Fenster getreten und öffnete den geschwungenen Gusseisenflügel. „Von hier oben hast du einen weiten Blick. St. Paul’s erstrahlt wie eine Perle.“

„Du bist nicht wegen der Aussicht hier und auch nicht, weil es der Bruderschaft an Mitgliedern mangelt.“

In Kephs kühlen Blick schlich sich ein Hauch Wärme. „Ich habe dich vermisst. Wir waren Freunde.“

„Bis du mich verraten hast.“ Daniel hatte auf Kepheqiahs Freundschaft vertraut, doch das Kloster war bereits von den Mitgliedern der Bruderschaft durchsetzt gewesen. Von ihm aus agierten sie, von ihm aus schickten sie Meister an die entferntesten Orte der zivilisierten Welt, um für Monarchen, Bischöfe und Edelhuren Nebenbuhler oder Freidenker zu töten. Keph hatte ihn hintergangen und wäre nach seinem Verrat fast Daniels erstes selbstbestimmtes Opfer geworden.

Kepheqiah betrachtete Jasmina, die sich im Schlaf unter dem Laken zusammengerollt hatte. „Wie ist es?“

„Das Lieben?“

„Wenn du das so nennen musst.“

„Probier es aus.“

Keph runzelte die Nase und für einen Moment stahl sich ein verschmitztes Grinsen auf sein sonst viel zu ernstes Gesicht. „Niemals. Was du mit ihr getan hast, wäre mir zu anstrengend.“

„Es geht auch sanfter.“

„Tatsächlich?“ Keph hob amüsiert den Blick. „Ich habe gehört, dass du deine Opfer sanft in den Tod geführt hast.“

„Geführt? Ich bin der sanfte Tod.“ Der letzte Moment war der wichtigste im Leben eines Menschen. Er musste selbstbestimmt sein. Viele seiner Opfer waren im Augenblick höchster Lust gestorben. Er hatte es ihnen leicht gemacht, die Bahnen des Lebens zu verlassen.

„Die Bruderschaft hat eine Filiale hier in London errichtet.“ Die ungeheuerliche Neuigkeit kam völlig unspektakulär über Kephs schöne Lippen. Ein Cleaner-Team ist bereits rekrutiert. Ruben führt es an. Du kennst ihn.“

Ruben war ein hervorragender Meister gewesen. Aufsässig, aber brillant. Dass er das Cleaner-Team führte, hieß, dass die Bruderschaft seine Seele einkassiert hatte. Die Cleaner waren bessere Golems. Aus Fleisch und Blut, in denen ein kalter Geist hauste, dem die Fähigkeit zum Empfinden genommen worden war. Daniel wurde flau.

Wir brauchen noch Meister. Mahawaj Baraqel selbst hat dich vorgeschlagen.“

„The Boss?“ Mahawaj existierte für die Mitglieder der Bruderschaft nur als Schattenwesen. Niemand hatte ihn je zu Gesicht bekommen. Er lenkte die Geschicke der Organisation, vermittelte Aufträge, zahlte astronomische Honorare, die er vorher von erleichterten Kunden einkassiert hatte.

Keph legte die Fingerspitzen zusammen und tippte mit der Spitze der so gebildeten Pyramide an sein bartloses Kinn. „Es war interessant, zu sehen, wozu er gut ist.“ Er nickte zu Daniels Mitte. „Bis jetzt habe ich dieses seltsame Ding nur für etwas gehalten, mit dem ich mich erleichtern kann.“ Die arrogant gehobene Braue senkte sich schlagartig, als Daniel die Beine spreizte. Keph hatte stets die Fassung bei nackter Körperlichkeit verloren.

„Es erleichtert auch mich.“ Der Reißverschluss ratschte zwei Fingerbreit nach unten. Keph reagierte sofort auf diese Provokation und sah weg. „Kannst du dich bedecken? Das da lenkt mich ab.“

„Das da ist nicht einmal richtig zu sehen.“

„Du könntest dir etwas überziehen.“ Ein nervöser Finger fuchtelte zum Hemd, das schwarz und schwer vor Nässe neben Jasminas Fuß auf dem Bett lag. „Das würde mir das Gespräch mit dir unendlich erleichtern.“

Daniel rekelte sich, ohne Keph aus den Augen zu lassen. „Ich schulde dir noch eine Revanche für den Verrat.“

„Du solltest dieser Frau die Botschaft des Klienten ausrichten.“ Echte Verzweiflung klang in seiner Stimme, als sich Daniel langsam über den Bauch strich und noch etwas weiter auf dem Sitz nach vorn rutschte.

„Ich sollte sie töten.“

„Erst, wenn sie sich uneinsichtig gezeigt hätte.“

Ruth war wunderschön gewesen. Das Leuchten in ihren Augen, der Wind, der ihr ins schwarze Haar gegriffen und ihr Gesicht wie einen Schleier umweht hatte. Er war nicht dazu gekommen, ihr die Botschaft des Auftraggebers mitzuteilen. Stattdessen hatte er ihr seine persönliche Botschaft überbracht. Tiefgehend, nachhaltig und die wichtigsten Passagen hatte er wiederholt.

Dann waren sie mit der nächsten Flut von Mont Saint Michel geflohen. An den Elendshütten vorbei zum Festland. Die Reise nach Bordeaux war die schönste seines Lebens gewesen. Doch dort lauerte bereits ein anonymer Meister auf Ruth. Die Nachricht von Daniels Verweigerung hatte sich mit schwarzen Schwingen vom Laternenturm in die Nordwinde gestürzt und einen Ersatz für Daniel gefunden. Ein Schwertstreich aus der Finsternis einer verlassenen Taverne hatte das Lebenslicht dieser Frau schneller ausgelöscht, als Daniel es hätte tun können. Der Wiedergeborene hatte sich in aller Form bei ihm für die Unannehmlichkeiten entschuldigt, die eine enthauptete Frau auf dem Pflaster einer armseligen Hafengasse anrichten konnte, und sorgsam seinen Krummsäbel an ihrem Umhang abgewischt. Daniel zog seinen Degen. Der Fremde lächelte und entblößte seine Brust. Das Amulett mit dem fünffach verschlungenen Knoten, das Zeichen der Zugehörigkeit zum ältesten Syndikat der Welt, leuchtete im Mondlicht. Meister untereinander waren unantastbar. Nur Werkzeuge, nichts, an dem sich Daniel hätte rächen können.

„Verzeih, ich habe nur meine Pflicht getan.“ Keph schritt auf ihn zu, als ob er schweben würde. Seine Hand legte sich kühl wie ein Nachthauch auf Daniels Schulter. „Blut, Fleisch und Atem. Nichts weniger als das fordert Mahawaj Baraqel von dir ein.“

Daniel war naiv gewesen, zu denken, er hätte sich vor ihnen verstecken können. Jeder Mord hatte seine Seele mehr vergiftet. Er hatte Leben geführt, in denen er aus den Gossen dieser Welt nicht herausgefunden hatte.

Keph strich zögernd über Daniels Brust. „Wo ist dein Amulett?“

„1775 im Wasserklosett versenkt, zusammen mit allem, was aus mir raus und in die Freiheit wollte.“

„Du lügst.“

Daniel hielt Kephs Hand fest und legte den Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht sehen zu können. „Ich bin jederzeit bereit, auf Mahawaj zu scheißen, warum dann nicht auf sein verdammtes Amulett?“

„Weil es dich als das auszeichnet, was du bist und weil es dich schützt.“

„Ich brauche keinen Schutz.“

„Du ahnst nicht, wie sehr gerade du ihn brauchst.“

Hinter ihm klirrte es leise. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, was Keph aus der Tasche gezogen hatte. Er legte ihm die Silberkette mit dem runden Anhänger um den Hals, als wäre es eine Auszeichnung und kein Verhängnis.

„Wer seinen Geist auf Reisen schickt, sollte seinen Körper nicht ungeschützt zurücklassen. Die Dunkelheit könnte sich seiner bemächtigen.“ Er führte Daniels Hand an seine Stirn und neigte den Kopf. „Willkommen daheim, Meister Levant.“

„Warum tust du mir das an?“

„Einer macht den Job“, erklärte Keph mit zu viel Nachsicht in der Stimme. Bist du es nicht, ist es Maurice. Doch er schenkt keine sanften Tode.“

Den Schlächter der Sarazenenkriege würde Daniel bis in alle Ewigkeit hassen. Gequälte Seelen und verstümmelte Körper zogen sich durch seine Erdenleben wie Schimmel über feuchte Wände.

„Du erblasst beim bloßen Klang seines Namens? Dann höre Folgendes.“ Jede Freundlichkeit verließ Kepheqiah und zurück blieb die Strenge, die einen Meister des ersten Kreises auszeichnete. „Mahawaj hat ihn bereits nach London geordert. Solltest du dich verweigern, würde es ihm eine Freude sein, für dich einzuspringen. Er hat den zweiten Kreis betreten und wird die Londoner Filiale leiten, doch Bürokratie und Logistik sind nicht seine Stärken. Das Töten liegt ihm mehr. Also gib ihm keinen Grund, dich zu ersetzen.“ Das Lächeln war gletscherkalt. „Solange du dem dritten Kreis angehörst, bist du ihm unterstellt.“

Maurice Lacroix war sein Vorgesetzter? Der Abgrund, der sich vor Daniel auftat, hätte nicht tiefer sein können. „Sag Baraqel, er soll mich befördern.“

Keph lächelte. „Dann sei fügsamer. Deine Widerspenstigkeit lässt er dir nur durchgehen, weil er dich mag.“

Daniel entließ den letzten Rauch aus seiner Lunge und drückte die Zigarette aus. Jasmina seufzte im Schlaf. Eine Woge schwarzen Haares glitt über die Bettkante. Daniel sehnte sich in die warme Geborgenheit ihres Schoßes zurück. Er würde wieder töten. Und wieder und wieder, wie in all den Leben davor.

„Geh jetzt. Oder möchtest du noch einmal zusehen?“

Keph starrte ihn ungläubig an. „Nutzt es sich nicht langsam ab?“ Behutsam wie ein Dompteur einem wilden Tier, näherte er sich Daniel Schritt für Schritt. „Dieses Bedürfnis nach …“ Er biss sich auf die Lippen und sah sich im Raum um, als würde das Wort irgendwo in der Dämmerung auf ihn warten.

Daniel ließ sich Zeit, seine Jeans auszuziehen. Keph musterte starr einen Fleck auf den Steinfliesen des Bodens.

„Die Sehnsucht nach Liebe nutzt sich nicht ab, ebenso wenig wie das Geschehen selbst.“ Jasminas warme Haut war samtweich an seiner Brust, an seinem Bauch. Als er den Arm um sie legte, schmiegte sie sich an ihn. Er küsste ihre Schultern und roch den Duft ihres Haares. „Richte Mahawaj meine Grüße aus. Sollte er so leichtfertig sein, mir eines Tages unter die Augen zu treten, werde ich ihn töten. Doch er wird sich die Art und Weise nicht aussuchen dürfen.“ Er umfasste Jasminas Hüfte und zog sie noch näher an sich.

Keph richtete sein Sakko. „Nichts dergleichen werde ich tun, doch es ist schön, dich wieder im Team zu wissen.“

„Ich verachte diesen Gedanken mit derselben Intensität, mit der ich diese Frau lieben werde.“ Er würde sich in Jasmina über die Schuld hinwegtrösten, die er auf sich laden musste. Sie durfte erst bei Tagesanbruch ihre klammen, dürren Finger nach ihm ausstrecken. Jasmina presste sich dichter an ihn. Traumwandelnd tastete sie hinter sich, streichelte über seine Haut und seufzte zufrieden. Der Schweiß hatte Jasminas Brüste kühl werden lassen. Sie passten sich seinen Händen an, wie ihr ganzer Körper an seinen.

„Keph, geh!“

„Kannst du damit warten, bis ich fort bin?“ Kephs glockenklare Stimme bekam einen Sprung, als er Daniels Bewegungen verfolgte.

Gleich. Der Taumel war nah, so nah. Führte ihn immer weiter von Keph und seinen Belangen fort.

„Daniel! Hast du mich verstanden?“

„Geh!“

Kephs Luftschnappen mischte sich mit Jasminas, ihres entsprang reiner Lust, Kephs blinder Angst. Das Klackern der Ledersohlen entfernte sich. Das Aufzugsgitter klapperte und das Summen der hinabgleitenden Kabine wurde leiser.

 

*

 

„Lucy, wach auf! Wir müssen uns beeilen.“

Peter hopste auf einem Bein durchs Doppelzimmer und versuchte, seine Socke anzuziehen, während er auf dem Weg ins winzige Bad war. Vorletzte Nacht hatte Lucy mit Kolja im Metropol gefeiert, die Nacht davor mit Igor im Golden Ring. Das Badezimmer war aus Marmor und auf dem Klo erklang Tschaikowski. Der Zimmerservice war nicht müde geworden, den Champagnerkühler nachzufüllen. Morgens um fünf in ein mittelmäßiges Bett zu kriechen, kurz bevor Peter aufs Zimmer kam und sofort in schnarchenden Tiefschlaf verfiel, war ohrfeigengleich.

„Der Flieger geht um zehn Uhr vierundzwanzig.“

Es war kurz vor sieben.

„Hast du gepackt?“ Die elektrische Zahnbürste verschwand in seinem Mund und produzierte summend Schaum, der ihm sanft aus den Mundwinkeln kroch.

„Es gibt nichts zu packen.“ Der Ring baumelte um ihren Hals, alles andere würde sie in die kleine Reisetasche stopfen. „Wie sieht es aus mit Frühstück?“ Ihr Magen knurrte so laut, dass selbst Peter erstaunt die Brauen hochzog. Sie erstarrte, als sie die Decke zurückschlug. Peter ebenso. Das rote Seidenkleid, von dessen Existenz Peter aus gutem Grund keinen Schimmer hatte, floss immer noch über ihren übermüdeten Körper.

„Wasch isch dasch denn?“ Der schaumige Bürstenkopf schnellte aus Peters Mund und schleuderte weiße Flocken auf die Bettdecke, während er anklagend auf den Traum in Rot wies.

„Mein Nachthemd. Ich wollte dich damit überraschen, doch dann bin ich leider zu früh eingeschlafen.“ Es war nicht leicht, nach nur zwei Stunden Schlaf und verquollenen Augen verführerisch zu lächeln. Peter spuckte geräuschintensiv ins kleine Waschbecken. Danach befreite er seinen Hals von allem, was sich im Laufe der Nacht dort angesammelt hatte. Lucy schüttelte es.

„Was ist an dem Flanellhemd falsch, das ich dir extra für die Reise nach Moskau gekauft habe?“

Es hatte zartlila Rosen auf beigefarbenem Grund, der Stoff war fingerdick und wog Tonnen.

„In dem Fähnchen da holst du dir den Tod. Moskau im Winter ist eine Gefahr für die kräftigste Natur.“

Lucy kletterte aus dem Bett und streifte Kleid und Seidenstrümpfe ab. Peter rasierte sich, ohne dass sein kritischer Blick von seinem Spiegelbild abwich und zu ihr schlich. „Wenn wir uns ranhalten, können wir im Duty-free-Shop noch etwas für Mutter kaufen. Sie liebt Souvenirs.“

Auf komplett nacktem Körper wirkte der Smaragd noch grüner und leuchtender. Allerdings hatte sich auf ihrer Brust ein unschöner roter Fleck gebildet. Wahrscheinlich hatte sie auf dem Schmuckstück gelegen. Sie trat leise hinter Peter und schlang die Arme um ihn. „Gestern habe ich einen Antiquitätenladen besucht und was Hübsches gefunden. Willst du es sehen?“

Ein gehetztes Lächeln traf sie durch Glas. „Später. Jetzt müssen wir los.“

Er drehte sich um und schob sie auf dem Weg zu seiner Cordhose zur Seite. Irritiert sah er hoch, als er die Manschetten zuknöpfte.

„Du bist immer noch nicht angezogen.“ Er verengte die Augen und starrte zwischen ihre Brüste. „Was ist das?“

„Ein Ring. Vom Trödler. Ich dachte, Ethan würde sich freuen.“

Er schaffte es, dicht vor sie zu treten und seine Nasenspitze fast über ihre Haut streifen zu lassen, beim Betrachten des Ringes, ohne auch nur einen Blick nach links oder rechts zu werfen. „Da sind Zeichen drauf. Ohne Brille kann ich die nicht richtig erkennen. Aber du hast einen Ausschlag.“ Seine Nase rümpfte sich bis zur Stirnmitte. „Ob in den Matratzen Bettwanzen sind?“ Mit spitzen Fingern schlug er die Bettdecken zurück und musterte das Laken.

Lucy nahm das Band ab. „Trägst du ihn für mich? Sicher steht er dir gut.“

Hm?“

„Der Ring. Komm endlich vom Bett weg. Da sind keine Wanzen drin.“

„Das weiß man nie, Haselkätzchen.“

Während er den Inhalt seiner Jackett-Innentasche sortierte und sich versicherte, dass das Asthmaspray am richtigen Platz war, streichelte sie sanft über seine eiligen Hände. Der Ring war ihm zu weit. Hoffentlich verlor er ihn nicht.

Sie stieg in die schmale Wanne und zog den vergilbten Plastikvorhang zu.

„Was machst du da?“ Peters Ausruf glich einem Schrei.

Duschen.“

„Jetzt noch?“

Lucy drehte das Wasser heiß, es dauerte lange, bis aus dem lauwarmen Rinnsal etwas wurde, unter dem man sich reinigen konnte.

„Zeit ist Geld und der frühe Vogel hat schon immer den Wurm gefangen.“

Peters nervöse Stimme drang durch das Wasserrauschen. Ihr war nicht mehr danach, seinen Wurm zu fangen.

*

 

Hinter der Lattentür zum alten Kohlenkeller des Apartmenthauses verharrte Kolja einen Moment, um zu lauschen.

Dunkelheit und Klebeband genügten oft, um einfachen Menschen die schwärzeste Furcht ins Herz zu locken. Zwischen zwei und fünf Uhr früh waren nur achtzehn Wagen an der verborgenen Überwachungskamera vorbeigefahren. Keines davon war ein Taxi gewesen. Nur einer gehörte einem zwielichtigen Individuum mit einem mäßig ausgeprägten Vorstrafenregister. Hehlerei, Diebstahl, Geldwäsche. Koljas Kontakte zur Moskauer Polizei waren stets fruchtbar gewesen. Sowohl für die eine als auch für die andere Seite. Es war eine Stichprobe, nicht mehr, als er Ilja und Lew zu diesem Igor geschickt hatte. Jetzt saß er in der finsteren Feuchtigkeit an einen Stuhl gefesselt und wartete. Seine zischenden Atemzüge waren durch das dünne Holz zu hören. Ein Mensch, gefangen in seiner Angst, war köstlicher als Krimsekt in einer ausgedörrten Kehle. Kolja lockerte den Knoten seiner Krawatte. Eine peinliche Befragung war eine anstrengende Angelegenheit und endete für den Befragten meist tödlich. Ob Igor wusste, auf welch dünnem Eis er sich befand?

Wieder stieg die Übelkeit in ihm auf. Dieses Weib hatte ihn wie einen dummen Jungen verführt und ausgeschaltet. Seine Familie durfte es nicht erfahren. Solche eklatanten Fehler beging kein Grigorjew. Es waren diese Lagunenaugen gewesen, die ihn bezirzt hatten und die Kunstfertigkeit, mit der sie ihm auch die letzte Vorsicht aus dem misstrauischen Herz geliebt hatte, erregte ihn selbst jetzt noch trotz seiner brüllenden Kopfschmerzen. Gab es für dieses Aas eine Alternative zu einem grausamen Tod? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es wäre ebenso berauschend, sie zu töten, wie sie zu lieben. Nur nicht für sie. Dafür würde er sorgen. Niemand hinterging Kolja Grigorjew und kam mit dem Leben davon. Ein Jammer um die Frau. Was musste sie auch den Ring stehlen? Alles andere hätte er ihr mit Freuden geschenkt, wenn sie als Gegenleistung die Begleiterin für ein paar wunderbare Jahre geworden wäre. Dann hätte er sie entsorgt und nach Neuem gesucht. Er musste wieder in den Besitz des Ringes kommen. Niemals war er für die Familie Grigorjew verloren gegangen. Diese Schmach durfte er nicht auf sich laden.

Er stieß die Tür auf. Sie quietschte martialisch und schlug an die Wand. Ein zusammengekrümmter junger Mann sah ihm erschrocken entgegen. Als das Licht der nackten Glühbirne aufflammte, blinzelte er mit tränenden Augen.

„Igor Wolkow?“ Mit Schwung zog er das Klebeband vom Mund.

Wolkow zuckte zusammen. „Wer will das wissen?“

Kolja schlug ihm ins Gesicht, um ihn zu erinnern, wer hier die Fragen stellte. „Tu nicht so, als würdest du mich nicht kennen. Auf deinem Rechner existiert eine Datei mit meinem Namen.“

Der Kerl wurde blass. Gut so. Kolja stützte sich auf die an die Lehne gefesselten Hände. Lew hatte die Finger freigelassen. Das Klebeband fixierte über den Handrücken.

„Deine Recherche zu meiner Person ist lückenhaft, oberflächlich und schlicht miserabel.“ Langsam bog er steife Finger nach oben. Der Kerl keuchte auf. „Dennoch hat sie ausgereicht, um mir eine Diebin auf den Hals und in mein Bett zu hetzen. Wer ist Jana Kusnezow und wo lebt sie, wenn sie nicht gerade Männer vergiftet?“ Heute Morgen hatte er gedacht, er müsste sterben, so sehr hatte sein Schädel geschmerzt.

Vehementes Kopfschütteln antwortete ihm. „Es gibt keine Jana Kusnezow.“

Voller Überzeugung brachte er die Worte über seine blutenden Lippen. Er sagte die Wahrheit. Kolja bog die Finger, bis die Gelenke knackten. Wolkow wiederholte jede Silbe mit derselben Inbrunst. Doch was waren Namen? Nichts. Sie ließen sich annehmen, ablegen, umtauschen.

„Ihren richtigen Namen. Ihre richtige Adresse und alles, was du noch über sie weißt.“ Er ließ die Finger zurückschnappen. Igor stöhnte vor Erleichterung. Das war voreilig, denn die Schmerzen würden erst beginnen.

Kolja ging zu einem Regal, auf dem rostige Zangen für die Wartung der alten Heizungsventile lagen. „Ich will wissen, was sie liebt, was sie hasst, was sie fürchtet und was sie in ihren geheimsten Stunden ersehnt. Alles, verstehst du?“ Eine Kombizange. Warum nicht? Sie quetschte, statt abzutrennen. Der Schmerz würde sich etwas langsamer ausbreiten, doch dann umso unerträglicher werden. „Zusätzlich nennst du mir den Aufenthaltsort meines Hab und Guts.“

„Ich habe die Sachen nicht mehr.“

Schweißtropfen perlten über die Schläfen, sammelten sich am Ohrläppchen und tropften schließlich auf den Kragen. Die Angst stand Igor im Gesicht wie seine zu lange Nase.

„Zehn Finger, zehn Zehen und noch das ein oder andere, was einer Überredung zur Wahrheit dienlich sein wird. Wo soll ich beginnen?“

 

*

 

Das Brummen der Motoren hatte etwas überaus Einschläferndes. Lucy legte den Kopf an die Nackenstütze und gab sich dem guten Gefühl hin, einen kleinen, aber feinen Diebstahl begangen zu haben.

„Was findest du nur an diesem zwielichtigen Igor?“

Mit vor Ekel verzogenem Mund versuchte Peter, den Schwarztee zu schlucken. Die Stewardess beobachtete ihn nur kurz bei seiner Qual, bevor sie ihr trainiert-höfliches Lächeln dem Passagier hinter ihnen widmete. Lucy schlürfte den heißen Kaffee aus dem Pappbecher und Peter verzog sein Gesicht noch mehr. „Jedes Mal, wenn du mich nach Moskau begleitest, triffst du dich mit diesem Kerl.“

„Mein Cousin, das sagte ich doch schon.“

Peter runzelte die Stirn. „Wirklich? Oh, das hatte ich vergessen.“

„Du vergisst alles.“ Er lebte zwischen den verwitterten Einkerbungen alter Steinplatten. „Deshalb schätze ich dich so.“

„Weiß ich doch, Haselkätzchen“, murmelte er, während er gedanklich im Angebot des Bord-Shop-Katalogs versank. Für zwei Minuten. Dann sah er sich irritiert um. „Ist dir auch so warm?“ Der Katalog wurde als Fächer missbraucht. „Ob die Klimaanlage nicht funktioniert?“

Er drehte unkontrolliert an allen Belüftungsschrauben über ihm, über ihr und über dem Platz vor sich. Dass die Frau sich umdrehte und ihn einen dämlichen Saftsack nannte, störte ihn nicht. Nur Russen verstanden russische Schimpfwörter.

Flüchtig strich Lucy über seine Hand, an deren Mittelfinger der Ring schlackerte. Er merkte nicht, als sie ihn abstreifte, auf das Lederband fädelte und wieder um ihren Hals hing. Der Ring rutschte schwer in ihren Ausschnitt und nahm sofort Körperwärme an. Wie sollte sie das satte Grinsen nur aus dem Gesicht wischen? Ob Ethan ausgerechnet dieses Schmuckstück brauchte? Sie könnte es als Souvenir behalten. Oder als Trophäe.

„Wann ist die nächste Konferenz? Du weißt, wie ich die Stadt meiner Vorfahren liebe.“ Sie hatte keine Ahnung, wann der erste Sorokin auf welchen verschlungen Pfaden auch immer nach Britannien gekommen war. Sicher schon zur Blüte der Steinzeit. Weder war Igor jemals ein Cousin gewesen noch besaß sie sonst irgendwelche Verwandten in der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten. Igor hatte von einem weiteren Coup gesprochen. Ein Multimillionär. Älter, dick, selektiv großzügig und gutgläubig. Das Ding würde nicht risikofrei sein, doch das war Lucys Leben nie gewesen.

„Mitte Mai.“ Peter konzentrierte sich auf die Abbildung eines verschnörkelten Parfumflakons.

„Mai? Bis dahin ist die Hälfte deiner Kollegen längst gestorben. Dieser Callahan sieht aus, als ob er schon das ein oder andere Salve zu Cäsars Lebzeitgen in Stein gemeißelt hätte.“

„Wie sprichst du über Aiden Callahan?“ Ein hektischer roter Fleck erschien oberhalb des bis zum letzten Knopf geschlossenen Oxfordhemdes. „Er ist eine Koryphäe auf dem Gebiet aramäischer Sprachen und es gibt kaum eine Inschrift zwischen Euphrat und Tigris, die er nicht entziffert hat.“

Trotzdem sah Callahan aus wie eine mumifizierte Schildkröte. Lucy hatte ihn bei einem Cocktailempfang kennengelernt. Seine rot geäderten Augen hatten einen stechenden Blick, den sie physisch gespürt hatte.

Ein Luftloch ließ die Maschine absacken. Peter schüttete den Zucker auf seine dunkelgrüne Cordhose.

„Gott, wie ich diese Fliegerei hasse!“

Mitte Mai. Wenigstens hätte sie bis dahin mehr Zeit, präzise zu planen. Die Sache mit Kolja war extrem kurzfristig, fast schon spontan gewesen. Außer, dass er Kunst liebte, reich war und aus einer alten und einflussreichen Familie stammte, hatte sie nur wenig über ihn gewusst. Gefährlich, bei ihrem Hobby. Und prickelnd, wundervoll, fantastisch, inspirierend. Hoffentlich hatte er ihren Cocktail gut überstanden.

Ein dezentes Brummen aus ihrer Manteltasche ließ Peters Gesichtszüge entgleiten. „Du hast dein Handy angelassen?“

Eine SMS von Ethan. „Bobbies waren da. Fragen nach dem Perlenhalsband. Du weißt schon.“

Sie hatte es Guy de Raquelerre in Paris vom Hals geliebt. Angeblich hatte es einst Marie Antoinette gehört.

„Ich hatte es um. Die Uniformierten hatten freie Sicht darauf und nichts bemerkt. Sie suchen eine Rothaarige. Kannst kommen, wenn du willst. Habe einen neuen Job. Ungefährlich und direkt vor der Haustür.“

Wenn du etwas verbergen willst, lege es mitten auf den Tisch. Sherlock war ein Genie gewesen, wenn auch nur ein fiktives. Doch für die nächste Aktion musste sie sich vom Image der rothaarigen Aufreißerin trennen. Sicher stand ihr auch platinblond. Ein etwas zu schlanker Marilyn Monroe Typ wäre verlockend.

„Mach das Ding aus.“ Das nächste Luftloch trieb Peter den Schweiß auf die hohe Stirn. „Wir stürzen noch ab wegen dir.“ Hektisch klopfte er die Innentaschen seines Jacketts ab und zückte sein Asthmaspray. Er sprühte und schnappte nach dem Aerosol wie ein Ertrinkender nach Luft. Resigniert schloss er die Augen. „Sicher warten Millionen von Pneumokokken in dieser Klimaanlage darauf, sich in meinen Lungenbläschen festzukrallen und sie zu zersetzen.“

Lucy tippte schnell, während sie Peter beruhigend das Knie tätschelte. „Sag mir Bescheid, wenn du Blut hustest.“ Neben ihr röchelte es und sie reichte Peter ein Papiertaschentuch.

Ethan war ein Schlaufuchs. Sie freute sich auf den Abend mit ihm. „Sehen uns in zwei Stunden, habe was Feines ergattert. Sieh zu, dass du schnell Käufer findest.“ Je zackiger die Ware den Laden verließ, umso besser.

Peter nahm ihr das Blackberry aus der Hand. Sie konnte gerade noch auf Senden drücken, bevor er es abschaltete.

Ein heftiges Rucken fuhr durch die Maschine, Peter klammerte sich an die Lehne und schloss die Augen. „Ich werde sterben, wegen dir und deiner verdammten Nachlässigkeit.“ Das trockene Schlucken gelang ihm nicht. „Wie kann man nur so kaltschnäuzig sein? Hängst du nicht an deinem Leben?“

Sie hing am Risiko. Wenn es nicht prickelte, war das Leben nicht lebenswert.

Peters Brieftasche beulte seine Sakkotasche aus. Er war mit seiner Angst beschäftigt. Im zweiten Fach waren die Rubel, im ersten die Pfund. Ihr Barvermögen war nicht vorhanden. Zwei teure Nächte mit Igor, in denen ihr vom Kaviar schlecht geworden war, dann die überraschend intensive Nacht mit Kolja. Allerdings hatte er sie freigehalten. Witzig, der Trick mit der Uraltgeschichte vom alten russischen Adel funktionierte immer. Selbst bei Peter und seinen Eltern. Das arme Ding! Verarmt und mit tragischem Hintergrund. Muss sich in einem Antiquitätenladen mit zweifelhaftem Ruf durchbringen. Dem Mädchen musste geholfen werden.

Zwei Drittel der Scheine wechselten ihren Besitzer. Jeder rettete nur sich selbst. Dass die Hälfte des Familiensilbers fehlte, hatte Peters Mutter bis heute noch nicht bemerkt. Im Zweifel würde sie das Hausmädchen verdächtigen.

Das Leben war schön. Auch wenn mit der Klimaanlage wirklich etwas nicht zu stimmen schien oder sie litt schon wieder an Hitzewallungen.

„Hast du dich ohne mich in Moskau grässlich gelangweilt?“ Peter war aus seiner Angststarre erwacht. „Es tut mir leid, dass ich dich immer allein lasse.“

„Igor hat sich gekümmert. Wir haben tagsüber Museen und die Familiengräber auf dem Nowodewitsch Friedhof besucht und abends sind wir ins Bolschoi Theater gegangen.“

„Oh, wie nett. Was haben sie gespielt?“ Peters Augen leuchteten.

„Die Liebe zu den drei Orangen von Prokofjew.“ Gute Vorbereitung auf hervorragende Lügen gehörten zum Tagesgeschäft. Es gab keine Familiengräber, noch hatte Igor jemals eine Oper oder ein Theater von innen gesehen.

Eine seltsame Spannung breitete sich in ihr aus. Kopfschmerzen? Ihr Koffeinspiegel schlug an. Sie konnte keine Kopfschmerzen haben. Die Spannung wurde stärker, kroch durch ihren Körper und ließ ihre Nerven vibrieren. Ihre Hände begannen zu zittern. Bevor Peter etwas merken konnte, steckte Lucy sie in die Manteltaschen. Ihre Schläfen pochten. Sie musste die Fäuste ballen, um die Kontrolle über sich zu behalten. Woher kam die unerträgliche Nervosität?

„Zapple nicht so.“ Peter tadelte sie wie ein Kind. „Musst du auf die Toilette?“

„Sehe ich aus wie eine Frau, die ihren Beckenboden nicht kontrollieren kann?“

Peter zog irritiert die Stirn kraus. „Dann sitz doch endlich still.“

Lucy sprang auf. Sie musste sich bewegen. Vor ihr ging ein Mann zur Toilette. Sie stolperte hinter ihm her, trat ins Leere. Keine Sicht mehr, nur noch Flackerlichter. Sie tastete nach vorn, erwischte Stoff, dann verschwitzte Haut. Der Mann ächzte. Ein Zucken ging durch seinen Körper. Die Spannung entwich auf einen Schlag aus ihr, entlud sich an dem Mann vor ihr. Sein Kopf fiel in den Nacken, er sank auf die Knie und kippte nach vorn. Das entsetzte Gemurmel, die Fragen nach einem Arzt an Bord, die Bitten, den Gang zu räumen, interessierten Lucy nicht mehr. Ihre Handfläche stach vor Hitze, doch sonst ging es ihr fantastisch. Der Kopf war klar, sie war die Ruhe selbst, der Schmerz war verschwunden, der Schwindel auch.

Nach dem dritten Schlag auf die Wange des Mannes trat ein seliges Lächeln in sein Gesicht. Er öffnete seufzend die Augen und sah sich um, als ob er eben die höchsten Freuden genossen hätte.

„Sorry.“ Die Stewardess, die ihn geohrfeigt hatte, half ihm hoch. „Mir war schwindelig, aber jetzt geht es mir bestens. Keine Sorge.“

Den blutenden Striemen auf seiner Stirn schien er nicht zu bemerken.

*